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Unverkäufliche Leseprobe aus: Tony Judt Das Chalet der Erinnerungen Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Tony JudtDas Chalet der Erinnerungen

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text undBildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche

Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar.Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,

Übersetzung oder die Verwendung in elektronischenSystemen.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 . Das Chalet der Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . 92 . Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

ERSTER TEIL

3 . Austerity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 . Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 . Autos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 . Putney . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 . Die grünen Busse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 . Mimetisches Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 . Die Lord Warden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

ZWEITER TEIL

10 . Joe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8911 . Kibbuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9712 . Bedder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10513 . Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11314 . Revolutionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12115 . Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12916 . Meritokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13717 . Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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DRITTER TEIL

18 . Nach Westen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15919 . Midlife Crisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16720 . Verführte Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17521 . Girls, Girls, Girls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18322 . New York, New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19123 . Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19924 . Toni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

EPILOG

25 . Zauberberge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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Vorwort

Vorwort

Eine Veröffentlichung der hier vorliegenden Texte warursprünglich nicht geplant . Ich habe sie anfangs nur fürmich geschrieben, ermuntert auch von Timothy GartonAsh, der mich drängte, meine zunehmend persönlich ge-färbten Gedanken nicht für mich zu behalten . Ich glaubenicht, dass mir klar war, worauf ich mich einließ . Ich binTim dankbar für den Zuspruch, mit dem er die ersten Er-gebnisse begleitet hat .

Nachdem etwa die Hälfte dieser Feuilletons geschrie-ben war, legte ich meinen Agenten von der Wylie Agencysowie Robert Silvers von der New York Review of Bookseine kleine Auswahl vor und fand ihre Begeisterung er-mutigend . Für mich warf das jedoch eine ethische Frageauf . Weil ich diese Texte nicht mit Blick auf eine unmittel-bare Veröffentlichung geschrieben hatte, waren sie auchnicht redigiert, genauer gesagt von keinem privaten Zen-sor durchgesehen worden . Wo von meinen Eltern odermeiner Kindheit die Rede ist, von meinen Exfrauen undgegenwärtigen Kollegen, habe ich sie selbst sprechen las-sen . Das hat den Vorzug der Unmittelbarkeit . Ich hoffe,ich bin niemandem zu nahe getreten .

An den originalen Texten, die mit Hilfe meines lang-jährigen Kollegen Eugene Rusyn niedergeschrieben wur-

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den, habe ich nichts geändert, nichts umformuliert . Beineuerlicher Lektüre fällt mir auf, dass ich gegenüber ge-liebten Menschen recht offen und gelegentlich sogar kri-tisch bin, während ich mich bei Menschen, die mir weni-ger nahe sind, meist höflich zurückgehalten habe . So solles zweifellos sein . Ich hoffe, dass meine Eltern, meine Frauund besonders meine Kinder in diesen Texten ein weiteresZeugnis meiner innigen Liebe zu ihnen allen sehen .

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Das Chalet der Erinnerungen

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Das Chalet der Erinnerungen

Das Wort »Chalet« löst ein ganz bestimmtes Bild in miraus . Ich sehe ein kleines Familienhotel in Chesières, einemunspektakulären Wintersportort im Wallis, unweit vonVillars . 1957 oder 1958 müssen wir dort die Winterferienverbracht haben . Das Skifahren – in meinem Fall Schlit-tenfahren – kann nicht sehr beeindruckend gewesen sein .Ich erinnere mich nur, dass meine Eltern und mein Onkelüber den verschneiten Steg stapften und weiter hinaufzum Skilift und den Tag dort oben verbrachten, denFleischtöpfen des Après-ski jedoch einen ruhigen Abendim Chalet vorzogen .

Das Schönste an den Winterferien war für mich im-mer, dass man sich draußen im Schnee tummelte, ab spä-tem Nachmittag saß man in tiefen Sesseln, bei Glühweinund deftiger Bauernküche, und die Abende verbrachteman entspannt im Aufenthaltsraum mit den anderenGästen . Aber was für Gäste! Das Bemerkenswerte an die-sem kleinen Hotel in Chesières war, dass dort abgerisseneenglische Schauspieler ihren Urlaub verbrachten, unbe-eindruckt vom Schatten ihrer erfolgreicheren Kollegenweiter oben in den Bergen .

Am zweiten Abend flog ein Schwall obszöner Ausdrü-cke durch den Speisesaal, was meine Mutter aufschreck-

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te . Sie war zwar unweit der alten West India Docks auf-gewachsen, also durchaus vertraut mit ordinärer Sprache,aber sie war in die höfliche Vorhölle von Damenfrisier-salons aufgestiegen und hatte nicht die Absicht, derart un-flätige Ausdrücke in Gegenwart ihrer Familie zu dulden .

Mrs . Judt marschierte also los und bat die Leute um Mä-ßigung, es seien Kinder anwesend . Da meine Schwesternoch keine anderthalb Jahre alt und ich das einzige an-dere Kind im Hotel war, galt diese Bitte offenbar meinemWohlergehen . Die jungen – und wie ich später vermutete:arbeitslosen – Schauspieler, die diese heftige Reaktion ver-ursacht hatten, entschuldigten sich sofort und luden unszum Dessert an ihren Tisch ein .

Es war eine wunderbare Truppe, besonders für denZehnjährigen, der mit offenen Augen und Ohren in ihrerMitte saß . Damals waren sie alle unbekannt, doch einigehatten eine glänzende Zukunft vor sich – Alan Badel etwa,noch nicht der prominente Schauspieler mit eindrucks-voller Filmographie (Der Schakal), vor allem aber die um-werfende Rachel Roberts, die in den großen englischenNachkriegsfilmen die desillusionierte Arbeiterfrau spielensollte (Samstagnacht bis Sonntagmorgen, Lockender Lor­beer, Der Erfolgreiche) . Roberts nahm mich unter ihre Fit-tiche, murmelte nicht zitierfähige Flüche mit ihrer tiefenwhiskygegerbten Stimme, die mir keine Illusionen überihre Zukunft ließ, in bezug auf meine eigene aber dochfür eine gewisse Verwirrung sorgte . Sie brachte mir Po-kern bei, diverse Kartenspielertricks und unvergesslicheordinäre Ausdrücke .

Vielleicht deswegen habe ich schönere, wärmere Er-innerungen an das kleine Hotel in Chesières als an an-

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dere, ähnliche Holzhäuser, in denen ich im Lauf der Jahreübernachtet habe . Wir blieben nur etwa zehn Tage, undich bin später nur ein Mal wieder dort gewesen, für kurzeZeit . Aber noch heute kann ich das Haus sehr genau be-schreiben .

Es war alles ganz unluxuriös . Man betrat das Haus überdas Souterrain, wo die nassen Wintersachen (Skier, Stie-fel, Stöcke, Jacken, Schlitten usw .) deponiert wurden . Dar-über, zu beiden Seiten der Rezeption, befanden sich diegemütlichen, warmen, offenen Gästeräume mit großenFenstern, durch die man auf die Hauptstraße des Dorfshinaussah und auf die steilen Hänge ringsum . Im hinte-ren Teil befanden sich Küche und andere Arbeitsräume,verdeckt von einer breiten, sehr steilen Treppe, die in dasObergeschoss mit den Gästezimmern führte .

Linker Hand befanden sich die besser ausgestattetenZimmer, rechts die kleineren Einzelzimmer ohne fließendWasser, und ganz hinten führte eine schmale Stiege zumDachgeschoss mit Kammern, die dem Personal vorbehal-ten waren (außer in der Hochsaison) . Ich habe nicht nach-gezählt, aber ich glaube nicht, dass es mehr als zwölf Gäs-tezimmer gab, neben den drei Gemeinschaftsräumen . Eswar ein einfaches Hotel für kleine Familien mit bescheide-nen Mitteln, in einem unspektakulären Dorf, das über sei-ne geographische Lage hinaus keine großen Ambitionenhatte . Es muss zehntausend solcher Hotels in der Schweizgeben, von einem habe ich zufällig ein nahezu vollkom-menes Bild .

Ich glaube nicht, dass ich in den anschließenden fünfzigJahren oft an das Chalet in Chesières gedacht habe . Dochals bei mir vor zwei Jahren Amyotrophe Lateralsklerose

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(ALS) diagnostiziert wurde und bald klar war, dass ichvermutlich nie mehr würde reisen können – ich konntefroh sein, wenn ich überhaupt imstande wäre, über meineReisen zu schreiben –, kam mir immer wieder ebenjenesChalet in den Sinn . Warum?

Das Besondere an dieser neurodegenerativen Erkran-kung ist, dass man bei klarem Verstand über Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft nachdenken, diese Reflexio-nen aber immer weniger in Worte fassen kann . Zuerstkann man nicht mehr schreiben . Um die Gedanken fest-zuhalten, benötigt man einen Assistenten oder eine Ma-schine . Dann versagen einem die Beine den Dienst, mankann keine neuen Erfahrungen mehr machen, es sei dennmit einem derart komplexen logistischen Aufwand, dasses nur noch um Mobilität an sich geht und nicht mehr umdas, was sie ermöglicht .

Als nächstes verliert man die Stimme . Nicht nur in demübertragenen Sinne, dass man mit Hilfe von Maschinenoder menschlichen Vermittlern sprechen muss, sondernbuchstäblich – die Zwerchfellmuskeln können keine Luftmehr in Richtung Stimmbänder pumpen, weshalb mankeine verständlichen Töne mehr hervorbringen kann . Andiesem Punkt ist man meist komplett gelähmt, verdammtzu stummer Unbeweglichkeit, selbst im Beisein anderer .

Für jemanden, der immer schon gern Worte und Ideenkommuniziert hat, ist das eine ungewöhnliche Heraus-forderung . Dahin ist das Notizheft und der nunmehr nutz-lose Stift, der erholsame Spaziergang im Park und dieStunde im Sportstudio, in der Überlegungen und Argu-mente wie durch natürliche Auslese zurechtgerückt wer-den . Dahin auch die produktiven Gespräche mit Freun-

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den – selbst im mittleren Stadium von ALS denkt manschneller, als man Worte bilden kann, so dass Gesprächestockend verlaufen, frustrieren und letztlich sinnlos wer-den .

Auf die Lösung für dieses Dilemma bin ich durch Zu-fall gestoßen . Ein paar Monate nach Ausbruch der Krank-heit fiel mir auf, dass ich nachts in meinem Kopf ganzeGeschichten schrieb . Bestimmt suchte ich Ablenkung –an die Stelle des Schäfchenzählens traten komplexe Er-zählungen von vergleichbarer Wirkung . Im Laufe dieserkleinen Übungen erkannte ich, dass ich Segmente meinerVergangenheit wie Lego-Steine zusammenfügte, von de-nen mir bislang nicht klar gewesen war, dass sie zusam-mengehörten . Das war nichts Besonderes . Die Bewusst-seinsströme, die mich von einer Dampfmaschine zumDeutschunterricht führten – von den sorgfältig rekon-struierten Strecken der Londoner Regionalbusse bis zurGeschichte der Stadtplanung in der Zwischenkriegszeit –,waren leicht zu verfolgen, in viele interessante Richtun-gen . Aber wie konnte ich diese halbverborgenen Pfade amnächsten Tag wieder präsent haben?

In dieser Situation begannen die nostalgischen Erinne-rungen an glücklichere Tage in verschlafenen mitteleuro-päischen Dörfern eine ganz praktische Rolle zu spielen .Schon immer hatten mich die Gedächtnistechniken neu-zeitlicher Philosophen und Reisender fasziniert, mit derenHilfe sie detaillierte Beschreibungen speicherten, um siespäter abrufen zu können . Frances Yates hat diese Tech-niken ebenso anschaulich geschildert wie zuletzt JonathanSpence in The Memory Palace of Matteo Ricci, der Ge-schichte eines italienischen China-Reisenden .

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Diese Gedächtniskünstler bauten nicht bloß Gasthäuseroder Herbergen, in denen sie ihr Wissen einquartierten,sondern richtige Schlösser . Ich hatte aber keine Lust, inmeinem Kopf einen Palast zu konstruieren . Die Originalewaren mir immer etwas überladen erschienen – ob Hamp-ton Court oder Versailles, diese Pracht sollte eher beein-drucken als dienen . In meinen stillen und stummen Näch-ten konnte ich mir einen solchen Gedächtnispalast ebensowenig vorstellen, wie ich mir ein sternenbesticktes Kos-tüm aus Hose und Weste hätte nähen können . Aber wennschon kein Palast, dann vielleicht ein Chalet der Erinne-rungen .

Der Vorteil eines Chalets lag nicht nur darin, dass iches mir sehr detailliert vorstellen konnte – vom Treppen-geländer bis zu den Fenstern, die vor dem eisigen Windschützten –, es war auch ein Ort, den ich immer wiedergern aufsuchen würde . Ein Gedächtnisort kann nur dannals Speicher unendlich vieler Erinnerungen funktionie-ren, wenn er von besonderem Reiz ist, und sei es nur füreinen einzigen Menschen . Über Tage, Wochen, Mona-te und mittlerweile reichlich ein Jahr bin ich, Nacht fürNacht, immer wieder in dieses Chalet zurückgekehrt . Ichbin die vertrauten Korridore entlanggegangen, die ausge-tretenen Steinstufen hinauf, und habe mich in einen derzwei oder drei Sessel gesetzt, der praktischerweise geradefrei war . Und dann habe ich mir eine halbwegs plausibleGeschichte ausgedacht, ein Argument zurechtgelegt oderein Beispiel entwickelt, das ich am nächsten Tag nieder-schreiben würde .

Und dann? In diesem Moment verwandelt sich das Cha-let von einem Auslöser von Erinnerungen in einen Spei-

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cher . Sobald ich ungefähr weiß, was ich sagen will und inwelchem Zusammenhang, erhebe ich mich aus dem Ses-sel und gehe wieder zur Eingangstür des Chalets . Von dortrekonstruiere ich meine Schritte, von dem ersten Abstell-schrank (etwa für Skier) in immer gediegenere Räume: zurBar, in den Speisesaal, den Aufenthaltsraum, zur Rezeptionmit dem altmodischen Schlüsselbrett unter der Kuckucks-uhr, zum Büchersammelsurium an der hinteren Treppeund von dort hinauf zu einem der Gästezimmer . Jeder ein-zelne Ort erhält eine bestimmte Funktion etwa in einer Ge-schichte oder dient vielleicht als anschauliches Beispiel .

Das System ist alles andere als perfekt . Da es immerwieder zu Überschneidungen kommt, muss ich daraufachten, dass jede neue Geschichte eine andere Landkartehat, damit sie nicht mit einer älteren, ähnlichen Geschich-te verwechselt werden kann . So ist es, entgegen dem ers-ten Anschein, nicht klug, das ganze Thema Ernährung ineinen Raum zu packen, das Thema Verführung oder Sexin einen zweiten, intellektuelle Themen in einen dritten .Man verlässt sich besser auf die Mikrogeographie (dieseKommode steht neben dem Schrank an jener Wand) alsauf die Logik der uns prägenden konventionellen menta-len Einrichtung .

Ich bin überrascht, wie schwer es den meisten Leutenfällt, ihre Gedanken räumlich zu ordnen, um sie ein paarStunden später wieder abrufen zu können . Für mich – zu-gegeben: dank der ungewöhnlichen Zwänge meines kör-perlichen Gefangenseins – ist diese Methode sehr leicht,fast allzu mechanisch . Sie gibt mir die Möglichkeit, Bei-spiele und Sequenzen und Paradoxa in einer Weise zuarrangieren, die das ursprüngliche und viel anregendere

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Durcheinander von Eindrücken und Erinnerungen täu-schend ordentlich erscheinen lässt .

Ich frage mich, ob Männer es vielleicht leichter haben,ich meine den üblichen Typus, der besser einparkt undein besseres räumliches Vorstellungsvermögen hat als diedurchschnittliche Frau, die überall dort besser abschnei-det, wo es auf Personengedächtnis und Einfühlungsver-mögen ankommt . Als Kind konnte ich damit punkten,dass ich einen Autofahrer nur anhand einer Karte durcheine völlig fremde Stadt zu lotsen imstande war . Passenmusste und muss ich dagegen bei der Grundanforderungan ambitionierte Politiker – der Fähigkeit, eine Dinnerpar-ty zu geben, die häuslichen Verhältnisse und politischenEinstellungen sämtlicher Gäste im Kopf zu haben undschließlich an der Tür jeden Einzelnen mit Vornamen zuverabschieden . Es muss auch dafür eine Gedächtnistech-nik geben, ich habe sie aber nie gefunden .

Seit Ausbruch meiner Krankheit habe ich ein schma-les politisches Buch fertiggestellt, einen Vortrag gehal-ten, rund zwanzig autobiographische Skizzen verfasstund eine Reihe von Gesprächen geführt, in denen es dar-um ging, noch einmal einen Blick auf die Geschichte deszwanzigsten Jahrhunderts zu werfen . All diese Unter-nehmungen stützten sich auf wenig mehr als nächtlicheBesuche in meinem Chalet der Erinnerungen und denanschließenden Versuch, den Inhalt dieser Besuche mög-lichst detailgetreu wiederzugeben . Der Blick ist manch-mal nach innen gerichtet – ausgehend von einem Haus,einem Bus oder einem Mann –, dann wieder nach außen,auf ein Leben als politisch engagierter Beobachter, Lehrerund Kommentator .

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Gewiss, es gab Nächte, in denen ich (einigermaßen kom-fortabel) Rachel Roberts gegenübersaß oder nur Leere vormir hatte: Menschen und Orte kamen nur, um sofort wie-der zu verschwinden . In derart unproduktiven Momentenbleibe ich nicht lange . Ich gehe wieder zu der alten Tür,trete hinaus und wandere – die Geographie beugt sichkindlicher Assoziation – durch das Berner Oberland undsitze ein wenig mürrisch auf einer Bank . Rachel Roberts’gebannter kleiner Zuhörer hat sich in Heidis verschlosse-nen Almöhi verwandelt . Hier verbringe ich die Stundenin unruhigem Halbschlaf, bevor ich aufwache, ein wenigverärgert, weil es mir nicht gelungen ist, trotz aller nächt-lichen Anstrengungen irgendetwas zu schaffen, zu spei-chern und mir wieder in Erinnerung zu rufen .

Unproduktive Nächte sind geradezu körperlich frus-trierend . Zwar kann man sich sagen, na, komm schon,freu dich lieber, dass du nicht den Verstand verloren hast –wo steht denn geschrieben, dass du außerdem noch pro-duktiv sein sollst? Und doch mache ich mir Vorwürfe,so bereitwillig vor dem Schicksal kapituliert zu haben .Wer könnte sich in dieser Situation besser verhalten? DieAntwort lautet natürlich: Ein besseres Ich . Es ist schon er-staunlich, wie oft wir besser sein wollen als unser Ich –obwohl wir wissen, wie schwer es war, bis dahin zu kom-men .

Ich habe nichts gegen diesen Streich, den uns das Ge-wissen spielt . Aber es macht die Nacht anfällig für dienicht zu unterschätzenden Gefahren unserer dunklen Sei-te . Der mürrisch dreinblickende Almöhi ist kein glück-licher Mensch . Seine Düsternis wird nur gelegentlich ver-trieben, wenn er nachts Schränke und Kommoden, Regale

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und Korridore mit den Nebenprodukten wiederaufgerufe-ner Erinnerung füllt .

Der Almöhi, mein ewig unzufriedenes Alter ego, sitztaber nicht einfach frustriert vor der Tür des Chalets . Erhockt da und raucht eine Gitane, hält ein Glas Whisky inder Hand, studiert die Zeitung, stapft ziellos durch die ver-schneiten Straßen, pfeift wehmütig vor sich hin – und ver-hält sich im allgemeinen wie ein freier Mensch . In man-chen Nächten gelingt ihm nur das . Verbitterte Erinnerungan all das Verlorene? Oder nur der Trost der erinnertenZigarette?

Doch in anderen Nächten gehe ich einfach an ihm vor-über . Alles funktioniert . Die Gesichter sind wieder da, dieBeispiele sind gut, die sepiabraunen Fotos werden leben-dig, alles passt zusammen, und rasch habe ich meine Ge-schichte mitsamt Figuren, Illustrationen und Moral . DerAlmöhi und seine missmutigen Erinnerungen an die ver-lorene Welt zählen nicht: Die Vergangenheit umgibt mich,ich habe, was ich brauche .

Aber welche Vergangenheit? Die kleinen Geschichten, diein nächtlicher Düsternis Gestalt annehmen, sind anders alsalles, was ich bislang geschrieben habe . Selbst gemessenan den strengen Anforderungen meines Berufs war ichimmer ein rational argumentierender Verstandesmensch .Von all den Berufsklischees hat mir besonders gut die Be-hauptung gefallen, Historiker seien nur Philosophen, dieanhand von Beispielen unterrichten . Das scheint mir nochimmer gültig zu sein, auch wenn ich das inzwischen aufindirektere Weise tue .

Früher hätte ich mich vielleicht als einen schreibenden

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Geppetto gesehen, der aus Thesen und Beweisen kleinePinocchios erschafft, die dank der Plausibilität ihrer logi-schen Konstruktion lebendig werden und die die Wahrheitsagen, weil ihre Einzelteile eben so beschaffen sind . Meinejüngsten Arbeiten sind weitaus induktiver . Ihre Qualitätberuht auf einer impressionistischen Wirkung – dem Ver-such, das Private und das Politische, Verstand und Intui-tion, Erinnerung und Gefühl miteinander zu verknüpfen .

Ich weiß nicht, welches Genre das ist . Die entstande-nen kleinen Holzfiguren scheinen mir ungezwungenerund zugleich menschlicher als ihre deduktiv konstruier-ten, nach strengen Mustern entworfenen Ahnen . In pole-mischer Form – »Austerity« etwa – erinnern sie mich andie längst vergessenen Wien-Feuilletons von Karl Kraus –anspielungsreich, anregend, fast zu leicht für ihren Ge-halt . Andere – emotionaler im Ton, »Essen« vielleicht oder»Putney« – dienen dem entgegengesetzten Zweck . Indemsie die gewichtigen Abstraktionen vermeiden, die wir von»Identitätssuchern« kennen, gelingt es ihnen vielleicht,ohne große Worte ebenjene verborgenen Konturen auf-zudecken .

Wenn ich diese Feuilletons noch einmal lese, sehe ichden Mann, der ich nicht geworden bin . Vor Jahrzehntenwurde mir geraten, Literatur zu studieren . Geschichte, er-klärte mir ein kluger Lehrer, käme mir allzu sehr ent-gegen, würde mich jeder Anstrengung entheben . Lite-ratur jedoch, vor allem Dichtung, würde mich zwingen,nach ungewohnten Worten und Ausdrucksweisen zu su-chen, zu denen ich vielleicht sogar eine gewisse Affinitätentwickeln könnte . Ich kann nicht sagen, dass ich es be-dauere, diesem Rat nicht gefolgt zu sein . Meine klassisch

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intellektuellen Denkgewohnheiten haben mir gute Diens-te geleistet . Aber etwas ist dabei wohl auf der Strecke ge-blieben .

Als Kind habe ich mehr beobachtet, als ich verstandenhabe . Vielleicht ist das bei jedem Kind so . Mein Fall wäredann nur insofern anders, als diese schreckliche Krank-heit mir die Gelegenheit gibt, meine Beobachtungen nocheinmal systematisch zu betrachten . Aber wie war es wirk-lich? Wenn mich jemand fragt: »Wie kannst du dich anden Geruch der grünen Busse erinnern?« oder »Warumhaben sich dir bestimmte Details französischer Landhotelsso stark eingeprägt?«, dann heißt das, dass schon damalskleine Chalets der Erinnerung gebaut wurden .

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein .Ich habe die Kindheit einfach erlebt, habe sie vielleichtmit anderen Bestandteilen ihrer selbst verknüpft als an-dere Kinder, aber bestimmt habe ich sie nicht zwecksspäterer Verwendung absichtsvoll in meinem Gedächt-nis eingelagert . Ich war Einzelkind und habe meine Ge-danken für mich behalten . Daran ist nichts Besonderes .Wenn die Erinnerung in den letzten Monaten so müheloszurückgekehrt ist, dann vermutlich aus einem anderenGrund .

Der Vorteil meines Berufs ist, dass man Erzählungenhat, in die man Beispiele, Details, Illustrationen einfügenkann . Als Historiker der Nachkriegswelt, der sich in stum-mer Selbstbefragung an Einzelheiten aus dem eigenenLeben erinnert, habe ich den Vorzug eines Narrativs,das losgelöste Erinnerungen zusammenfügt und leben-dig macht . Was mich von vielen anderen unterscheidet,die (wie ich meiner jüngsten Korrespondenz entnehmen

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kann) vergleichbare Erinnerungen haben, ist, dass ich siein vielerlei Weise verwenden kann . Das allein ist ein gro-ßes Glück .

Man mag es geschmacklos finden, wenn ein gesunderMann mit junger Familie, der mit sechzig von einer un-heilbaren Nervenkrankheit erwischt wird, an der er baldsterben muss, von Glück spricht . Doch es gibt verschie-dene Sorten Glück . Opfer einer Motoneuronkrankheit zuwerden bedeutet sicher, irgendwann die Götter beleidigtzu haben, und dazu gibt es nicht mehr zu sagen . Wennman aber in dieser Weise leiden muss, ist es besser, ei-nen gutausgestatteten Kopf zu haben – voller abrufbarer,vielseitig verwendbarer Erinnerungen, die einem analy-tischen Verstand jederzeit zur Verfügung stehen . Es fehltenur ein Speicher . Dass es mir vergönnt war, in dem Fang-netz eines Lebens auch dies zu finden, empfinde ich alsziemlichen Glücksfall . Ich hoffe, ich habe etwas Sinnvollesdamit angefangen .

Tony JudtNew York, Mai 2010

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