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Interview Crisis of DemocracyTRANSCRIPT
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MAGAZIN
S O N N A B E N D / S O N N T A G
1 4 . / 1 5 . M R Z 2 0 1 5 S C H S I S C H E Z E I T U N G
Verzerrte Gesellschaft
Ist die Demokratie in einer Krise? Straenproteste und neue Parteien sind Normalitt,
sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. Ihn treibt eine ganz andere Sorge um.
chon Platon und Aristoteles spra-
chen von einer Krise der Demokra-
tie. Doch in letzter Zeit scheint das
ewige Thema wieder brisant zu
werden: soziale Ungleichheit, sinkende
Wahlbeteiligung, Zusammenprall der
Kulturen, Massenproteste in Dresden. Der
Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel
befasst sich seit Jahren mit den Strken
und Schwchen demokratischer Systeme.
Er warnt davor, dass sich ein Teil der Be-
vlkerung von der Politik verabschiedet.
Herr Merkel, seit Jahren wird von der
Politikverdrossenheit geredet. Sind
Protestparteien und -bndnisse wie
AfD und Pegida Zeichen dafr, dass
die Verdrossenheit politisch wird?
Protestparteien und wiederkehrende De-
monstrationen zeigen hufig eine Politi-
sierung von Brgern an. Da kann ein
Bahnhof in Stuttgart die Ursache sein
oder aber die Unzufriedenheit mit der
Einwanderungspolitik in Dresden. Die
AfD ist brigens keineswegs nur eine Pro-
testpartei. Sie reprsentiert auch Einstel-
lungen und Meinungen eines gar nicht so
kleinen Teils der Bevlkerung.
Ist Pegida ein Symptom fr eine Krise
der Demokratie?
Nein, das wre zu viel der Ehre fr diese
dubiose Organisation. Eine Demokratie
kann, soll und muss auch diese Manifesta-
tionen aushalten, selbst wenn sie latente
fremdenfeindliche Ansichten zum Aus-
druck bringen.
Man knnte Pegida auch so sehen:
Tausende machen von ihrem Brger-
recht auf Demonstration Gebrauch
und stoen eine Debatte an. Ist das
nicht lebendige Demokratie pur?
Das wre ja ein schickes schsisches Para-
dox: Brger mit teilweise undemokrati-
schen Einstellungen uern diese auf der
Strae, und schon wird die eingeschla-
fene Demokratie wieder quicklebendig.
Aber dafr ist Pegida selbst zu wenig de-
mokratisch. Dennoch: Da gibt es Brger
und das geht ber Pegida und AfD
hinaus , die fhlen sich von den konven-
tionellen Parteien nicht mehr reprsen-
tiert. Sie grnden neue Parteien und Orga-
nisationen und fllen damit eine Repr-
sentationslcke. Auch das ist Teil, wenn
nicht gar Strke der Demokratie.
Der schsische CDU-Landtagsabgeord-
nete Lars Rohwer vergleicht Pegida
mit der 68er-Bewegung, weil die Sys-
temfrage wieder auf der Tagesord-
nung sei. Sehen Sie auch Parallelen?
Das ist im ersten Anschein ignorant, bei
genauerer Ansicht geradezu abstrus. Wer
Pegida attestiert, sie htte die Systemfrage
gestellt, also die Frage nach dem Sein oder
Nicht-Sein der Demokratie, blst die Be-
deutung einer in sich gerade zusammen-
fallenden Bewegung noch mal krftig auf
und unterschtzt fahrlssig die Robust-
heit unserer Demokratie. Der Vergleich
mit der 68er-Bewegung offenbart zudem
eine erstaunliche historische Unkenntnis.
Inwiefern?
Die damalige Studentenbewegung ist
angetreten, die Reste der formierten
Adenauer-Gesellschaft aufzulsen. Sie
wollte die Gesellschaft ffnen, Pegida will
sie schlieen. Sie trat fr die berwin-
dung nationaler Engstirnigkeit ein, Pegida
will zurck in nationalistische Ressenti-
ments. Die Studentenbewegung hat die
bundesdeutsche Gesellschaft kulturell
modernisiert, Pegida parodiert mit rck-
wrtsgewandten Parolen.
S
In Sachsen lag die Wahlbeteiligung
voriges Jahr bei historisch niedrigen
49,1 Prozent. Was ist eine Demokratie
noch wert, in der jeder Zweite nicht
zur Wahl geht?
Fast nur die Hlfte. Dabei geht es nicht
nur um die niedrige Wahlbeteiligung,
sondern vielmehr um deren stndigen
Rckgang. Das eigentliche Problem aber
ist, dass diejenigen, die nicht whlen
gehen, kein reprsentativer Durchschnitt
der Bevlkerung sind. Sie sind vor allem
den unteren Schichten zuzurechnen.
Nicht nur in Sachsen, sondern auch in
ganz Deutschland, Europa und der gesam-
ten westlichen Welt: Die unteren Schich-
ten steigen aus der politischen Teilnahme
aus. Wir laufen Gefahr, zu einer Zwei-
Drittel-Demokratie zu werden.
Oft hrt man jedoch, die Wahlbeteili-
gung sei so niedrig, weil es den Men-
schen einfach zu gut geht.
Es gibt diese Zufriedenheitsthese, sie
kommt vor allem aus den USA. Dies ist
empirischer Unsinn. Denn es sind nicht
die saturierten oberen Mittelschichten,
die sich der Wahlen enthalten. Die
whlen fleiig berproportional weiter.
Es sind die unteren Schichten, die mit ih-
rem Leben unzufrieden sind. Sie protes-
tieren aber immer weniger, sondern zie-
hen sich resigniert in die politische Apa-
thie zurck.
In Belgien gibt es eine Wahlpflicht.
Aber kann das die Lsung sein, die
Brger an die Wahlurne zu zwingen?
Ich halte eine Wahlpflicht fr sinnvoll.
Einmal in vier oder mehr Jahren zu Kom-
munal-, Landtags-, Bundestags und Euro-
pawahlen zu gehen ist keine Freiheits-
beraubung. Das Steuerrecht verlangt von
den Brgern ganz andere Pflichten. Bei
einer Wahlpflicht sollte es aber auch eine
Protestoption auf dem Wahlzettel geben,
das heit eine Wahlkategorie, die besagt:
Keine der Parteien. Die Wahlpflicht
alleine wird es allerdings nicht richten.
Sind Volksentscheide ein Mittel, um
die Brger wieder mehr fr Politik zu
interessieren?
Jein. Zum einen erweitern Volksent-
scheide die Mitwirkungsmglichkeiten.
Das ist positiv. Aber: Zu Volksentscheiden
gehen noch weniger Brger als zu Wah-
len. Je hufiger sie stattfinden, umso we-
niger nehmen teil. Je weniger sich beteili-
gen, umso grer ist der berhang der
Mittelschichten und die Unterreprsen-
tation der unteren Schichten. Wenn
knapp 25,1 Prozent vor allem der mnn-
lichen Mittel- und Oberschichten mittle-
ren Alters ein Gesetz beschlieen, das fr
alle gilt dann kann das auch weniger De-
mokratie bedeuten. Dann erhebt sich mit
Fug und Recht die Frage: Wer ist das Volk?
In Brssel werden viele wichtige Ent-
scheidungen getroffen, die unser
Leben betreffen. Das EU-Parlament hat
darauf nur wenig Einfluss, wir Whler
also auch nicht. Ist das nicht eine
schleichende Aushhlung der Demo-
kratie?
Ja, leider ist das so. Die EU ist deutlich we-
niger demokratisch als die meisten ihrer
Mitgliedslnder, nicht zuletzt Deutsch-
land. Wrde die EU die Aufnahme ihrer
selbst in den Klub verlangen, sie wrde
wegen gravierender Defizite abgelehnt.
Das Europische Parlament bietet keinen
Ausweg aus dem Dilemma. Die Brger
schtzen es nicht, falls sie berhaupt
seine Kompetenzen kennen. Die Wahl-
beteiligung ging seit 1979 noch bei jeder
Wahl zurck. Bei den letzten Wahlen
2014 beteiligten sich europaweit nur
noch 43,1 Prozent. Ein dnnes Eis, das
nicht weit trgt.
In Deutschland gibt es viele, die mit
Putin sympathisieren. Steckt dahinter
auch eine Sehnsucht nach dem star-
ken Mann, den es in einer Demokra-
tie kaum geben kann?
Die Deutschen fhlen sich da doch besser
bei einer Mutti aufgehoben, die nicht
polarisiert, keine klare Meinung vortrgt,
abwartet und sich geradezu prsidial
berparteilich gibt. Ihr Typus verkrpert
in Wort und Bild eher den deutschen
Durchschnittstypus als eine herausgeho-
ben autoritre Regentin.
Brauchen wir vielleicht doch wieder
mehr Nationalstolz, um die Menschen
fr Politik zu begeistern?
Nein, wei Gott nicht. Da reicht schon die
Begeisterung fr unsere Fuball-Elf.
Wir spielen uns gegenwrtig schon ge-
ngend als wirtschaftspolitischer Lehr-
meister in Europa auf. Das wird Deutsch-
land lngerfristig in der EU zurckgezahlt
werden. Am deutschen Wesen soll bitte
niemand genesen.
Weil sich immer mehr vom System ab-
wenden, wird jetzt oft nach politischer
Bildung gerufen. Riecht das nicht nach
Staatsbrgerkunde wie in der DDR?
Nein, Staatsbrgerkunde ist keine Anwei-
sung von oben. Es ist eine Ermchtigung
der Zivilgesellschaft, die da oben zu kon-
trollieren und sich aktiv in die ffentli-
chen Angelegenheiten einzumischen.
Heute vollziehen sich nmlich politische
Lernprozesse viel strker in der Zivil-
gesellschaft als unter staatlicher gide.
Sind Islam und Demokratie miteinan-
der vereinbar?
Den Islam und die Demokratie gibt es
nicht. Es gibt Schiiten, Sunniten, Sufis, IS,
Euroislam, Hassprediger, Judenhasser,
aber auch rechtsstaatlich-demokratisch
denkende Muslime in Europa und anders-
wo. Allerdings kann kein Zweifel beste-
hen, dass manche Varianten des gegen-
wrtigen Islam nur schwer mit den Gebo-
ten der Demokratie vereinbar sind. Wer
den Abfall vom rechten Glauben drako-
nisch bestraft, wer Homosexualitt krimi-
nalisiert, die sexuelle Selbstbestimmung
der Frauen verweigert, wer Kritik am Pro-
pheten mit Fatwas belegt, der steht auer-
halb der Demokratie. Leider reden wir
weltweit da nicht ber kleine Minder-
heiten.
Warum gibt es in Deutschland eigent-
lich keine Massenproteste gegen die
zunehmende soziale Ungleichheit?
Wir sind eine saturierte Mittelschichts-
gesellschaft geworden. Die benachteilig-
ten Schichten beteiligen sich nur noch
wenig an der Politik. Gewerkschaften ver-
treten nicht mehr die Unterschichten.
Warum aber nicht gegen eine Entwick-
lung protestiert wird, die 1 Prozent oder
0,1 Prozent der Gesellschaft schamlos su-
perreich macht, ist auch fr Politikwis-
senschaftler schwer zu erklren. Die
demokratischen Regierungen haben welt-
weit mit der perspektivlosen Deregulie-
rung der Mrkte und der Privatisierung
ffentlicher Gter dem Kapitalismus zu
viel Raum gegeben. Der Zauberlehrling
hat zu viel aus der Hand gegeben.
Viele klagen, es gebe kaum noch Un-
terschiede zwischen den Parteien. Was
sagt die Politikwissenschaft dazu?
Das ist zwar ein populrer Spruch, stimmt
aber nicht. Die Programme von FDP und
der Linken, der AfD und den Grnen un-
terscheiden sich erheblich. Richtig ist,
dass die beiden groen Parteien CDU/CSU
und SPD sich in Fragen der Finanz-, Wirt-
schafts- und Sozialpolitik nur noch wenig
unterscheiden, wenn sie in der Regierung
sitzen. Groe Koalitionen sind aber kei-
neswegs weniger demokratisch als an-
dere Koalitionen, da sie einen greren
Anteil der Whler reprsentieren.
Ausgerechnet den Ostdeutschen, die
ihre Freiheit selbst erkmpft haben,
wird vorgeworfen, ihnen fehle Demo-
kratie-Erfahrung. Ist es nicht umge-
kehrt so, dass Westdeutsche in einer
Wohlfhldemokratie gelebt haben?
Die Brgerrechtsaktivisten und die gro-
en Montagsdemonstrationen 1989 in der
DDR verdienen allen Respekt. Gerade von
den Wohlstandswessis, die die Chance der
Demokratie 1945 auch eher von den
Westmchten geschenkt bekamen. Fr
Ostdeutschland wurde die Freiheit eher in
Moskau entschieden, in Polen erkmpft
und in Ungarn vorbereitet. Erst dann
wuchs der Protest auch in der DDR.
Der System-Kollaps kam dann fr viele
unerwartet. Knnen wir sicher sein,
dass unsere Demokratie stabil ist?
Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Der
faktische Ausschluss der unteren Schich-
ten ist besorgniserregend. Die Transfor-
mation der sozialen Marktwirtschaft in
eine sozial unsensible Marktgesellschaft
stellt ein Problem dar. Aber: Die deutsche
Demokratie zhlt in der Politikwissen-
schaft mit Recht zu den besten der Welt.
Zudem ist sie auerordentlich stabil.
Daran ndert auch die randstndige
Pegida nichts.
Gesprch: Marcus Krmer
Wolfgang Merkel, geboren
1952 in Hof, ist Professor
fr Politikwissenschaft und
Direktor der Abteilung
Demokratie und Demokra-
tisierung am Wissenschafts-
zentrum Berlin fr Sozialforschung. Soeben
erschienen ist das von ihm herausgegebene
Buch Demokratie und Krise, Verlag Sprin-
ger VS, 500 Seiten, 59,99 Euro.
Mehr als 25 000 Menschen kamen nach Schtzungen der Polizei am 12. Januar 2015 zu dieser Pegida-Demonstration in Dresden. Foto: Arno Burgi / dpa