sieben molekule: die chemischen elemente und das leben

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Jürgen-Hinrich Fuhrhop

und Tianyu WangSieben Moleküle

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Die chemischen Elementeund das Leben

Jürgen-Hinrich Fuhrhop und Tianyu Wang

Sieben Moleküle

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Autoren

Prof. Dr. Jürgen-H. FuhrhopOrganische ChemieFreie Universität BerlinTakustraße 314195 Berlin

Tianyu WangInst. Chemie & BiochemieFU BerlinTakustraße 314195 Berlin

1. Auflage 2009

Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA,Weinheim

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung inandere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil diesesBuches darf ohne schriftliche Genehmigung desVerlages in irgendeiner Form – durch Photokopie,Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfah-ren – reproduziert oder in eine von Maschinen,insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen,verwendbare Sprache übertragen oder übersetztwerden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnun-gen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichenin diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme,dass diese von jedermann frei benutzt werdendürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um ein-getragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlichgeschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nichteigens als solche markiert sind.

Printed in the Federal Republic of Germany

Gedruckt auf säurefreiem Papier

Satz K+V Fotosatz GmbH, BeerfeldenDruck Betz-Druck GmbH, DarmstadtBindung Litges & Dopf GmbH, HeppenheimUmschlaggestaltung Adam Design, Weinheim

ISBN 978-3-527-32099-8

� Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältigerarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren,Herausgeber und Verlag in keinem Fall, ein-schließlich des vorliegenden Werkes, für dieRichtigkeit von Angaben, Hinweisen undRatschlägen sowie für eventuelle Druckfehlerirgendeine Haftung

Page 7: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Vorwort VII

Einleitung 1

Teil 1 Die biologischen Materialien:Flüssiges Wasser, Rohre, Gele und Membranen 3

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins 5

Überblick 51.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 61.2 Cluster 181.3 Auf der Erde und über der Erde 291.4 Rohrsysteme und Pumpen 411.5 Bewegliche elektrische Ladungen (Ionen) 53

Fragen zum Wasser 58

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnennachwachsender Rohstoff im Jahr 59Überblick 59

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 612.2 Cellulose 792.3 Stärke 892.4 Zucker 94

Fragen zur Glucose 106

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran 107Überblick 107

3.1 Fettsäuren 1093.2 Fette 1253.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 1343.4 Cholesterin als flüssigkristalline Einheit 148

Fragen zu Lecithin und Steroiden 156

V

Inhaltsverzeichnis

Page 8: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Teil 2 Molekulare Module für chemische Wechselwirkungen,Nerven, Muskeln, Atmung und das Sehen 157

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen 159Überblick 159

4.1 a,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 1614.2 Polyphenole 1864.3 Tyrosin in Proteinen 1934.4 Tyrosinphosphat 207

Fragen zu Tyrosin 215

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens,der Bewegung und der Zellteilung 217Überblick 217

5.1 Aminopurin-Motive 2215.2 Die Pseudorotation der (Desoxy-)ribose 2295.3 DNS (Desoxyribonucleinsäure) 2315.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 238

Fragen zu ATP 257

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren 259Überblick 260

6.1 Sauerstoff, Sulfid und Eisen 2606.2 Pyrrol, Pyridin und ihre �-Elektronen 2696.3 Chlorophyll und Protoporphyrin 2746.4 Oxyhäm 278

Fragen zu Oxyhäm 290

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war 291Überblick 291Fragen zu Retinal 305

Epilog: Mit unseren sieben Molekülen erreichen wir viel 307

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben 309

Register 315

InhaltsverzeichnisVI

Page 9: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Dieses Buch stellt sieben Moleküle vor und folgt ihnen durch die kapillären odermuskulösen Wasserrohre des Menschen bis ins Gehirn, die Herzgefäße und dieGeschlechtsorgane. Diesem Ansatz zugrunde liegt die Überzeugung, dassSchüler der Chemie und interessierte Laien die „organische Chemie“ vor allemim Zusammenhang mit dem Trinkwasser, dem Blutkreislauf und dem Zellwassererleben sollten.

Das Molekül Wasser ist eine Pyramide mit zwei Protonen und zwei Elektro-nenpaaren an den Ecken. Im Zentrum hält ein relativ schweres Sauerstoffatomdiese vier Elementarteilchen zwar zusammen, bleibt aber selbst wirkungslosnach außen. Glucose ist starrer Sechsring aus Kohlenstoffatomen, der von ei-nem wasserfreundlichen OH-Ring umgeben ist, dessen Oberfläche aber wasser-abstoßend ist wie ein Fett. Die Aufgabe von Glucoseketten ist es, die Rohrsyste-me der Pflanzen und körnige Nahrungsstoffe aufzubauen. Glucosemolekülesind die einzige Energiequelle des Gehirns. Biologische Zellmembranen sindaus molekularen Doppelschichten des Lecithins aufgebaut und erzeugen mit Na-trium- und Kalium-Ionen die elektrischen Potenziale für Nerven- und Mus-kelströme. Nummer vier ist Tyrosin, eine Aminosäure mit holzigem Phenolcha-rakter und führt uns in die Welt der Proteine, Farbstoffe, Radikalbildner undmolekularen Anker. Der Benzolring des Tyrosins dominiert die Welt der Neuro-transmitter und der künstlichen Arzneimittel, die störende Aktivitäten von Pro-teinen blockieren. Ohne das Phosphat aus ATP gibt es keinen Gedanken, keinGefühl, keine Bewegung und keine Zellteilung. Kein Lebenszeichen des Men-schen läuft ohne Phosphat, das mit seinen negativen Ladungen die positivenNatrium- und Kaliumströme antreibt und steuert, und damit die Basis zu unse-rer Existenz legt. Oxyhäm transportiert das Oxidationsmittel Sauerstoff im redu-zierenden Blutstrom und setzt in den Zellen atomaren Sauerstoff frei, der Glu-cose und Fette in Wasser bei 37 �C verbrennt. Da kommt die Energie her, diewir zur Erzeugung der Nerven- und Muskelströme brauchen. Retinal schließlichleitet den magischen Sehprozess der Tiere und Menschen ein, der farbige, be-wegliche Bilder im Hirn entstehen lässt.

Das alles tun die sieben Moleküle für alle Menschen – und zwar großzügiger-weise seit wenigstens zweihunderttausend Jahren, obwohl man von ihnen erstseit höchstens hundert Jahren weiß.

VII

Vorwort

Page 10: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Die Autoren dieses Buches, bewundern und lieben Gestalt, Arbeit und Aus-dauer der sieben Moleküle und vieler ihrer nahen Verwandten über die Maßen.Wir hoffen, mit diesem Buch den Geist dankbaren Staunens dem geneigten Le-ser und den noch Lernenden in der Schule nahe zu bringen.

Wir danken der Freien Universität Berlin für uneingeschränkte Unterstützungund Dr. Claus Endisch und den Teilnehmern seines Chemieleistungskurses ander Bertha-von-Suttner-Oberschule in Berlin-Reinickendorf für ihre Anregungen.

Oktober 2008, Berlin Jürgen Fuhrhop · Tianyu Wang

VorwortVIII

Page 11: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Waglule Tyatohre ist eine für dieses Buch erfundene, pseudo-chemische Formel,die die Namen von sieben Molekülen zusammenfasst. Alle sieben spielen inder täglichen Arbeit der Pflanzen, Tiere und Menschen, die man „Leben“ nennt,anspruchsvolle Hauptrollen. Der „Vorname“ Waglule bezieht sich auf die Bauma-terialien Wasser, Glucose und Lecithin für biologische Rohrleitungssysteme derBäume und Gehirne, der „Familienname“ Tyatohre bezeichnet die funktionellenTeile (Module) biologischer Maschinen, die den Verkehr der Güter und Nachrichtenin den Wasserrohren betreiben, nämlich Tyrosin, ATP, Oxyhäm und Retinal.

Die sieben Moleküle enthalten insgesamt sieben verschiedenen Atomsorten,nämlich Schwefel, S, Kohlenstoff, C, Wasserstoff, H, Sauerstoff, O, Phosphor,P, Eisen, Fe, und Stickstoff, N. Daraus haben wir ein neues Kunstwort geformt,nämlich „SCHÖPFeN“. Der Doppelpunkt über dem O symbolisiert dabei dieElektronenpaare, die die Elemente zu Molekülen „verbinden“.

Chemikergehirne sind voll von Merkworten wie „SCHÖPFeN“ und „WagluleTyatohre“. Sie erwiesen sich, zumindest im Zusammenhang mit der deutschenSprache, als nützlich, um abstrakte Zusammenhänge zwischen abstrakten Na-men nicht zu vergessen.

Mit Waglule Tyathore kennen Sie die molekularen Hauptpersonen des täg-lichen Lebens. Der Rest ist Kochsalz und anderes „triviales“ Beiwerk. SCHÖP-FeN erfasst das Innere der Moleküle, den Charakter und das Seelenleben derHauptpersonen. Über CHO verfügen mit Ausnahme des Wassers alle unseresieben Moleküle: diese Elemente bauen die Rohrsysteme der Bäume, des Ner-vensystems, der Muskeln und des Blutkreislaufs auf. N kommt immer insSpiel, wenn individuelle Beziehungen zwischen den Molekülen geknüpft wer-den, zum Beispiel zwischen den Basen des Erbmaterials oder den Aminosäurender Proteine. P ist das Element des elektrischen Stroms der Nerven und Mus-keln, des Denkens, Fühlens, Sehens und der Zellteilung. Fe und S erledigendas Verbrennen der Nahrung und liefern die Energie für Tier und Mensch.

Wir berichten über Moleküle und verzichten dabei nicht auf die genaue Be-schreibung ihres Aussehens und ihres Charakters. Das bedeutet, dass wir diedazu notwendigen chemischen Formalismen einführen und unentwegt benut-zen. Verschiedene „Moleküle“ unterscheiden sich durch die Art und Anordnungder Atome. In den sieben Molekülen WaGluLe TyAtOhRe bewegen sich außer-

1

Einleitung: SCHÖPFeN und Waglule Tyatohre

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dem Atome und Elektronen wie Teile einer Maschine oder intelligente Ampel-systeme eines Verkehrsnetzes. Auch das wird dargestellt. Wenn Sie das Buchverarbeitet haben, sollten Sie die Strukturen der sieben Moleküle Waglule Tya-tohre auswendig wissen und ihren Charakter, ihre Tätigkeit beschreibenkönnen. Sie werden wissen, was das Retinal im Auge mit Lichtquanten tut, wieEilecithin in Wasser spontan Zellmembranen bildet und warum die Neuronenim Gehirn mehrfach ungesättigte Fettsäuren brauchen. Sie werden den Sauer-stoff in den sich ewig erneuernden Erythrocyten des Bluts vom aggressivenSauerstoff in den Zellen unterscheiden können. Die Kenntnis der „sieben Mole-küle“ ist der Schlüssel zur Welt der biologisch und medizinisch wirksamen Stof-fe.

Dieses Buch will Ihnen als naturwissenschaftlich interessiertem Laien oderals Schüler mit dem Chemieunterricht im Nacken zeigen, wie sieben wichtigeund reizvoll unterschiedliche Moleküle des Lebens sich im Alltag verhalten, wieund wo sie dem Lebenden ermöglichen, die Welt zu denken, zu fühlen undsich sehend in ihr zu bewegen. Sie sollen die Moleküle des Körpers und ihreWasserwege kennen lernen und auch erfahren, wo Hindernisse, Überlastungenoder fehlende Hafenarbeiter stören, ja das Leben bedrohen.

Diese Grundkenntnisse könnten auch die staatlichen, von den Bürgern be-zahlten Schulen mit ihren Chemielehrern und -lehrerinnen vermitteln. Sie tunes aber, wie wir meinen, nur unzureichend. Stunde um Stunde vergeht derChemieunterricht mit der Beobachtung von Farbumschlägen bei der Titrationvon Säuren und Basen, mit dem Auswendiglernen des Periodensystems der Ele-mente, der Diskussion abstrakter Elektronenschalen, mit der Fällung von Sal-zen und mit sinnentleertem Vokabellernen. Das erworbene formale Wissen vonder Chemie bleibt im Leben, beim Denken, Fühlen, Essen, Arbeiten, Liebenund Leiden so irrelevant, wie es schon während der Schulzeit empfunden wur-de. Es wird schnell vergessen, zur Unkenntnis gesellt sich stumpfes Desinteres-se.

Die Autoren dieses Buchs sind enthusiastische Chemiker, die sich trotz, nichtwegen des Schulunterrichts für ihr Fach entschieden haben. Ein wenig hoffensie, dass die Lehrinhalte der Schulen sich ändern lassen und dass die Einstel-lung der Menschen gegenüber der Wissenschaft von den Stoffen, der Chemie,einmal so freundlich wird, wie es zum Beispiel die glorreichen sieben Moleküleverdienen.

Denn warum lassen sich Bäume wie Menschen auf ein so langes Leben ein?Weil ihnen die Moleküle in jeder Sekunde süßes Leben und frische Nahrung indie Wasserwege der Wurzeln, Stämme und Blätter, der Muskeln, Nerven undGehirne tragen und ihnen die Möglichkeit geben, zu wachsen und auf der wun-derbaren Erde zu gedeihen!

Einleitung: SCHÖPFeN und Waglule Tyatohre2

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Teil 1Die biologischen Materialien:Flüssiges Wasser, Rohre, Gele und Membranen

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Alles fließt (Platons Zusammenfassung der Lehre Heraklits)Wasser: Wandlungsphase eins (I ging, das Chinesische Buch der Wandlungen)

Überblick

1.1 Die Materie des Universums besteht zu 92,4% aus den Protonen (p) und7,3% �-Teilchen (p2n2) der Sterne und den entsprechenden Atomen Wasser-stoff und Helium im interstellaren Raum. Die Elemente SCHÖPFeN ent-stehen zusammen mit etwa hundert anderen zu insgesamt 0,3% in großenSternen durch Fusion der Protonen (p = H+) und Neutronen (n), nachdemdie Umwandlung von Protonen in Neutronen und Positronenstrahlung vielEnergie freigesetzt hat.Chemische Bindungen entstehen im interstellaren Raum. Sie entsprechenElektronenpaaren geringfügiger Masse, aber großer elektromagnetischerEnergie, die sich als Wellen in begrenzten Räumen („Orbitalen“) zwischenden Atomkernen bewegen. Das häufigste Molekül des Weltalls ist Wasser-stoff, H2, danach kommt, mindestens hundertmal seltener, das Wasser. Al-les Wasser des Weltraums ist sehr kaltes Eis, das flüssige Wasser der Erdebildet eine Ausnahme. Alles Erdwasser stammt aus dem Weltraum. SeineGesamtmenge ist seit sechs Milliarden Jahren unverändert. Das Sauerstoff-molekül der Luft stammt aus der Biochemie des Wassers auf der Erde undenthält eine Dreifachbindung und zwei ungepaarte Elektronen („Biradikal“)in antibindenden Orbitalen.

1.2 Das Wassermolekül ist eine Pyramide mit einem Volumen von etwa0,3 nm3. 18 mL oder 1 mol enthalten 6�1023 Moleküle mit je zwei negati-ven Elektronenpaaren und zwei positiven Protonen an den Ecken. Dasschwere Sauerstoffatom im Zentrum der Wasserpyramide wirkt kaum nachaußen, es fixiert lediglich Elektronen und Protonen, die sich über Wasser-stoffbrücken erst zu pentameren, eisartigen, dann zu flüssigen hexamerenClustern verbinden. Diese Cluster bestimmen den sehr hohen Siedepunkt,die sehr geringe Viskosität, die Inkompressibilität, die hohe Dichte und diehohe Dielektrizitätskonstante des flüssigen Wassers.

5

1Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins

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1.3 Am Tage verdampft die Sonne das Wasser der Meere und setzt damit dasKlima der Erde in Gang. Das Wasser kondensiert zu Tröpfchen(0–2 km Höhe) und Eiskriställchen (2–12 km Höhe), wenn es sich in derAtmosphäre der Kälte des Weltraums nähert. Winde entstehen, an kaltenBergwänden regnen die Wolken ab und das Wasser sammelt sich inFlüssen, Seen und im Boden. Etwa 3% des Wassers werden zu Süßwasser(107 km3). Wasser ist nicht farblos, sondern schwach blau. Stehendes Was-ser hat ab etwa 5 m Tiefe eine Temperatur von 4 �C. Abfließendes und wel-lenbewegtes Wasser wird zur Erzeugung elektrischen Stroms über rotieren-de Turbinen genutzt.

1.4 Trinkwasser wird über unterirdische Rohrsysteme mit Pumpen zu denMenschen in den Städten gefördert, über Kanalsysteme in Abwasserbeckengeleitet, dort gereinigt und wieder in die Flüsse geleitet. Im Menschenfließt das vom Herzen gepumpte Blut vorwiegend in Kapillaren.

1.5 Kochsalz und andere Salze zerfallen im Wasser in elektrisch geladene Teil-chen (Ionen), die für Nerven- und Muskelströme in Gehirn und Körper derTiere verantwortlich sind.

1.1SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen

Die sieben Atome oder Elemente, aus denen die sieben Moleküle bestehen,wurden von den Alchemisten und Chemikern Schwefel (engl. sulphur), Kohlen-stoff (carbon), Wasserstoff (hydrogen), Sauerstoff (oxygen), Phosphor (phosphorus),Eisen (iron) und Stickstoff (nitrogen) getauft und haben als Symbol dazu die welt-weit gebräuchlichen Abkürzungen S, C, H, O, P, Fe, N bekommen. Jedes dieserAtome hat einen Atomkern, der aus den Sternen stammt und eine Atomschale,die mit Elektronen aus dem interstellaren Raum gefüllt ist. Masse und Energiedes Universums sind in den Sternen konzentriert, der interstellare Weltraumist eine kalte Leere mit Staub und Strahlung und Planeten wie der Erde.

Die Erde hat vor sechs Milliarden Jahren viele Wassermoleküle aus dem Welt-all an der Oberfläche gesammelt und etwa zwei Milliarden Jahre später begon-nen, im warmen Sonnenschein Bäume, Gehirne und viele andere organisierteSysteme aus Wasser und den sieben Elementen entstehen zu lassen. Wie dasgeschehen konnte, wird wohl ewig ungeklärt bleiben. Im Laufe der Mensch-heitsgeschichte jedenfalls ist mit den sieben Molekülen nichts passiert: Es wa-ren von Anfang an dieselben mit immer den gleichen Funktionen. Nie wirdman mit letzter Gewissheit erfahren, wie die Evolution vor Milliarden Jahrenbegann und ablief. In Bezug auf die Entstehung der Elemente aber genügt dieBeobachtung der Sterne von heute unter der vernünftigen Annahme, dass dortseit sechs Milliarden Jahren die gleichen Prozesse ablaufen. Ein ähnliches„Prinzip des Aktualismus“ gilt für die Entstehung der Erdkruste und des Erd-inneren. Die Gegenwart ist ein Fenster zur Vergangenheit – Erosion, Klimaund Vulkanismus, Physik und Chemie der Sterne und des interstellaren Raums

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins6

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sind elementar einfach und werden von immer den gleichen chemischen undphysikalischen Gesetzen gesteuert. Gesteinsschichten und Gebirge, die heutelangsam wachsen oder verschwinden, haben das schon immer so getan. Dieastronomische und geologische Geschichtsschreibung ist deshalb glaubwürdigund nachvollziehbar, wenn man von der unvorstellbaren Umwandlung vonEnergie zu Protonen in einem einzigen „Urknall“ einmal absieht.

Über die Herkunft des Atomkerns des Wasserstoffs, H+, ist nichts weiter zusagen, als dass er als Proton (p) „schon immer da“ war. In allen Sternen liegtdieser einfachste aller Bausteine der Materie als nackter Atomkern vor, daherauch die Bezeichnung „Proton“ (griech. protyl, „Urstoff“). Aus ihm sind alle an-deren Atomkerne durch Fusion in den Sternen entstanden. Heute besteht dieMaterie des Weltalls zu 92,4 Gewichtsprozent aus Protonen mit einem Durch-messer von etwa einem Femtometer (10–15 m). Das Proton trägt eine positiveelektrische Elementarladung und hat die relative Atommasse Eins. Alle anderenAtomarten sind Vielfache der Elementarmasse des Protons. Auch zwei von dreiAtomkernen des Wassers, H2O, sind Protonen.

Bei Sternentemperaturen von tausenden bis Milliarden Grad und bei der ext-rem dichten Packung der Protonen in den Sternen werden die Abstoßungskräftezwischen den positiven Ladungen so groß, dass das Proton zerfällt: Ein positiv ge-ladenes Positron mit viel Energie und kaum Masse wird abgestrahlt, zurück bleibtein elektroneutrales, stabileres Neutron (n). Positronen sind 2000-mal leichter alsProtonen; Positronenstrahlung ist energiereich mit einer Wellenlänge von etwa10–12 m, 100000-mal energiereicher als die energiereichste ultraviolette Strahlungder Sonne mit einer Wellenlänge von etwa 10–7 m oder 100 nm (1 nm = 10–9 m).Das Positron existiert auf der Erde nicht, aber man kann es in Cyclotronskünstlich herstellen und benutzen, um die Wanderung des Wassers und der Glu-cose im Gehirn und im Körper zu verfolgen (Seite 51 f und 102f).

Das Neutron (n) reagiert in den Sternen spontan mit einem zweiten Protonzu einem Deuteron (pn; griech. deutero, „das Zweite“). Die einfachste und häu-figste „Fusion“ der Atomkerne in den Sternen ist damit erfolgt. Es folgt eineweitere Fusion zweier Deuteronen zu �-Teilchen (p2n2) oder HeliumkernenHe2+. Das ist alles, was die meisten Sterne, zum Beispiel unsere Sonne, kön-nen: Sie verschmelzen Wasserstoff- zu Heliumkernen und setzen dabei vielEnergie frei. 99,7% der Masse des Weltalls sind damit erfasst: 92,4% sind die„ursprünglichen“ Wasserstoffkerne, 7,3% sind Heliumkerne aus dieser einenFusion. Dabei gilt immer, dass man Reaktionen im Universum nie in der Ver-gangenheitsform schildern sollte, denn sie laufen – wie schon gesagt – heutegenauso ab wie vor Milliarden Jahren (Abb. 1.1).

Die nächsten Elemente des Alls stammen aus dem CNO-Fusionszyklus inden großen Sternen. Kohlenstoff (6C), Stickstoff (7N) und Sauerstoff (8O) stam-men aus der Fusion von zwei 4He-Kernen zum kurzlebigen Berylliumkern 8Be,der zunächst ein weiteres �-Teilchen (p2n2) aufnimmt und Kohlenstoff 12C bil-det. Aus 12C und pn wird dann Stickstoff 14N, aus 12C und Deuterium p2n2

wird Sauerstoff, 16O. Die links tief gestellte Zahl gibt hier die Zahl der Protonenim Kern oder, deutscher, die „Ordnungszahl“ der Elemente an, die links hoch-

1.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 7

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gestellte Zahl die Masse des Kerns, also die Summe aus Protonen und Neutro-nen. Die tief gestellten Zahlen sind identisch mit der Reihenfolge im Perioden-system, das wir hier nicht besprechen, weil wir es nicht brauchen.

Die vier Elemente H, C, N und O genügen bereits, um die Wände der biologi-schen Wasserrohre, die Zellmembranen und Proteine der Bäume und Men-schen, zu formen; zum Aufbau der Pflanzen fehlt eigentlich nur noch Magnesi-um, 12Mg, das häufigste Metall im Weltall. Für die Nerven- und Muskelströmebrauchen wir außerdem 15Phosphor, 11Natrium, 19Kalium und 20Calcium, wobeisich Calciumphosphat für Knochen und Zähne als unübertrefflich erwies.

Nach der Bildung der �-Teilchen (Heliumkerne) und der Atomkerne von C,N, O kollabieren die großen Sterne und erhitzen sich weiter. Neue Zyklen be-ginnen, denen jetzt Kohlenstoff-, Neon-, Sauerstoff- und Silicium-Kerne als Aus-gangsstoffe dienen, wobei die letzen drei der sieben Elemente, nämlich Phos-phor (15P), Schwefel (16S), und Eisen (26Fe), ebenso wie Natrium (11Na), Mag-nesium (12Mg), Kalium (19K), und Calcium (20Ca) gebildet werden. All das läuftträge ab, die Ausbeuten sind miserabel. Die Sterne, auch die schweren und sehrheißen, bleiben überwiegend (99,7%!) bei Protonen und Heliumkernen stehen,ihre Zusammensetzung ähnelt der der Sonne. Nur die Zwischenstufe der Deu-teronen, pn = 2H+, ist bei der Kernfusion einigermaßen aktiv und sorgt fürschwere Elemente mit gerader Massenzahl. 26Eisen ist das letzte Element, mitdessen Bildung die Sterne noch Energie gewinnen, das also „freiwillig“ her-gestellt wird. Danach kommen Cobalt (27Co) und Nickel (28Ni), für deren Bil-dung schon ein wenig Energie zugeschossen werden muss. Die schweren Ele-mente wie Platin, Gold, Quecksilber und Blei kosten die Sterne sehr viel Ener-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins8

Abb. 1.1 Im Kern der Sonne und anderer Sterne kollidierenzwei Protonen H+ und erzeugen ein Deuteron, in dem einProton und ein Neutron dicht nebeneinander liegen. Die an-dere positive Ladung wird in Form eines Positrons e+ abge-strahlt. (Das Positron ist das Antiteilchen des Elektrons.)

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gie, werden in Fusionen nur selten erreicht und zerplatzen außerdem in heißenSternen leicht wieder. Wasserstoff- und Heliumkerne dominieren deshalb dieWeltallmaterie; die leichten Elemente bis zum Eisen sind tausend- (CNOSFe)bis millionenfach (P) seltener und die schweren Elemente jenseits vom Eisengar milliardenfach weniger vorhanden als Protonen.

Das häufigste Metall ist merkwürdigerweise nicht das erste Metall mit einergeraden Ordnungszahl (Beryllium, 4Be, das aus reaktionsfreudigen Deuteronendirekt zugänglich ist, aber in großer Hitze leicht zerfällt) sondern gleichauf daszweite und dritte, Magnesium und Eisen, 12Mg und 26Fe. Magnesium wurde inder Evolution zum Metall des Chlorophylls, das in Photosynthese Sauerstoff-moleküle, O2, produziert, Eisen lagerte sich in den Blutfarbstoff Häm ein, derdas gleiche Sauerstoffmolekül zur Verbrennung der Nahrungsstoffe in Menschund Tier nutzt (Abb. 1.2).

Die Atomkerne SCHOPFeN sind damit im Weltall vorhanden. Die Sterne ha-ben materiell beigesteuert, was sie konnten, um Voraussetzungen für die biolo-gische Evolution auf der Erde zu schaffen. Nun dampfen die Atomkerne inskalte Universum ab, treffen auf „Weltraumstrahlung“ mit einem hohen Anteilnegativ geladener Elektronen und fangen diese, weit entfernt von den heißenSternen, in einer „Schale“ um den Kern herum ein. Atomkerne werden so zuAtomen, dann zu Molekülen. Das Eintreten der Elektronenpaare in die Atom-schale symbolisieren wir in diesem Buch durch einen Doppelpunkt im Zent-rum von SCHOPFeN und erhalten so das in der deutschen Sprache bildhaft-suggestive Wort „SCHÖPFeN“ für die sieben Atombausteine des Lebens.

Das I-Ging-Schöpfungsspiel der Chinesen mit Yin und Yang hat damit begon-nen, wobei Yin der primären Kraft der Ausdehnung des Universums entspricht,Yang der des Zusammenziehens. Die schweren, massehaltigen Atomkerne(Yang) haben einen zusammenziehenden (zentripetalen) Effekt und ziehen dieleichten Elektronen (Yin) an. Die Wellenstrahlung der Elektronen wirkt zentri-fugal, strebt Raumausfüllung an (Yin). Kerne liegen innen (Yang), die Elektro-nen außen (Yin), Kerne sind harte (Yang) Materie, Elektronen haben einen wei-chen (Yin), diffusen Wellencharakter, Elektronen sind negativ (Yin) geladen undtendieren zu chemischen Bindungen, zu „sozialem“ (Yin) Kontakt mit Nach-barn. Kernen ist die Chemie fremd, sie führen ein abgeschirmtes Eigenleben(Yang) (Abb. 1.3).

Wir kommen zur Chemie, zum Spiel der Elektronen miteinander, das Atomeaneinander bindet, sie zu Molekülen zusammenfügt. Elektronen haben dengleichen Doppelcharakter wie die Positronen: sie sind einerseits leichte Teilchenmit einer Ladung und einer unbegrenzten Lebensdauer, die sich mit Magnetfel-dern beschleunigen und mit Wasser hydratisieren lassen. Andererseits sindElektronen eine energiereiche Wellenstrahlung mit einer Wellenlänge von10–12 m oder 1 pm (1 pm = 10–12 m). Im Atom wiegen die Elektronen fast nichtsund bewegen sich mit Geschwindigkeiten von 3000 km/s. Nahe an den Atom-kerne schwirren sie als „Elektronenwolken“ und bilden chemische Bindungenzwischen den Atomkernen aus. Aus zwei Wasserstoffatomen wird so zum Bei-spiel ein Wasserstoffmolekül, H2. Die Elektronen lokalisieren sich dabei entwe-

1.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 9

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1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins10

Abb. 1.2 Relative Häufigkeit der Elementeder Sonne bis zum Zink. Sie wurde aus demEmissionsspektrum dieses Sterns abgeleitet.Wasserstoff ist zehnmal häufiger als Heliumund 1010-mal häufiger als Beryllium (Be).Fünf Elemente unserer sieben Moleküle sind

etwa 103- bis 104-mal seltener als H, P ist106-mal seltener. Die sieben Elemente dersieben Moleküle haben die Ordnungszahlen1 (H), 6 (C), 7 (N), 8 (O), 15 (P), 16 (S)und 26 (Fe).

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der als einzelne Elektronen oder als ein Elektronenpaar in definierten Raumseg-menten („Orbitalen“), die etwa 2000-mal größer sind als der Atomkern. Zu denElektronenpaaren in einem einzigen Orbital kommt es trotz der elektrostati-schen Abstoßung gleicher Ladungen. Diese „Elektronenkorrelation“ wird in denModellen der Quantenmechanik in erster Näherung gegenüber der Wechselwir-kung der Elektronen mit dem unbeweglichen Kern einfach vernachlässigt odernur in Form einer geringfügigen „Abschirmung“ der Kernladung durch benach-barte Elektronen berücksichtigt. Wenn der abstoßende Effekt zwischen denElektronen so gering ist, würde man natürlich nicht nur zwei, sondern mehrereElektronen in kernnahen Orbitalen erwarten. Das wiederum ist deshalb nichtder Fall, weil die Elektronen in einem Orbital alle gleiche Energie haben, sichaber durch wenigstens eine Quantenzahl unterscheiden müssen – sonst wärensie identisch. Diese Quantenzahl heißt „Spinquantenzahl“ und ihr Betrag istbei Elektronen entweder +1/2 oder –1/2. (Modell: Das Elektron rotiert um einegedachte Achse links oder rechts herum.) Da nur diese beiden Werte möglichsind, können sich immer nur zwei Elektronen in einem Energieraum aufhalten.Akzeptiert man diese Modellvorstellung, kann man sich anschaulich vorstellen,dass die Elektronen auf Grund ihrer schnellen Bewegung um den Kern und ei-ner Rotation um die eigene Achse ein magnetisches Moment komplizierterStruktur erzeugen, das ein positives oder negatives Vorzeichen haben kann. Diegeringe Abstoßung zwischen den beweglichen Ladungen könnte dann durch

1.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 11

Abb. 1.3 Das Yin-Yang-Modell. Yin ist schwarz und unten,Yang ist weiß und oben. Die Grenze zwischen beiden hatden Charakter einer Welle. Das Weiße hat ein schwarzesZentrum, das Schwarze ein weißes Zentrum. Alle Dingesind durch Naturkräfte miteinander verwoben, alle Dingewandeln sich.

Abb. 1.4 Das Wasserstoffatom H und das Wasserstoffmolekülmit zwei Protonen (+) und Räumen (Orbitalen), die mit Elekt-ronen (–) besetzt sind. Bei der Bildung der Bindung wirdEnergie frei (�), bei Zufuhr hoher Energie (Temperaturenüber etwa 1000 �C) zerfällt das Molekül in Atome (�).

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magnetische Anziehung aufgehoben werden. Der langen Rede kurzer Sinn:Chemische Bindungen bestehen aus Elektronenpaaren zwischen Atomkernen. Es gibtsie nur im interstellaren Raum, nicht in den Sternen (Abb. 1.4).

Die Physik des Wasserstoffs wird dadurch kompliziert, dass in den Sternenzwei stabile Arten von Wasserstoffkernen („Isotope“) gebildet und in den inter-stellaren Raum entlassen werden: Protonen p = H+ mit der relativen Atommasse1 und Deuteronen, pn = D+, mit der relativen Atommasse 2. Beide finden sichim Wasser des Weltraums wieder. „Normales“ Wasser hat zwei Protonen, H2O,und eine relative Molekülmasse von 18, „schweres“ Wasser HDO, in dem einProton durch ein Deuteron ersetzt ist, hat eine relative Molekülmasse von 19und findet sich im Promillebereich überall. D2O mit der relativen Molekülmas-se 20 gibt es im Weltraum nicht in messbarer Menge. D2O lässt sich auf der Er-de durch einfache, langsame Elektrolyse (Seite 54) von Leitungswasser anrei-chern. 20 L Wasser geben dann 12 mL 99,9%iges D2O, das in hoher Konzentra-tion (>50%) stark wachstumshemmend wirkt, weil alle Gleichgewichte, an de-ren Einstellung Wasser beteiligt ist, langsamer werden. Ein Gramm reines D2Okostete im Jahr 2006 etwa 10 �.

In der Hauptmasse des Wassers, den Eiswolken im Weltraum, finden sich0,2% HDO, in den Protonen der Sterne hundertmal weniger (0,002%). Das Erd-wasser liegt mit 0,02% HDO dazwischen – das ist zehnmal mehr als in denSternen, wo das Deuteron geboren und in �-Teilchen umgewandelt wird, undzehnmal weniger als in den gigantischen Wolken aus Eis, wo sich das schwereWasser sammelt, weil H2O leichter abdampft als HDO. Der Mittelwert von0,02% HDO ist in der Geschichte der Wasserwanderung begründet. Das Welt-raumwasser wurde auf Meteoren als Eis mit 0,2% HDO gesammelt und dannan Ton und Eisenoxide chemisch gebunden, wobei das leichte Wasser H2Oschneller reagierte und sich anreicherte. Diese chemische Bindung des Wasserswar die erste Erdreaktion. Nicht gebundenes Wasser mit relativ viel HDO ver-dampfte hingegen zurück in den Weltraum. Als sich die Erde wegen der gro-ßen Gravitationskraft innerhalb des wachsenden Planeten zusammenballte underhitzte, schmolz sie zu einer glühenden Kugel, die Wasserwolken ausstieß.Diese Wolken aber konnten die Erde nicht mehr verlassen, weil deren Gravitati-onskraft bereits zu groß geworden war, um Wassertropfen oder Eiskriställchenin den Weltraum zu entlassen (Abb. 1.5).

D2 lässt sich von HD und H2 mit einem Massenspektrometer unterscheiden.Ein Massenspektrometer ist eine Vakuumkammer, in die die zu untersuchendeProbe gesprüht und dort mit einem energiereichen Elektronenstrahl aus einerKathodenröhre bestrahlt wird. Dieser Strahl schießt ein Elektron aus den ver-dampften Molekülen heraus und erzeugt einfach positiv geladene Moleküle, sogenannte Kationen, im vorliegenden Fall H2

+, HD+ und D2+. Das kationische Gas

wird von einer negativ aufgeladenen Metallplatte am Ausgang der Kammer an-gezogen, durch einen Schlitz gebündelt und als schmaler Molekülstrahl in eingebogenes Rohr geleitet, das in einem starken Magnetfeld liegt. Dieses Magnet-feld lenkt schwere („träge“) Kationen weniger ab als leichte. Am Ende desRohrs steht eine Fotoplatte (heute ein Computerchip), welche die nach ihrer

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins12

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Masse geordneten Molekülstrahlen registriert und mit einem dem Gasstrom zu-gegebenen Standard vergleicht. Die relativen Massen und die relative Zahl derTeilchen in den voneinander getrennten Gasströmen können so direkt abge-lesen werden. Relative Molekülmassen bis etwa 5000 werden unter Anwendungmesstechnischer Tricks direkt vermessen (Abb. 1.6).

Zurück zur Fusion der Protonen zu schweren Atomkernen. Wasser enthält ne-ben H auch Sauerstoffatome mit acht Protonen und acht Neutronen im Atom-kern. Diese Fusion von acht Deuteronen schaffen über verschiedene Zwischenstu-

1.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 13

Abb. 1.5 Das Wasser der Erde enthält wie das Wasser in Me-teoriten 0,02% Deuterium D. Das Wasser in unserer Sonne istzehnmal ärmer, das der Eisnebel im Weltraum zehnmal reicher anDeuterium. Erdwasser ist Meteoritenwasser – das ist ein wich-tiger Hinweis auf die Entstehungsgeschichte unseres Planeten.

Abb. 1.6 Massenspektrum eines Gemischs aus H2+, HD+ und

H+. Die Ionen sind durch Fragmentierung einer Probe beimBeschuss mit energiereichen Elektronen entstanden.

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fen große und sehr heiße Sterne im CNO-Zyklus. Die acht Elektronen, die dieProtonen neutralisieren, kommen aus der Weltraumstrahlung. Zwei davon sindauf einem inneren, kugelförmigen Orbital lokalisiert, das dem des Wasserstoffs(Seite 11) gleicht, die sechs „Außenelektronen“ des Sauerstoffatoms aber verteilensich auf vier Orbitale in Tetraeder-Anordnung um den Atomkern herum. Die Te-traederwolke mit dem Sauerstoffkern im Zentrum sorgt für einen optimal weitenAbstand der einander abstoßenden negativen Ladungen der einzelnen Elektronenund der Paare, die sich in jedem Orbital aufhalten. Zwei der Orbitale sind mit jeeinem Elektronenpaar voll besetzt und haben kein Magnetfeld. In den beiden an-deren Orbitalen wartet je ein magnetisches Elektron auf ein weiteres Elektron, dasdie „bindenden“ Orbitale auffüllt und das Magnetfeld aufhebt. Ein Sauerstoffatomkann nun entweder mit seinesgleichen ein Sauerstoffmolekül, O2, bilden oder mitanderen Atomen reagieren.

Im Weltall herrscht ein Überangebot von Wasserstoff; bei Temperaturen über–70 �C gibt es dort deshalb keinen elementaren Sauerstoff, sondern ausschließlichWasser. Zwei Wasserstoffatome lagern dazu ihre Elektronen in die beiden halb lee-ren Orbitale des Sauerstoffatoms ein und verkleinern den Tetraederwinkel von109� auf 105�, weil die abstoßende Wirkung der Elektronen zwischen den Protonenkleiner ist als die zwischen zwei ungebundenen Elektronenpaaren (Abb. 1.7).

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins14

Abb. 1.7 Oben: Das Sauerstoffatom mitsechs Außenelektronen. Nur zwei Orbitalesind halbbesetzt und können Elektronen vonanderen Atomen, zum Beispiel von zweiWasserstoffatomen, aufnehmen. Unten: Dietetraedrische Struktur des Wassers mit demSauerstoffatom, O, im Zentrum, den großen„Wasserstoffflügeln“ H+ vorne und den et-was weniger voluminösen Elektronenpaarenhinten (Modell von Elektronenpaaren in lo-kalisierten Orbitalen). Alle Orbitale des Sau-erstoffs und des Wasserstoffs sind mit Elek-

tronenpaaren besetzt: zwei Paare binden dieWasserstoffatome an den Sauerstoff, zweiweitere Paare sind nur mit dem Sauerstoff-atom verbundene „einsame“ oder „nichtbin-dende“ Elektronenpaare. Der Bindungswinkelist 105�, also kleiner als der Tetraederwinkelvon 109�. Das zeigt, dass ein Teil der Elekt-ronen sich in einem kugelförmigen Orbitalbefindet, was die Abstoßung der Elektronen-paare und damit den Spreizwinkel des Tetra-eders vermindert.

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Die Namen „Sauerstoff“ und „oxygen“ (O, griech. oxygen, „Säure-Bildner“) be-ruhen auf einem Irrtum der ersten Chemiker, die Ende des 18. Jahrhundertsdarum kämpften, Mystik und Scharlatanerie der Alchimisten (Goldmachen,Stein der Weisen, künstlicher Mensch Homunculus) mithilfe von Waage, Ele-mentaranalyse und Synthese hinter sich zu lassen. Man hatte noch wenig ver-messen und glaubte, dass alles, was sauer schmeckt und Eisenpulver auflöst,Sauerstoff enthält. Das stimmt auch für alle biologischen Säuren außer Salzsäu-re, HCl. Tatsächlich aber sind es die Protonen, die sauer schmecken und biolo-gische Zellen töten.

Das Sauerstoffmolekül, O2, tritt, soweit das Weltall vermessen wurde, ingrößerer Menge nur auf der Erde auf, wo Pflanzen es in der Photosynthese ausdem Wasser mithilfe von Sonnenlicht freisetzen (Seite 274 ff). Die Sonne wan-delt hier das Sauerstoffatom des Wassers (elektronenreich; Yin) in das Sauer-stoffatom des Sauerstoffmoleküls (elektronenarm; Yang) um. Wasser wurde da-mit erst auf der Erde zur Wandlungsphase eins, zum Lebensspender.

Sauerstoffatome aus der Photosynthese haben vier innere Elektronen, dienicht nach außen wirken, und vier Einzelelektronen in vier halbbesetzten Au-ßenorbitalen. Wenn sich zwei Sauerstoffatome verbinden, läge die Bildung ei-ner Doppelbindung aus zwei Elektronenpaaren nahe. Dann blieben insgesamtvier nichtbindende Elektronenpaare übrig. Die Sauerstoffatome aber wählen ei-ne andere, energieärmere Variante: Sie bilden eine Dreifachbindung aus, indemzusätzlich zu der Doppelbindung eine dritte Bindung aus „halbierten“ Elektro-nenpaaren der Sauerstoffatome erzeugt wird. Dabei bleibt jeweils ein einzelnesElektron pro Atom übrig. Es entsteht ein Biradikal �O2

� , ein Molekül mit zweiungepaarten Elektronen. Diese Elektronen befinden sich in einem energierei-chen Molekülorbital, das „antibindend“ wirkt. Der Energiegewinn aus der Bil-dung der Dreifachbindung wird dadurch zum großen Teil aufgehoben, abereben nicht völlig. Die O–O-Bindungslänge entspricht der einer Doppelbindungund Luftsauerstoff liegt vollkommen in dieser Biradikal-Form vor.

Ungepaarte Elektronen machen das Molekül magnetisch. Dieser „para“mag-netische Grundzustand verbietet es dem Sauerstoff, direkt mit diamagnetischen(nicht magnetischen, keine ungepaarten Elektronen besitzenden) organischenMolekülen zu reagieren. Sauerstoff ist zwar ein starkes Oxidationsmittel (Yang)und biologische Zellen sind starke Reduktionsmittel (Yin), trotzdem sind die re-duzierenden Wälder und Felder in der Luft stabil, trotzdem können Tiere dieLuft einatmen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Das ist ausschließlich im para-magnetischen Grundzustand des Sauerstoffs begründet. Chlorgas hat etwa dasgleiche Oxidationspotenzial von etwa 1,3 Volt wie Sauerstoff, ist aber diamag-netisch. Eingeatmet zerstört Chlor die menschliche Lunge in wenigen Minuten.

Paramagnetischer Sauerstoff ist schwach blau, was sich besonders in derFlüssigkeit zeigt (Siedepunkt: –170 �C). Das Sauerstoffmolekül absorbiert rotesLicht und wird dabei in einen angeregten Zustand überführt, der keine Drei-fach-, sondern die oben vorausgesagte Doppelbindung enthält. Dieser diamag-netische Sauerstoff ist ein viel aggressiveres Oxidationsmittel als das Biradikal.Das Sauerstoffmolekül ist das einzige natürliche Oxidationsmittel auf der Erd-

1.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 15

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oberfläche, und es wirkt wegen seines Biradikalcharakters sehr langsam. DerParamagnetismus des Sauerstoffmoleküls ist jedenfalls eine unbedingte Voraus-setzung für das Überleben der Pflanzen und Tiere in einer oxidierenden Atmo-sphäre (Abb. 1.8).

Im Weltall werden Sauerstoffmoleküle kaum beobachtet. Sie reagieren ober-halb von –70 �C spontan mit dem allgegenwärtigen Wasserstoff zu Wasser. DasWasserstoffmolekül H2 ist das einfachste aller chemisch wirksamen Reduktions-mittel, seine reduzierende Kraft gleicht der von biologischen Organismen. Daselektrochemische Potenzial des Paars H2/2H+ liegt bei null Volt, das derKörperflüssigkeiten des Menschen auch. Das Sauerstoffmolekül ist das einzigeOxidationsmittel des Universums und der Erde. Wasserstoff und Sauerstoff rea-gieren zu Wasser, wenn sie sich unter geeigneten Bedingungen begegnen.

Für das Sonnenlicht, das die Erde erreicht, ist Wasser der wichtigste Absorber.Etwa 70% der atmosphärischen Absorption beruht auf Wasser. In der Nachtkühlt sich deshalb die nicht bestrahlte Erdhälfte nur langsam ab. Unser Ge-wächshaus funktioniert deshalb auch bei zeitweiliger Dunkelheit.

Die Wasserbildung im Weltraum lässt sich wegen der Wassermassen in derAtmosphäre nicht direkt beobachten und messen. Satellitengebundene Infrarot-Spektrometer (ISO) aber machen das möglich. Besonders intensive Banden derH2O- und HDO-Absorptionsbanden finden sich bei Frequenzen von 1595 und3756 Schwingungen pro Zentimeter (cm–1) bzw. 1403 und 3707 cm–1. Zeit-abhängige und quantitative Daten vom relativ nahen Orionnebel belegen, dassdort täglich Wolken aus Eiskristallen neu entstehen, deren Masse 1011 km3

flüssigen Wassers entspricht. Das ist 60-mal mehr Wasser als auf der Erde seitsechs Milliarden Jahren festgehalten wird. Alles Wasser der Erde wird also heu-te jeden Tag 60-mal in einem einzigen Weltraumnebel geschaffen!

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins16

Abb. 1.8 Die beiden Formen des Sauerstoff-Moleküls. Links: Der energiearme, magneti-sche, biradikalische Zustand des Luftsauer-stoffs mit sechs bindenden und vier nicht-bindenden Elektronen. Damit hat jedes Sau-erstoffatom acht Elektronen in seinen vierenergiearmen Orbitalen (siehe Abb. 1.19).Die beiden übrig bleibenden Einzelelektro-

nen finden dort keinen Platz mehr und wer-den in energiereicheren, antibindenden Orbi-talen untergebracht. Rechts: Der angeregte,nicht magnetische Zustand mit vier binden-den (Doppelbindung) und acht nicht binden-den Elektronen. Er entsteht in geringer Aus-beute bei der Einstrahlung von sichtbaremLicht auf den biradikalischen Sauerstoff.

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Das Wasser der Erde, ihr leichtestes Molekül, stammt als einziges der siebennicht aus der biologischen Evolution auf der erkalteten, doch von der Sonne be-schienenen Erdoberfläche, sondern war von vorneherein ein integraler Bestand-teil des Chemielabors Erde. Dort wurde es vor sechs Milliarden Jahren in die Si-licat-, Eisen- und Nickeloxidgitter des Weltraumstaubs eingebaut, aus dem sichder Planet Erde bildete (vorwiegend war das wohl Tonerde), oder es bildete Eis-mäntel auf den Meteoren. „Ton“ ist ein Wort germanischen Ursprungs und be-deutet „dicht“. Eine Tonne trockenen Tons sammelt 150 kg Wasser in den Zwi-schenräumen der Silicatschichten und gibt es unter Hitze- und Druckeinwir-kung wieder ab (Abb. 1.9).

Vor knapp fünf Milliarden Jahren schmolz der Planet Erde dann unter demDruck der in ihm wirkenden Gravitationskräfte zu einer glühenden Kugel ausviel Eisen- und Nickeloxid (Seite 266) im Kern und Aluminiumsilicaten in derSchale zusammen. Das Wasser wurde entweder chemisch an die Oxide der Er-de gebunden oder in Wolken aus Wassertropfen und Eiskristallen gespeichert,die infolge der Schwerkraft der Erde nicht im Weltall „verschwanden“. Das„heute“ entstehende Orionwasser ist „frisches Wasser“ im Vergleich zum Erd-wasser: Die Wasser erzeugenden Orionnebel sind nur wenige Lichtjahre vonuns entfernt, die Eisnebel sind bestenfalls ein paar Millionen Jahre alt undwachsen noch heute. „Alles fließt“ in der Erdgeschichte – dank Wasser.

1.1 SCHÖPFeN: Protonen, Wasserstoff, Sauerstoff und Elektronen 17

Abb. 1.9 Meteoriten enthalten oft viel Kohlenstoff und Wasserin Form von Graphit bzw. Eiskristallen. Diese Rohstoffe wurdenauf der Erde zur Ausgangsbasis der biologischen Evolution; dieanorganischen Oxide dominieren die irdische Geologie.

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Es ist vor allem das Wasser, das Erdklima, biologische Evolution und Mensch-heitsgeschichte zueinander geführt hat. Die biologische Evolution der anderensechs Moleküle konnte vor drei bis vier Milliarden Jahren beginnen, als die Erd-oberfläche genügend abgekühlt war, um flüssiges Wasser aufnehmen zu können.

1.2Cluster

Wir kommen zum Molekülbegriff, zum Einzelteilchen des Wassers, H2O. „Mo-lecula“ ist der letzte lateinische Diminutiv von Masse. Für die alten Römer wardas eine verniedlichende Form, „klein“ im Sinne von „äußerst unwichtig“. Che-miker sehen das seit 200 Jahren anders: Das Wort Moooleeeküüül beherrschtihr Denken und ihr Berufsleben, es bedeutet für sie etwa: „Zur Sache, Schätz-chen!“ oder „Na, Kleines, wir werden das Ding schon schaukeln.“ Jedes Prob-lem, das auf die Dimension der Moleküle reduziert werden kann, ist für denChemiker anschaulich und lösbar: Er isoliert und reinigt chemische Verbindun-gen, die aus einer einzigen Molekülsorte bestehen, erarbeitet eine individuelleStrukturformel für das Molekül, was einer absolut genauen, unumstößlichenVermessung seiner Architektur entspricht, und charakterisiert seine Eigenschaf-ten. Danach wandelt er es in beliebig viele Abkömmlinge („Derivate“) um undverkauft die Nützlichsten als Arzneimittel, Farben, Waschmittel, Parfums, Werk-stoffe oder was immer gerade gebraucht wird. Reinigen und Verkaufen – alleskein Problem, solange sich der Chemiker dabei auf eine Molekülsorte zur Zeitbeschränken darf. Dann nimmt er sich das nächste und das nächste Molekülvor und wählt wiederum die Nützlichsten für immer neue Zwecke aus. Heutekennt man zwischen 107 und 108 verschiedene Moleküle, genau weiß das nie-mand.

Es ist gut, um die unsichtbare Kleinheit und gigantische Zahl der Molekülezu wissen, was allerdings nicht bedeuten kann, dass man sie sich „vorstellen“kann. Zahl und Kleinheit sind jenseits der menschlichen Erfahrung.

99 von 100 Molekülen des Menschen sind Wassermoleküle. Wie kommt mandarauf? Bei einem Gewicht von z.B. 75 kg enthält ein Mensch etwa 50 kg Was-ser, was sich aus einer einfachen Bilanz der Volumen des Bluts, des Zellwassersund des Zwischenzell- (interstitiellen) Wassers sowie aus der Analyse der Zu-sammensetzung von Muskeln und Nerven ergibt. Die restlichen 25 kg, dasheißt etwa 35 Gewichtsprozent, sind die Proteine der Muskeln, die Lipide derNerven, Zellmembranen und Fettgewebe sowie das Calciumphosphat der Kno-chen. Die durchschnittliche relative Masse der leichtesten dieser Komponenten(Fette, Calciumphosphat) bezogen auf das Wasserstoffatom liegt bei 350, dasder Proteine über 1000, das des Wassers bei 18. So kann man grob ansetzen,dass alle anderen Moleküle unseres Körpers im Durchschnitt wenigstens30-mal schwerer als ein Wassermolekül sind. 1/30 von 35% ist etwa ein Ge-wichtsprozent. Wenn wir unsere Moleküle zählen, ist nur ein Molekül von hun-dert etwas anderes als Wasser.

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins18

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Jedes Mol einer Molekülsorte umfasst 6�1023 einzelne Moleküle. 1 mol Was-ser, das sind 18 g oder 18 mL, enthält also 6�1023 identische Moleküle H2O.50 kg oder 50 L Wasser sind dann 6�1023�55,5�50= 1,6�1027 Moleküle Wasser(der Faktor 55 kommt durch die Umrechnung von 18 mL für ein Mol auf 1000ml für Mol pro Liter zustande). Die Gesamtzahl aller anderen Moleküle einesdurchschnittlich schweren Mannes liegt dann etwa bei 1�1026 bis 2�1026 Mo-lekülen. Die Zahl der Wassermoleküle in einem erwachsenen Menschen lag zuallen Zeiten in der Größenordnung von 1027; das durchschnittliche Körperge-wicht schwankte immer nur zwischen (ungefähr) 40 und 120 kg. Ein Fettwanstmit 1028 Wassermolekülen (600 kg) wurde bisher ebenso wenig beobachtet wieein Klapperdürrer mit nur 1026 Molekülen (6 kg). Die Anzahl der Wassermole-küle ist also bei allen Menschen ziemlich gleich, und zwar ungefähr 1,6�1027;einen qualitativen Unterschied („bessere“ oder „schlechtere“ Wassermoleküle)gibt es schon gar nicht. Für die anderen sechs Moleküle, die in diesem Buchbeschrieben werden, gilt das genauso. Lecithin und ATP von Cleopatra, Einsteinoder Dschingis Khan unterscheiden sich nicht im Geringsten von Ihrem,freundlicher Leser. Leicht zu analysierende, aber unendlich schwer zu deutendeUnterschiede gibt es lediglich zwischen den Anordnungen der Untereinheitender DNS (Vererbung und Evolution) und, vor allem, zwischen den mehr oderweniger originellen Wasserwegen, die die Synapsen der Nerven des Gehirns(Lernen und Schöpfen) mit den Muskeln (Bewegung und Leben) verbinden.

Beginnen wir also unser Studium der molekularen Welt mit der Zahl derWassermoleküle in jedem von uns. Was bedeutet 1027? Zunächst ist das nichtsweiter als eine Eins mit 27 Nullen dahinter.

Die große Zahl lässt sich nicht fühlen.Das Hirn allein kann damit spielen.

Ein erster Versuch der Veranschaulichung mit der kapitalistischen Methode desGeldzählens scheitert kläglich. Gäbe es 1027 Cent auf der Welt und würde mansie auf die maximal 100 Milliarden (1011) Menschen aller Zeiten gleichmäßigverteilen, so hätte jeder Mensch ein Vermögen von 1016 Cent oder 1014 Eurozur Verfügung. Das sind hunderttausend Milliarden Euro. So viel Geld (proMensch) ergibt keinen Sinn. Der Cent ist offensichtlich ein zu großes Modellfür ein Molekül. Nehmen wir stattdessen das gedruckte chinesische Symbol fürdas Wasser, das Zeichen („schui“) und versuchen, dieses Symbol 1027-malaufzuschreiben. Der erste Übergang von 100 = 1 zu 101 = 10 Molekülen bedeutetdie Addition von 9 Molekülen. Der nächste „Sprung“ von 101 auf 102 = 100 Molek-üle bedeutet schon 90 , der Sprung von 102 auf 103 braucht 900 , zu 104

gelangt man nur mit 9000 zusätzlichen . Zehntausend oder 104 ist bereits derletzte Schritt des I-ming-Systems der Chinesen. Sie lehnten es ab, weiter zu zäh-len, es dauerte zu lange bis hunderttausend zu zählen, es machte keinen Sinn.Für den wissenden Chinesen begann jenseits von Zehntausend das Unendliche.Wir sind aber noch unendlich weit entfernt von 1027. 104 ist nichts dagegen.

Die Anzahl der Moleküle in einer geringen Masse ist so groß, dass sie inExponenzialzahlen aufgeschrieben werden muss und unvorstellbar bleibt. Man

1.2 Cluster 19

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muss hier verinnerlichen, dass jeder letzte Sprung um eine einzige Zahl imExponenten, also zum Beispiel von 1022 auf 1023 Moleküle, zehnmal mehrMoleküle bedeutet. Der letzte Sprung bringt immer die entscheidenden 90%.Der letzte Sprung von 1026 auf 1027 Moleküle entspricht schließlich900000000000000000000000000 schui-Zeichen . Dafür bräuchte man einBuch, dessen Papieroberfläche 60 Millionen Erdoberflächen entspräche und dasgrößer und schwerer wäre als die Erde selbst (Abb. 1.10).

Auch das kleine schui-Zeichen für Wasser ist also viel zu groß, um die Zahl1027 auf Erden zu veranschaulichen. 18 mL Wasser aber, die gerade so viele Mo-leküle enthalten, kann sich jeder problemlos vorstellen.

Ebenso wie die große Zahl der Moleküle sind deren winzige Maße leicht zuberechnen, aber nicht zu begreifen. Ein Mol Wasser füllt einen Raum von

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins20

Abb. 1.10 Im Bild ist die Zahl 10000 veranschaulicht – für diePhilosophen Chinas der Sprung ins Unendliche. Bis 10000konnte man unter normalen Lebensumständen noch zählen,bis 100000 nicht mehr, das dauerte auch für das gelasseneGemüt zu lange.

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18 cm3, ein Molekül hat also ein Volumen von 18�10–6 m3/6�1023 oder0,03�10–27 m3 oder 0,03 nm3. 33 Moleküle Wasser passen in einen Kubiknano-meter. Ein Kubiknanometer verhält sich zur Größe eines normalen Spielwürfelswie dessen Volumen zu dem eines Würfels von 1000 km Kantenlänge. Das istein sehr großer Würfel, wenn man sich daran erinnert, dass der Mount Everestnur knapp 10 km hoch ist.

Die Anzahl der Moleküle mit gleichen Eigenschaften in unserem Körper istsehr hoch. Selbst das Millionstel Milligramm eines Steroidhormons im Blut be-deutet immer noch etwa 1013 Moleküle. Der bio-logische Nutzen dieser hohenZahlen liegt auf der Hand: Wenn eines der Hormonmoleküle kaputt geht odersein Ziel verfehlt, an sinnlosen Proteinen andockt (Seite 154 ff), so macht dasnichts aus, weil Milliarden und Milliarden anderer Moleküle den gewünschten(„nützlichen“) Effekt durchsetzen werden. Das System wird erst versagen, derOrganismus erst sterben, wenn entweder die Produktion wichtiger Molekülevöllig aufhört oder ihr Transport nicht mehr funktioniert; das einzelne Molekülaber wird im Strom des Lebens problemlos durch Seinesgleichen ersetzt. Jedeseinzelne Molekül kann an der richtigen Stelle eine Kaskade von Millionen Re-aktionen auslösen.

Die Summenformel des Wassers, H2O, ist wie die ganze Chemie nicht älterals die Zauberflöte Mozarts. Man ermittelte sie durch elektrochemische Spal-tung (Elektrolyse) des flüssigen Wassers in die Gase Wasserstoff und Sauerstoff:Zuerst legte man ein negatives Potenzial an und reduzierte bei –0,5 V die Pro-tonen H+ zu Wasserstoffmolekülen (4H+�2H2), dann oxidierte man bei +1,5 Vdie übrig bleibenden OH–-Anionen zu Sauerstoff (4OH–�O2 + 2H2O) und ach-tete darauf, dass bei der Oxidation an der Anode und der Reduktion an der Ka-thode die gleiche Menge Strom (Ampère pro Sekunde) geflossen war. Dann ent-standen an der Kathode zwei Volumen Wasserstoff, an der Anode wurde einVolumen Sauerstoff gebildet. Das Schema dazu ist auf Seite 54 abgebildet. Das

1.2 Cluster 21

Abb. 1.11 Die Ermittlung der Summenfor-mel eines Moleküls am Beispiel des Was-sers: Zwei Liter Wasserstoffgas H2 plus einLiter Sauerstoffgas O2 ergibt zwei Liter Was-sergas H2O. Wägt man die Gase ab, so fin-det man, dass sich immer acht Gramm Sau-erstoff (=ein halbes Molatom) mit einem

Gramm (=1 Molatom) Wasserstoff zu9 Gramm Wasser verbinden. Anfang des19. Jahrhunderts nahm man deshalb fürWasser die Summenformel OH an, dasAtomgewicht des Sauerstoffs war acht.Später korrigierte man zu H2O und 16.

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Volumenverhältnis 2 :1 entspricht der dem H:O-Atomverhältnis in H2O, dasGewichtsverhältnis den relativen Molekülmassen von H2 (2) und O2 (32):44,6 Liter Wasserstoffgas wiegen vier Gramm, 22,3 Liter Sauerstoffgas wiegen32 Gramm. Daraus bilden sich 2 Mol oder 36 Gramm oder 36 Milliliter flüs-siges Wasser, 2H2O (Abb. 1.11).

Die Eigenschaften des Wassers werden von den beiden elektropositiven Was-serstoffatomen und den beiden negativen Elektronenpaaren an der Oberflächedes Wassermoleküls bestimmt. Das dicke Sauerstoffatom im Zentrum dient da-bei nur als Chassis zur Aufhängung der Ladungen an den Ecken eines Tetra-eders. Alle 1045 Wassermoleküle der Erde haben die Gestalt eines molekularenSchmetterlings mit zwei Wasserstoffflügeln, einem Sauerstoffkörper und Elekt-ronenwolken.

Exklusiv für das Wasser, das dominierende und einfachste Molekül des Le-bens, soll jetzt die Chemie und die Elektronenstruktur realistisch betrachtetwerden, so wie sie sich aus Computermodellen ergibt. Dabei wird vorausge-setzt, dass nicht nur einzelne Elektronenpaare zwei Atomkerne zusammenbin-den, sondern dass alle Elektronenpaare in verschiedenen Orbitalen bindendeBeiträge liefern. Beim Wasser ergibt dieses Molekülorbitalmodell, dass ins-gesamt sechs von insgesamt zehn Elektronen des Systems an chemischenO–H-Bindungen beteiligt sind. Die inneren beiden Elektronen des energieärms-ten kugelförmigen Orbitals des Sauerstoffatoms sind abgeschirmt und bindennicht mit. Zwei bindende Orbitale für je zwei Elektronen enthalten dann erwar-tungsgemäß Elektronenwolken hoher Dichte zwischen dem Sauerstoff- und denbeiden Wasserstoffatomen. Das sind die klassischen O–H-Bindungen. Das dritteElektronenpaar entfernt sich zwar von allen drei Atomkernen und schwebt weit-gehend isoliert über dem Sauerstoffatom, enthält aber auch noch bindendeElektronen, die zur Elektronendichte zwischen den Atomen beitragen. SechsElektronenpaare halten also die Atomkerne zusammen, die „bindenden Elektro-nen“. Nur das vierte äußere Elektronenpaar ist vollkommen am Sauerstoffatomlokalisiert und weder bindend noch antibindend, sondern schlicht „nichtbin-dend“.

Das Orbitalmodell des Moleküls liefert auch antibindende, energiereiche Or-bitale, die im Grundzustand des Wassers nicht mit Elektronen besetzt sind, son-dern erst erreicht werden, wenn dem Molekül viel Energie (kurzwelliges UV-Licht, Röntgenstrahlung, sehr hohe Temperaturen) von außen zugeführt wird.Elektronen in einem antibindenden Orbital haben die Räume zwischen denAtomkernen verlassen und treiben die Kerne des Moleküls auseinander, bewe-gen sich aber oft zwischen Atomen, die in dem gegebenen Molekül nicht direktnebeneinander stehen. Hier bahnen sich dann „Umlagerungen“ an, aus Wasserwird bei der Zersetzung Wasserstoff, H2. Intensive, energiereiche Strahlung zer-legt deshalb das Wassermolekül in seine Atome, führt schließlich zu neuen Mo-lekülen.

Dieses Phänomen ist typisch für alle Moleküle: Die Absorption von viel Energiezerstört sie, weil die Elektronen die bindenden Orbitale um die Atomkerne herumverlassen. Die Kenntnis dieser Molekülorbital-Geometrie bildet eine nützliche Ba-

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sis für das Verständnis der Chemie des Wassermoleküls im Grundzustand und imangeregten Zustand. Manche experimentellen Beobachtungen lassen sich damitdeuten, wichtiger noch, neue Experimente lassen sich planen. So lassen sichdie Energien und Wege berechnen, mit denen man Wasser zersetzen und wiederbilden kann, was zur Grundlage des Betriebs vieler moderner Maschinen (Explo-sionsmotor, Hybridantrieb, Brennstoffzelle) werden kann (Abb. 1.12).

Die Art und Anordnung der Atomkerne bestimmt Masse und Gestalt einesMoleküls im Ruhezustand. Die Wechselwirkungen der Elektronenwolken aberdominieren die physikalischen Eigenschaften der Gase, Flüssigkeiten und Fest-körper und vor allem die chemischen Reaktionen. Der Grundzustand definiertdabei lediglich die Startposition eines Moleküls. Wenn die vom Sonnenlicht ini-tiierte Photosynthese, die Verbrennung von Nahrungsmitteln in der Atmungoder die Synthese von Proteinen losgeht, dann werden Elektronen in instabile,energiereiche Orbitale gehoben, dann kann Wasser zersetzt oder irgendwo an-gelagert werden (Seite 48, 49, 54, 58).

Ein einzelnes Wassermolekül gibt es auf der Erde kaum. In flüssigem Wasser,und darum geht es in der Wandlungsphase eins, zieht jedes Wassermolekül

1.2 Cluster 23

Abb. 1.12 Links: Die ersten Rechnungen mitdem „delokalisierten Orbitalmodell“ (= jedeElektronenwelle verteilt sich auf mehrere Or-bitale) zu den beiden O–H-Bindungen desWassers zeigten die Beteiligung von sechsElektronen daran. Das dritte Elektronenpaarvon unten ist dabei weitgehend, aber nichtvöllig nichtbindend. Erst beim vierten, nicht-bindenden Elektronenpaar ergaben sich tat-sächlich Räume ohne Elektronendichte zwi-

schen den Sauerstoff- und Wasserstoffato-men. Beim antibindenden Orbital schließlichfand man nur minimale Elektronendichte amSauerstoff, aber zwischen den Wasserstoffa-tomen war sie sehr hoch. Wenn dieses Orbi-tal besetzt ist, wird das Wassermolekül alsomolekularen Wasserstoff, H2, abspalten, derdann viel stabiler wird als das Wasser. NachH.B. Gray, G. Haight, Principles of Chemistry,Benjamin, 1967.

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mit seinen elektropositiven Protonen und elektronegativen Elektronenpaarenvier andere Wassermoleküle zu sich heran. Ein Wasser-Pentamer (H2O)5 ent-steht, dessen molekulare Masse der von neunzig Protonen entspricht. Dieserelementare Wassercluster (engl. „Haufen“) ist die Grundeinheit flüssigen Was-sers. Jedes Wassermolekül ist am liebsten mit vier Nachbarmolekülen über sogenannte Wasserstoffbrücken H···O···H verknüpft: Die Protonen kleben anSauerstoffatomen benachbarter Wassermoleküle, die Elektronen der Sauerstoff-atome kleben an Protonen.

Die Clusterbildung sorgt für die enorme Wärmespeicherfähigkeit des flüssi-gen Wassers. Die Wärmekapazität ist hoch, solange die Cluster intakt sind, indenen die Wassermoleküle in unterschiedlichster Weise durch Wärmebewegun-gen verschoben werden. Dieser Effekt lässt erst bei Temperaturen oberhalb von37 �C nach. Bei 38–42 �C bricht ein Cluster nach dem anderen auf. Bei 37,5 �C

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins24

Abb. 1.13 Jedes Wassermolekül umgibt sichin flüssigem und festem Wasser mit wenigs-tens vier anderen Wassermolekülen. Dabeibildet jedes kovalent gebundene Wasserstof-fatom eine Wasserstoffbrücke (gestrichelt)zu einem Elektronenpaar eines benachbartenWassermoleküls. Die Bindungsenergie einerWasserstoffbrücke liegt um 5 kcal/mol, dieWärmeenergie bei 20 �C beträgt etwa 0,6kcal/mol; das bedeutet, alle Wassermolekülesind bei Raum- oder Körpertemperatur mit-einander verbrückt. Abbildung a) zeigt das

Pentamer, das b) in einer Ebene zu hexa-gonalen Mustern führt. Es ist im flüssigenWasser bei 4 �C optimal verwirklicht. c) Die-ses Modell zeigt ein bei 20 �C häufig auftre-tendes gestörtes Muster; zusätzliche Wasser-moleküle drängen sich in die Lücken derhexagonalen Anordnung. d) Situation bei37 �C, der Körpertemperatur: 40% der regel-mäßigen Cluster sind durch gestörte ersetzt.Solche Temperaturbilder stammen aus Com-putermodellen.

a)

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sind 0,6 cal/mL oder etwa 30 kcal für die 50 L Wasser eines Erwachsenen erfor-derlich, um die Körpertemperatur um ein Grad auf 38,5 �C anzuheben. Bei die-ser kritischen Temperatur („Fieber“) zerfallen viele polarisierte Cluster in denengen Kapillaren des Blutkreislaufs (Seite 50, 104 und 144ff) und in den Hyd-rathüllen der Ladungsträger von Nerven und Muskeln (Seite 211). Überhitzungauf 40 �C kann dort ein lokales Chaos und einen biologischen Kollaps erzeugen.Deshalb ist es gut, dass die Cluster im Volumenwasser und das Verdampfen ander Hautoberfläche („Schweiß“) kühlend wirken und dass die Wärmekapazitätdes Wassers so hoch ist (Abb. 1.13).

Das Pentamer ist aber nicht alles. Besonders wichtig für die Eigenschaftenflüssigen Wassers ist ein sechstes Wassermolekül, das sich wie eine spitze Gabelmit einem Extra-Wasserstoffbrücken-Paar in jedes leicht gestörte Tetraeder hinein-drängt und zu einer größeren Dichte des Wassers führt. Das sechste Wasser-molekül wandert blitzschnell um das gestörte Tetraeder herum und beseitigt sodie Zähflüssigkeit oder „Viskosität“ des Wassers, die sich aus steifen Clustern er-geben würde. Ungestörte Wasserstoffbrückensysteme würden das Wasser zäh-flüssig wie Glycerin machen, das unstete Drängen des sechsten Moleküls in dieCluster hinein aber bewirkt die wunderbare Fluidität des Wassers, die unser Le-ben und die Meereswellen beschwingt (Abb. 1.14).

Das fluktuierende Wasser-Hexamer führt zu extrem komplexen Verhaltens-mustern des Volumenwassers, deren molekulare Ursachen oft schwer zu enträt-seln sind. Ein Molekül im Zentrum, vier reguläre Wasserstoffbrücken zu nächs-ten Wassermolekülen, der bewegliche Lückenfüller und größere, ebenso irregu-läre Folgecluster sind als Basis für eine einfach-durchsichtige, quantitative Deu-

1.2 Cluster 25

Abb. 1.14 Links: Das Zustandsdiagramm desWassers. Festes Wasser hat immer eine Tem-peratur unterhalb von 0 �C. Druckunterschie-de beeinflussen die Struktur flüssigen Was-sers kaum. Rechts: Wasser hat eine hohe

Oberflächenspannung: Die Moleküle an derGrenze zwischen Luft und Wasser werdendurch Wasserstoffbrücken von unten fixiert,weshalb sie erst bei +100 �C verdampfen undnicht bei –200 �C wie molekularer Sauerstoff.

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tung und Berechnung der Eigenschaften großer Wasservolumen kaum zu brau-chen. Hier bleibt der molekular denkende Chemiker ratlos; die Welt der tau-send gleichzeitig auftretenden „intermolekularen“ Wechselwirkungen verschie-den zueinander gelagerter und fluktuierender Moleküle verwirrt ihn nur. Dasrealistische molekulare Modell ist zu kompliziert, die gemessenen physika-lischen Besonderheiten des flüssigen Wassers sind es auch.

Nützlicher ist hier ein statistischer Überblick, das klassische Zustandsdia-gramm des Wassers. In den Grenzbereichen dieses Diagramms, an den die Zu-stände voneinander trennenden Linien, stehen Eis und flüssiges Wasser undWasserdampf im Gleichgewicht.

Der freie Raum über flüssigem oder festem Wasser füllt sich bei wachsenderTemperatur und bei sinkendem Druck mit steigenden Mengen Wasserdampf,die Luft wird feucht. Der Ausdruck „Gleichgewicht“ bedeutet dann, dass heißereMoleküle die Flüssigkeit oder das Eis an der Oberfläche verlassen, während kälte-re Moleküle des Dampfes zur Flüssigkeits- oder Eisoberfläche zurückkehren. Hit-ze und niedriger Druck treiben viel Dampf in die Luft, niedrige Temperaturen undhoher Luftdruck lassen sie austrocknen. Das Zustandsdiagramm in Abbildung1.16 zeigt, dass ein Temperaturanstieg in Eis um 10 �C (von –10 �C auf 0 �C) einenrelativ größeren Effekt auf die Menge des verdampften Wassers hat als derselbeAnstieg zwischen null und 37 �C in flüssigem Wasser. Danach steigt die Verdamp-fungskurve stärker an und wird naturgemäß nahe dem Siedepunkt von 100 �Csehr steil. Der Siedepunkt des Wassers liegt mit 100 �C sehr hoch. MolekularerSauerstoff, dessen relative Molekülmasse fast doppelt so hoch wie die des Wassersist, siedet schon bei –182 �C. Das alles kommt durch die Volumenwirkung derCluster zustande, die es nur beim Wasser gibt.

Die Stabilität der Cluster, die daraus resultierende Oberflächenspannungflüssigen Wassers und Tröpfchenbildung im Gas sind für den hohen Siede-punkt verantwortlich. Oberhalb von 100 �C verdampft schließlich alles Wasser(Siedepunkt), dessen Dampfdruck erreicht dann den Druck der Außenluft. We-der flüssiges Wasser noch der Dampf darüber erhitzen sich bei Normaldrucküber 100 �C, die Temperatur des Dampfs steigt erst weiter, wenn alles Wassergasförmig geworden ist, wenn alle Tröpfchen („Nebel“) im Dampf verschwun-den sind.

Der Siedepunkt des Wassers ist deshalb so hoch, weil Wassermoleküle an derOberfläche durch Wasserstoffbrücken von den Clustern im Volumenwasser fest-gehalten werden. Die gleiche Ursache führt auch dazu, dass das Oberflächenwas-ser noch stärker geordnet ist als das Volumenwasser. Wasser benetzt hydrophileOberflächen nur langsam und wird von hydrophoben Oberflächen abgestoßen,weil die Wasserstoffbrücken zum Innenvolumen mit den fremden Oberflächenkonkurrieren und sich, wenn sie gelöst sind, schnell wieder schließen.

Flüssiges Wasser hat bei 4 �C seine höchste Dichte und ist dann dichter alsfestes Eis. Bei einem Druck von eintausend Atmosphären, wie sie etwa dieschmale Kufe eines Schlittschuhs auf einer Eisoberfläche erzeugt, sinkt derSchmelzpunkt des Eises bis auf –7,5 �C ab und der Schlittschuh gleitet auf ei-nem Wasserfilm. Ist das Eis aber kälter, wird es stumpf. Eis gibt es wegen sei-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins26

Page 37: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

ner relativ geringen Dichte nur bei Temperaturen unter 0 �C. Eine Druckerhö-hung bei höheren Temperaturen begünstigt den flüssigen gegenüber dem fes-ten Zustand, weil flüssiges Wasser von 4 �C die größte Dichte hat. In Eis gibt eskein bewegliches Molekül mehr, das Lücken schließt. Das sechste, beweglicheMolekül flüssiger Wassercluster ist in das feste Kristallgitter eingefügt wordenund dieses Gitter ist weniger dicht als flüssiges Wasser.

Das Volumen flüssigen Wassers vermindert sich unter einem äußeren Druckkaum, die „Kompressibilität“ ist mit 0,003 Volumenprozent pro Atmosphäre(oder kilobar) sehr gering. Zwar ist diese Eigenschaft allen Flüssigkeiten ge-meinsam, aber außerdem ist das Wassermolekül extrem leicht und wegen derCluster und deren Beweglichkeit extrem gut geeignet zur kooperativen Bildungvon langen und hohen Wellen. Hinzu kommt, dass sich Oberflächenwassersehr stark vom Volumenwasser unterscheidet: Ersteres ist nur mit durchschnitt-lich drei Wassermolekülen verbunden anstatt mit fünf. Wenn ein Wasser-molekül an die Oberfläche drängt, muss es daher zwei Nachbarn abstreifenund bekommt dafür nichts als den Kontakt mit ein bisschen gasförmiger Luft.Jedes Oberflächenmolekül drängt deshalb zurück ins Volumen, wo es vollkom-men von anderen Wassermolekülen umgeben ist. Wenn irgend möglich, bildetdas Wasser große Tropfen mit einer kleinen Oberfläche oder aber stabileSchichten auf Oberflächen, die OH-Gruppen für Wasserstoffbrücken bereit stel-len. Der Energieaufwand, der zu betreiben ist, um Moleküle aus dem Volumenan die Grenzfläche zu Gasen zu befördern, heißt Oberflächenspannung. BeimWasser ist diese hoch, bei organischen Lösungsmitteln niedrig.

Die Wirkung hoher Wellen im Sturm wird übertroffen von jener flacher Tsu-namis (jap. „große Welle“), die sich blitzschnell über tausende von Kilometernausbreiten. Auslöser eines Tsunami ist ein Erdbeben in großer Meerestiefe. DasAnheben einer tektonischen Platte um 1–2 m unter einer Wassersäule von, sa-gen wir, 3000 m Höhe erzeugt lokal nur eine Welle von 1–2 m Höhe: nichts Be-sonderes, kaum auffallend. Aber die Anhebung geht rasend schnell, setzt imMeer enorme Energien frei, die reibungsfrei transportiert und in 1000 km Ent-fernung die Küste zerstören. Ein Seebeben der Stärke 7,5 auf der Richterskalareicht aus, um eine Tausende von Metern hohe Wassermasse ruckartig hoch-zuheben. Die kinetische Energie dieses Hebeprozesses wird an der Wasserober-fläche in Wellenenergie umgesetzt, wobei die Ausbreitungsgeschwindigkeit vder Welle von der Tiefe des Meeresbodens abhängt (v= 9,8 m/s2�Tiefe in Me-tern) – sie beträgt bei 6000 m Meerestiefe etwa 800 km/h, bei 2000 m Tiefe500 km/h und bei 1000 m noch 120 km/h.

Keine dieser Geschwindigkeiten kann mit der von seismischen Wellen im fes-ten Gestein der Erdoberfläche (36 000 km/h) konkurrieren, sodass Erdbebensta-tionen vor Seebeben warnen können: Das Erdbeben meldet sich in der festenErdkruste viel eher an und geht der Welle im offenen Meer voraus (Seite 266).Seebeben in Nord-Süd-Richtung erzeugen Wellen in den Richtungen Ost undWest und umgekehrt. Typische Wellenlängen liegen im offenen Meer bei200± 100 km. Es dauert etwa 10–15 min, bis der erste Wellenberg der Flutwelledem ersten Wellental folgt, das immer vorneweg läuft und zunächst das Ufer

1.2 Cluster 27

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großflächig über mehrere Minuten hinweg trocken legt. Also braucht man ei-gentlich keine Warnung von außerhalb – jeder Laie sieht, wenn ein Strandplötzlich trocken läuft. Nur am Ufer findet ein Wassertransport statt, nicht aberim offenen Meer. Dort schwanken die Wassermassen nur vertikal mit relativ ge-ringen, unauffälligen Höhenunterschieden von ein bis zwei Metern.

Da eine wellige Wasseroberfläche größer ist als eine glatte, muss das Beben amMeeresgrund viele Wassermoleküle an die Oberfläche drücken, um eine Welle zuerzeugen. Das kostet viel Kraft; die vom Beben hochgedrückten Moleküle werdendann wieder nach unten zurückgezogen, und so verbreitet sich das Beben als Was-serwelle mit geringen Höhendifferenzen, aber großer Geschwindigkeit und ohneReibungsverlust. Die Seebebenwelle ist völlig anders geartet als die Welle untereinem Orkan, der die Wasseroberfläche zerreißt und den Wellenberg damit loka-lisiert. Die Bebenwelle ist schnell und gerichtet, transportiert die Energie prak-tisch verlustlos; die Orkanwelle ist kurzlebiges Chaos und legt sich sofort mitdem Sturm.

Die Küste erreicht die Bebenwelle zuerst mit einem etwa 100 km langen Wel-lental und entleert sie von Wasser. Dann folgt mit einer Geschwindigkeit von et-wa 200 km/h der Wellenberg, zwar nur 1–2 m hoch, aber ebenfalls 100 kmlang. Riesige Wassermengen stauen sich jetzt an der Küste, rasende Riesenwel-len von bis zu 30 m Höhe (Tsunamis) türmen sich auf, starke Strömungen flu-ten mit Geschwindigkeiten von immer noch 20–30 km/h landeinwärts, reißenBäume und Häuser nieder. Ebenso vernichtend ist der darauf folgende Sog der

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins28

a)

b)

Abb. 1.15 Von Erdbeben am tief liegendenMeeresgrund ausgelöste Wasserwellen sindim offenen Meer bis zu 200 km lang, nur1–2 m hoch, aber sehr schnell. Am Ufer zer-bricht die zusammenhängende Welle, rast in

die Höhe und über Land. Molekulare Ursa-chen der kohärenten schnellen Erdbebenwel-le sind die fluiden, dicht gepackten Clusterinsbesondere an der Oberfläche.

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zurückweichenden Strömung. Sicher für den Landbewohner ist jetzt nur das of-fene Meer – schon 100 m vom Strand entfernt gibt es kaum Wellen von überzwei Meter Höhe (Abb. 1.15).

Ein Tsunami versinnbildlicht die geringe Viskosität und Kompressibilität desWassers und die enorme Oberflächenspannung. Die molekulare Ursache alldieser Phänomene ist das gestörte Wasser-Hexamer.

Vier physiologische Prozesse beruhen ebenfalls auf den geschilderten Eigen-schaften des Wassers:� Die geringe Kompressibilität des Wassers macht den menschlichen Körper

widerstandsfähig gegen allseitigen Druck. Tauchen in 40 m Wassertiefe oderbei 4 atm Überdruck bereitet keine Probleme, wenn der Luftdruck in der Lun-ge entsprechend erhöht wird (Druckluft, Vermeidung des Ausperlens beimAufsteigen). Andererseits lässt sich ein Augapfel oder eine Halsarterie durchgeringen einseitigen Druck leicht zerstören, weil die dünnwandigen Gefäßeplatzen, wenn man das enthaltene Wasservolumen breit drückt und weil dasWasser der Gele, nicht aber deren Fasern beweglich sind.

� Wasser leitet wegen seiner hohen Wärmekapazität Wärme stärker ab als Luft.Beim Baden in kaltem Wasser zittern die Muskeln unter der Haut, um sichdurch intensive Arbeit warm zu halten, dann jedoch hört das Zittern auf, weildas Gehirn weniger Blut in die Haut steuert, sie erkalten lässt. Gleichzeitighält es aber die innere Körperwärme bei 37 �C.

� Bei hoher Luftfeuchtigkeit verdunstet der Schweiß nicht von der Haut undder Kühleffekt bleibt aus; der Schweiß staut sich in den Schweißdrüsen, ver-stopft sie und es bilden sich Hautbläschen, die Hitzepickel.

� Hautverbrennungen lösen die oberen Hautzellen voneinander. In die entste-henden Hohlräume fließt Körperwasser nach und bleibt da. Extrem infek-tionsgefährdete „Brandblasen“ entstehen. Hitzepickel und Brandblasen beru-hen weitgehend auf dem geringen Dampfdruck des Wassers und der Tröpf-chenbildung. Beides sind Clustereffekte.

1.3Auf der Erde und über der Erde

Chemiker träumen zuweilen von der Zeit, in der es nur Wasser, aber keines dersechs erdgebundenen Moleküle gab. Sie „träumen“ natürlich in Form von Expe-rimenten, gestützt auf das Wissen der Geologen aus der Analyse von Gesteins-proben. Ziemlich sicher weiß man, dass vor etwa fünf bis sechs Milliarden Jah-ren die Gravitationskräfte zwischen sich zusammenballenden Massen aus Me-teoren und Weltraumstaub zur Erhitzung führten, die aus dem kalten Gerölldes Planeten einen glühenden Magmaball machten. Das Wasser verdampfte inden Weltraum, wurde aber dort von der Gravitationskraft der schweren Erde alsgeschlossene Wolke in einer Entfernung von wenigen Kilometern fixiert. DieOberfläche der Erde wurde allmählich kühler und ein Brei aus relativ leichtenSilicaten und Wasser schwamm an die Oberfläche des Eisen-Nickel-Kerns. Der

1.3 Auf der Erde und über der Erde 29

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Brei erstarrte, wurde rissig und bildete erste Täler und Gebirge. Das Wasserblieb entweder in der kilometerdicken Wolkendecke oder es lagerte sich schnellwieder in den Ton ein, kühlte dadurch die Täler lokal ab und kondensierte inihnen in Form großer Urseen.

Das Wolkenszenario entspricht der alttestamentarischen Hölle auf Erden. Dahängt eine riesige schwarze Wolke mit einem inneren Druck von dreißig Atmo-sphären in geringer Höhe über der Erde, auf der die Lava brodelt und Vulkaneohne Pause explodieren und feurige Gase ausspeien. Die Wolke verdeckt dieSonne vollständig und ist auf der inneren Seite gewaltig negativ aufgeladen,während die Weltraumseite die positiven Gegenladungen trug. Endlose Kaska-den von kilometerlangen Blitzen durchzuckten die Schwärze, viele von ihnengehen donnernd zur Erde nieder. Das Trommelfeuer der Vulkanausbrüche unddie im Regen der Blitze vibrierenden Wolken – das ist die ewige Verdammnis!Auf der Erde wären auf diese Weise viele thermische Produkte aus den UrgasenAmmoniak, Methan und Kohlenmonoxid als Ausgangsstoffe für die Syntheseder sechs Moleküle entstanden (Seite 168).

Ebenso ist aber auch ein harmonisches Abkühlen denkbar, bei dem die hei-ßen Silicate der Erdoberfläche das meiste Wasser festgehalten haben. Die Höllefand dann nicht statt, der nasse Ton dampfte friedlich vor sich hin und die Feu-er des Himmels blieben bei einer halben Atmosphäre Wasserdampfdruck mil-de. Nun hätte das UV-Licht der Sonne anstelle der Blitze auf die Urerde einwir-ken und die chemische Evolution in Gang bringen können.

Wir kennen die präbiotische Welt nicht und können über die Ursynthese derKohlenstoffverbindungen nur modellhaft spekulieren (Seite 64, 167), aber dasWasser blieb der Erde auf jeden Fall erhalten. In den Wolken wurden die Wasser-tropfen von der Schwerkraft am Entweichen in den Weltraum gehindert, spätersammelte es sich in den tiefen Rissen und Becken der erkalteten Erdoberfläche,bildete Teiche, Seen, Flüsse und die ersten Ozeane. Die heiße Atmosphäre darüberenthielt vor allem Wasserwolken und Stickstoff und ein paar reaktive Gase in klei-nen Mengen, wie Ammoniak, Kohlendioxid, Schwefeldioxid und Blausäure. Derklimabildende Wasserkreislauf und die Evolution des Lebens konnten beginnen.

Die geologische Erdgeschichte wiederholte sich dem Alten Testament zufolge inder Menschheitsgeschichte beim Marsch der Israeliten durch die Wüste Sinaï.Moses kennt die Gegend, ist wüstenerfahren, er weiß, dass das Wasser nichtreicht für die vielen Menschen, die ihm vertrauensvoll gefolgt sind. Sein Volk wirdverdursten und ihn vorher steinigen. Da spricht der Herr: „Siehe, dort vor dir ste-he ich auf dem Fels am Horeb. Du sollst den Stab in den Fels schlagen, so wirdWasser herauslaufen, damit das Volk trinke.“ Moses tat das und hatte Erfolg – erhatte eine natürliche Zisterne in einem der vielen porösen Felsen des Sinaï ange-stochen, die ähnlich wie die Tonerde der Meteoriten Wasser aufsaugen und in gro-ßen Höhlen vor der Hitze der Wüstensonne verbergen.

Trinkwasser, zum Beispiel das Grundwasser von Berlin, liegt sehr häufig inähnlichen Umgebungen, nur meist viel tiefer, einen bis zwei Kilometer näheram Magma der Erde. Außerdem fließt es beim „Anstechen“ nicht spontan, son-dern muss nach oben gepumpt werden (Seite 43).

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins30

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Die Lufthülle oder Atmosphäre der Erde besteht aus der unteren Wetter-schicht (Troposphäre), die an den Polen acht, am Äquator 17 km dick ist. In ihrgibt es Wolken aus Wasser. Darüber kommen 40 km Stratosphäre mit etwasOzon, 50 km Mesosphäre und 300 km Thermosphäre, die alle sehr kalt sindund nur noch sehr wenige Luftmoleküle enthalten, welche außerdem durch dieUV- und Röntgenstrahlung der Sonne teilweise von ihren Elektronen entblößtwerden. Diese eigentlich ereignislose Ionosphäre hält uns durch ein starkesMagnetfeld eine Menge energiereiche Teilchenstrahlung vom Leib.

Interessiert haben sich die Menschen schon immer für das Naheliegende: dieWetterschicht und die Wolken. Seit 3000 Jahren überliefern Menschen ihre Be-trachtungen der Natur, und von Anbeginn sah der Mensch die Vergänglichkeitder Wolken im Zusammenhang mit seinem eigenen kurzen Leben. Wolkenund Menschen bestehen vor allem aus Wasser, beide ziehen auf der Erdkrustedahin, sind in ihrem Werden, Ziehen und Vergehen schön und interessant.

Die Wissenschaft von den Wolken, die Nephologie, begann mit der Vorstel-lung der Griechen, dass die Menschen am Grunde eines Ozeans aus Atmosphä-renwasser leben. Von Sauerstoff wusste man vor 2500 Jahren nichts, aber dieWolken da oben waren offensichtlich aus Wasser, weil aus ihnen der Regenkam. Luft war dann wohl Wasser, das durch das Feuer der Sonne „belebt“ wur-de, was als Kurzbeschreibung der Photosynthese auch heute noch als richtiggelten kann. Wenig gilt in den Naturwissenschaften als „offensichtlich“; dieEntstehung und Zusammensetzung der Wolken aber sind es.

Man sah, dass das Schmelzwasser der Alpen (schwer: Yang, Norden: Yang)zuerst in die Wolken (leicht: Yin), dann mit dem Nordwind nach Italien undAfrika (Süden: Yin) getragen wurde und wenig später ins trockene (Yang) Afri-ka hinabregnete (Yin) und den Nil über die Ufer treten ließ. Es bewässerte dieägyptische Erde und floss dann ins Mittelmeer. Sonne und Südwind trugen dasWasser zurück in die Wolken und in die Alpen. Solche Klimakreisläufe warendie Basis für die Naturphilosophie der Wandlungsphase eins in China und des

1.3 Auf der Erde und über der Erde 31

Abb. 1.16 Die Elemente der Alchemie undihre Vereinigung im Davidstern. Feuer undWasser kamen zuerst, wurden belebt durchdie Abkühlung der Erde und die Luft. Feuer(Sonne) und Luft sind oben, Wasser und Er-

de unten. Die Querstriche können als „spä-ter“ gedeutet werden: „Erde“ heißt „erkalte-te, bewohnbare Erdkruste“ und „Luft“ heißt„freier Sauerstoff, der erst durch die Photo-synthese erzeugt werden musste“.

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„Alles fließt“ in Griechenland. In Europa fand man dazu die Elemente Wasser,Luft, Erde und Feuer, in China die Wandlung der Paare Wasser und Feuer undLuft und Erde. Das Elementsymbol Europas wurde dabei sehr früh der David-stern, das Pentagramm (Abb. 1.16).

Auf dem Berg des Olymp stellten die Griechen fest, dass in dieser Höhe dieLuft deutlich kälter wurde, der Wasserdampf sich zu Tröpfchen verdichtete undvom aufsteigenden Wind Wolken geformt wurden. Die Wärme der Erde ver-lagerte das Wasser in die Luft und die Wolken bildeten sich dort, wo die Kraftder Strahlen von der Erde aufhört. Daraus schloss man, dass der Weltraum käl-ter als die Erde war. Das Feuer der Sonne schien nur die Erde zu erwärmen(Abb. 1.17).

Der nachdenklich-philosophischen Antike in Griechenland und China folgtenzweitausend Jahre Mythologie, dunkles Mittelalter. Erst im nebligen Englandsah jemand (Lucas Howard) genauer hin und unterschied sieben Wolkenartennach der Höhe, in der sie auftraten, sowie nach der Gestalt, die sie dort annahmen(Abb. 1.18):

1–3: Cirrus-Wolken sind „hohe Wolken“. Sie treten in über 6 km Höhe aufund bestehen aus Eiskriställchen. Sie erscheinen als parallele Streifen Cirrostra-tus, die sich schnell in alle Richtungen ausdehnen. Cirrocumulus-Wolken liegenknapp darunter und erscheinen als kleine abgerundete Haufenwolken.

4–6: Cumulus-Wolken sind meist kurzlebige, konvexe Haufenwolken mit einerhorizontalen Grundfläche, die nur am Tag in einer „Mittelhöhe“ (Altocumulus)von 2–6 km auftreten und dann schwer wiegen.

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins32

Abb. 1.17 Die Sonne treibt den Wasserkreislauf an, Wolkenbil-dung durch Verdunstung und Grundwasserspeicherung durchNiederschläge (http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Wasserkreis-lauf.png, Zugriff April 2008).

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1.3 Auf der Erde und über der Erde 33

Abb. 1.18 Typische Wolken und ihre Höhe in der Atmosphäre.Die einzelnen Wolkenformen werden im Text erläutert.

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Nimbus oder Regenwolke heißt die oberste horizontale Schicht von Cumulus,über welcher sich nur noch der kalte Schleier der Cirruswolken erhebt. Kommtwarme Luft von unten, von der sonnenbestrahlten Erde, und strömt in die Cu-muluswolke hinein, trägt sie Mikrometertröpfchen nach oben, wo sich durch ra-sche Adsorption die Eispartikel in der Cirruswolke vergrößern und dann wiederherabfallen. In der wärmeren Luft von Cumuluswolken entstehen Regentröpf-chen, der fallende Regen verdunkelt das Tageslicht, dann aber hellt es sich auf,weil die darunter liegenden Wolken zu den verbliebenen oberen Cumuluswol-ken aufsteigen. Ist es unten auf der Erde aber sehr warm, dann fegt ein Auf-wind die Eiskriställchen ein oder mehrmals zurück in die Wolke. Jedesmal ver-größern sich die Körner auf dem Rückweg, bis sie schließlich als Hagelkörnergroß genug sind, um den Fall durch die warme Luft zu überstehen und hartauf die Erde zu prasseln. Der gemeldete Größenrekord für Hagelbrocken liegtbei einem Gewicht von einem Kilogramm (Tokio 1896).

7: Stratus-Wolken sind schließlich die tiefen Wolken unterhalb von 2 km; derName hat allerdings nichts mit „tief“ zu tun. Stratuswolken dehnen sich nochweiter aus als Cirrus, fast ausschließlich horizontal. Sie gelten als Abend- undNachtwolken: Ruhe und Geheimnis, Dunst über dem Tempel am See.

Geheimrat Goethe reagierte künstlerisch enthusiastisch auf die anschaulicheWissenschaft aus England. Er war dankbar dafür, dass die seit Jahrtausendenmit Gleichnissen beladenen Wolken endlich sorgfältig geschildert und anschau-lich eingeordnet worden waren. Gern akzeptierte er die einsichtsvollen Schluss-folgerungen zu Formen, Zeitabläufen und Umständen. Der Engländer war einBeobachter nach Goethes Geschmack! Nie wieder ist ein Chemiker von einemDichter so geehrt worden:

Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,Er fasst es an, er hält zuerst es fest;Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,Benennt es treffend! – Sei die Ehre dein! –

Tatsächlich beruht diese Art von Erkenntnis auf nichts anderem als auf intelli-gentem Hinsehen. Millionen haben den Wolken träumerisch nachgeschaut, erstHoward hat auch dabei nüchtern nachgedacht. Wonderful indeed!

Nun aber forderte Goethe die Maler seiner Zeit in persönlichen Briefen auf,Howard ernst zu nehmen und die Wolken von jetzt an „natürlich“ zu malen.Caspar David Friedrich, der deutsche Romantiker, war entsetzt und blieb – mitGoethes Worten – „dunkel und unartig“. Er schrieb an den Dichter zurück, dasssolches Projekt das Fundament der Landschaftsmalerei untergrabe. Würde manden Wolken ihre tiefe Dunkelheit und Undurchschaubarkeit nehmen, verlörensie jede künstlerische Bedeutung. Der Versuch, die Wolken zu inspizieren, ih-nen wissenschaftliche Ordnung aufzuzwingen, erfülle ihn mit Verzweiflung.

Eine Betrachtung des Gemäldes „Mönch am Meer“, eines nach innen gerich-teten Bildes, zeigt, was Caspar David Friedrich meinte: Der weißgelbe Sand, aufdem die schwarz gekleidete Figur steht, das ebenso nachtschwarze Meer vorihm, der merkwürdige Sonnenschein aus der Tiefe hinter der Stratocumulus-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins34

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wolke und der leuchtend blaue Himmel über ihm ergeben keinen „natürlichen“(wetterphysikalischen) Sinn. Die Anmutung des Bildes entspricht human-reli-giöser Wahrhaftigkeit. Das Schicksal des Menschen ist dunkel und ungewiss,obwohl er auf festem Boden steht, aber über ihm strahlt das göttliche All insein Leben. Der „romantische“ Dichter Brentano, der die Sphären des mensch-lichen Geists mischte wie Friedrich, sah das sofort, gab dem Bild seinen Titel.Friedrich kümmerte sich weder um diesen Titel noch um Howards Beobach-tungen – und er hatte jedes künstlerische Recht dazu. Er dachte an sein Bildund nur an sein Bild – und er brauchte einen großen, ins Licht aufsteigendenHimmel, wie ihn die Natur nicht liefern kann (Abb. 1.19).

Auf die Höhenmessung und qualitative Beschreibung der Wolken folgt diequantitative Bestimmung der Wassermenge des Regens aus ihnen. Solche Mes-sungen sind nur sinnvoll, wenn sie vergleichend und weltweit vorgenommenwerden. Lokale Messreihen liefern Chaos. Tausende von Wassertonnen sam-meln deshalb überall das Regenwasser, jeder Millimeter Anstieg des Wasser-spiegels wird ebenso alltäglich gemessen wie die Verdampfungsraten. Die jähr-liche Verdunstung beträgt in den Meeren 750 mm, auf dem Festland 160 mm.Die Differenz ergibt einen jährlichen Niederschlag von 465300 km3. In Europaist die Verdunstungshöhe von 500–800 mm etwa gleich der Regenhöhe. AmMittelmeer ist die jährliche Verdunstungshöhe schon 2300 mm, in der Sahara4100 mm. In der Wüste müssen die Menschen dursten, weil keine Pflanzen-decke das Bodenwasser vor dem Feuer der Sonne schützt. Die Luftfeuchtigkeitund die Wolken der Erde enthalten etwa 15 000 der insgesamt 1,5 MilliardenKubikkilometer flüssigen Wassers (98%) und festen Polareises (2%). Zusammensind das knapp 1045 Moleküle. Aller Wasserdampf der Atmosphäre regnet etwainnerhalb von zehn Tagen ab und wird durch das Wasser der Ozeane ersetzt.Der Anteil des aus dem Regen stammenden flüssigen Süßwassers am Gesamt-

1.3 Auf der Erde und über der Erde 35

Abb. 1.19 Der „Mönch am Meer“ von Cas-par David Friedrich. Das Bild ist unnatürlich,entspricht nicht den Photographie-Wolkendes vorigen Bilds. Das Meer liegt im Dunkel,die Sonne hinter schweren Wolken und dersich nach vorn verdunkelnde blauschwarze

Himmel bleiben rätselhaft und wunderbar.Eine ähnliche Beleuchtung findet man anheißen, vulkanischen Quellen, deren aufstei-gender Dampf die Sonne partiell verdunkelt.In der Natur ist auch dieses Schauspiel zau-berhaft, als statisches Bild bleibt es leblos.

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wasser ist 0,6%. Nur ein Hunderttausendstel des Wassers der Erdoberfläche istin der Luft, aber es beherrscht das Klima.

Die einzig bedeutende Energiequelle für die geologischen und biologischenProzesse auf der Erde ist die Sonne, ihr Wärmespeicher ist der Ozean. Er sorgtdafür, dass die Tage nicht glühend heiß, die Nächte nicht schneidend kalt wer-den. Der Mensch kann diesen „Wärmehaushalt“ nicht beeinflussen – und erkümmert sich kaum darum, wenn man von der viel behaupteten Erderwär-mung um ein bis drei Grad in diesem Jahrhundert durch das „Treibhausgas“Kohlendioxid absieht. Die Erde hat sich schon im Laufe der letzten 30 Jahre er-wärmt, wofür die Sonnenflecken oder andere natürliche Phänomene als Ver-ursacher eindeutig ausscheiden. Strittig bleibt aber, ob eine wärmere Erde füreinhundert Jahre eventuell für die Menschheit überhaupt von Nachteil wäre.

Teure Energie führt zu kleinen Maschinen, Demokratien zetteln keine Kriegean, sondern hungern Diktatoren aus, vom Klima verstehen sie zu wenig, um esschützen zu können und so sollten sie es auch nicht wollen. Geld aber ist vor-handen und es sollte zuerst für die weltweite Gewinnung und Erzeugung rei-nen Wassers, reiner Luft und ausreichender Nahrungsmittel fließen, dann solltees den Naturwissenschaftlern helfen, das auf uns zu kommende Problem derEnergieknappheit zu lösen (Seite 56) und schließlich sollte es Ausübung undErlebnis der Künste ermöglichen.

Zurück zur natürlichen Energie der Erde. Für Wärme sorgt die Sonne fast al-lein. Daneben gibt es noch ein bisschen Radioaktivität auf der Erde, die ausdem Zerfall von �-Teilchen herrührt und auch wärmt. Energetisch ist diese Re-aktion nur in Kernkraftwerken von Bedeutung, biochemisch ist sie wohl anmancher Krebserkrankung schuld und chemisch sorgte sie für das viele Heli-um, das sich im Erdöl und Erdgas findet (Tab. 1.1).

Die 56 000 km3 Wasser, die täglich von den Weltmeeren kommen, nutzt derMensch vor allem zum Trinken und außerdem zur Hygiene und Kühlung (Abb.1.20).

Der Energieverbrauch der Menschen beruht vor allem auf dem Phänomender „Zivilisation“: Im Norden ist es kalt im Winter, so baut man Steinhäuserund heizt sie. Seit hundert Jahren fahren die Menschen außerdem endlose Stre-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins36

Tab. 1.1 Die Energiequellen der Erde in cal/cm2 pro Jahr

Energiequelle Bei einem Alter der Erde von

5�108 Jahren 107 Jahren heute

Sonnenstrahlung 712000 553000 265000Fernes UV 17–126 419–419000 5,9Röntgenstrahlen 29 293–2930 0,8Radioaktivität der Erdkruste 197 – 64,9Hitze aus vulkanischen Emissionen > 0,63 – 0,63

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cken zur Arbeit und reisen aus Neu- und Geldgier in ferne Länder. So verhei-zen sie etwa sechs Milliarden Tonnen Kohle, Erdöl und Erdgas im Jahr, also et-wa jeder Mensch eine Tonne, und erhöhten damit den Kohlendioxidgehalt derAtmosphäre in den letzten hundert Jahren um 20%. Die von der Erde reflektier-te Wärmestrahlung wird deshalb heute stärker absorbiert als vor hundert Jah-ren. Komplexe Computersimulationen prophezeien das Schmelzen des Polar-eises und weltweite Überschwemmungen bei gleichzeitiger Vereisung der Nord-halbkugel.

Das sichtbare Licht der Sonne fällt auf der Erde meist auf Wasseroberflächen.Dort wird es gestreut, absorbiert und in Wärme verwandelt. Blaues Licht dringtbis zu einer Tiefe von 400 m vor, rotes Licht nur 5 m tief. Bereits eine 10 cmlange Wassersäule in einem klaren Glas erzeugt vor weißem Hintergrund einenBlauschimmer. Das sichtbare Spektrum weist ein dementsprechendes schwa-ches Absorptionsband im Roten bei 698 nm auf. Deuteriertes Wasser, D2O,zeigt diese Absorption nicht. Man kann die blaue Wasserfarbe also auf eineAtomschwingung zurückführen, die normalerweise nur von Infrarotlicht ange-regt wird, beim Wassercluster aber schon im sichtbaren Bereich auftritt.

Beim Tauchen in klarem Wasser verschwinden in 5 m Tiefe alle Farben außerBlau- und Grauschattierungen. Die viel kräftigere Blaufärbung von Gewässernin vegetationsarmen Gebirgsgegenden aber ist anderen Ursprungs: Sie beruhtauf der Lichtstreuung des kurzwelligen blauen Lichts an schwebenden Granit-partikeln (Tyndall-Effekt), die die Transparenz des Wassers kaum vermindern.Die trüb-braune oder gelbe Lichtabsorption der Waldseen in Spätsommer undHerbst entspricht der Farbe abgestorbenen Pflanzenmaterials, der schokoladen-braunen Humussäuren und der Algen. Die Winterkälte beendet die Produktionvon Blättern und Algen und sorgt wieder für klares Wasser.

1.3 Auf der Erde und über der Erde 37

Abb. 1.20 Der große Tropfen entspricht dem Gesamtvolumendes Wassers auf der Erde. Sein Durchmesser ist knapp 800 km,sein Volumen 1,5�109 km3. Der mittelgroße Tropfen ist dasSüßwasser einschließlich Polareis und Wolken (2,7% davon),der kleine Tropfen das flüssige Süßwasser (0,6% oder 107 km3).

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Ein Liter Wasser wiegt bei 4 �C 1,04 kg. Das ist die höchste Dichte, die Wassererreichen kann: Bei dieser Temperatur hat sich das mobile sechste Wasser-molekül (Seite 25) in das Tetraeder optimal eingepasst, aber es ist noch nicht ineiner Kristallstruktur fixiert. Vier Grad kaltes Wasser sinkt nach unten undtreibt sowohl wärmeres, bewegliches als auch kälteres, eisähnliches Wasser andie Oberfläche. Im Winter erreicht der See ein paar Meter unter der Wasser-oberfläche bald diese einheitliche Temperatur. Bei anhaltender Kälte und nach-dem sich das gesamte Wasservolumen auf 4 �C abgekühlt hat, bildet sich an derOberfläche Eis, das neun Prozent leichter als flüssiges Wasser bei 0 �C ist. Auchdaran ist das flickerig-bewegliche sechste Monomer des Wasserclusters schuld,das nach der Verfestigung in die Kristallstruktur integriert ist.

Die Eisdecke sinkt nicht in die Tiefe hinab und erstickt das Leben unter ihr,sondern schirmt im Gegenteil den flüssigen See von der Außenkälte ab. Das er-laubt Fischen und Pflanzen, unter Wasser zu überwintern. Nichts davon wirdin einer zuweilen wochenlang bitter kalten Stadt des Nordens dem tödlichenZugriff gefrierenden Wassers ausgesetzt.

Analoges gilt für den Sommer. Im Frühlingswind werden nur die oberen 3–5 mdes Wasservolumens, das Epilimnium, durch seitliche Verschiebung und Rotationverrührt und von der Sonne erwärmt. Im windstillen Sommer erwärmt sich dieseSchicht mittlerer Dicke weiter und lässt uns, ruhig auf dem Rücken treibend, mit

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins38

Abb. 1.21 Ein typischer Waldsee weist dreiWasserschichten auf. In der Sommerstagna-tion werden nur die oberen sechs Meter, dieHaut des Sees (Epilimnium), vom Winddurchmischt. In der Winterstagnation fällt

durch die Eisschicht auch das weg. Unter-halb von 10 m Tiefe herrschen immer 4 �C.Nur im Frühling und Herbst zirkuliert dasWasser langsam wegen des Temperaturwech-sels an der Wasseroberfläche.

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See und Wolken eins werden. Niemals aber erreicht die Hitze des Sommers dieTiefe des Sees, niemals erwärmt sich das ganze Volumen auf die für Fische kriti-sche und tödliche Temperatur von 28–31 �C (Abb. 1.21).

Flüsse transportieren Verwitterungsgut aus hoch gelegenen Plateaus ins Tal –ein rauschender Bergbach führt gewichtigen Sand, Schluff und Geröll, die dasBachbett erodieren. Ein langsamer Fluss im Flachland aber hat nur die Kraft,feinen Schluff abzuschleifen und mitzunehmen. Trübe und träge lässt er allesSchwere nach unten sinken. In einer natürlichen Flussbiegung strömt das Was-ser außen schneller, weil der Außenweg länger als der Innenweg ist. SolcheBiegungen kommen zu Stande, weil eines der beiden Ufer stärker erodiert, stei-ler wird und einen „Prallhang“ bildet, der immer weiter nach außen drängt.Gleichzeitig sammelt sich am inneren „Gleithang“ Geschiebe in Form einerSand- oder Kiesbank. So werden Biegungen in Schwemmebenen zu Schlingen,der Fluss „mäandert“. Begradigt man das künstlich, um Schifffahrtswege zuverkürzen, muss man beide Ufer befestigen und erhöhen und sich gegen dasnächste Hochwasser wappnen, denn der gleichen Menge Wasser steht jetzt we-niger Flussbett zur Verfügung.

Das 20. Jahrhundert war eine Epoche des künstlichen Austrocknens. Mansenkte das Grundwasser, pumpte es in Flüsse und Seen, erhöhte so die Fließ-geschwindigkeit der Flüsse, baute Dämme und befestigte Flussufer („Promena-den“). Kostbares Acker- und Bauland wurde gewonnen, aber man setzte Anwoh-ner der Überflutung aus. Jede neue Kellergarage oder Ölheizung am Flussmachte die Schadensbereinigung einer Hochflut im Frühling teurer. Heute ver-sucht man, den Flüssen wieder Platz zu schaffen, indem man sie zwischen fes-ten Gleit- und labilen Prallufern selbst ein Bett im Wandel der Jahreszeiten for-men lässt. Pflanzung, Tierweiden und Stadtwandel sollten dem Wasserkreislaufnicht im Wege stehen, sondern ihn fördern und sinnvoll nutzen.

Die stufenweise Uferbefestigung durch die Wurzeln von Erlen, Büschen undWiesen wurde im Flachland schon immer betrieben. Vor allem sollte der Fluss-lauf von Wohnorten getrennt, das Haus dicht am Ufer vermieden werden. Einüberschwemmter Wanderweg ist ein temporäres Ereignis, der voll gelaufeneKeller eines „Naturfreundes“, der am Wasser leben muss, ein dauerhaftes Är-gernis. Außerdem sollten Bäume die Flüsse beschatten, die Wasserverdampfungeindämmen und Flachstellen des Flusswassers mit Sauerstoff sättigen, um Fi-sche zu begünstigen und Algenbefall zu vermeiden. Es war einmal ein Reichs-kanzler namens Bismarck, der sagte: „Ein Fluss ist heilig, da baut man nicht.“Und er handelte danach und ließ den Grunewald stehen, als Berlin zur Reichs-hauptstadt erhoben und von hemmungsloser Bauwut erfasst wurde („Gründer-jahre“). Das ist einer der beiden politischen Leitsätze, die man sich merken soll-te. Der andere lautet: „Nie wieder Krieg.“

Fließt ein Fluss an seiner Mündung schließlich kraftlos ins Meer, so lagert ererst Kies und Schotter, dann Sand und schließlich Schlamm und Schluff ab.Die Wellen des Meeres arbeiten dieses Mündungsmuster zu drei Uferstreifenum – Schlamm und Schluff sacken ins tiefe Wasser ab, Sand bleibt im Seicht-wasser liegen und Kies bildet den Strand (Abb. 1.22).

1.3 Auf der Erde und über der Erde 39

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Die Wolken tragen das destillierte Meerwasser Tausende von Metern hoch.Wenn es in Gebirgen abregnet, steht beim Abfließen ins Tal viel potenzielleEnergie zur Verfügung, die in Süßwasserkraftanlagen zunächst über Turbinenin mechanische, dann über Generatoren in elektrische Energie umgewandeltwerden kann. Eine einheitliche Fallhöhe, die man durch künstlichen Aufstau inTalsperren erreicht, ermöglicht einen sehr gleichmäßigen, steuerbaren Energie-fluss. Die entsprechenden Anlagen heißen Niederdruckkraftwerke (< 15 m), Mit-teldruckkraftwerke (< 50 m) und Hochdruckkraftwerke (>50 m), die oben liegen-den Speicher werden entweder durch einen natürlichen Zufluss oder durchRückpumpen gespeist (Pumpspeicherwerk). Solche Erzeugung von elektrischerWasserkraft ist nicht mit Schadstoffemissionen verbunden, wohl aber brauchtsie einen dauerhaften Stauraum oberhalb der Sperre und sorgfältig regulierteAusleitungsstrecken für einen Restabfluss zur Aufrechterhaltung eines Fluss-biotops inklusive Fischaufstiegen. Das größte Wasserkraftwerk der Welt (Itaipu)hat eine Nennleistung von 14 Mio. kW und ein Arbeitsvermögen von100 Mio. kWh/Jahr. Die 600 Wasserkraftwerke Deutschlands liefern zusammenein Fünftel davon; verbraucht werden in Deutschland aber 500 Mrd. kWh/Jahr.

Auch Salzwasserkraftanlagen werden heute weltweit entwickelt. Die vom be-sonnten Land aufsteigende Luft fällt über dem kalten Wasser der Meere ab underzeugt Meereswellen von großer mechanischer Kraft. Ihre Energie kann inLuftkammern geerntet werden. Ein unten offener Stahltank wird zu diesemZweck am Strand knapp unter der Wasseroberfläche montiert. Die einschlagen-den Wassermassen lassen den Wasserspiegel und den Luftdruck in dem ge-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins40

Abb. 1.22 Gleit- und Prallzonen entstehendurch die unterschiedlichen Geschwindigkei-ten des Wassers in der Innen- bzw. Außen-kurve. Sie verursachen das Mäandern vonFlüssen mit geringem Gefälle (Un méandre

de la Sioule vue de la commune de Queuille,Puy-de-Dôme, région Auvergne, fotografiertvon Jean-Marc Aubelle, hochgeladen von Jiml’Auvergnat; http://commons.wikimedia.org/wiki/Image, Zugriff April 2008).

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schlossenen Raum im Wellenschlag steigen. Dann fließt das Wasser im glei-chen Rhythmus wieder ab und erzeugt einen Unterdruck in der Kammer. Einkleines Loch nahe der Kammerdecke verwandelt die langsamen Wellenbewe-gungen des Wasserspiegels in einen scharfen Luftstrom großer Geschwindig-keit, der über eine Turbine mit symmetrischem Flügelprofil geleitet wird. Luft-ströme von innen nach außen oder umgekehrt drehen solche Turbinen in im-mer gleicher Richtung und erzeugen Elektrizität. Solche „Wavepower-Kraftwer-ke“ sind noch laut und selten, aber effektiv und weiträumig anwendbar.

Elektrische Energie aus Wind bekommt man nur, wenn Politiker mit Steuergel-dern helfen. Windräder erreichen wegen der Unregelmäßigkeit der Luftbewegun-gen nur in höchstens zwei von zehn Stunden ihre Höchstleistung, stehen in frei-en Landschaften oder gar auf See, aus denen heraus der Strom in die Städte ge-leitet werden muss. Sie produzieren vorwiegend in der Nacht und verlangen alsoeine kostspielige Zwischenspeicherung. Ein Drittel des Windstroms der Welt(30 Mio. kW/Jahr) kommt aus Deutschland (9 Mio. kW/Jahr) und bleibt auch da.

Die einzige lohnende erneuerbare Energie ist die der Sonne. Das zugehörigeSpeichersystem ist der molekulare Wasserstoff, der durch Elektrolyse aus Was-ser zu erhalten ist (Seite 54). Dafür muss eine billige sonnengetriebene Strom-erzeugung mit Solarzellen her. Hier liegt eines der zentralen Probleme der Zivi-lisation, das im 21. Jahrhundert gelöst werden sollte. Dann kann man den Was-serstoff sammeln, lagern, transportieren, wieder zu Wasser verbrennen undEnergie- und Umweltprobleme lösen. Auch ein biologischer Weg ist denkbar,wenn die Solarzellen zu teuer bleiben: man bewässere die Sahara, pflanze Bam-bus und Zuckerrohr an und mache daraus Ethanol oder verbrenne Holz. DieSahara ist ideal geeignet für Bambus und anderes tropisches Gewächs, manmuss nur erst einen billigen Weg finden, das Kochsalz aus dem Meerwasserdurch Dialyse zu entfernen und das Wasser, das bei der Verbrennung der Pflan-zen frei wird, im Kreislauf zu führen. Wir verbrauchen nur. Das müssen unsdie Naturwissenschaftler noch abgewöhnen und die Gesellschaft muss sie eherdafür bezahlen, als dafür den Verbrauch immer nur anzuheizen.

1.4Rohrsysteme und Pumpen

Süßwasser wird an Land nur aus Regen gewonnen. Das bisschen lokal und in-dustriell entsalzte Meerwasser spielt quantitativ noch keine Rolle. Das Süßwas-ser läuft über die Flüsse wieder ins Meer; der Wassergewinn durch Regen heißtNiederschlagshöhe und wird in Millimeter pro Jahr gemessen. 1 mm Nieder-schlagshöhe entspricht 1 L Wasser auf 1 m2 (oder 1000 m3 auf 1 km2) Boden.In Deutschland regnet es etwa 750 mm im Jahr, aber 500 mm davon verduns-ten. So bleiben nutzbare 250 mm oder 80 Mrd. m3 oder 1000 m3 pro Einwoh-ner. Das reicht für alle. Deutschland ist reich an Regenwasser.

Trinkwasser wird bei uns aus Bergquellen (Sickerschächten, Bergstollen, Ka-nälen), Brunnen, die ins Grundwasser führen oder Oberflächenwasser (Rhein,

1.4 Rohrsysteme und Pumpen 41

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Bodensee) gewonnen. Die Schüttung der Quellen schwankt mit dem Regen,Brunnen geben Wasser bis zur Erschöpfung, Fluss und See sind unerschöpf-lich, sie erneuern sich selbst. Es ist nicht davon auszugehen, dass unsere Gene-ration oder die nächste oder die übernächste zu viel Wasser verbrauchenkönnte. Unser Trinkwasser wird mit Sicherheit regeneriert.

Die lokale Menge des Grundwassers wird vom Gestein des Bodens, demGrundwasserträger, bestimmt. Sandstein ist meist sehr porös und saugt Wasserbis zur Hälfte seines Eigenvolumens wie ein Schwamm auf. Sand einheitlicherKorngröße ist ein idealer Wasserspeicher, schlecht sortierter Sand schon weni-ger, verkitteter Sand ist fast unbrauchbar. Grundwasser reicht so weit nach un-ten wie lockeres Gestein, typischerweise 3–6 km tief. Weiter unten verschließtdas Gewicht der auflastenden Erde die Zwischenräume; für flüssiges Wasser istda kein Platz mehr. Chemisch gebundenes Wasser lässt sich nicht abpumpen.

Grundwasser in lockerem Gestein fließt innerhalb weniger Tage von der Was-serscheide zum Fluss. Wasser unterhalb einer undurchlässigen Schicht (Fest-stein) wird Jahrzehnte alt, bis es die Oberfläche durch offene Nahtstellen spon-tan erreicht. Wasser, das unter mehreren Feststeinschichten liegt, die nur lang-sam überwunden werden, kann Jahrtausende in der Tiefe lagern. Eine Tiefen-bohrung kann auch dieses alte Wasser fördern, der natürliche Ersatz würdeaber auch Jahrhunderte brauchen. Darauf sollte man aber nicht warten, son-dern das Wasser bei nächster Gelegenheit durch filtriertes Flusswasser ersetzen.

Die Fließgeschwindigkeit des Grundwassers von der Wasserscheide zumFluss ist zur durchflossenen Fläche, zur Höhendifferenz und zum Porenraumdes Gesteins direkt proportional. In Kies läuft das Wasser etwa einen Zenti-meter in der Sekunde; in unzerklüftetem Schiefer oder Ton braucht es für den-selben Zentimeter 1010 s oder 1000 Jahre.

Die Wissenschaft und Technologie vom unterirdischen Grundwasser heißtHydrogeologie. Ihr zentrales Thema ist die Neubildung des Grundwassers, ihrHauptwerkzeug sind Pumpen und Rohrleitungen. Von der Pumpstation amFluss, wird Wasser in ein höher gelegenes Anreicherungsbecken befördert. Dortversickert es, wird vom Boden gefiltert und schafft zusammen mit dem spät-herbstlichen Dauerregen und der Schneeschmelze im Frühling neues Grund-wasser. So ergänzt diese Pumpe die natürliche Grundwasserbildung mit Fluss-wasser. Weitere Grundwasserpumpen transportieren dann das Trinkwasser inStädte und auf Äcker.

Die geologische Lage einer Stadt bestimmt die Kosten der Wasserversorgung.In Kalksteingebieten ist der Prozess der Grundwasserneubildung etwa 30-maleffizienter als in Tonsteingebieten, wo das gewonnene Wasser rasch abfließt.Aus Tonstein muss bald nach dem Regen abgepumpt werden, bevor das Wasserdavongeflossen ist, im Kalkstein kann es lange gelagert werden. Berlin beziehtsein Wasser zum Beispiel ausschließlich aus nahe gelegenen Filterbrunnen mitUnterwassermotorpumpen. Drei Druckzonen stehen dafür zur Verfügung: dieBarnimhochfläche, das Urstromtal von Havel und Spree und die Teltowhochflä-che. Zum Grundwasserausgleich werden Abfluss-, Fluss- und Seewasser inkünstlichen Teichen und Becken aufbereitet und versickert (Abb. 1.23).

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins42

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Die Pumpen zur Förderung des Grundwassers aus der Tiefe sind meist Kol-benpumpen. Sie bestehen aus einem Hohlraum, dessen Volumen mit einemkurbelgetriebenen Kolben periodisch verkleinert und wieder vergrößert wird,der durch ein Druckventil geöffnet und ein Saugventil wieder verschlossenwird. Wird der Hohlraum durch den Kolben verkleinert, strömt Wasser durchdas Druckventil aus und wird nach oben gepumpt. Vergrößert der zurückwei-chende Kolben den Hohlraum auf sein altes Volumen, so entsteht ein Unter-druck, der das Druckventil zuzieht und das Saugventil öffnet. Wasser strömtjetzt so lange ein bis der Wasserdruck im expandierenden Hohlraum genau sogroß ist wie der Druck im Rohr oder im Grundwasserspeicher, aus dem dasWasser zugeleitet wird.

Im Leitungssystem bauen Kreiselpumpen den Druck auf, der nötig ist, umWasser waagerecht durch die Rohre unter der Erde und in höher gelegene Woh-nungen zu treiben. In Kreiselpumpen rotiert ein Schaufelrad in einem Zylinderund schleudert das in einem Rohr zugeführte Wasser in ein anderes. Insgesamtkommt es wegen der geringen Kompressibilität und Viskosität des Wassers, diewir von den Tsunamis kennen (Seite 28), kaum zu Erwärmungen oder anderenReibungsverlusten.

Der Wasserdruck im städtischen Rohrnetz beträgt etwa 5 atm. Der Kosten-schwerpunkt der Wasserversorgung sind Aufbau und Wartung eines verlustfrei-en, dichten Leitungssystems. Störungen sind schlecht zu erkennen, Reparatu-ren schwierig und teuer. Die Fließgeschwindigkeit sollte nie höher als 1 m/ssein, etwa 135 L Wasser pro Tag sollten zum Beispiel jedem Einwohner Berlinstäglich zur Verfügung stehen. Nirgends darf das Wasser beim Öffnen desHahns ausbleiben (sonst hagelt es Proteste der durstigen, hungrigen undschmutzigen Kunden), nirgends darf das Wasser länger als zehn Tage in denengen Rohren stehen (sonst droht Pilzbefall). Wenn wesentlich weniger Wasserals vorausberechnet verbraucht wird, fault das stehende Wasser und die Straßenüber den Wasserrohren stinken nach Ammoniak und Aminen, nach Ver-

1.4 Rohrsysteme und Pumpen 43

Abb. 1.23 Links: Der natürliche Zeitverlauf des Fließens vonGrundwasser von der Wasserscheide zum Fluss. Rechts: Pum-pen und angeschlossene Rohrleitungen fördern das Grund-wasser zu Verbrauchern oder aus dem Fluss in hochgelegeneBecken, wo es versickert und neues, gefiltertes Grundwasserbildet.

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wesung. Druckrohre unter der Erde kosten etwa 1000 Euro Investition pro Me-ter Rohr, die Wartung kommt noch dazu.

Ein Blick zurück ins Berlin des 19. Jahrhunderts zeigt die Be-deutung eines funktionierenden Rohrleitungssystems für das Le-ben einer großen Stadt. Die Exkremente der Berliner wurdentraditionell eimerweise in die Spree, einen mittelgroßen Fluss inder Innenstadt, geschüttet. Ab 1814 achteten Nachtwächter da-rauf, dass dies erst nach elf Uhr nachts geschah. 1820 wurdenvon den „Frauen der nächtlichen Arbeit“ in jeder Nacht alleinvon der Jungfernbrücke neben dem Berliner Schloss 200 000 Ei-mer Fäkalien in den Fluss gegossen. 1842 wurde das verbotenund ein Latrinenfahrzeugdienst eingerichtet. Ein typischer Ge-sellschaftsabend in Berlin-Mitte endete typischerweise um elfUhr abends, wenn der große Wagen in den Hof fuhr und sichein entsetzlicher Gestank erhob. Man flüchtete in die zweiteund dritte Etage, so hoch man kommen konnten, bis unter dasDach, hockte bis tief in die Nacht auf Treppen und Balken, bissich einige hinab, zum Hause hinaus wagten und die Damenhinunter riefen.

Bis 1875 wurden Fäkalien, Schlachtereiabfälle und Müll in die Rinnsteine ge-spült. Geringes Gefälle, raues Baumaterial und der schmale Querschnitt derRinnsteine hielten den Abfall auf, ließen ihn auf der Straße verfaulen. HeftigerRegen versenkte die Bürgersteige unter einem stinkenden, glatten Schlamm.Stiefel und Überschuhe wurden über die Schuhe gezogen, tausend Droschkenlebten vom Dreck und Gestank auf den Bürgersteigen der Mitte von Berlin.Niemand wollte dort gehen.

Ab 1873 wurde das Prinzip „Durchfluss“ durch das Prinzip „Kreislauf“ er-setzt. Man begann das Abwasser außerhalb der Stadt auf Rieselfeldern biolo-gisch zu reinigen, bevor es in die Flüsse geleitet wurde. 1873 wurde in Berlinmit dem teuren Bau eines Rohr- und Kanalsystems begonnen. Geplant wurdefür 120 (!) Jahre. Tatsächlich sind heute, im Jahr 2007, noch viele alte Rohre inBetrieb, die hauseigenen Wasserrohre der Neubauten der Gründerjahre (etwa1873–1890) werden fast alle noch genutzt. 1882 waren die „Radialsysteme“ derInnenstadt fertig, die das Adersystem der Baumblätter nachahmten. Berlin warschon immer baumliebende Stadt, weil sich hinter grünen Kronen unansehnli-che Architektur und chaotische Stadtplanung verstecken ließen. 1892 waren alleelf geplanten Radialsysteme, alle unterirdischen „Blätter“, in Betrieb. Berlinerwaren in Brandenburg jetzt nicht mehr am Gestank ihrer Kleider zu erkennen,es roch nur noch auf den auswärtigen Rieselfeldern und Äckern (Abb. 1.24).

Heute wohnen in Berlin 3,5 Mio. Menschen in 260000 Häusern mit je einemWasserzähler. Zu diesen Anschlüssen führen Hauptleitungen mit einem Durch-messer von 1,5 m und Versorgungsleitungen mit Durchmessern von 5–30 cm.Das Durchschnittsalter der Rohre ist fünfzig Jahre, die ältesten Rohre sind Ori-ginalrohre von 1873. Der Druck im Rohrnetz beträgt 5 atm, in jeder Wohnung

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wenigstens 2 atm. Wassertürme werden nicht mehr betrieben, der Druckkommt aus den Pumpen. Die Verlegung eines Meters Rohr hat 700 Euro gekos-tet, das Netz der Rohre ist knapp 8000 km lang; 77% der Rohrleitungen sindaus Grauguss, 12% aus Faserzement, 10% aus Stahl und 0,2% aus Polyethylen.Im Durchschnitt werden 610000m3 am Tag gefördert und verbraucht, dasRohrsystem ist für eine Spitzenleistung von 1,14 Mio. m3 ausgelegt. 62000 Hyd-ranten führen von oben in das unterirdische Rohrnetz, 100000 Schieber erlau-ben es, ein undichtes oder sonst zu versorgendes Rohr aus dem Netz zu neh-men. Die Wasserverluste liegen unter 5%.

Das unterirdische Kanalisationsnetz zur Abwasserentsorgung ist 1500 km län-ger als das Rohrsystem: 4100 km Schmutzwasserkanäle, 3166 km Regenwasser-kanäle und 1894 km Regen- und Schmutzwasserkanäle unterlaufen die Stadt.Der kleinste Kanal ist 20 cm breit, die größten Profile umfassen 4,4�3,4 m. Ka-näle sind aus Steinzeug oder Beton, alle sechzig Meter gibt es einen Einstiegdurch einen von 200000 Kanaldeckeln. An Flüssen und Untergrundbahnenbraucht die Stadtunterquerung Rohre und Pumpen, die nachsteigendes Grund-wasser abpumpen können (Düker). Schmutzwässer fließen in die Klärwerke,das Regenwasser über Absetzbecken in die Flüsse und Kanäle Berlins.

Das genutzte Wasser fällt fast vollständig als nur leicht verunreinigtes Abwas-ser wieder an. Geringfügige Verluste treten nur im Sommer auf, wenn Rasen-flächen gesprengt werden oder im Freien geduscht wird. Besondere Schwierig-keiten machen Fettabfälle aus Haushalten und Lebensmittelbetrieben, die sichnicht im Wasser ausdünnen, sondern auf der Oberfläche treiben und die Rohreverdrecken und schwierig zu entfernen sind. Putzen Sie Ihre Bratpfanne mitPapier, das Sie in den Müll werfen (der dann verbrannt wird) und nicht mitSpülmittel, das das Fett auf die Oberfläche des Abwassers transportiert!

Nach dem Kanalsystem kommen die sechs Klärwerke Berlins. Nur Braun-schweig hat in Deutschland noch Rieselfelder. Die Berliner Klärwerke entfernen

1.4 Rohrsysteme und Pumpen 45

Abb. 1.24 Der Durchfluss und das Radialsystem der Wasser-rohre in einem Blatt und unter einer Stadt.

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Grobes durch Auskämmen mit Rechen und langsames Absetzen in großen Be-cken, filtrieren dann über Sand und oxidieren den resultierenden Schlamm inBelebungsbecken mikrobiologisch mittels Druckluft. Danach wird der Schlammeingedickt, anaerob-biologisch weiter zersetzt, entwässert und schließlich ver-brannt. Verbleibende Stickstoffverbindungen (Ammoniak, Nitrit) werden vonBakterien („Nitrifikanten“) und Sauerstoff in Nitrat verwandelt, dann biologischzu gasförmigem Stickstoff reduziert.

Das Hauptproblem des modernen Grundwassers ist die Verunreinigung durchPhosphat- und Nitratsalze. Schweinegülle enthält zum Beispiel 65% des alsDünger benötigten Stickstoffs als Ammoniak, NH3, der von Bodenbakterien zuNitrat, NO3

–, oxidiert wird. Probleme mit der Gülle treten auf, wenn Felder als Ent-sorgungsfläche für Gülleüberschüsse missbraucht werden und der Stickstoff nurteilweise in den Proteinen der Pflanzen verschwindet. Die Nitratfahne fließt dann80 m tief, und Wasserwerke müssen immer tiefere Brunnen bohren. Deshalb be-schränkt man die Gülleausbringung auf die Vegetationszeit von Februar bis Ok-tober. Zwei bis drei Dungeinheiten zu je 80 kg Stickstoff pro Hektar sollten nichtüberschritten werden. Ein hoher Einsatz von Fäkalien senkt die Effizienz derStickstoffdüngung auf 20%, synthetische Stickstoffsalze sind noch wenigernützlich. Ist nicht nur ein Nitrat-, sondern auch noch ein Phosphatüberschussvorhanden, so verschlammen stehende Gewässer innerhalb eines Sommers.Grün- und Braunalgen wachsen ungehemmt und vernichten alles andere Leben.

Das alles sollte eigentlich ein Problem der Landwirte sein und sich dort auf demLand auch lösen lassen. Leider ist dies nicht der Fall, denn die Flüsse tragen denDünger in die Städte. In Berlin starben etwa um 1978 alle Fische im Tegeler See,den zwei kleine, aber phosphat- und nitratverseuchte Zuflüsse namens Panke undTegeler Fließ in einen grünen Algenbrei verwandelten. Staatliche Zuschüsse zueiner „Interbau“-Ausstellung machten es dann möglich, täglich Tonnen einer kon-zentrierten Eisen(III)-chlorid-Lösung aus schlesischen Minen durch die Stadt rol-len zu lassen und damit in einem Klärwerk Eisen(III)-phosphat auszufällen, dassich im Klärbecken absetzt und dann entsorgt wird. Ohne Phosphat keine Algen.Die Sichttiefe im Tegeler See beträgt heute 5 m, die Kloake verwandelte sich inner-halb weniger Jahre in den biologisch saubersten See Berlins. Weiter einlaufendesNitrat allein reicht für das Algenwachstum nicht aus, Lebewesen brauchen Stick-stoff und Phosphat. Man pumpt nun das Nitratwasser in einen benachbartenFluss namens Havel und hat den See geklärt.

Der durchschnittliche Wasserverbrauch eines Berliners lag 2005 bei 121 L amTag. Die Kosten betrugen etwa drei Euro für den Bezug eines Kubikmeters(1000 L) Trinkwasser und acht Euro für die Abführung und Aufarbeitung einesKubikmeters Abwasser. Das sind etwa 40 Euro im Monat für jeden Berliner. Dafürgab es schmackhaftes und absolut sauberes, wenn auch hartes Trinkwasser.

Ländliche Bereiche sind schon immer ohne teure Rohrnetze ausgekommen.Die Peruaner bauten vor tausend Jahren 20 bis 30 übereinander liegende,2–5 m hohe Terrassen aus zentner- bis tonnenschweren Steinen, auf die sie60 cm hoch Kulturboden aufschütteten. So wurde trotz der bis zu 45� steilenHänge und schweren Regengüsse die Abtragung des Bodens verhindert. Die

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heutige Bevölkerung Perus bewirtschaftet nur noch die unteren Terrassen undhat verinnerlicht, dass diese schon „immer“ da waren. Völker kennen oft nurdie letzten Kapitel ihrer eigenen Geschichte.

Indien ist ein Märchenland der Bewässerung. Brunnen, Stollen, Hangkanäle,Teiche und Flussableitungen versorgen das Land in einer unvergleichlichenund funktionierenden Vielfalt von Sammelstellen und Verteilungssystemen.„Hindustan“ in Vorderindien bedeutet „Land der Brunnen“. Im 12. Jahrhundertbegannen die Mohammedaner mit dem Bau von Brunnen auf der Halbinsel,die heute etwa ein Viertel des Landes bewässern. Im Nordwesten gibt es vor allemunterirdische Stollen persischen Ursprungs sowie Dammbauten aus Riesenstein-blöcken, von unbekannten Völkern errichtet. In den zentralen Provinzen findetman 50 000 Stauteiche. Pandschab, das Fünfstromland des Indus im Norden, lebtvon großen Kanälen, Hangkanäle nutzen das Schmelzwasser des Himalaya.

Die Regulierung des „Großen Kummers Chinas“, des Hoangho, des GelbenFlusses, durch Dämme wird hingegen seit 2000 Jahren ohne dauernden Erfolgversucht. Der abgeschwemmte Lößboden sammelt sich in dem viel zu breitenHochwasserbett, sodass Deiche fortgespült werden, weil der Strom dann oft3–10 m über dem umgebenden Gelände fließt. 1,4 Milliarden Tonnen desLößbodens lagern sich jährlich im Unterlauf ab und werden auch die jetzt neugebauten Talsperren in spätestens 70 Jahren füllen.

Die rasch fortschreitende Entwaldung und Versandung der Bu-charei südlich des Aralsees wurde Ende des 19. Jahrhunderts inerster Linie auf politische Einflüsse zurückgeführt. Später tatendie Wüstenstürme, das ihrige, um einst blühende Landschaftenin Einöden zu verwandeln. Mehrfache Verschüttung der Kanä-len durch das Militär erzwang die Auswanderung der Bewohnerunvermeidlich, die Bucharei wurde menschenleer. Der Flugsandgewann freies Spiel und verbreitete sich bis nur noch die Hasendort ein kummervolles Dasein fristeten.

Im Jahr 2006 fehlte einer Milliarde Menschen sauberes Trinkwasser. Den Einwoh-nern von Entwicklungsländern stehen 10 L Wasser täglich zur Verfügung, traditio-nell laufen in Afrika und Asien die Frauen und ihre Kinder durchschnittlich 6 kmzum nächstgelegenen Fluss. Brunnen und hygienische Latrinen können nicht be-zahlt oder selbst eingerichtet werden. Der Busch dient als Latrine, Regenwasserspült das Abwasser von dort in die Flüsse. Seuchen ziehen ein, Durchfallerkran-kungen (Diarrhoe von griech. diarrhoia, „Durchfluss“) und Malaria lassen täglichHunderttausende, vor allem Kinder, an den Folgen schmutzigen Wassers sterben.Die Familie wäscht ihre Hände in derselben Schüssel, angefangen beim ältestenMann, die Hände des jüngsten Kindes kommen zuletzt. Diese Hände, mit denendas Kind dann isst, sind schmutziger als vor dem Waschen.

Großstädte brauchen Rohre und Pumpen und friedfertige Nachbarn an derWasserquelle. So ist die Abzweigung von Flusswasser in Talsperren nur naheder Quelle sinnvoll. Anderswo kann das zum Austrocknen des unteren Fluss-laufs führen. Kriege drohen, wenn dadurch in einem anderen Land Landwirt-

1.4 Rohrsysteme und Pumpen 47

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schaft und Trinkwasserbereitung unmöglich werden. Quotensüchtige Fernseh-sender begünstigen dann in unserer ach so kommunikativen Welt die Aufstau-ung von Wut und Hass während des Dammbaus. Ruhige Verhandlungen überdie Verteilung, nicht aber „aktuelle“ Nachrichten über gestohlenes Wasser festi-gen das Zusammenleben der Völker.

Das Blut im Kreislauf des Menschen braucht wie das Trinkwasser unter derGroßstadt ein intaktes Rohrsystem. Verletzungen oder Verschmutzungen beiderRohrsysteme kosten viel Geld und viele Leben.

Im Folgenden werden die wichtigsten Rohrsysteme des menschlichen Kör-pers kurz vorgestellt, Pumpen (Seite 284) und Probleme (Seite 52 f, 286 ff) wer-den später besprochen.

Das meiste Wasser im menschlichen Körper fließt in sehr feinen Röhrchenmit Innendurchmessern unter einem Millimeter, die man Kapillaren nennt (lat.capillus, „Haar“). Wasser bewegt sich dort nur langsam, weil sich das an die Ka-pillarwand gebundene Oberflächenwasser kaum lösen kann und das Wasser imInnenraum, das durch Wasserstoffbrücken mit ihm verbunden ist, ebenfalls un-beweglich wird.

Anziehung und Abstoßung von Kapillarwasser durch Kapillarwände lässt sichleicht sichtbar machen. Taucht man eine Kapillare aus Silicatglas mit vielenOH-Gruppen an der Oberfläche in Wasser, so ziehen starke Wasserstoffbrückendas Wasser nach oben. Versieht man das Glas hingegen mit einem hydropho-ben Fettfilm, so wird die Adsorption schwach, die Wasserstoffbrücken wirkennur nach innen und der Wasserspiegel sinkt. Je größer die Kontaktfläche imVerhältnis zum Wasservolumen ist, desto größer sind die Adhäsionskräfte derWand, die Steig- oder Sinkhöhen wachsen an, die Fließgeschwindigkeiten ge-pumpter Volumina werden klein: Entweder klebt die obere Wasserschicht an ei-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins48

Abb. 1.25 Adhäsion (Anziehung zwischen Wasser und Glas)in a) dünnen und sehr dünnen Röhrchen mit wasserfreundli-cher Oberfläche und b) Röhrchen mit fettiger, hydrophoberOberfläche.

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ner hydrophilen Oberfläche fest und behindert über Wasserstoffbrücken dasVolumenwasser oder das Wasser formt tropfenähnliche Gebilde an hydropho-ben Oberflächen, die wieder nur langsam fließen. Nur wenn die Oberfläche imVerhältnis zum Volumen sehr klein ist, gibt es diese Bremseffekte nicht(Abb. 1.25).

Lebende Gewebe bestehen vorwiegend aus wässrigen Gelen, in denen dasWasser durch Kapillarkräfte locker an Lipid- und Proteinfasern (Tiere) oder Cel-lulosefasern (Pflanzen) fixiert ist. Die wichtigsten Baustoffe des Lebens sindwässrige Gele mit verschiedenen Fasergerüsten. Am eindrucksvollsten lässt sichdas am Glaskörper des Auges zeigen, das aus zu 98% aus Wasser und zu 2%aus Protein- und Glycoprotein-Fasern (Seite 196 ff) besteht. Ein riesiger gelierterWassertropfen verbindet unser Gehirn mit dem Licht der Sonne. Jede seiner Fa-sern ist durch einfachen, punktförmigen Kontakt zu anderen Fasern in ein Netzgeknüpft, keine einzige Faser ist frei beweglich. Das Fasernetz ist „kohärent“(zusammenhängend). Der Glaskörper des Auges ist elastisch und kann rever-sibel verformt werden, als funktionelle Einheit aber ist er ein vielleicht hundert-jähriges Leben lang immer nur metastabil. Die Fließgeschwindigkeit des Was-sers aus dem Glaskörper heraus ist praktisch null, aber schon ein Druck mitdem Finger oder etwas Hitze oder Säure zerstören das Gebilde. Nur wenn manden Glaskörper in seiner Umgebung in Ruhe lässt, lebt und funktioniert ersehr lange. Dieses Verhalten ist typisch für metastabiles, lebendiges Gewebe,für biologische Gele (Abb. 1.26).

Das Wasser in den großvolumigen, aber nur wenige Millimeter breiten Adernund in den engen Kapillaren der Niere und des Gehirns mit Durchmessern un-ter 0,3 mm lässt sich von außen mit Magnetresonanz- und Positronen-Emis-sions-Tomographen (Tomographie von griech. „Schnittbild“) sichtbar machen.Diese Apparate erzeugen zeitaufgelöste Bilder der inneren Wasservolumina undder Oberflächenfilme im Körper. Mediziner interessieren sich vor allem für dieWasserströme im Gehirn und im Herzen. Ebenso lassen sich die Strömungen

1.4 Rohrsysteme und Pumpen 49

Abb. 1.26 Elektronenmikroskopisches Bildeines typischen wässrigen Gels. UltradünneFasern halten Wasser an ihren Oberflächenmit Kapillarkräften über weite Distanzen fest.Die Flüssigkeit erstarrt im großen Volumen

als Gel, obwohl die einzelnen Wassermolek-üle innerhalb des Gels sehr beweglich sind.Aus J.-H. Fuhrhop, S. Svenson, C. Boettcher,E. Rössler, H.-M. Vieth, J. Am. Chem. Soc.1990, 112, 4301–4312.

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markierter Verbindungen, die im Blut gelöst sind, messen. Das betrifft vor al-lem die allgegenwärtige Glucose (Seite 52), sowohl in gesundem Gewebe alsauch in Krebszellen, neben Infarkten oder an Entzündungsherden.

Die örtliche und zeitliche Charakterisierung des Blutkreislaufs ist mittels derProtonen-Kernresonanz möglich, weil die Protonen der Wassermoleküle nichtnur positiv elektrisch geladen sind, sondern auch um ihre eigene Achse rotierenund dabei ein Magnetfeld B erzeugen. In einem von außen angelegten, starkenMagnetfeld H sind nur zwei Ausrichtungen des Protonenmoments B möglich:Entweder liegt B parallel oder antiparallel zu den H-Feldlinien. Parallel ausge-richtete Protonen sind minimal energieärmer als antiparallel liegende. Eine Ra-diowelle, mit einer Frequenz die dieser Energie entspricht (Resonanzfall), wirdvon den Protonen absorbiert, magnetische Momente werden „umgedreht“ underzeugen ein Signal (siehe Seite 69 f). Wird die Radiowelle abgeschaltet, schwin-gen die Magnetfelder B der Protonen wieder zurück in ihre alte Lage in Bezie-hung zum angelegten Magnetfeld H. Das geht in einer kurzen Zeit T1, wenndie Wassermoleküle sich frei bewegen können, d. h. wenn sie sich im Innereneines größeren Wasservolumens befinden. Das geht viel langsamer, in einer lan-gen Zeit T2, wenn die Wassermoleküle an kapillären Oberflächen, zum Beispielan den Oberflächen fettiger Neuronenkanäle, haften. So entstehen nuancenrei-che Bilder der Wasserströmungen im Körper. Ein Magnetresonanztomographfotografiert wahlweise Schnittbilder des beweglichen T1-Wassers in Arterienoder des weniger beweglichen T2-Wassers in den Kapillaren aktiver Gehirnzen-tren. Das Magnetfeld durchdringt den Menschen, registriert Wasserwege underzeugt Standphotos für tausend Euro das Stück. Die Aufnahmezeit liegt beizehn Sekunden oder mehr, man muss also stillhalten (Abb. 1.27).

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins50

Abb. 1.27 1H-NMR-Tomographie des Kopfes.Langsame Kapillarströme schwer beweg-lichen Wassers an Oberflächen von Gewebenaus Lipiden oder Proteinen herrschen vor(T2-Relaxationsmessung). Die 1012 Nerven-zellen der grauen Substanz bestehen zu

83% aus Wasser, die weiße Substanz derNervenfortsätze und ihrer Isolierschicht zu70%. Die dunklen Areale sind die Wasser-volumen. Quelle: http://www.rad-ro.de/Weitere%20Kernspinbilder.htm. Mit freundli-cher Genehmigung des Autors.

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Eine andere Messmethode ist noch empfindlicher: die Positronen-Emissions-Tomographie, kurz PET. Positronen sind die positiv geladenen Antiteilchen derElektronen. Sie entstehen bei Kernreaktionen in den Sternen (Seite 8) oder in Cy-clotrons von Krankenhäusern. Beim Zusammentreffen mit Elektronen findet eine„Annihilation“ zu zwei energiereichen Lichtquanten (Photonen) statt, die gleich-zeitig von der PET-Kamera registriert werden (Abb. 1.28).

In Berlin zum Beispiel verfügen zwei Krankenhäuser über ein Cyclotron fürzwei Millionen Euro und eine PET-Kamera für etwa die gleiche Summe. Inganz Deutschland steht etwa ein Gerätepaar pro Million Einwohner zur Verfü-gung. Jede Anlage liefert etwa tausend Bilder im Jahr. Der zu betrachtende Kopfoder die Brust mit einem kranken Herzen liegt in einer ringförmigen PET-Ka-mera. Frisches, mit radioaktivem 15O aus dem Cyclotron des Klinikums angerei-chertes Wasser wird in die Vene des rechten Arms gespritzt. Nach wenigen Se-kunden erscheinen die durch den Zerfall des Radionuklids entstandenen Posit-ronen in Herz und Gehirn, die PET-Kamera surrt und macht eine Serie vonSchnittbildern. Nach zehn Minuten ist der Sauerstoff zerfallen und das erhalte-ne Bild zeigt schattenhaft, durch welche Hirnregionen am meisten Blut geflos-sen ist. Schnellere PET-Kameras können die Ströme des Wassers im Gehirn inSerien von Bildern zeitaufgelöst abbilden, was 1000 bis 3000 Euro kostet. SolcheFahrten durch das sehende und denkende Gehirn zeigen, bei genauer Proto-

1.4 Rohrsysteme und Pumpen 51

Abb. 1.28 Zerfall des radioaktiven Sauer-stoffs 15O zu Stickstoff 15N unter Abgabevon Positronen aus dem Kern des Sauer-stoffatoms. Die Positronen stoßen auf dieElektronen aus Molekülen in der näheren

Umgebung des Zerfallsereignisses und set-zen dort zwei Photonen frei, die gleichzeitigmit Lichtgeschwindigkeit nach außen drin-gen und dort von PET-Kameras registriertwerden.

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kollführung, in welchen Bereichen die vom Auge aufgenommenen Lichtquan-ten verarbeitet, wo das gelesene, gehörte oder gesprochene Wort erzeugt undwahrgenommen wird, wo chemische Strukturen analysiert werden und wo diesexuellen Gedanken und Gefühle ihren Ursprung haben. Medizinischen Nut-zen hat das nur, wenn die Wasserwege in die Irre laufen; und bezahlt wirddafür nur, wenn man aus den Tomographien Hinweise zur Reparatur der Lei-tungen erhält (Abb. 1.29).

Ein allgemein interessantes Ergebnis der Tomographie ist der Befund, dass15O-Wasser, das in die Armvene eingespritzt wurde, sich nach wenigen Sekun-den im Gehirn findet, obwohl die meisten der Arterien mit einem Durchmesservon 0,1 mm dort nur eine Strömungsgeschwindigkeit von 2 m/h erlauben. Inden großen Arterien fließt das Blut schnell, im viel verzweigten Delta der Kapil-laren kriecht es, aber länger als ein paar Sekunden braucht es nirgendwo hin.

Ein besonders kritisches Areal für das Rohrsystem sind die Arterienabschnittenahe beim Herzen. Hier ist der Durchsatz an Blut besonders groß und die Ven-tile der Herzpumpe sind empfindlich gegenüber Verstopfungen. Wenn derTransport irgendwo stoppt, lässt der Sauerstoffmangel den Herzmuskel dortrasch sterben („Herzinfarkt“). Als oberstes Prinzip muss (wie für die Wasser-

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins52

Abb. 1.29 Typische PET-Bilder (hier:18FDG= 18Fluordeoxyglucose) von Gehirna-realen nach Einspritzen einer 18Fluor-Gluco-selösung (Halbwertszeit 110 min) in eineArmvene. Die hellen Areale geben die Regio-nen des Gehirns wieder, die hören und den-

ken bzw. sprechen und denken. Im oberenBild lernte das Gehirn einen Text, das unterezeigt ihn beim Aussprechen. Während derangegebenen Tätigkeit strömt besonders vielBlut mit 18Fluor-Glucoselösung in die hellenAreale. Aus http://www.biokurs.de/skripten.

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rohrleitungen einer Stadt) gelten, dass so wenig wasserunlösliche Substanzen wiemöglich ins fließende Medium gelangen sollten. Das betrifft vor allem die Fetteund das Cholesterin (Seite 125 ff und 150 ff). Wasserlösliche Nahrung verstopftnicht und unlösliche Cellulose gelangt nicht ins Blut, sondern wird vom Magen-Darm-Trakt ausgefiltert. Außerdem liegt auf der Hand, dass das Herz ein Muskelist, der Training braucht. Da er täglich ununterbrochen pumpt, muss er auch täg-lich trainiert werden. Rumsitzen oder im Bett liegen ist kein Training.

Fettsäuren und ihre Salze, die Seifen (Seite 115 ff), sind der übelste Schmutz imAbwasser und im Blut. Sie verdrecken alle Kanäle und werden mikrobiologischnur langsam abgebaut. Spülen Sie Ihr Fett nicht im Ausguss weg, sondern werfenSie es in den Mülleimer! Verbrennen lassen sich die Fette prima. Wenn Sie Fettessen, dann müssen Sie es natürlich auch verbrennen, am besten indem Sie Sporttreiben. Nur so können Sie es wieder los werden.

Auch andere Details über die Wasserströme des Blutkreislaufs kennen Ärzteschon lange: Unterkühlung verengt die Blutgefäße unter der Haut und drängtdas Blut von außen nach innen, vor allem in Herz, Gehirn, Nieren und Lunge.Ein Unterkühlter darf deshalb nur sehr langsam mit Decken erwärmt werden,sonst strömt sein Blut schnell und unkontrolliert aus Herz und Gehirn in dieplötzlich erweiterten Hautgefäße. Aus dem gleichen Grund sind plötzliche Wet-terumschwünge gefährlich. Fällt das Thermometer um mehr als 10 �C, so steigtdie Herzinfarktrate um 15%, weil das Blut sich ins Innere des Körpers drängtund der Blutdruck steigt. Einen ähnlich ausgeprägten Effekt haben Erhöhungendes Luftdrucks um mehr als 1000 Pa.

1.5Bewegliche elektrische Ladungen (Ionen)

Eine weitere herausragende physikalische Konsequenz der Clusterbildung inflüssigem Wasser ist dessen extrem hohe Dielektrizitätskonstante. Ihr numeri-scher Wert ist 80 und damit doppelt so hoch wie der anderer Lösungsmittel.Auf der hohen Dielektrizitätskonstante beruht vor allem die Wasserlöslichkeitdes Kochsalzes, das die Ozeane und das Blut einsalzt. Die positiv (Kationen)und negativ (Anionen) geladenen Teilchen der salzartigen Verbindungen tren-nen sich in Wasser voneinander, beide werden von Wasserclustern hydratisiert.Kochsalz oder Natriumchlorid, NaCl, wird in Wasser zu Na+- und Cl–-Ionen auf-gespalten, das Wasser enthält dann hydratisierte negative und positive elektri-sche Ladungen, die für den elektrischen Betrieb der Nerven und Muskeln ge-braucht werden. Die Aufspaltung in Ionen findet statt, obwohl die Bindungs-energie Na–Cl mit 107 kcal/mol höher liegt als die einer Kohlenstoff-Kohlen-stoff-Bindung C–C (89 kcal/mol), die in Wasser vollkommen stabil ist. NaCldissoziiert in Wasser, Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen tun es nicht. Die Ursa-che dafür liegt erstens in der extremen Polarisierung des NaCl (Natrium- undChlorid-Ionen sind schon im Kristall geladen) und zweitens in der massiv be-vorzugten Hydratisierung geladener Teilchen durch polare Wassercluster.

1.5 Bewegliche elektrische Ladungen (Ionen) 53

Page 64: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Ein NaCl-Kristall besteht aus harten, kugelförmigen Ionen entgegengesetzterLadung, die im elektrischen Feld wandern (griech. ion, „das Wandernde“). Daslässt sich mit gelöstem NaCl direkt zeigen: Die Natrium-Ionen Na+ (Kationen)werden von einer negativ aufgeladenen Elektrode aus Graphit (Kathode) zu elek-troneutralem Natriummetall umgewandelt („reduziert“, Elektronen werden zu-geführt). An der positiv aufgeladenen Graphit-Elektrode (Anode) entsteht Chlor-gas aus den Chlorid-Anionen, die oxidiert werden (Elektronen werden entzogen).Bei der Elektrolyse des gelösten Salzes werden also zunächst Natrium und Chlorgebildet, aber das Natriummetall übergibt sein Elektron sofort den Protonen desWassers und Wasserstoffgas, H2, steigt auf: Die Lösung wird immer reicher anOH–-Ionen, sie wird basisch. Das wässrige Produkt heißt Natronlauge. Das Chloran der Anode aber kann aufgefangen werden, seine Reaktion mit den OH–-Ionendes Wassers ist zu langsam, um zur Sauerstoffproduktion genutzt zu werden(Abb. 1.30).

Hydratisierte Natrium-Ionen werden von Wasser leicht aus Tonerden und an-deren Silicaten herausgeschwemmt, sodass Flüsse das Natrium selektiv in dieWeltmeere tragen. Das gleich häufige Kaliumion wird von den polymeren Sili-kat-Anionen viel fester gehalten, weil es auf Grund seiner Größe Wasser viel lo-ckerer bindet und lieber bei den Polyanionen bleibt. Wir werden diesem Phäno-men bei den Nerven und Muskeln wieder begegnen (Seite 245 ff).

Der Austausch des direkt an das Metall-Kation gebundenen Wassermolekülsdurch andere Wassermoleküle erfolgt bei Natrium-, Kalium- und Calcium-Ionen

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins54

Abb. 1.30 Elektrolyse einer wässrigen Salzlö-sung (NaCl). Das mit vier Wassermolekülenhydratisierte Chlorid-Ion wandert zur positivgeladenen Anode und gibt dort ein Elektronab; es entsteht gasförmiges Chlor, das ohneWasser entweicht. Die Oxidation des Was-sers zu Sauerstoff findet nicht statt, weil sie

zu langsam ist. Auf der anderen Seite desStromkreises führt die Kathode dem Na-trium-Ion ein Elektron zu und reduziert eszum Natrium-Metall, welches sofort Pro-tonen des umgebenden Wassers zu Wasser-stoff reduziert.

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sehr schnell (3�108 L mol–1s–1). In keiner anderen Umgebung werden die Ei-genschaften der Protonen und der vier Metallkationen Na+, K+, Mg2+ und Ca2+

so scharf differenziert wie in flüssigem Wasser. So wandern im elektrischenFeld Protonen 6-mal schneller als die genannten Metallkationen. Vor allem aberhängt die Wanderungsgeschwindigkeit in Wasser sehr stark von der Temperaturab, weil die Clustergröße mit abnehmender Temperatur steigt (siehe Seite 24).Die 48 L Wasser eines durchschnittlichen Körpers enthalten 720 g gelöstesSteinsalz, das sind 12 mol Salz oder 24 mol Ionen oder 1,4�1025 Ionen. Auf je-des gelöste Ion kommen also etwa hundert Wassermoleküle.

Ähnliches gilt, wenn man das Hydratwasser gegen andere „Liganden“ aus-tauscht. Während die Metallchloride in Wasser vollständig dissoziieren, zumBeispiel in Magnesiumdikationhydrat Mg(H2O)6

2+ und Chloridhydrat Cl–(H2O)4,ist ein Komplex aus EDTA (Ethylendiamintetraessigsäure, A von engl. acid) undMg2+ in Wasser völlig stabil. Nur in Säuren zerfällt er. Aber auch der Metall-komplex selbst ist geladen, beim MgEDTA zweifach negativ, und deshalb starkhydratisiert. Proteine (Kapitel 5) und Phosphate (Kapitel 6) wirken in ähnlicherWeise als Liganden für Mg2+ und Ca2+ (Abb. 1.31).

Besonders effizient sind cyclische Liganden, die sich wie eine Krone auf dasIon setzen. In diesem Fall braucht der Ligand auch keine Ladungen. Elektro-neutraler Sauerstoff, ein „Kronenether“, reicht aus, um die Hydrathülle der Io-nen zu verdrängen (Abb. 1.32).

1.5 Bewegliche elektrische Ladungen (Ionen) 55

Abb. 1.31 Der Magnesium-EDTA-Komplex und seine Zerset-zung mit Säure (H+). Metallionen mit zwei oder mehr positivenLadungen bilden Metallkomplexe mit solchen Kohlenstoffver-bindungen, die mittels vier, sechs oder noch mehr Sauerstoff-,Stickstoff- oder Schwefelatomen das Metall umhüllen können.

Abb. 1.32 Auch für Natrium- und Kalium-Io-nen gibt es biologische Liganden mit vielen„harten“, das heißt wenig verformbaren Sau-erstoffatomen, die die positive Ladungumhüllen und sie aus dem Wasser in Mem-branen (siehe Kapitel 3) transportierenkönnen, zum Beispiel das Nonactin. Weiche,verformbare Stickstoff- oder Schwefelatomebinden nicht an Natrium und Kalium.

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Das Zellwasser des menschlichen Körpers ist Salzwasser, aber mit 15 g NaClpro Liter ist es nur halb so konzentriert wie das heutige Meerwasser. Es ent-spricht dem Meerwasser vor drei Milliarden Jahren, ungefähr zu dem Zeit-punkt, an dem die biologische Evolution in Schwung kam. Heute enthalten dieOzeane 30–40 g/L, der Mensch aber unverändert 15 g/L. Wir haben die Ge-wohnheiten der ersten Einzeller beibehalten. Diese konservative Tendenz derEvolution, biologisch Bewährtes zu belassen, auch wenn die Umgebung sichverändert, lässt uns auf dem Meer verdursten, wenn kein Frischwasser vorhan-den ist. Der hohe Salzgehalt des Meerwassers zieht das Wasser durch Osmose(siehe Seite 137) aus den Körperzellen in den Magen, dehydratisiert die Zellenund tötet sie. Haut und Niere können die Salzkonzentration in Schweiß undUrin höchstens von 1,5 auf 2% hochtreiben, 3–4%iges Meerwasser aber wirktals tödliches Gift.

Eine billige Entsalzung von Ozeanwasser in großem Stil würde das Energie-problem der Menschheit auf absehbare Zeit lösen, denn mit der heute noch un-genutzten Sahara steht eine ausreichend besonnte Anbaufläche für Bambusund Zuckerrohr zur Verfügung. Der benachbarte Atlantische Ozean könnte alsWasserquelle dienen. Mehr als einen Cent dürfte ein Kubikmeter Agrikultur-wasser aber nicht kosten.

Der einfachste Prozess ist die Destillation des Salzwassers mit Sonnenwärme.Auf Patmos steht eine Versuchsanalge der TU Athen: Ein Bassin ist in Recht-eckbecken unterteilt und mit schwarzem Gummi ausgelegt. Über den Wasserführenden Teilen wurde ein schräges, doppeltes Glasdach angebracht, jede Was-serfläche wurde in einem geschlossenen Kasten isoliert. Das durch die Sonnen-einstrahlung verdampfende Wasser kondensiert innen am Glas und läuft überRinnen in einen Speicher. Das zurückbleibende konzentrierte Salzwasser wirdnach zwei Tagen ins Meer abgelassen, neues Seewasser wird eingepumpt. EineVerdunstungsfläche von 10 000 m2 liefert 30 m3 Süßwasser am Tag. Die Investi-tions- und Betriebskosten (Pumpe, Glasreinigung) sind gering.

Zweitens kann man aus Wasser salzfreie Eisbrocken ausfrieren. Man dachte zu-erst an das Abschleppen von Eisbergen aus der Antarktis; der erste konkrete Ver-such aber wurde in Eilath (Israel) mit Abkühlen im Vakuum durchgeführt. Einekonzentrierte Salzlösung wird bei einem Druck von 3 Torr so weit herunter-gekühlt, dass sie zufließendes Meerwasser zu Eis gefrieren lässt. Alternativ kannman festes Wasser in der Kälte in abtrennbaren, festen Hydraten fixieren, zumBeispiel als Propanhydrat, C3H8�17 H2O. Daraus lässt man das Propan einfachbei Raumtemperatur abdampfen und führt es wieder dem Kälteaggregat zu.

Drittens gibt es poröse Harze (Ionenaustauscher), die Natrium- und Chlorid-Io-nen aufnehmen und stattdessen Protonen und Hydroxylionen (also Wasser) abge-ben. Mit Salzsäure und Natronlauge lässt sich das Harz dann wieder regenerieren.

Viertens lässt sich das Kochsalz „abfiltrieren“, indem man das Salzwasser mithohem Druck durch Membranen presst, die für Salze undurchlässig sind („inver-se Osmose“). Ein fünftes Verfahren, die sehr ähnliche Elektrodialyse, reichert dieNatrium-Ionen an einer negativ geladenen und die Chlorid-Ionen an einer positivgeladenen Elektrode an. Zwischen beide Elektroden bringt man eine Reihe von

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins56

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natrium- und chloridselektiven Filtersystemen und erhält so in den Elekt-rodenräumen entsalztes Wasser. Das funktioniert gut bis zu 0,5% Salzgehalt,dann wird die Leitfähigkeit des Wassers zu gering und das Verfahren sehr lang-sam. Kombinierte Osmose/Dialyse-Verfahren brauchen für die Entsalzung von1000 L Meerwasser nur 5 kWh. Sie wären für viele Anwendungen brauchbar,wenn stabiles, leicht zu reinigendes und billiges Filtermaterial in großem Maß-stab zur Verfügung stünde. Das ist heute noch nicht der Fall.

So bleiben vorerst wohl nur die Atommeiler als Energiequelle übrig, um denSchatz der Sahara zu heben: Man nutzt sie erst zur Stromerzeugung, die übrigbleibende Wärme dient zur Destillation. Ein großer Reaktor kann täglich400000 m3 entsalztes Wasser liefern, was zur Erzeugung von 200000 TonnenZucker reicht. Vielleicht aber züchtet eines Tages jemand eine Bambuspflanze,die in Salzwasser wächst – das wäre sicherlich die sauberste Lösung.

Wasser kann sauer oder basisch reagieren, je nachdem, wie viel hydratisierteProtonen es enthält. Unser Körperwasser hat einen pH-Wert von 7,2–7,4, ein Li-ter Blut oder Zellwasser enthält 10–7 mol oder 10–7 g (relative Atommasse vonH+ = 1) oder ein zehntausendstel Milligramm Protonen. In 50 L Wasser eines Er-wachsenen sind dann 50�10–7 g (0,005 mg) Protonen, also fast nichts. Nur dereine Liter Magensäure (pH = 1) enthält etwa ein Gramm Protonen. Überall sonsthaben geringfügige Änderungen der Protonenkonzentration katastrophale Fol-gen. Fällt der pH des arteriellen Bluts unter 7,20 ab, kommt es zu heftigenAtembeschwerden und Kreislaufkollaps, steigt er über 7,45, folgen neuromus-kuläre Reizbarkeit, muskuläre Schwäche und Krämpfe. Diese pH-Sprünge ent-sprechen weniger als einem tausendstel Milligramm Protonen auf 50 L Körper-wasser! Jeder Bissen Nahrung erzeugt tausend Mal mehr Säure, jeder SchluckFruchtsaft, jedes Gramm zu Kohlendioxid veratmete Glucose würde reichen,den pH des Körpers auf 5 zu senken und damit den Menschen sicher zu töten.Der Körper macht deshalb saure Getränke im Magen unschädlich und ver-brennt alle Nahrung vollständig bis zur Kohlensäure, die sich spontan zu Koh-lendioxid und Wasser zersetzt (Seite 65). Kohlendioxid ist ein Gas und wird mit14 Atemzügen pro Minute regelmäßig in das Gasvolumen der Lunge auf-genommen und abgeatmet. Sie verschwindet in der Atmosphäre. Das Ausatmenrettet uns vor dem Säuretod.

Das Proton der Salzsäure, HCl, verdampft aus einer wässrigen Lösung alsHydroxonium-Ion mit 20 (!) Wassermolekülen. Das H+(H2O)20-Hydrat ist ausfünf Fünfecken zusammengefügt, in denen jedes Sauerstoffatom erst zwei Was-serstoffatome fest bindet (Bindungslänge: 0,10 nm) und dann zusätzlich einWasserstoffatom eines benachbarten Wassermoleküls in einer Brücke fixiert(Bindungslänge 0,17 nm). Es handelt sich also wieder um die Fixierung einesfünften Wassermoleküls (siehe Seite 25). In flüssigem Wasser dauert dieÜbertragung eines positiv geladenen Protons von einem Wassermolekül auf einanderes weniger als eine Nanosekunde: Der Protonentransfer ist neben demElektronentransfer die schnellste aller bekannten chemischen Reaktionen(Abb. 1.33).

1.5 Bewegliche elektrische Ladungen (Ionen) 57

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Wir verlassen damit das geologische Wasser und wenden uns den sechs koh-lenstoffhaltigen Molekülen an den biologischen Wasserwegen zu.

Fragen zum Wasser

1. „Ein Flugzeug ist über Ottawa, Kanada, in 8000 m Höhe in eine Hagelwol-ke geraten und abgestürzt. Die mehrere Zentimeter großen Hagelkörnerhatten bei der großen Geschwindigkeit des Jets eine Scheibe des Cockpitsherausgeschlagen und beide Piloten getötet.“ Kann diese Nachricht stim-men?

2. Fische und Pflanzen erscheinen grau in 5 m Tiefe und wieder farbig imScheinwerferlicht. Wie kommt das?

3. Die Trübung der Waldseen verschwindet im Winter. Wie kommt das?4. Wie viel Tonnen Kohle und Kohlenwasserstoffe verbraucht ein Mensch

durchschnittlich im Jahr?5. Wie vermeidet man die Versandung einer Landschaft?6. Wieso hat man im 20. Jahrhundert die Flüsse begradigt und welche Prob-

leme folgten?7. Was erwarten Sie in Hindustan?8. Was kann man tun, um die eigenen Blutgefäße und das Herz zu pflegen?9. Welcher Hausmüll verunreinigt das Abwasser am meisten?

10. Was verunreinigt Grundwasser am meisten?11. Was erwarten Sie von den Ufern einer Flussbiegung?12. Was halten Sie davon, dass Künstler die heute bekannte molekulare Welt

im Großen und Ganzen ignorieren, von der Alchemie aber fasziniert wa-ren?

13. Warum bezahlen Staaten für chemische Forschung, die sich vorwiegendum Moleküle kümmert? Warum halten ausgerechnet Geldgeber sie fürnützlich und/oder interessant?

1 Wasser: Alles fließt oder die Wandlungsphase eins58

Abb. 1.33 Struktur eines gasförmigen H+(H2O)20-Clusters, aufdessen Oberfläche sich das Extraproton frei bewegt.

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Aus dem Sechsring Glucose ist fast alles, an jedem Baum.Im Hirn ist sie Treibstoff für Sinne, Gefühle, Gedanken,und auch für jeden Traum.Wasser an Kohle hieß Evolution – ohne Schranken.

Überblick

2.1 Glucose ist das häufigste Molekül biologischen Ursprungs, der wichtigstenachwachsende Rohstoff. Sie ist ein Kohlenhydrat, besteht aus sechs Koh-lenstoffatomen, die sechs Wassermoleküle mit Elektronenpaaren binden.Glucose ist eine Hexose, (CH2O)6, mit vier sekundären AlkoholgruppenH–C–OH im Innern sowie einer Formylgruppe, –CHO, und einem primä-ren Alkohol, CH2OH, an den Enden des Moleküls.Die geometrische Form und die Chemie des Pflanzenbaustoffs Glucosesind kompliziert und von grundlegender Wichtigkeit für die Chemie derKohlenstoffverbindungen. Die wichtigsten Reaktionen sind folgende:a) Die Addition der alkoholischen OH-Gruppe von C-5 an die Formylgrup-

pe –CHO an C-1 führt zu einem steifen, „sesselförmigen“ Pyranose-Sechsring mit einer Halbacetal- an Stelle der Formylgruppe. Typisch fürSechsringe aus sechs Tetraedern sind axiale und äquatoriale Stellungender Substituenten. Bei der Glucose stehen die alkoholischen OH-Grup-pen äquatorial, die Wasserstoffatome axial. Diese Differenzierung findetbei keiner anderen Ringgröße statt.

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2Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnennachwachsender Rohstoff im Jahr

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b) Die OH-Gruppe des Halbacetals an C-1 kann die äquatoriale Position ge-gen die axiale vertauschen. Der Halbacetalkohlenstoff C-1 ist die che-misch reaktivste Einheit der Natur. Wasserabspaltung (Kondensation)führt zu Cellulose- und Stärkepolymeren, Oxidation leitet den Abbau zuKohlendioxid ein, Dehydrierungen führen zu Quervernetzungen mitProteinen, zur Alterung und zum Tod biologischer Gewebe.

2.2 Lebendes Pflanzenmaterial besteht zu mehr als neunzig Gewichtsprozentaus Wasser. Der Rest sind Rohrsysteme (Wurzeln, Stämme, Blätter, Ästeusw.) aus dem Glucose-Polymer Cellulose, wovon alljährlich 1,5�1011 Ton-nen auf der Erde synthetisiert werden. Cellulose ist eine lineare Kette ausetwa tausend bis zehntausend Glucosegliedern, wobei die OH-Gruppe desHalbacetals an C-1 mit einem OH-Proton des Alkohols an C-4 Wasser ab-spaltet und ein polymeres 1,4-Vollacetal bildet. Diese Ketten verfilzen sichüber seitliche OH···OH-Wasserstoffbrücken zu Cellulosefasern, demGrundmaterial der Baumstämme. Die gleichen Wasserstoffbrücken fixierenDruckfarben auf der Cellulose des Papiers.

2.3 Die Stärke in Kartoffeln, Getreide und Reis ist ein 1,4-Vollacetal-Glucose-polymer. Seine Glucoseeinheiten stehen senkrecht aufeinander, wodurchwasserlösliche, innen hohle Helices entstehen. Der Innenraum der Helixist wasserabstoßend (hydrophob). Cyclische Abbauprodukte der Stärke (Cy-clodextrine) wirken als Transportmaterial für hydrophobe Substanzen imBlut und als Bewahrer der Kopfnote in Parfums.

Glucose ist der einzige in großen Mengen nachwachsende Rohstoff der Erde. Pflanzenerzeugen mit der Energiequelle Sonne etwa 1011 Tonnen Glucose im Jahr(16 Tonnen/Mensch) aus Kohlendioxid und Wasser (Photosynthese, siehe Kapi-tel 6) (Abb. 2.1). Die Kultivierung der Wüsten und des Graslands könnten dasvervielfachen. Glucose liefert direkt oder indirekt alle Nahrungsmittel. Aus ihr ent-standen im Laufe der Erdgeschichte durch mikrobiologisch-geologische Dehy-dratisierung und Reduktion auch die Treibstoffe der heutigen Zivilisation, ins-besondere Erdöl, Erdgas und Kohle. Auch der brasilianische „Bioalkohol“stammt aus Glucose (Gärung).

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr60

Abb. 2.1 Die ungefähre Größe der jährlich durchPhotosynthese der Pflanzen erzeugten Glucosemassein Form eines fiktiven Würfels mit einer Kantenlängevon mehr als fünf Kilometern.

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Kohlenhydrate sind 1 :1-Verbindungen des Wassers („Hydrat“) mit dem Ele-ment Kohlenstoff. Die Summenformel der Kohlenhydrate ist (CH2O)n. Glucoseist eine Hexose, also ist n = 6. Vier H–C–OH-Gruppen im Innern des Moleküls,eine Formylgruppe –CHO mit einem Wasserstoffatom weniger und ein primä-rer Alkohol –CH2OH mit einem Wasserstoffatom mehr bilden die beiden En-den der Kette.

Die lebendigen Gewebe der Pflanzen bestehen zu über 90% aus Wasser undzu fast 10% aus unterschiedlichen Rohrsystemen (Wurzeln, Holzfasern, Blät-tern, Ästen usw.), die das Wasser durch den Organismus leiten. Rohre undStützmaterial sind vorwiegend aus polymerer (griech. „vielgliedriger“) Glucose,meist Cellulose. Das wichtigste tote Pflanzenmaterial, das Holz, ist komplexerStruktur. Neben vernetzter Cellulose enthält es vorwiegend schlecht definiertesLignin (Seite 188 f).

Die Architektur des elementaren Pflanzenbausteins Glucose ist nicht einfachund nicht trivial. Glucose ist ein komplexes, durch und durch optimiertes, äu-ßerst vielseitiges Molekül. Das gilt für die physikalischen Eigenschaften desBaumaterials Glucose ebenso wie für die chemischen Reaktionen der Energie-quelle Glucose. Sie baut die wunderbaren Bäume fast alleine auf und ihre Fä-higkeit, in den Wasserbahnen des Gehirns schnell zu Kohlendioxid zu „verbren-nen“, die das Sehen, Hören, Denken und Fühlen der Menschen und Tieremöglich macht, ist phänomenal.

2.1Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität

Das Element Kohlenstoff hat die Ordnungszahl sechs, ein Kohlenstoffatom ent-hält also sechs Protonen im Kern und sechs Elektronen in der Schale. Zwei dersechs Elektronen befinden sich in einem nah am Kern gelegenen Orbital undspielen – wie beim Sauerstoff (Seite 23) – keine Rolle in der chemischen Bin-dung. Die anderen vier Elektronen aber besetzen einzeln vier Orbitale, die indie Ecken eines Tetraeders zeigen, wenn Kohlenstoff sich mit vier anderen Ato-men verbindet. Das Kohlenstofftetraeder ist die zentrale atomare Matrix in derArchitektur sowohl der wasserähnlichen Glucose dieses Kapitels als auch derfettigen Kohlenwasserstoffketten des Lecithins, dem Grundbaustein tierischerund pflanzlicher Zellmembranen, dem Molekül des nächsten Kapitels.

Das einfachste Molekül mit einem einzigen tetraedrischen Kohlenstoffatomheißt Methan: Vier Wasserstoffatome lagern hier vier Elektronen in die vier Tet-raederorbitale ein, in allen vier Orbitalen schwingt ein Elektronenpaar zwischeneinem Kohlenstoff- und einem Wasserstoffatom. Das entspricht vier kovalentenchemischen Bindungen, wobei „kovalent“ meint, dass das bindende Elektronen-paar gleichermaßen zu beiden Atomen gehört: Es hält sich sowohl in den Orbi-talen des Wasserstoffs als auch denen des Kohlenstoffs auf. Die C–H-Bindungist 100 pm lang (1 pm = 10–12 m) und damit 30% länger als die H–H-Bindung(70 pm) (Abb. 2.2).

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 61

Page 72: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

CH4 ist die Muttersubstanz der Alkane, Verbindungen, die nur aus Kohlen-stoff und Wasserstoff bestehen, und findet sich unter der Erde in Erdgaslagern.Kohlenwasserstoffe entstehen durch Dehydratisierung (Wasserabspaltung) undHydrierung (Wasserstoffanlagerung) aus der Glucose abgestorbener Pflanzentief im Erdreich. Die Hitze des Erdkerns (siehe Seite 266) und der Druck derauflagernden Erde treibt zuerst das Wasser aus und reduzierende Bodenbakte-rien hydrieren C=C-Doppelbindungen. In der feuchten Erde fließt das so gebil-dete Erdgas oder Erdöl wegen seiner Wasserunlöslichkeit zusammen, steigtdann auf Grund seines geringen Gewichts nach oben und sammelt sich inHöhlen unterhalb undurchlässiger Silicatschichten als „Lagerstätte“ oder „Reser-voir“. Wir werden den CH2-Ketten der Kohlenwasserstoffe in Kapitel 3 als Bau-steine der Fettsäuren wieder begegnen. Im Zusammenhang mit der Glucose in-teressiert nur die dreidimensionale Gestalt des Kohlenstofftetraeders: drei Ato-me, zum Beispiel H–C–H, bilden eine Ebene, die beiden anderen, beliebigen„Substituenten“ liegen dann vor und hinter dieser Ebene.

Die Bindungskraft einer C–C-, C–O- oder C–H-Bindung liegt bei knapp100 kcal/mol und ist damit mehr als doppelt so hoch wie die Energie der Licht-quanten sichtbarer oder ultravioletter Sonnenstrahlung. Organische Verbindun-gen überleben deshalb im Sonnenlicht.

Glucose ist ein Kohlenhydrat, ihre Summenformel heißt C6(H2O)6, jedes Koh-lenstoffmolekül ist tetraedrisch und trägt ein Wassermolekül – so entsteht eineKette aus sekundären Alkoholgruppen. Solche Einheiten mit Kohlenstoffatomen,die jeweils nur eine einzige OH-Gruppe tragen, heißen „Alkohol“; Glucose enthältfünf davon und ist damit ein Pentaalkohol. Das sechste Kohlenstoffatom abergehört zu einem dehydrierten Alkohol, einem Aldehyd, mit einer C=O-Doppelbin-dung (Abb. 2.3).

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr62

Abb. 2.2 Modell des Methans mit vier Was-serstoffatomen an den Ecken eines Kohlen-stoff-Tetraeders. Drei Atome H–C–H bildeneine Ebene, die beiden anderen Wasserstof-fatome liegen vor und hinter dieser Ebene.Das Molekül ist also nicht eben. Wenn die

Wasserstoffatome von beliebigen anderenAtomen oder Gruppen (zum Beispiel –OHoder –CH2–) ersetzt werden, ändert sich dieStruktur des Tetraeders kaum. So sehen diemeisten Bausteine der Kohlenhydrate undFettsäuren aus.

Abb. 2.3 Strukturformel der offenkettigen Glucosemit fünf Alkohol- und einer endständigen Aldehyd-gruppe.

Page 73: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Alle sechs Kohlenstoffatome der Glucose sind funktionell: Glucose hat sechsfunktionelle Gruppen, fünf vom Alkoholtyp und einen Aldehyd. Dementspre-chend komplex sind die möglichen Reaktionen der Glucose.

Der Charakter der Alkohole und Aldehyde und ihre Wechselspiele unterei-nander und mit dem Wasser der Umwelt lassen sich in Kohlenstoff-Sauerstoff-Verbindungen mit nur einer funktionellen Gruppe am leichtesten erkennen.Methanol ist der einfachste Alkohol, Formaldehyd der einfachste Aldehyd: Beidehaben nur ein einziges Kohlenstoffatom und eine einzige funktionelle Gruppe.

Methanol, CH3OH, hat die gleiche Tetraedergestalt wie Methan und wie fünfder sechs Kohlenstoffatome der Glucose. Die Hydroxylgruppe –OH macht dasMolekül wasserlöslich, während das Methangas ungelöst durch Wasser perlt.Die OH-Gruppen des Methanols spalten leicht ihr Proton ab und entziehensauerstoffhaltigen Säuren deren OH-Gruppen in Form von Wasser. Das ist dieeinfachste, spontan ablaufende „Veresterung“: Säuren mit leicht abspaltbarenOH-Gruppen plus Alkohol ergeben Ester plus Wasser. Diese Reaktion bestimmtdie Chemie der Fette, des Lecithins und der Seifen und wird in Kapitel 3 vor-herrschen (Seite 125). Hier geben wir nur eine einfache Reaktion des Metha-nols mit Borsäure, B(OH)3, an, in der bei einfacher Mischung der beiden pola-ren Komponenten der leichtflüchtige Triester B(OCH3)3 entsteht und Wasser(Abb. 2.4).

Veresterung mit Säuren ist die erste wichtige Reaktion der Alkohole, Oxidati-on zu Aldehyden, Ketonen, Carbonsäuren und Kohlendioxid eine zweite, aufdie wir am Ende dieses Unterkapitels zurückkommen werden. Zwischen primä-ren Alkoholen R–CH2OH und sekundären Alkoholen R1–CR2OH (R steht füreine Kohlenwasserstoffgruppe) besteht kein nennenswerter Unterschied, sie rea-gieren sehr ähnlich. Der Aldehyd aber ist ganz anders, was am Beispiel desFormaldehyds gezeigt werden soll (lat. formica, „Ameise“ – Ameisen habenAmeisensäure, HCOOH auf ihrem Chitinpanzer und wehren damit Bodenbak-terien ab).

Formaldehyd, CH2O, mit einem doppelt gebundenen Sauerstoffatom ist voll-kommen eben und wie Methanol in allen Verhältnissen mit Wasser mischbar.Dabei ist die C=O-Bindung extrem polar – das Kohlenstoffatom überträgt einesder beiden Elektronenpaare der C=O-Doppelbindung weitgehend auf das Sauer-stoffatom, welches so eine „halbe“ negative Ladung erhält; am Kohlenstoffatombleibt eine „halbe“ positive Ladung zurück. Diese Polarisierung führt dazu, dassFormaldehyd in wässriger Umgebung ein Wassermolekül anlagert – der negati-ve Sauerstoff nimmt ein Proton auf, der positive Kohlenstoff eine OH-Gruppe.Alkohole, Sulfide und Amine verhalten sich ähnlich. Außerdem reagiert

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 63

Abb. 2.4 Veresterung der Borsäure, B(OH)3. Diese Reaktionwird zur Quervernetzung der Cellulose (Seite 77) mit Boraxverwendet.

Page 74: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Formaldehyd auch schnell mit sich selbst, was in Abwesenheit besonderer Kata-lysatoren zum Sechsring des Formalins führt. C(+) addiert sich dabei an O(–).Die Aldehydgruppe –CHO (Formyl, Endsilbe -al) ist die reaktivste und damit„chemisch gefährlichste“ aller funktionellen Gruppen. An Formylgruppen la-gern sich fast alle anderen reaktiven Gruppen der organischen Chemie an undAldehyde sind bei der Synthese biologischer Verbindungen und beim Abbauder Nahrung im Stoffwechsel weit verbreitet. Ihre Lebenszeit und Konzentra-tion wird im lebenden Organismus aus gutem chemischen Grund so niedrigwie möglich gehalten, weil ihre schnellen Reaktionen schwer zu kontrollierensind und leicht zu Quervernetzungen von Proteinen führen.

Da der häufigste Nahrungsstoff, die Glucose, neben fünf OH-Gruppen auch ei-ne durch Cyclisierung (Seite 59, 68 f) leicht entschärfte –CHO-Gruppe enthält,richtet sich der gesamte Metabolismus unseres Körpers nach dieser Besonderheitund konzentriert sich auf die Entschärfung der C=O-Doppelbindung von Aldehy-den. Einerseits müssen wir „mit der Glucose leben“, denn auf die 1011 TonnenGlucosepolymere, die die Pflanzen jährlich herstellen (Seite 60, 82, 274 ff), kön-nen wir nicht verzichten, und das Gehirn lebt vom Monomeren. Andererseitsist der Aldehyd der Glucose wahrscheinlich die Hauptursache der Quervernetzun-gen von Proteinen des Körpergewebes, die den Prozess des Alterns und Sterbenseinleiten.

Chemiker nutzen die Reaktivität von C-1 vor allem dazu, Glucose und andereKohlenhydrate an Fremdmoleküle zu binden, insbesondere an Proteine (Kapi-tel 4) oder Nucleinsäuren (Kapitel 5). Die OH-Gruppe an C-1 reagiert in vielen Fäl-len einige zehntausend Mal schneller als die alkoholischen OH-Gruppen, sodassman die Polyole (Mehrfachalkohole) direkt einsetzen kann und nur C-1 reagiert.

Auch die analogen Ketone (Endsilbe: -on), in denen die C–H-Bindung der Al-dehyde (-CHO) durch eine C–C-Bindung ersetzt ist (C–CO–C), sind kurzlebigeZwischenverbindungen des Metabolismus (z. B. Brenztraubensäure, CH3CO-COOH; Acetessigsäure, CH3COCH2COOH) oder auch krank machende End-produkte der Zuckerkrankheit (Aceton, CH3COCH3; siehe Seite 209). Dieses

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr64

Abb. 2.5 a) Molekülstrukturen vonMethanol und Formaldehyd; b) Bil-dung des Formaldehyd-Hydrats durchAddition eines Protons und einerOH-Gruppe an die polarisierten Ato-me des Formaldehyds (Mesomerie)und eines Acetals aus Methanol undFormaldehyd. Die Verbindung mit ei-ner OH- und einer OCH3-Gruppeheißt Halbacetal. c) Spontane Trime-risierung des Formaldehyds zum For-malin.

Page 75: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Phänomen ist typisch für die Chemie des Lebens: Die reaktiven Nahrungsstoffebringen Lebensenergie und tragen gleichzeitig Krankheit und Tod in sich.

Außerdem ist Formaldehyd wie alle Aldehyde ein starkes Reduktionsmittel(Abb. 2.6).

Der molekulare Sauerstoff der Luft oxidiert es spontan zu Ameisensäure:Kohlendioxid ist das gasförmige Endprodukt aller Kohlenstoffverbindungen,

die im Metabolismus der Tiere und Menschen oder im Feuer der Industrie mitdem Sauerstoff der Luft verbrannt werden. Am schnellsten geht das bei der Ex-plosion von Kohlenwasserstoffgasen in den Motoren der Autos, langsamer undbei niedriger Temperatur bei der Veratmung der Nahrungsmittel in unseremKörper. Das Ausatmen entfernt das CO2 mit jedem Atemstoß aus dem Körperund sorgt ein Leben lang etwa alle vier Sekunden dafür, dass sich in unseremKörper keine Säuren anreichern. Der Gehalt an Protonen in Blut und Zellwas-ser bleibt nur wegen der dauernden Abatmung des Kohlendioxids konstant bei10–7 g Protonen im Liter oder bei einem hundertstel Milligramm (10–5 g) in100 L Wasser (pH= 7)! Das ist extrem wenig, wenn man bedenkt, dass 100 gGlucose bei der Veratmung 7 g Protonen liefern. Nichts davon kommt jedochins Blut, weil sich die Kohlensäure in den Lungenbläschen zu Wasser und CO2

zersetzt, das abgeatmet wird (Abb. 2.7).

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 65

Abb. 2.6 Die Oxidationszahl eines Kohlen-stoffatoms in seinen Verbindungen wirddurch die Art seiner Substituenten bestimmt.Jede Bindung zu Sauerstoff liefert den Bei-trag +1, jede Bindung zum Wasserstoff –1und zum Kohlenstoff 0. Zwei Bindungenzum Sauerstoff im Formaldehyd bedeuten

+2, zwei zum Wasserstoff –2. Der Kohlen-stoff hat die Oxidationszahl null. In derAmeisensäure gibt es drei Bindungen zumSauerstoff (+3) und nur eine zum Wasser-stoff (–1). Der Kohlenstoff hat die Oxidati-onszahl +2.

Abb. 2.7 Von links nach rechts: Molekülstrukturen des Koh-lendioxids (reagiert mit Wasser), der Kohlensäure, des Hydro-gencarbonat- und des Carbonat-Anions. Der Kohlenstoff hatin allen Verbindungen vier Bindungen zum Sauerstoff, seineOxidationszahl ist durchweg +4.

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Kohlenmonoxid, CO, entsteht bei der unvollständigen Verbrennung von Koh-lenstoffverbindungen und durch Wasserabspaltung aus Ameisensäure,HCOOH. Das Sauerstoffatom bildet mit dem Kohlenstoff hier eine extrem hit-zestabile Dreifachbindung und das Kohlenstoffatom trägt ein ungebundenesElektronenpaar. Letzteres bewirkt eine ungewöhnliche negative Ladung am Koh-lenstoffatom („normal“ ist eine Polarisierung C(+)–O(–)). Kohlenmonoxid lagertsich deshalb mit seinem negativen Kohlenstoffende an viele positiv geladeneMetallionen an. Auf diese Weise blockiert es z.B. die biologische Funktion desHäms, molekularen Sauerstoff anzulagern und zu aktivieren (Seite 280 f und283). CO ist in Wasser wenig löslich, bildet aber kein Hydrat. Bei einer Hydrata-tion, die zu Ameisensäure führte, müsste der negativ geladene OH-Anteil desWassers an den positiv geladenen Sauerstoff des CO binden. Solche O–O-Ein-fachbindungen (Peroxide) bilden sich aber nicht spontan, dazu sind sie zu re-pulsiv, zu antibindend, zu energiereich (Abb. 2.8).

Aldehyde greifen die OH-Gruppen von Wasser und Alkoholen an, über derenSauerstoffatom sich eine C–O–C-Brücke bildet; das Proton der OH-Gruppe wirddabei vom Sauerstoffatom des Aldehyds aufgenommen, die C=O-Doppelbin-dung verschwindet. Zwar könnten alle fünf sekundären Alkoholeinheiten derGlucose intramolekular an den Aldehyd addieren, aber vorzugsweise entstehenimmer Sechsringe aus fünf Kohlenstofftetraedern und einem Sauerstoffatom(Pyranosen) oder Fünfringe (Furanosen) mit nur vier Kohlenstoffatomen. DerSechsring ist nicht eben, sondern „sesselförmig“. Er besteht aus einer in sichgeschlossenen Zickzack-Kette. Wasserstoff und andere Substituenten an diesemKohlenstoffgerüst stehen entweder senkrecht auf der Kette („axial“) oder sie set-zen die Zickzack-Ketten des Kohlenstoffs fort (links und rechts), liegen also pa-rallel zu den beiden verdrehten Bindungen, die die cyclische Form der Kette be-wirken („äquatorial“). Diese eindeutige Aufteilung der Substituenten auf zweiunterschiedliche Lagen ist einzigartig für den sesselförmigen Sechsring. Nurbei den Sechsringverbindungen, insbesondere den Kohlenhydraten und den

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr66

Abb. 2.8 a) Im Kohlenmonoxid ist der Koh-lenstoff partiell negativ geladen, weil dieobere Elektronenverteilung überwiegt (dasKohlenstoffatom hat dort fünf Elektronenstatt vier wie im neutralen Atom). b) CO la-gert sich an verschiedene Eisenkomplexe mitdem Kohlenstoffatom an (siehe Seite 282).Wasser reagiert nicht mit CO; die Bindungvon H+ würde noch funktionieren (rechts),

aber bei der Anlagerung von OH– entstündeeine energiereiche O–O-Einfachbindung (Per-oxid). Das Gleichgewicht liegt vollkommenauf der linken Seite. Der Kohlenstoff im COhat zwar drei Bindungen zum Sauerstoff, dieOxidationszahl sollte also +3 sein. Die nega-tive Ladung am Kohlenstoff muss aber abge-zogen werden, also +2.

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Steroiden, tritt die axiale oder äquatoriale Verknüpfung aller Substituenten auf,also auch die von mehreren miteinander verknüpften Cyclohexanringen. Dashat drastische Folgen für die Architektur, Wechselwirkung mit Wasser und diebiologische Aktivität der Kohlenhydrate und Steroide.

Zwei beliebige Substituenten an verschiedenen Kohlenstoffatomen einesRings können entweder auf der gleichen Seite des Rings stehen (beide darüberoder beide darunter – cis-Anordnung) oder auf entgegengesetzten Seiten liegen(eine darüber, eine darunter – trans-Anordnung).

Die axiale und die äquatoriale Lage befinden sich durch einfache thermischeBewegung im Gleichgewicht, das aber bei großen Substituenten, zum Beispieleinem Sauerstoffatom, immer mehr auf der äquatorialen Seite liegt. Cis- undtrans-Anordnung können nicht vertauscht werden. Abbildung 2.9 zeigt die be-weglichen Moleküle, in denen die Methylgruppen, CH3, ihre Lage verändernkönnen, vor dem Hintergrund flüssigen Wassers. Man nennt verschiedene An-ordnungen der Substituenten in ein und demselben Molekül, die sich durchthermische Bewegungen ineinander umwandeln, „Konformere“. Isolierbare Mo-leküle mit unterschiedlicher räumlicher Anordnung der Bindung zu gleichenSubstituenten an gleichen Kohlenstoffgerüsten (wie cis-trans-Verbindungen) hei-ßen hingegen „Diastereomere“ (Abb. 2.9).

Bei hohen Temperaturen und sehr hohem Druck verlieren KohlenhydrateWasser. Übrig bleibt Kohlenstoff, meist als Kohle (Seite 173). Bei sehr hohemDruck und hoher Temperatur kann auch ein Diamant entstehen, eine gigan-

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 67

Abb. 2.9 Konformere und Diastereomere desCyclohexans. Das trans-Konformer (je eineMethylgruppe ober- und unterhalb der Cyclo-hexanebene) mit den beiden äquatorial lie-genden Methylgruppen bewegt sich kaum,was durch den Mauersteinuntergrund sym-

bolisiert wird. Alle anderen Konformere sindbeweglich wie eine Wasseroberfläche imWind, weil sie entweder energiereich sindoder sich vom anderen Konformer energe-tisch nicht unterscheiden.

Page 78: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

tisch große, glasklare, endlose Folge von Kohlenstoff-Tetraedern, ein dreidimen-sionales Netz aus Cyclohexanringen ohne Wasserstoff. Man kann aus einemStück Zucker ebenso wie aus der Asche eines Toten einen glitzerndenSchmuckstein produzieren, wenn man den Ausgangsstoff hoch genug erhitztund hinreichend hohem Druck aussetzt. Jedes Kohlenstoffatom bindet in allenRichtungen des Tetraeders insgesamt vier andere Kohlenstoffatome mit einerBindungsenergie von je 100 kcal/mol. Der Kristall ist so hart, dass er Glas ritzt,ohne dabei Material zu verlieren (Abb. 2.10).

Nachdem wir die funktionellen Gruppen und das cyclohexanartige Kohlenstoff-gerüst der Glucose kennen gelernt haben, ist es an der Zeit, die „Kohlenhyd-ratformel“ C6(H2O)6 zu beschreiben. Alle Einzelheiten der Architektur (Bindungs-längen und -winkel, Beweglichkeit, Süßkraft und so weiter) und des Verhaltensder Glucose in Pflanzen und im Menschen sind heute gut bekannt. Das For-schungsthema Glucosestruktur und -reaktivität ist für Chemiker im Wesentlichenabgeschlossen. Aber man muss seine Ergebnisse kennen, um die Glucose, denbedeutendsten nachwachsenden Rohstoff auf der Erde, nutzen zu können, wasbis heute nur wenig effektiv geschieht.

Betrachten wir zunächst die offenkettige Form der Glucose in Abbildung2.11. Fünf der sechs Kohlenstoffatome ähneln zunächst dem Sauerstoffatomdes Wassers (Seite 23) – auch sie stehen im Zentrum eines Tetraeders. Die mo-lekulare Gestalt des Glucose-Sechsrings mit fünf C–C- und zwei C–O-Bindun-gen ähnelt strukturell dem Sauerstoff-Sechsring des eingefrorenen Wassers, dernur auf losen Wasserstoffbrücken beruht, auf verblüffende Weise. Daraus er-klärt sich auch die gute Löslichkeit des relativ schweren Glucosemoleküls unddie überragende Bedeutung der Glucose im Blutkreislauf und in den engenWasserwegen des Gehirns. Das Glucose-Molekül „passt“ ins Wasser, obwohl sei-ne relative Molekülmasse (180) zehn Mal höher ist als die des Wassers (18).

Wie unterscheidet man analytisch die verschiedenen chemischen Strukturen,etwa den offenkettigen Aldehyd und das cyclische Acetal der Abbildung 2.11?Die wichtigste, allgemeinste Methode zur Analyse der Struktur und Beweglich-

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr68

Abb. 2.10 Struktur des Diamanten. Alle Kohlenstofftetraedersind in starren Cyclohexaneinheiten ohne Wasserstoffsubstitu-enten kovalent miteinander verknüpft. Die Summenformel füreinen 2 g schweren Diamanten lautet C10

23 oderC100 000 000 000 000 000 000 000.

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keit von Kohlenstoffverbindungen ist die 1H- oder Protonen-NMR-Spektroskopie(NMR: engl. nuclear magnetic resonance, „kernmagnetische Resonanz“). Protonensind nämlich nicht nur positiv elektrisch geladene Atomkerne des Wasserstoffa-toms (Seite 11), sondern sie rotieren auch um ihre eigene Achse und erzeugendabei ein atomares Magnetfeld B. Das kann man analytisch nutzen.

In einem von außen angelegten starken Magnetfeld H sind für den Atomkernnur zwei Ausrichtungen dieses atomaren Magnetfelds B möglich: entweder liegtes parallel oder antiparallel zu den Feldlinien des angelegten Magnetfelds H. Pa-rallel ausgerichtete Protonen sind dabei minimal energieärmer als antiparallel lie-gende. Je stärker das angelegte Magnetfeld H ist, desto höher ist, desto größerwird die Energie Bantiparallel bezogen auf Bparallel. Eine Radiowelle, die dieser Ener-giedifferenz entspricht (Resonanzfall), wird von den Protonen absorbiert und er-zeugt ein Resonanz-Absorptionssignal. Je nach der molekularen Umgebung derProtonen 1H ist diese Absorption um einige Millionstel Teile (ppm, parts per mil-lion) des Magnetfelds H zu höherer oder niedrigerer Feldstärke verschoben. Jegrößer H ist, desto besser ist die Trennung unterschiedlicher Signale, die Auflö-sung des Spektrums. Die Lösung eines Moleküls aus Kohlenstoffatomen mit Pro-tonen erzeugt ein Kernresonanz-Spektrum mit Signalen für jedes Proton mit imVoraus berechenbaren �H-Werten (Abb. 2.12).

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 69

Abb. 2.11 Die offenkettige Glucose und ihr spontaner Ringschlusszu einem Sechsring-Halbacetal, zu einer Pyranose. Gezeigt ist rechtsdas �-isomere Acetal mit einer axialen OH-Gruppe an C-1. Das äqua-toriale �-Diastereomer zeigt die Abbildung auf Seite 59.

Abb. 2.12 Prinzip der magnetischen Reso-nanz. Die magnetischen Momente der Pro-tonen werden in starken Magnetfeldern pa-rallel oder antiparallel zum Magnetfeld aus-gerichtet und mit der Energie einer einge-strahlten Radiowelle „umgeklappt“. DieAbsorption der Radiowellen ergibt dasNMR-Spektrum, die moderne Grundlagealler Strukturbestimmungen in Lösung.

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Die wichtigsten Strukturinformationen, die man aus Kernresonanz- oder1H-NMR-Spektren entnehmen kann, sind:� Die Anzahl der Absorptionsbanden entspricht der Zahl der Wasserstoffatome

in unterscheidbarer chemischer Umgebung. Im Ethanol gibt es zum BeispielCH3, CH2 und OH-Protonen. Dementsprechend findet man im NMR-Spekt-rum drei voneinander getrennte Protonensignale.

� Die Flächenverhältnisse oder Integrale der Absorptionsbanden entsprechender relativen Anzahl der Atome, also findet man bei CH3, CH2 und OH Sig-nale mit einem Flächenverhältnis von 3 :2 :1. Integralkurven werden bei je-dem NMR-Spektrum mitgeliefert.

� Die Feinaufspaltungen der Banden charakterisieren die Nachbarschaft derAtome. Neben der CH3-Gruppe liegt zum Beispiel eine CH2-Gruppe mit zweiProtonen. Deren magnetische Momente spalten das Signal der CH3-Gruppein ein Triplett auf, die drei Protonen der CH3-Gruppe machen hingegen ausdem Protonensignal der benachbarten CH2-Gruppe ein Quartett.

� Die Abhängigkeit der Breiten der Banden von der Temperatur spiegelt die Be-weglichkeit der Moleküle wider: Träge Moleküle produzieren breite Signale.Verschwinden Protonensignale in Gegenwart von D2O, so weist das auf OHoder NH hin.

Als Beispiel sei das einfache Spektrum des Ethanols kurz beschrieben. Ethanolenthält drei verschiedene Typen von Protonen: drei Methylprotonen (CH3), zweiMethylenprotonen (CH2), ein Hydroxylproton (OH). Die Lage der Protonensig-nale ist typisch für das Atom, an dem sie hängen: CH2 neben Sauerstoff er-scheint bei niedrigerem Feld (höheren ppm-Werten) als CH3 neben Kohlenstoff.CH2 gibt hier ein Quartettsignal, weil es mit den magnetischen Momenten vondrei benachbarten CH3-Protonen koppelt. CH3 produziert ein Triplettsignal,weil es nur mit zwei CH2-Protonen koppelt. Das OH-Protonensignal im Zent-

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr70

Abb. 2.13 Protonen-Kernresonanz-Spektrum(1H-NMR) des Ethanols. Das Signal derCH3-Gruppe bei 1,2 ppm ist ein Triplett, weildie beiden benachbarten Protonen derCH2-Gruppe den Spinzustand ��, �� oder ��haben – die Hälfte der Moleküle ist �� aus-gerichtet und je ein Viertel �� oder ��. Dem-entsprechend ist die mittlere Linie des Tri-pletts (a) doppelt so hoch wie die beiden äu-

ßeren. Die CH2-Gruppe erzeugt ein Quartett,weil die Elektronen der drei Protonen derCH3-Gruppen die Ausrichtungen ���, ���,��� und ��� aufweisen. Das OH-Proton wirdschnell zwischen den Molekülen ausge-tauscht, bewirkt deshalb keine Aufspaltun-gen und zeigt entsprechend seiner wechseln-den Position ein breites Signal. Ein Zusatzvon D2O löscht ausschließlich dieses Signal.

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rum verschwindet, wenn man das Ethanol in Deuteriumoxid, D2O, löst – es istnur locker an den Sauerstoff gebunden, es ist im Gegensatz zu den anderenProtonen leicht sauer. Weil das OH-Proton zwischen den Sauerstoffatomen hin-und herspringt, ist sein Signal auch breiter als die CH-Signale (Abb. 2.13).

Das NMR-Spektrum der Glucose ist zu komplex, um hier im Detail bespro-chen zu werden; die fünf CHOH-Signale liegen dicht nebeneinander und sindnur schwer bestimmten Protonen zuzuordnen. Es bedarf einiger zusätzlicherExperimente dazu.

1H-NMR-Spektroskopie lässt sich auch am Menschen durchführen, denn die-ser besteht fast nur aus Wasser (�99% der Moleküle), das vom Herzen umge-pumpt wird. In großen Arterien bewegt es sich schnell, in Kapillaren und anOberflächen sehr langsam (siehe Seite 48 ff). Mit Positronen markierte beweg-liche Fremdkörper (Nahrungs- und Arzneimittel mit 17F) können ebenso lokali-siert werden wie unbewegliche Wucherungen unter viel T2-Wasser (Seite 50 ff).

Eine wichtige Eigenschaft der Kohlenstofftetraeder der Kohlenhydrate betrifftihre Chiralität („Händigkeit“). Unsere Hände haben eine „chirale“ (griech. chi-ros, „Hand“) Symmetrie: Rechte und linke Hand gleichen einander wie Bildund Spiegelbild, sie können aber nicht zur Deckung gebracht werden, wennman sie gleichgerichtet übereinander legt. Ähnlich „händig“ oder „chiral“ sinddie beiden enantiomeren Glucosemoleküle, D- und L-Glucose. Auch jedes dervier einzelnen Kohlenstoffatome im Innern der Glucosekette, die vier verschie-dene Substituenten (zum Beispiel H, CHO, CH2OH und CHOH) tragen, ist fürsich genommen chiral (es existieren zwei spiegelbildliche Anordnungen derSubstituenten). Tauscht man sämtliche linkshändigen Kohlenstoffatome (S-Koh-lenstoff; lat. sinister, „links“) gegen rechtshändige aus (R-Kohlenstoff; lat. rectus,„rechts“), so wird aus L-Glucose die D-Glucose.

Wechselt hingegen nur eine einzige OH-Gruppe ihre Position – wird also nuraus einem S-Kohlenstoffatom ein R-Kohlenstoffatom, während die anderen die al-te Stellung behalten –, so entsteht kein Spiegelbild, sondern ein Diastereomer.Diastereomere sind Stereoisomere, die sich weder durch Drehung um eine Ein-fachbindung noch durch Spiegelung ineinander überführen lassen. Die wichtigs-ten Diastereomere sind erstens cis-trans-Isomere von Alkenen (etwa Öl- und Eico-sansäure, Seite 123) oder Cyclen (cis- und trans-Dimethylcyclohexan, Seite 67).Wichtig sind die axialen Wasserstoffatome; sie erzeugen eine steife, hydrophobeKante.

Fassen wir zusammen: Enantiomere sind also Stereoisomere, die sich wieBild und Spiegelbild verhalten; Diastereomere sind Stereoisomere, die sichnicht spiegelbildlich verhalten. Stereoisomere sind Moleküle mit der gleichenAnzahl und Art von Atomen und Bindungen zwischen ihnen, die sich nurdurch die räumliche Anordnung der Atome unterscheiden.

Die linke und die rechte Hand können Sie fest ineinander falten: Der tief liegen-de Daumen bildet eine ausgezeichnete Klammer. Viele L- und D-Glucose-Derivateschließen sich zu linksgängigen oder rechtsgängigen Schrauben (Helices) zusam-men, die sich ebenfalls sofort ineinander falten, und sich dabei in planare Blatt-strukturen verwandeln, wenn man sie in Wasser mischt (Abb. 2.14)

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 71

Page 82: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Molekulare Helices bilden in Wasser und anderen Lösungsmitteln stabile Ge-le, weil Kapillarkräfte die Flüssigkeiten an diesen ultradünnen Stäben mit gro-ßer Oberfläche festhalten. Vereinen sich links- und rechtsgängige Helices zuBlattstrukturen (starren Kristallebenen), so fallen diese aus und das nun fluide,nicht mehr gelierte Lösungsmittel, steht darüber. Blattstrukturen sind inaktives,totes, kristallines Material am Boden oder an der Oberfläche des Wasservolu-mens, während Helices feingliedrige, ins Wasser integrierte Netze bilden. Biolo-gische, lebendige Gewebe sind wässrige Gele, in denen sich helikale Stäbe nurtangential berühren, wenn sie einander nahe kommen, aber nicht auskristalli-sieren. Die beiden wichtigsten Prinzipien der biologischen Architektur heißenChiralität und Kurvatur: Alle Bausteine sind chiral oder fettig und bilden dünneHelices oder Membranen, und alle ausgedehnten Bauelemente sind rund. Ausder Einhaltung dieser Prinzipien folgt, dass die biologischen Organismen aus

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr72

Abb. 2.14 Die Händigkeit oder Chiralität derL- und D-�-Glucosemoleküle. Die L-Glucoseist das Spiegelbild der D-Glucose (aber nichtidentisch mit ihr!), weil die vier mit einemStern markierten Kohlenstoffatome vier ver-schiedene Substituenten in unterschiedlicherReihefolge tragen (1, 2, 3, 4 bzw.4, 3, 2, 1), so wie die rechte Hand links mitdem Daumen anfängt, während bei der lin-ken Hand der kleine Finger zuerst kommt.Der einfachste Nachweis dieser Chiralität inForm der „optischen Aktivität“ beruht aufder Messung der Drehung der Schwingungs-ebene polarisierten Lichts, die man seit 200Jahren kennt. Am Anfang der räumlichen

Chemie biologischer Verbindungen stand fol-gender Befund: Verbindungen biologischenUrsprungs sind optisch aktiv, die gleichenVerbindungen aus der Retorte des Che-mikers nicht. Die Ursache dafür ist nicht ei-ne ursprünglich vermutete „Lebenskraft“,sondern die enzymgesteuerte Synthese derNatur, die immer nur zu einem der chiralenProdukte führt. Die einfache chemische Syn-these hingegen liefert beide Produkte, rechts-und linksdrehend, in gleicher Menge. Mannannte dies ein racemisches Gemisch(griech. racemus, „Weintraube“), weil auchWeinsäure in natürlichen Quellen links- undrechtsdrehend produziert wird.

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der Evolution nicht auskristallisieren wie der Sand und die Steine der Erdge-schichte (Abb. 2.15).

Der Glaskörper des Auges ist ein Gel mit 99% Wasser. Muskeln, Nerven, Ge-hirn, Geist und Gefühl bilden Gele mit einem unentwirrbaren Netzwerk von Was-serwegen mit insgesamt 70–80 Gewichtsprozent Wasser. Selbst das anscheinendso feste Knochengerüst, das tot, als Schädel und Skelett, dem Felsen gleicht, ent-hält im lebendigen Zustand ein fein gesponnenes Gel namens Knochenmark, dasin jeder Sekunde 3,5 Millionen Hämoglobinmoleküle erzeugt und in die wunder-bar flexiblen Erythrocyten packt (Seite 289), die unser Blut beleben (Abb. 2.16).

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 73

Abb. 2.15 Links: Helices aus reinen D-Gluco-namiden mit kurzer (C8) und reinem L-Glu-conamid mit langer Seitenkette (C12). BeideGluconamide haben in den Helices eine

gekrümmte Gestalt. Rechts: Nach einigerZeit bilden sich racemische Doppelschichtenals Blattstrukturen mit geradkettigen Kopf-gruppen.

Abb. 2.16 Das Gel des Glaskörpers des Auges ist ein lebens-lang haltbarer, wässriger Körper aus chiralen, glucosehaltigenFasern und 99% Wasser. Die Fasern nehmen ein relativ gro-ßes Volumen ein, bestehen aber selbst zum größten Teil ausHydratwasser. Das gibt ihnen die perfekte Transparenz, diewir täglich erleben.

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Öffnet man den Sechsring der Glucose zur offenen Kette, so wird der reaktiveAldehyd freigelegt. In diesem Zustand lässt sich die C–H-Bindung extrem leichtoxidieren, der freigesetzte Aldehyd ist ein Reduktionsmittel, das schnell zumPeroxid und zur Carbonsäure (–COOH) oxidiert wird (Abb. 2.17).

Die Oxidation überführt Glucose in Gluconsäure, die wegen ihrer vielen OH-Gruppen selbst in Form der Schwermetall-Salze sehr gut wasserlöslich ist. Sobenutzt man Eisen(III)-gluconat als Blut bildendes Mittel, während Calcium(II)-gluconat als gängigstes Calcium-Präparat beim Aufbau der Knochen bei Osteo-porose hilft.

Der Nachweis von Glucose im Harn eines Zuckerkranken (Seite 209) gelingtleicht mit Silbernitrat, AgNO3, oder Kupfer(II)-Komplexen, die elementares Sil-bermetall in Form eines Spiegels an der Glaswand des Reagenzglases oder rotesKupfer(I)-oxid bilden (Abb. 2.18).

Die Zuckersäuren bilden mit Aminen offenkettige Zuckeramide, zum Bei-spiel die diastereomeren Glucon-, Mannon- und Galactonamide. Beim Glucona-mid krümmt sich die ebene Zickzack-Konformation (all-anti) wegen zweier OH-Gruppen an C-2 und C-4, die in der Zickzack-Kette direkt hintereinander liegenund sonst kollabieren würden. Diese Situation tritt weder beim Galactonamidnoch beim Mannonamid auf. Das gekrümmte Molekül liefert dünne, helicaleFasern (Gluconamid), die beiden linearen Moleküle lagern sich zu Bändern zu-

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr74

Abb. 2.17 Oxidation der Aldehydgruppe –CHO durch ein Per-oxid zur Carbonsäure –COOH.

Abb. 2.18 Oxidation der Glucose durch Silbersalze, die zumetallischem Silber reduziert werden.

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sammen (Galactonamid, Mannonamid), die sich aufrollen und ausfallen. Nuraus dem helicalen Gluconamid entstehen wasserklare, stabile Gele (Abb. 2.19).

Die meisten bekannten Kohlenstoffverbindungen sind geologisch stabil, wasbedeutet, dass sie bei Raumtemperatur viele Jahre lang an der Luft gelagert wer-den können. Die Hitze eines Feuers aber verbrennt sie oder zersetzt sie (griech.Pyrolyse) oder biologische Organismen verdauen sie, fressen sie auf (Metabolis-mus). Nach dem Tod der Organismen führt mikrobiologischer Abbau im Erd-reich langsam zu Erdgas, Erdöl und Kohle, in der Atmosphäre zu Kohlendioxid.Leben und Feuer setzen Kohlenstoffverbindungen der dauernden chemischenUmwandlung aus.

Der oxidative Abbau der Glucose in wässriger Lösung betrifft jedes einzelneKohlenstoffatom. Nacheinander, schrittweise, behutsam – bio-logisch eben – wirddie Oxidationszahl jedes Kohlenstoffatoms auf +4 erhöht. Die Oxidationszahl vonKohlenstoffatomen ergibt sich aus der Art der direkt gebundenen Atome: Wasser-stoff gilt als Reduktionselement (–1), Sauerstoff als Oxidationselement (+1 bei ei-ner C–O-Einfachbindung und +2 bei einer C=O-Doppelbindung).

Kohlenstoff ist weder reduzierend noch oxidierend, er hat als Substituent dieOxidationszahl null, die dann durch gebundenen Wasserstoff erniedrigt unddurch Sauerstoff erhöht wird. Den sechs Kohlenstoffatomen der Glucose sinddementsprechend die Oxidationszahlen +1, 0, 0, 0, 0, –1 zugeordnet; die Oxida-tionszahlen des Kohlenstoffs in Glucose summieren sich zu null. Das bedeutet,die Wirkungen der Wasserstoff- und der Sauerstoffatome heben einander gera-de auf, was bei der Summenformel C6(H2O)6 – ein Kohlenstoffatom pro Was-

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 75

Abb. 2.19 Elektronenmikroskopische Bildervon Glucon-, Galacton- und Mannonamid-Fa-sern zeigen, dass die Krümmung der Fasernvon der Krümmung der offenkettigen ge-streckten Moleküle bestimmt wird. Glucona-mid ist stark verbogen, weil die beiden obe-ren OH-Gruppen auf derselben Seite stehen,wenn man das Molekül so streckt, dass essich leicht in Kristalle packen lässt; dannberühren sich aber die OH-Gruppen und das

Molekül versucht durch Biegung auszuwei-chen. Bei Galactonamid und Mannonamidkann die gestreckte Konformation planarsein, weil die abwechselnd stehenden OH-Substituenten nicht in Kontakt kommen.Entsprechend sind die Fasern aufgerollteBlätter oder gedrehte Bänder, keine eng ge-wickelten Rohre. Aus J.-H. Fuhrhop, C. Boett-cher, J. Am. Chem. Soc. 1990, 112,1768–1776.

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sermolekül – auch plausibel ist. In Kohlenwasserstoffen mit vielen C–H-Bin-dungen ist die Oxidationszahl des Kohlenstoffs immer negativ, in Verbindungenmit vielen C=O-Gruppen wird sie positiv (Abb. 2.20).

Für unsere Körperzellen ist die Verbrennung von Glucose mit Sauerstoff zu sechsMolekülen Kohlendioxid die wichtigste Energiequelle. Dabei werden alle Kohlen-stoffatome von der durchschnittlichen Oxidationszahl 0 zu +4 oxidiert. Das setztviel Wärme frei. In der Flamme eines Streichholzes verglüht alles Leben, immenschlichen Körper aber verbrennt die Glucose in Wasser bei 37 �C und dasOxidationspotenzial liegt nahe 0 V, was für biologische Zellen seit Beginn derEvolution typisch ist (auch Seite 279).

C6H12O6 + 6 O2�6 CO2 + 6 H2O+ 140 kcal

Summe der Oxidationszahlen der Kohlenstoffatome:

linke Seite: 0� rechte Seite: + 24

Im Gehirn läuft die Reaktionsfolge zum oxidativen Abbau der Glucose andersund heißt dort Glycolyse (griech. „Süßstoffspaltung“) und braucht als essentiel-le Reaktionspartner ATP (siehe Seite 239 ff) und NAD+ (Seite 273) (Abb. 2.21).

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr76

Abb. 2.20 Oxidationszahlen der einzelnen Kohlenstoffatomeder Glucose und des Gesamtmoleküls (H zählt +1, O zählt –1).

0

0

0

0–1

+1

Abb. 2.21 Schematische Zusammenfassung des Abbaus der Glucose in der Glycolyse.

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Die Glucose selbst und viele ihrer Oxidationsprodukte wirken als Quervernet-zer der Proteine in Muskeln und Nerven und beschleunigen so das Altern diffe-renzierter Organismen. Besonders potent sind dabei zwei nebeneinander liegen-de Carbonylgruppen. Aminseitenketten der Proteine „verzuckern“ in unserenNerven und Muskeln mit �-Ketoglucose und bilden gruselig braune „advancedglycation end“-Produkte (AGE). Das sind widerlich harte, leblose Cyclen mitStickstoff, die elastische Fasern mit paralysierenden Versteifungen blockieren,tote Areale in lebendem Gewebe bilden und dessen Funktion behindern. DasMolekulargewicht einzelner Proteinstränge wird durch Quervernetzung verviel-facht, Muskeln, Nerven und Rohrleitungen verharzen, der molekulare Tod hatstattgefunden. Die Alkoholgruppen der Glucose, CHOH, sind im Vergleich zuden Aldehydgruppen chemisch harmlos (Abb. 2.22).

Wir schließen mit ein paar Bemerkungen zur Synthese der Glucose. Die inAbbildung 2.4 formulierte Cyclisierung des Formaldehyds zu Formalin ist keineKohlenhydratsynthese, weil dort keine C–C-Bindung geknüpft, also das Kohlen-stoffgerüst nicht vergrößert wurde. Die Molekülvergrößerung erfolgte durch Bil-dung von C–O–C-Bindungen, die durch Wasser wieder gespalten (hydrolysiert)werden. Ein Zusatz von Calciumhydroxid erzwingt stattdessen die Bildung einesC–C-verknüpften Dimers des Formaldehyds, des Glycolaldehyds, einer Diose(das ist ein Zucker mit zwei Kohlenstoffatomen). Warum funktioniert das so?

Formaldehyd ist ein extrem wasserlösliches Gas, das aus der Atmosphäre so-fort ausregnet, falls es dort gebildet wird. Negativ geladene Oberflächen von inWasser aufgeschlämmtem Kalk (Calciumhydroxid, Ca(OH)2), der in den erstenOzeanen der Erde wahrscheinlich allgegenwärtig war, aber lagern ihr Hydroxidam Formaldehyd an, erzeugen eine negative Ladung am Kohlenstoffatom, einCarbanion. Damit reagiert Formaldehyd, CH2O, dessen Kohlenstoffatom eine

2.1 Glucose: Struktur, Eigenschaften, Reaktivität 77

Abb. 2.22 Quervernetzung von Proteinen durch Glucose. EinAGE wird gebildet und beide betroffenen Proteinstränge, viel-leicht Membranproteine oder Enzyme, haben ihre Funktionali-tät verloren. Jetzt sind sie tot und stören nur noch.

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partielle positive Ladung (Mesomerie, Abb. 2.23) trägt, leicht zu Glyconaldehyd(CH2O)2 oder trimerisiert zu Glycerinaldehyd (CH2O)3 und anderen Kohlenhyd-raten (Abb. 2.23).

Ein anderes primitives Syntheseschema benutzt UV-Licht als Energiequellezur „präbiotischen“ Photosynthese. Dabei bilden sich aus Kohlendioxid in ver-nachlässigbar kleiner Ausbeute zunächst Kohlenmonoxid und Sauerstoff, dannauch Wasserstoff, Formaldehyd und Folgeprodukte (Abb. 2.24):

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr78

Abb. 2.23 Formaldehyd, CH2O, ist einerseitsstark polar, weil in der C=O-Doppelbindungdas Elektronenpaar gemäß C(+)-O(–) zumSauerstoff verschoben ist. Ist der Formalde-hyd an Kalk gebunden, spaltet er in gerin-gem Maße ein Proton ab, es entsteht ein

sehr reaktives C–-Ion. Das gibt sein Elektro-nenpaar viel schneller an ein benachbartesFormaldehyd-Molekül ab als der Sauerstoff.Statt der C-O-Bindung des Formalins ent-steht eine C–C-Bindung, eine „organische“Synthese hat stattgefunden.

Abb. 2.24 Das UV-Licht derSonne spaltet das in Plane-tenatmosphären allgegenwär-tige Kohlendioxid zu Kohlen-monoxid, CO, und Wasser,H2O; das wiederum zerfällt inWasserstoffatome, H�, undHydroxylradikale, HO�. Ausdiesen Produkten entsteht et-was Formaldehyd, das in Ge-genwart von anorganischemKalk spontan zu Kohlenhy-draten (CH2O)n weiterreagiert(siehe vorige Abbildung).

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Diese Art der chemischen Synthese komplexer Naturstoffe aus einfachen Vor-läufern unter primitiven Bedingungen heißt als Forschungsgebiet „präbiotischeChemie“ und war bislang wenig hilfreich, die „chemische Evolution“ der Natur-stoffe zu begreifen.

Nach 50 Jahren präbiotischer Forschung klafft die Lücke zwischen der leben-den und der toten Materie hoffnungslos auseinander und wir verstehen die Ent-stehung des Lebens nicht – und selbst der Zusatz „noch nicht“ erscheint nachzwei Jahrhunderten Naturstoffchemie in kleinsten und größten Dimensionen,in längsten und kürzesten Zeiten und bei höchsten und niedrigsten Energie-zuständen unangemessen optimistisch.

Pflanzen nutzen das sichtbare Sonnenlicht seit Jahrmillionen extrem effizi-ent, synthetisieren Glucose aus Kohlendioxid und Wasser, indem sie zuerstWasser zu Wasserstoff und Sauerstoff zersetzen (Elementarprozess der Photo-synthese), dann den Sauerstoff in die Atmosphäre abblasen und mit Kohlen-dioxid und Wasserstoff an Proteinoberflächen gezielt und stereospezifisch „bio-logische“ Glucosechemie betreiben. Diese biologische Synthese ist hochinteres-sant, wird immer noch intensiv untersucht und genutzt; die Formaldehydge-schichte aber ist nur etwas für Anfänger, denen man zeigen möchte, wie manKohlenstoffgerüste aufbauen kann.

Also – nutzen wir die Produkte der Biologie als Molekularbauern, als Biotech-nologen in großem Stil! Kümmern wir uns vor allem um die Cellulose, von derJahr für Jahr 1011 Tonnen nachwachsen.

2.2Cellulose

Cellulose, der Stoff, aus dem die Pflanzen sind, besteht aus etwa 1000–10000Glucosemolekülen, die durch Abspaltung von Wassermolekülen (Kondensation)linear und kovalent miteinander verbunden sind. Je einer von zwei benachbar-ten Glucoseringen stellt dafür eine äquatorialständige OH-Gruppe des Halbace-tals an C-1 zur Verfügung (Seite 69), der andere liefert das Proton einer eben-falls äquatorialständigen OH-Gruppe an C-4. Der übrig bleibende Sauerstoff(2OH�O+ H2O) zwischen C-1 und C-4 ist dann das Kettenglied des Cellulose-Polymers, eines Polyacetals. Das 1,4-�-verknüpfte Dimer der Glucose, dieGrundeinheit der Cellulose, heißt Cellobiose (� bedeutet dabei oberhalb der Cyc-lohexanebene stehend und an C-1 äquatorial, � ist unten und an C-1 axial).Wasseranlagerung (Hydrolyse) zerlegt die Cellulosekette zu Glucose, was ameinfachsten durch Zugabe von Salzsäure in Gegenwart des Enzyms Cellulaseund nach endlosem Zermahlen der Fasern (Wiederkäuen) im Kuhmagen ge-lingt. Für Menschen ist die Cellulose des Papiers (ca. 3000 Glucosemoleküle)oder der Baumwolle (6000 Einheiten) unverdaulich. Ein einzelnes Cellulosemo-lekül ist etwa 4 �m lang und wird nach der Anfärbung mit geeigneten Kontrast-mitteln im Elektronenmikroskop sichtbar. Faserbündel sieht man auch unterdem Lichtmikroskop (Abb. 2.25).

2.2 Cellulose 79

Page 90: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Glucose wird in der Cellulose zu einem wasserfesten und eleganten Bausteinmolekularer Bauten. Die kovalent gebundenen Wassermoleküle der Kohlenhyd-rate sind in den Cellulosefasern in Form eines flachliegenden S, einer elemen-taren stehenden Welle am Kohlenstoff, gebunden und diese Welle passt wiede-rum perfekt in die des gefrorenen Wassers. Das Grundelement von wässrigemEis und reiner Cellulose ist ein wellenförmiger Sechsring. Glucose, das Kohlen-hydrat, überträgt so das Motiv gefrorenen Wassers in die starren Gerüste derPflanzen und versieht jene, die keine Knochen haben, mit festen Faserbündeln.

Bäume sind die größten Glucosebauten. Cellulosefasern lagern sich überWasserstoffbrücken zu Kapillaren zusammen, viele solcher Kapillaren werdendurch Phenol miteinander vernetzt (Seite 188 f) und wachsen in die Höhe. Ein

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr80

Abb. 2.25 Strukturformeln von Cellobiose und ihrem Polymer,der Cellulose. Im Hintergrund das elektronenmikroskopischeBild einer pflanzlichen Celluloseschicht, darüber ein Modellvon vier übereinander gewickelten Schichten.

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Baumstamm entsteht. Kapillarkräfte pumpen Wasser in die Blätter der Baum-krone, deren Feuchtigkeit unter der Sonne verdunstet. Eben diese Blätter sindauch die Quelle des Baumaterials Glucose, das sie aus Wasser und Kohlen-dioxid durch Photosynthese (Seite 274 ff) herstellen.

Der Stamm wächst schnell in die Höhe und hebt die Krone aus der Schatten-und Fraßzone der Erde heraus. Mit den Jahren verdickt sich der Stamm. Sonne,Wasser, Kohlendioxid, Salze und ein in Jahrmillionen entwickelter Bauplan sindalles, was zum Eigenbau einer Eiche nötig ist. Cellulose formt auch die Blätter,vernetzt sich flach und breit mit Lignin und wendet die Chlorophyllsegel derSonne zu. Stille Maschinenräume zur Wasserspaltung und Zuckersynthese flat-tern im Wind und ernähren Tier und Mensch (Abb. 2.26).

Die Cellulosefasern des Holzes schwingen sowohl in dicken als auch indünnen Brettern bei unterschiedlichsten Frequenzen. Dicke Holzstäbe, die miteinem harten Stab angeschlagen werden, bilden die Grundlage des afrikani-schen Musizierens mit dem Xylophon (griech. xylon, „Holz“; phone, „Klang“),die Resonanz von Cellulosekästen verschiedener Form und Dichte gibt dem Kla-vier und der Geige ihren vollen Klang. Das nur etwa 3 mm dicke Klangbrett derGeigen braucht „Weichholz“ (zum Beispiel norwegische Fichte, die eine voll-kommene Resonanz mit den Schwingungen von Collagen-Saiten aus Schafsdär-

2.2 Cellulose 81

Abb. 2.26 Das Wassertransportsystem eines Blatts aus ver-holzten Rohren (vgl. Seite 188). Der vom Blatt erzeugte Zu-cker wird in den Stamm transportiert, das Wasser stammtaus Erde und Wurzel. Der Käfer ernährt sich von dem Zucker-wasser und bohrt Löcher in die Rohre.

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men eingeht (Seite 197) und Steifheit, Festigkeit und schöne Maserung in sichvereint). Das römische Fichtenholz für Stradivari-Geigen wurde mit Kochsalz-und Boratlösungen gewaschen, wodurch Poren im dünnen Brett entstanden, indie Borsäure eindringen und die Cellulose quervernetzen konnte (Seite 63 und87). Auf diese Weise war das Brett immun gegen Pilzbefall und bereit zur Aufnah-me von viel Oberflächenlack (Glasur). Das Rückenbrett der Geige ist dicker undbesteht aus wenig schwingendem Hartholz, zum Beispiel Ahorn. Der Schalldes unteren, schwingenden Bretts wird schließlich durch Luft im Hohlkörperder Geige in Töne verwandelt und durch das Loch im Schallbrett freigelassen.

Die wichtigsten Nutzpflanzen des Menschen aber sind noch vor den Bäumendie Gräser. Jährlich werden 2 Mrd. Tonnen Reis, Weizen, Mais für den Men-schen und 3,5 Mrd. Tonnen Futtermittel für Rind, Schwein, Schaf und Ziegegeerntet. Jeder Mensch verbraucht direkt oder indirekt eine Tonne Gras im Jahr.Nicht zuletzt besteht auch der Blütenschmuck der Sommerwiesen aus Glucose(Abb. 2.27).

In Deutschland werden jährlich 30 Millionen Kubikmeter Holz eingeschla-gen. Ein Drittel davon wird in Papier verwandelt, das zu 60–95% aus Cellulose-

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr82

Abb. 2.27 Grashalme – das wichtigste Reservoir fürNahrungsmittel wie Brot, Reis und die Produkte der Kuh(Seite 119).

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fasern besteht, dem Rohmaterial „Zellstoff“. Laubholz liefert 1 mm lange Fa-sern. Nadelholzfasern sind 3-mal länger, meist wird Fichte verwendet. Fichten-späne enthalten 30% Lignin (siehe Seite 189), was bei der Papierherstellung be-sondere „Aufschließverfahren“ notwendig macht: Das Lignin muss weg, weil esim Papierbrei Klumpen erzeugt, die sich aus dem trockenen Papier nicht mehrentfernen lassen.

Die Späne werden zum Zweck der Ligninbeseitigung mit Natronlauge, Sulfid,Sulfat und Carbonat unter einen Druck von 10 atm gesetzt und fünf Stundenlang auf 180 �C erhitzt. Das derart oxidierte und sulfonierte Lignin löst sich als„Schwarzlauge“. Der Zellstoff wird über groben Filtern abgepresst und mitChlor in Natronlauge vorsichtig in sechs Stufen gebleicht, wobei immer wiedermit Natronlauge gewaschen wird. Danach strömen große Mengen von Wasserin die Papierfabrik, die ohne reine Gewässer oder eigenen Brunnen in der Nähenicht existieren kann. Das meiste Wasser geht in die Aufschlämmung des Zell-stoffs und der Füllstoffe. Eigene Abwasserreinigungsanlagen erlauben mehrereKreisläufe des Waschwassers und schließlich die Rückführung in das Gewässer.Die turbulenten Kräfte rotierender Laufräder zersetzen den Faserbrei und erzeu-gen schließlich eine 5%ige Suspension der Cellulosefasern, die noch viele Stip-pen (Zellstoffflächen bis zu Fingernagelgröße) enthält. Gegeneinander rotieren-de Zahnringe entstippen die Suspension, bevor sie über ein Siebband in einegleichmäßig nasse Bahn überführt wird. Viel Wasser verschafft den Fasern Frei-raum zur ungestörten Ausrichtung und Netzbildung und es verhindert die Bil-dung von Flocken. Es folgen etliche Walzen, oft mit umlaufenden Filztüchernbedeckt, die die Papierbahn zusammenpressen und weitergehend entwässern.Die Papierbahn ist jetzt „fest“, ihre Cellulosefasern sind miteinander verfilzt. Ton-nenweise wird das Papier zwischen beheizten rotierenden Zylindern endgültig ge-trocknet und aufgerollt. Eine Papiermaschine ist bis zu 10 m breit, die Papierbahnfährt 70–80 km/h schnell und wiegt nach einem Tag 600 t (Abb. 2.28).

2.2 Cellulose 83

Abb. 2.28 Der Vierfarbdruck in einer Druck-maschine verlangt eine hohe mechanischeFestigkeit des Papiers. Die Cellulosefasernbewältigen das, wenn man sie richtig mit-einander verfilzt – vergleichbar mit einem

Blatt im Sturm, bei dem die Verankerung imAst nicht reißen darf. Nach R. Baufeldt, M.Dorra, H. Rösner, J. Scheuermann, H. Walk,Informationen übertragen und drucken, Berufund Schule, Itzehoe, 1993.

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Die beschriebene Papierfabrikation würde nicht funktionieren, wenn die Cel-lulose nicht eine enorme mechanische Reißfestigkeit und Steifheit mitbringenwürde, die sie schon in den grünen Blättern der Bäume auszeichnet. Ein BlattPapier ist dasselbe in Weiß und ohne Wachs an der Oberfläche. Es besteht ausCellulosefasern, Stärkeleim und Füllstoffen. Qualitätsmerkmale des Papiers sindeine gleichmäßige Massenverteilung, die sich bei der Betrachtung gegen dasLicht als homogene Wolkigkeit zeigt, Festigkeit in Maschinenlaufrichtung undsenkrecht dazu, Weiße und Glanz, Glätte sowie das Saugverhalten im Druckund beim Beschreiben.

Um Qualitätspapier herzustellen, braucht man eine gute Maschine und opti-male Füllstoffe. Die wichtigste technische Voraussetzung für homogene Mas-senverteilung, Glanz und Glätte ist eine schnelle Strömung des Papierbreis oh-ne Pumpenpulsationen in den Zuführungsrohren zur Papierbahn. Festigkeit,Weiße, Glanz und Saugverhalten beruhen auf Füllstoffen, die in das Netzwerkder Cellulosefasern integriert werden. Da ist zuerst eine Stärkelösung in Wasser,die als „Leim“ die Poren verschließt. Im Verlauf der Trocknung füllt sie alle Fa-serzwischenräume. Das so geleimte Papier verlässt die Papiermaschine undwird danach gestrichen. Die Streichfarbe bestimmt den gleichmäßigen Farbton,das Saugverhalten, den Glanz und auch die Nassfestigkeit. Sie wird als Emulsi-on aufgewalzt. Man benutzt vor allem Kaolin (Tongestein, Aluminiumsilicate)und Kalk (Calciumcarbonat), die auf dem Stärkeleim hervorragend haften.

Gegeneinander rotierende, aneinander gepresste Hartguss- und Papierwalzenbilden schließlich Glättwerke und Satinierkalander. Die harte Walze drückt sichin die Papierwalze, die Papierbahn wird dazwischen zusammengepresst, reibtsich an beiden und wird gleichzeitig erhitzt und befeuchtet. Das Papier wirdauf diese Weise „satiniert“, was heißt, dass seine Oberfläche ein paar hundertJahre lang glatt, saugfähig und glänzend bleibt.

Langlebigkeit ist besonders für beschriebenes oder bedrucktes Papier wichtig.„Beschrieben“ wird mit Graphit (Bleistift), Farbstoff (Tinte) oder Paste (Kugel-schreiber), gedruckt wird mit einer Druckerfarbe und einem Druckverfahren.Die Druckqualität wird vor allem von der Reaktion zwischen Farbe und Papierbestimmt. Die Druckfarbe muss innerhalb von Sekundenbruchteilen in das Pa-pier eindringen („wegschlagen“) und darf nicht verlaufen. Außerdem darf sichdie Oberfläche des Papiers unter der Druckerpresse nicht verändern, das Mate-rial darf nicht „rupfen“. Leimen, Streichen und Satinieren haben dafür die Vo-raussetzung geschaffen (Abb. 2.29).

Beim klassischen Hochdruckverfahren liegen die druckenden Flächen höherals die nicht druckenden. Die Farbübertragung erfolgt weniger durch Druck alsdurch sanften Kontakt, durch Adhäsion der viskosen Farbpaste am Bedruck-stoff. Hochdruck eignet sich vor allem für Wellpappe, die nur unter geringfü-gigster Pressung bedruckt werden darf. Beim Rotationstiefdruck werden anKupferkanten auf Zylindern die zu druckenden Flächen eingeätzt (klassisch)oder eingraviert (modern). Die Zylinder werden mit dünnflüssiger Druckfarbeeingefärbt, die durch die Saugkraft des zwischen ihnen durchlaufenden Papiersübertragen wird. Die Lösungsmittel verdampfen schnell, eine federnde Stahl-

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr84

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klinge („Rakel“) schabt überflüssige Farbe ab. Vier hintereinander geschalteteZylinder erzeugen einen Vierfarbendruck.

Im Flachdruck befinden sich die druckenden und nicht druckenden Flächenauf nahezu der gleichen Ebene. Drucken und Nichtdrucken beruht auf der Ab-stoßung von Fett und Wasser. Die druckenden Stellen auf Aluminiumplattenoder Karton werden so präpariert, dass sie Wasser abstoßen, die nichtdrucken-den Stellen dagegen sind wasserfreundlich. Beim Mehrfarbendruck wird „nassin nass“ gedruckt – weder die Farbe noch die Wasserschicht ist abgetrocknet,wenn die nächste Farbe auf das Papier kommt. Das Papier wird also nicht nurdurch die Druckfarbe, sondern zusätzlich durch Wasser feucht. Leimung, Im-prägnierung, Faserfestigkeit und Konditionierung beim Satinieren und eineoptimale Klimatisierung der Räume sorgen dafür, dass das Papier mit Wasserso träge reagiert, dass die Dehnung durch Aufquellen erst eintritt, wenn alleFarben aufgetragen sind. Offset-Druckfarben sind hochviskos, rupfen bei derÜbertragung am Papier und neigen außerdem beim Trocknen zum Stauben.Sie enthalten oft Leinöle, die durch Oxidation mit Luftsauerstoff verharzen oder„getrocknet“ werden. Bei hohen Druckgeschwindigkeiten geschieht diese Ver-harzung bei 180 �C, wobei überschüssiges Öl und Restfeuchtigkeit auch ver-dampfen. Diese Verharzung erfolgt am besten bei einem pH-Wert von 5. Beihöheren pH-Werten werden die Wasser abstoßenden Stellen der Druckformhydrolysiert und angelöst, der Druck wird unscharf, bei zu niedrigem pH wirddie Verharzung und damit der Druckprozess zu langsam. Der Offsetdruck istextrem anspruchsvoll an das Papier, andererseits ist er vielseitig und anpas-sungsfähig und die Gummituchformen sind preisgünstig.

Für den Druck zu Hause eignen sich Tintenstrahl- und Laserdruck. Der Tin-tenstrahl ist eine Serie schnell geschleuderter Tintentropfen aus Kapillaren. Dasfunktioniert aufgrund der niedrigen Viskosität des Wassers, der Formstabilitätund dem schnellen Abreißen kleiner Wassertropfen. Der Prozess wird von den

2.2 Cellulose 85

Abb. 2.29 Die Saugkraft und Steifheit der Cellulosefasern istdie materielle Grundlage aller Druckverfahren auf Papier. BeimHochdruck wird die dünne Farbschicht aufgepresst, beim Tief-druck saugt das Papier die flüssige Farbe auf, beim Offset-druck werden feuchte, pastöse Pasten aufgedrückt.

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Wasserclustern und der hohen Oberflächenspannung des Wassers begünstigt(Seite 25). Der Laserdruck hingegen beruht auf der elektrischen Aufladung derCellulose, die ähnlich funktioniert, wie die Aufladung der Wolken: Die beidenOberflächen des Papierblattes laden sich beim Erhitzen unterschiedlich auf undan der positiv geladenen Oberseite haften die Graphitpartikeln („Toner“), wo siedann von einer Presse fixiert werden (Abb. 2.30).

Papier altert im Laufe von Jahrhunderten durch Oxidation. Dabei platzen dieStärkehäufchen des Kleisters durch Austrocknung und Quervernetzung und sam-meln ihr Material an den Kreuzungspunkten der Cellulosefasern. Bei der Oxida-tion entstandene Carbonyl- und Carboxylgruppen vernetzen vor allem amorpheBereiche mit eng zusammenliegenden Alkoholgruppen. Das Papier wird wasser-abstoßend und spröde. Es ist also die bewegliche Stärke, die das starre Gerüst derCellulosefasern in biegsames, wenig sprödes Papier verwandelt, und es ist die mo-lekular-dünne Stärkehelix, die schließlich als Erste zerstört wird (Abb. 2.31).

Mit den Cellulosefasern der Baumstämme ist das Kapitel über Cellobiose-Po-lymere noch nicht abgeschlossen. Es gibt Feineres und Festeres – die Baumwol-le (engl. cotton). Baumwoll-Fasern stammen aus Gossypum-Büschen, die auf san-digem Grund in warm-feuchtem Klima wachsen. Baumwollplantagen verbrau-chen viel Wasser und Schädlingsbekämpfungsmittel. Bis zu 50% der Welterntefallen jährlich Parasiten und Krankheiten zum Opfer. Etwa 100 Tage nach derAussaat entwickelt die Pflanze weiße Blütenstände aus Knospen, deren Farbeüber rosa und blau zu violett wird, wenn die Blüten austrocknen und schließ-

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr86

Abb. 2.30 Funktionsweise eines Laserdru-ckers. Eine Elektrode lädt das Papier ober-flächlich positiv auf, elektronenreiches Kohle-pulver wird angesogen und danach auf demPapier festgedrückt. Pulverreste werden ab-gebürstet, bevor das nächste Bild auf dieTrommel gedruckt wird. Blätter aus Kohlen-

hydraten eignen sich wie die Wasserwolkenam Himmel zur reversiblen Aufladung durchelektrische Felder. Nach R. Baufeldt, M. Dor-ra, H. Rösner, J. Scheuermann, H. Walk, In-formationen übertragen und drucken, Berufund Schule, Itzehoe, 1993.

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lich zu Boden fallen. Samenkapseln oder Schoten (amer. bolls) bilden sich inner-halb von 60–80 weiteren Tagen. In den Schoten, die erstaunlich groß werden,erscheinen die Samenhaare oder Baumwollfasern, die Linters. Die walnussgro-ßen reifen Früchte werden gesammelt, platzen nach der Reife und geben einfaustgroßes Büschel feiner weißer Zellen aus 2–5 cm langen Langhaaren frei,die etwa 10000 Glucosemoleküle pro Cellulosefaser enthalten. Der Durchmes-ser eines einzelnen Samenpaars liegt bei 20 �m oder 20 000 nm; es besteht austausenden von Cellulosefasern großer Festigkeit.

Baumwollsamen führt zu Entzündungen der Atemwege. Die Baumwollerntewar Jahrhunderte lang eine ähnlich ungesunde Sklavenarbeit wie die Zucker-produktion (Seite 99 f). Heute wird mit Spindelpickern mechanisch geerntetund geschält, die rohe Baumwollfaser mit 25%iger Natronlauge, Seifen undEntschäumern behandelt („mercerisiert“, nach dem englischen Erfinder Mercer,1844), was Wasserstoffbrücken löst, und gestreckt. Diese Streckung und teilwei-se Oxidation macht sie glänzend und für Farbstoffe zugänglich, ihr Griff wirdweich und füllig.

2.2 Cellulose 87

Abb. 2.31 Papier altert durch oxidative Quervernetzung ähn-lich wie der menschliche Körper durch AGE (siehe Seite 77).

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Die Cellulosefaser wird steifer und fester, wenn sie mit Lignin vernetzt wirdwie in Baumstämmen. Derartige Fasern findet man im Flachs, Linum usitatissi-mum. Flachs wird einen Monat nach dem Erscheinen der ersten Blüten, wenndie Farbe der Stiele von grün nach gelb wechselt, ausgerissen. Die goldfarbigenStiele werden mit Flachsriffeln von Samen befreit, mit Tau oder Flusswasser ge-waschen und schließlich getrocknet und gebrochen. Die elastischen Flachs-fasern bleiben dabei unverletzt erhalten, werden ausgekämmt, sind 70–90 cmlang und, gründlich gewaschen, weiß oder stahlblau. Nur mit Tau behandelteFasern variieren von bräunlich bis grauschwarz. Aus Flachsfasern wird Leinen-gewebe gesponnen (Abb. 2.32).

Äußerlich ähnliche Stärkeklumpen wie in altem Papier gibt es in den Glyco-gendepots der Muskeln. In Muskeln und Leber wird hydratisiertes Glycogen alsEnergiereserve eingelagert, das wie die Stärke aus �-verknüpften Glucose-polymeren besteht, aber höhermolekular und stärker verzweigt ist. Das Blut,das zur Leber fließt, kann bis zu 0,4% Glucose enthalten, das abfließende nurnoch die „vorgeschriebenen“ 0,1%. Der Rest bleibt in der Leber und in Muskelnals Glycogen, der Speicherenergie für die erste Hälfte eines Marathonlaufs. Istdas Glycogen alle, müssen Fette verbrannt werden, wofür viel mehr Sauerstoff

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr88

Abb. 2.32 Ein Flachsfaserbündel.

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gebraucht wird und was man trainieren muss, bevor es richtig funktioniert(Abb. 2.33).

2.3Stärke

Wir sind der Stärke im Zusammenhang mit dem Leimen des Papiers und demEnergievorrat in Leber und Muskeln schon begegnet. Wann immer Tiere undMenschen mit Glucose in Kontakt kommen, spielt auch die Stärke eine Rolle.Cellulose ist für Menschen unverdaulich, sie ist nichts als Ballast, der im Ma-gen aufquillt, dort Darmbewegungen induziert und so möglicherweise Verstop-fungen vorbeugt. Zu Glucose aber wird sie nicht abgebaut; einen anderen nach-weisbaren Nutzen hat die Cellulose nicht.

Stärke hingegen ist in Wasser quellbar und wird von Enzymen im mensch-lichen Darm schnell in Glucose gespalten. Stärke ist verdaulich, landwirtschaft-lich leicht zu erzeugen und entsprechend billig. Ein Kilo Stärke kostet etwa ei-nen Euro. In Form des Weizenmehls und der Reis-, Hirse-, Mais- und sonstigenKörner bildet Stärke die Grundlage der menschlichen Ernährung.

2.3 Stärke 89

Abb. 2.33 a) Modell und b) elektronenmikroskopisches Bildder Glycogenspeicher im Muskel. c) Der Zeitverlauf des Gly-cogenabbaus innerhalb weniger Minuten beim Sport.

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Kurz vor der französischen Revolution wurde nachgewiesen, dass Stärke undCellulose beim Verbrennen die gleiche Menge Hitze, Wasser und Kohlendioxidentwickeln. Man fand keinen Unterschied zwischen beiden und veröffentlichtedie Befunde. Diese Nachricht führte zum Aufschrei der hungernden Massen:Will uns die Wissenschaft verhöhnen? Als wir um Brot bettelten, fragte dieKönigin, warum wir keinen Kuchen essen. Wenn wir die Wissenschaftler fra-gen, wie es weiter gehen soll, kommen sie mit Holzspänen statt Weizen. Unddann köpften sie beide, die Königin (Marie Antoinette) und den Wissenschaftler(Antoine de Lavoisier), und fütterten die Adeligen in der Bastille mit Sägespä-nen. Das war alles höchst widersinnig und unwissenschaftlich. Ein Feuer von500 �C ist nicht dasselbe wie die Verdauung bei 37 �C, Labormessungen zurEnergieausbeute eines Materials ebnen solche Unterschiede nicht ein.

Es dauerte 120 Jahre, bis man den Unterschied zwischen Brot und Sägespä-nen auf stereochemische Unterschiede der Acetalverknüpfung zurückführenkonnte. Die Antwort der Wissenschaftler auf das Hungerproblem hatte damitnichts zu tun, aber auch diese Frage wurde letztendlich von Chemikern beant-wortet. Man braucht anorganische Mineralien, Kunstdünger, die den PflanzenKalium, Phosphat und Stickstoff zum Wachsen geben. Darauf wären die Bau-ern und die hungernden Städter nie gekommen.

Naturwissenschaftliche Grundlagenforschung hilft, Erfahrungen zu verstehen.Die Erfahrung lehrte, dass man von Gras, Spinat und Papierbrei nicht satt wird,wohl aber von Kartoffeln und Reis. Verstehen konnte man das erst, nachdem mandie Stereochemie der Glucose kannte. Naturwissenschaft dringt zur molekularenDimension vor, die der unmittelbaren Naturerfahrung nicht zugänglich ist.

Solange seine Moleküle nicht verkäuflich sind, das heißt, solange sie nichtals Nahrungs- oder Heilmittel oder Werkstoffe dienen, sitzt der Naturwissen-schaftler typischerweise zwischen allen gesellschaftlichen und politischen Stüh-len. Er besteht darauf, seine Experimente unabhängig zu entwickeln, mit seinenStudenten in Ruhe gelassen zu werden und seine neuen Erkenntnisse den wis-senden Kollegen in aller Welt mitteilen zu können. Er lässt sich von Aristokra-ten und Demokraten und Kommunisten und Industriebossen bezahlen unddenkt dabei an Zielmoleküle mit faszinierenden Eigenschaften: „Was blockiertden Schmerzrezeptor im Gehirn? Was ist farbig, ohne auszubleichen? Wie kom-me ich zu helikalen Molekülen?“ Um das zu wissen und machen zu können,fordert der Chemiker sein Gehirn, seine Mitarbeiter und seine Apparate. Wenner das Zielmolekül dann aufgeklärt, seine Synthese vorgeführt und seinen Wir-kungsmechanismus verstanden hat, lässt er irgendjemanden in der Welt seinMolekül fabrizieren und verkaufen. Das Molekül wird Teil der Gesellschaft ausMedizinern, Fernsehern, Computerfreaks und Autofahrern; doch der Chemikerbekommt nun einen stumpfen Blick des Desinteresses. Sein Molekül ist fürihn trivial geworden, er sucht sich mit leuchtenden Augen ein neues.

Das gilt allerdings nicht für unsere sieben Moleküle, die allesamt in allenhöheren Organismen leben. Und die Organismen sind so komplex, dass sichimmer wieder Fragen für die molekulare Biologie stellen werden, ohne Ende.Folgen wir fürs Erste der Glucose in der Stärke.

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr90

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Das Keimblatt der Pflanzen hängt noch direkt an der Wurzel, wenn das Pho-tosynthesespiel mit der Sonne beginnt. Manche Wurzel wird dabei nicht nurzum Aufsaugen von Wasser und Salzen aus dem Boden herangezüchtet undbenutzt, sondern entartet zu großen Knollen oder Rüben, zum Beispiel zu Kar-toffeln oder Karotten. Dort unten im feuchten Erdreich herrscht nicht mehr derDrang der Bäume zu Festigkeit im Sturm, zu Schmalheit und Aufstreben zumSonnenlicht. Die unter der Erde gebildeten Gele neigen zum Aufquellen, zurmassiven Kugel- oder Kegelform. Aber die Quellung funktioniert mit Cellulose-fasern nicht richtig, dazu sind sie zu steif.

In der Erde werden schmale, helicale Glucosestränge bevorzugt, die sichkreuz und quer legen, viel Wasser für die photosynthetisch aktive Pflanzedarüber sammeln und mit kapillaren Kräften festhalten. Schraubenförmige Fa-sern sind hier optimal. Die Natur macht sie, indem sie die Glucoseeinheitensenkrecht aufeinander stellt. Die Pflanzenfasern des Erdreichs und der Früchtebestehen aus helicaler Stärke und Pektin, wobei Letzteres negativ aufgeladeneGlucuronsäuren enthält. Pektin ist der Hauptbestandteil der Äpfel, Birnen undMohrrüben und lässt sich leicht zu festen Gels und nach Zusatz von Calcium-salzen zu stabilen Trockenfrüchten verarbeiten. Pektin bildet die Wand harterPflanzenzellen; Stärke liefert weiche, verdauliche Gele.

Das wichtigste Detail der Glucosechemie der Pflanzen ist also architektoni-scher Natur: die Aneinanderkettung von mehreren Hundert Glucosemolekülenin Form entweder breiter Bänder oder schmaler Schrauben. Die Cellulosebän-der werden zu Rohren und Stäben mit makroskopischen Durchmessern gewi-ckelt, die wir bei Papierfasern mit bloßem Auge sehen können. Die Stärkehe-lices aber sind tausendmal dünner und bilden mit Wasser die Gel-Strukturendes Brots, der Reiskörner und der Kartoffeln. Die Bildung der eng gedrehtenHelices ist durch die Sauerstoffverbindung senkrecht zu den einzelnen Glucose-ringen gegeben. Jeder Ring steht senkrecht (axial, �) auf dem nächsten. Dasentsprechende Dimer der Glucose, die Einheit der Stärke, heißt Maltose. Nachvier Molekülen Glucose ist die engstmögliche Schraubenwindung fertig. Einewaagerechte (äquatoriale) Verknüpfung der Glucose führt hingegen zu flachen,blattförmigen, stapelbaren Strukturen (Abb. 2.34).

Die Stärkehelix trägt die äquatorialen OH-Gruppen außen, die axialen Wasser-stoffatome innen. Daraus resultieren eine hydrophile Außenwand und ein hyd-rophober Tunnel, der zum Beispiel den Komplex [Iod–� Iod2] (I3

–) einschließt.Im Inneren des Tunnels lagern sich mehrere solcher Komplexe aneinander( . . . I–� I–I� I–� I–I . . . ) und bilden einen blauen Farbstoff. Bei 60 �C schmilztdie Helix zu einem ungeordneten Knäuel – der polymere Iod-Iodid-Komplexverschwindet im umgebenden Wasser, zerfällt dort in braungelbe Monomereund die blaue Farbe ist weg. Beim Abkühlen bildet sich die Helix zurück – dieblaue Farbe ist wieder da (Iod-Stärke-Reaktion).

Cyclische Glucosederivate (Cyclodextrine) bilden einen kleinen Tunnel, der in-nen hydrophobe Geruchsstoffe aufnehmen und langsam freisetzen kann, z.B.Vanillin in Parfums, Nahrungs- oder Geschirrspülmitteln. An seiner hydrophi-len Oberfläche hingegen adsorbiert das Cyclodextrin schnell polare Körperge-

2.3 Stärke 91

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2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr92

Abb. 2.34 Struktur der Stärkefasern. a) sym-bolisiert den Cellulosestapel der Abb.2.24–2.31, b) zeigt die Tetramereinheit. Diedimere Grundeinheit der Stärke heißt Malto-se, zwei Glucose-Einheiten sind1,4-verknüpft und stehen senkrecht aufeinan-der. (c) ist das am engsten verdrehte Poly-

mer der Maltose, die Stärke. (d) zeigt Mo-delle des monomeren hydrophoben Hohl-raums der Stärkefaser (Cyclodextrin) und derStärkefaser, die mit blauen Jodid-Jod-Poly-meren gefüllt ist (Stärketest). Auch das Bandund das Knäuel sind skizziert, die beimSchmelzen der Stärkehelix gebildet werden.

a)b)

d)

c)

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ruchsstoffe wie Buttersäure (Schweiß) und Putrescin-Amine (bakterielle Zerset-zung von Proteinen), die es dann nur so langsam wieder freigibt, dass der lästi-ge Geruch nicht mehr wahrnehmbar ist (2.35).

Ausreichend Oberflächenwasser ist die wichtigste Voraussetzung für denPflanzenwuchs, Äcker, Grünland und Gärten brauchen deshalb Grundwasserbildende Böden. Hat man den, muss man es mit mineralischen Düngemittelnund Pestiziden nicht übertreiben, denn die machen zum Beispiel herabgefalle-ne Blätter für Bodenwürmer ungenießbar. Pilzsporen überwintern dann aufdem behandelten Laub, re-infizieren die Pflanze im Frühling und verhindernden biologischen Aufbau eines porösen Bodens. Hat man kein Grundwasser

2.3 Stärke 93

Abb. 2.35 Strukturformel und Modell eines sechsgliedrigen Cyclo-dextrins mit einer hydrophoben Höhle im Inneren, in die ein haut-reizender „Vanille Begleitstoff“ Molekül „eingesperrt“ werden kann.

Abb. 2.36 Ökosystem eines Feldes auf wenig fruchtbaremSandboden, vielleicht bei Berlin (wo es allerdings nicht „tro-cken“ ist). Nach S. Normann-Schmidt, „Auf der Suche nachder umweltgerechten Landwirtschaft“, Verflechtungen von Land-und Wasserwirtschaft. R. Oldenbourg, München, 1995.

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und treffen negative klimatische Kopplungen eine Wirtschaftsfläche (Abb. 2.36),ist viel zusätzliche Arbeit notwendig. Das Wasser muss herangeschafft, der Bo-den restrukturiert werden.

2.4Zucker

Im Leben der Laubbäume spielt der Transport der Kohlenhydrate eine zentraleRolle für die Entwicklung und das Wachstum des jungen Blatts. Ein ausgewach-senes Blatt exportiert, nachdem es etwa ein Drittel seiner endgültigen Oberflä-che erreicht hat, Kohlenhydrate und Aminosäuren zu jüngeren Blättern, Wur-zeln, Früchten und Stängeln. Der Wassertransport in das Blatt hinein erfolgtüber das Phloem, den Nahrung führenden Siebteil der Äste und des Stamms.Durch das Phloem, das jedes Jahr neu gebildet wird („Jahresringe“), fließt inBäumen eine 25%ige Zuckerlösung (Saccharose), aus der der wachsende Baumseine Cellulose aufbaut. Wasser ohne Zucker wird hingegen auch über die hoh-len, toten Zellen des Xylems, das „Holz“ des Baums, transportiert (Abb. 2.37).

Der „Zucker“ des Baums ist wie der der Zuckerrübe oder des Zuckerrohrs we-der Cellobiose, noch Maltose oder Glucose, sondern etwas ganz Besonderes,nämlich Saccharose. Saccharose besteht aus zwei kovalent verknüpften Hexose-Einheiten und enthält neben dem üblichen steifen Pyranose-Sechsring der Glu-cose einen sehr beweglichen Furanose-Fünfring, die Fructose, und keinerlei

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr94

Abb. 2.37 Mit Zucker beladene Wasserwege vom Blatt in dasPhloem (gr. phloios, „Bast, Rinde“) und in das abgestorbeneHolzteil Xylem (gr. xylon, Holz) eines Zweigs.

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Halbacetal mit einer oxidationsempfindlichen OH-Gruppe. Zucker vereint dreiseltene Eigenschaften. Erstens, und das begründet seine wirtschaftliche undpsychologische Bedeutung, schmeckt er süß ohne bitteren Nachgeschmack. Zu-cker bindet nur für einen Sekundenbruchteil an das Rezeptorprotein für „süß“auf der Zunge und löst sich dann wieder ab, bevor der Rezeptor für „bitter“ rea-giert. Zweitens ist Zucker kein Reduktionsmittel wie Glucose, er ist gegenüberSauerstoff stabil. Mit Zucker kann man bei hohen Temperaturen backen undkochen, ohne dass er zu geschmacklosen oder sauren Carbonsäuren oxidiertwird. Das liegt daran, dass die beiden OH-Gruppen der Glucose- und Fructose-Halbacetale direkt miteinander reagieren und Wasser abspalten. Das entstehen-de 1-1�-verknüpfte Vollacetal ist nicht oxidierbar. Drittens lässt sich Zucker leichtkristallisieren („Kristallzucker“), weil er kein Isomerengemisch bildet, wie es dieHalbacetale tun, die immer als Gemisch von �- und �-Pyranosen oder Furano-sen vorliegen (Abb. 2.38).

Der fünfgliedrige Ring mit fünf Kohlenstoff-Tetraedern sollte im Gegensatzzum Sechsring planar sein, denn die Winkel des Fünfrings (108�) und des Tet-raeders (108,5�) sind fast gleich. Diese durch die Geometrie der Ringglieder vor-gegebene Planarität führt aber alle Substituenten des Kohlenstoffs in je eineEbene ober- und unterhalb des Rings. Da ist aber weder für die großen Sauer-stoffatome der OH-Gruppen noch für die Wasserstoffatome genügend Platz –die mit Elektronen gefüllten Orbitale der nebeneinander stehenden Atome über-lappen einander und verdrillen den planaren Fünfring, einer der Kohlenstoff-Atome flippt aus der Ebene heraus.

Wäre das alles, dann wäre es nichts Besonderes: Vier Kohlenstoffatomewürden eine Ebene bilden, das fünfte läge darüber oder darunter. Da aber alle

2.4 Zucker 95

Abb. 2.38 Kristallstruktur der Saccharose.Ein steifer Glucose-Sechsring (siehe die Kris-tallstruktur links) ist verbunden mit einembeweglichen Fünfring. In der Saccharosesind die Halbacetal-Gruppen der Glucoseund der Fructose miteinander zum Acetal

verknüpft; deshalb bleibt kein Halbacetal er-halten und Saccharose ist kein Reduktions-mittel. Ihre Kristalle sind jahrelang stabil(„Kristallzucker“), man kann sie schmelzenund zu Bonbons gießen oder bei hoher Tem-peratur Kuchen und Kekse backen.

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vier Kohlenstoff-Atome im Zucker gleich große OH-Gruppen tragen, weichenalle vier Kohlenstoff-Atome und der Ringsauerstoff mit seinen ungebundenenElektronen dem räumlichen Druck in der Ebene aus – der gesamte Fünf-ring einschließlich des Sauerstoffatoms vibriert, alle Atome flackern in statis-tischer Reihenfolge um ihre Ruhelage. Dieses Flackern heißt Pseudorotation,weil die Reihenfolge des Aussteigens der Atome aus der Ebene rein statistischist. Wir werden diesem Phänomen bei den Steroidhormonen (Seite 154) undbei der DNS (Seite 231) wieder begegnen. Der Effekt der Pseudorotation ist im-mer gleich: Fünfringe kristallisieren schlecht und sind deshalb extrem gutlöslich.

Der Körper verwandelt Saccharose in zwei Glucosemoleküle. Glucose ist dieeinzige Energiequelle des Gehirns und versorgt darüber hinaus alle Körperzel-len mit „schneller“ Energie. Der Zucker erleidet also genau das gleiche Schick-sal wie die Stärke des Brots und der Kartoffel. Trotzdem hat nur Zucker einenmiserablen Ruf als Nahrungsmittel, während Brot und Reis in Ordnung seinsollen. Wie kommt das? Warum wollen viele Chemiker mit dem größten Ver-ständnis für Moleküleigenschaften Werbung für Süßwaren verbieten? (LinusPauling: „Ich glaube, dass Gesundheit und Wohl unserer Kinder wichtiger sindals die Einschränkung der Werbefreiheit.“)

Der Grund liegt in zwei fatalen Eigenschaften des Zuckers: Seine Süße machtsüchtig und deshalb fett und er durchlöchert die Zähne. Die Sucht kann manwegerziehen, Karies und Parodontose aber sind eine echte „Zuckerkrankheit“.Zucker ist seit dem 14. Jahrhundert im Gebrauch. Erst seitdem gibt es Skelettemit löcherigen Zähnen. Zucker klebt auf dem glatten Calciumphosphat derZähne fest und wird dort von Mundbakterien zu Milchsäure und Essigsäure ab-gebaut. Im engen Kontakt mit der Oberfläche der Zahnlamellen (Seite 254)lösen sie das Calcium aus dem Phosphat heraus, machen es damit wasserlös-lich und bohren Löcher in den Zahnschmelz. Hierbei ist nicht die pro Tag auf-genommene Zuckermenge kritisch, sondern die Verweilzeit von beliebig klei-nen Zuckermengen in der Mundhöhle. Häufiger Zuckerverzehr wirkt dabeiebenso aggressiv wie feste Zuckerwaren oder fettiger Schokoladebrei, nur derZucker leichtflüssiger Getränke verschwindet schnell. Das Wasser des Speichelslöst die Zuckerflecken nicht herunter. Es braucht die Seife der Zahnpasta, diesich ebenfalls auf dem Calciumphosphat festbeißt und heftiges mechanischesBürsten, das die Seifenfilme zusammen mit dem Zucker herunterreißt.

Diese beobachtete und so schädliche Klebrigkeit des Zuckers beruht sowohlauf den äquatorialen OH-Gruppen, die die Wassercluster um das Phosphat im-mobilisieren, als auch auf den hydrophoben, axialen CH-Gruppen, an denendie Mikroorganismen andocken. Zucker dringt so tief in die Calciumphosphat-gerüste des Zahns ein und reichert sich auch im Belag der Zähne an, wo er dieBakterienkolonien ernährt, die Säuren erzeugen, damit an versteckten Stellenden Zahnschmelz auflösen und auch noch für Entzündungen des Zahnfleischssorgen. Die Bakterienhaufen („Plaques“) sind noch 12 Stunden nach der Bela-dung mit Saccharose sauer (pH 4,2).

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr96

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Wir werden dem Phänomen des Klebens von Glucose an Oberflächen in denYoctobrunnen wieder begegnen (Seite 140) (Abb. 2.39).

Das Kariesproblem (lat. caries, „Fäulnis“) kann nur mit dem pausenlosen Ein-satz der Zahnbürste oder mit Zuckerersatzstoffen beseitigt werden. Die redu-zierten Zucker Mannit und Sorbit produzieren weniger Säure, der Pentosealko-hol Xylit gar keine. Xylit (Bonadent®) hat die gleiche Süßkraft wie Zucker, istnicht kariogen (lat./griech., „fäulniserzeugend“) und wird zur Zeit als Süßstoffin Zahnpasta und Kaugummi eingesetzt. 100 g Xylit dürfen einem Kilo Lebens-mittel ohne weiteres zugesetzt werden, bei größeren Mengen muss die PackungHinweise auf die abführende Wirkung tragen.

Xylit stammt aus dem Holzzucker Xylose, der bei der „Holzverzuckerung“mit Schwefel- oder Salzsäure und nachfolgender Neutralisierung mit Kalk an-fällt. Eine Tonne trockenes Nadelholz liefert etwa 500 kg Zucker, der meist zu200 L Ethanol vergärt wird. Die Hefe ist als Tierfutter nützlich.

Vorläufig jedoch ist Zucker in der modernen Ernährung allgegenwärtig undes gelten die uralten Rezepte: „Kein festliches Mahl (nicht einmal die täglicheNahrung) schmeckt ohne Zucker“ und „Zucker verdirbt kein Speise.“

Der unwiderstehliche Reiz der Eigenschaft „zuckersüß“ beruht vielleicht aufder unauslöschlichen Erinnerung an die süße Muttermilch, dem glücklichenGefühl kindlicher Geborgenheit. Zwar reagieren Geschmacksknospen auf vieleverschiedene Moleküle „süß“, doch bei den meisten folgt auf den ersten Süß-Impuls ein ernüchternd bitterer Nachgeschmack. Die Süßstoffe bleiben dannzu lange auf den Proteinrezeptoren hängen, die Freude ist vergangen, das kind-liche Glücksgefühl durch das Gefühl des Ausgesetzt- und Betrogenseins ersetzt.

Dass lange gekautes Brot oder Kartoffeln süß schmecken hat hingegen nichtsmit einem süßen Nachgeschmack zu tun. Hier wird vielmehr deren Stärke imSpeichel zu Glucose hydrolysiert, der süße Zucker wird „biotechnologisch“ ausdem geschmacklosen Polymer produziert.

2.4 Zucker 97

Abb. 2.39 Glucosemoleküle kleben am Calciumphosphat derZähne fest. Bakterien verwandeln die Glucose in verschiedeneCarbonsäuren, die das Phosphat in wasserlösliche Phosphor-säure verwandeln. Der Zahn löst sich auf, Karieslöcher entste-hen.

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Ein Strukturvergleich vieler Süßstoffe zeigt die folgenden gemeinsamen Ei-genschaften: Schwach, das heißt nur in relativ hoher Konzentration, süßschmecken Moleküle, die einen Protonenakzeptor B und einen ProtonendonorA im Abstand von 0,25 nm haben. Beide bilden wahrscheinlich Wasserstoff-brücken mit entsprechenden Donoren und Akzeptoren auf dem Rezeptorpro-tein. Stark süß sind Substanzen, die einen dritten Protonenakzeptor in 0,5 oder0,7 nm Abstand aufweisen. Zur Zeit ist Aspartam, der Methylester eines Dipep-tids mit einer Phenylgruppe, besonders populär, weil er viele Tests und vielKommerz problemlos überstanden hat (Abb. 2.40).

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr98

Abb. 2.40 Dreipunktmodell der Süße. Stark (noch in Mil-ligramm-Mengen pro Liter Wasser, Kilo Mehl oder Fett) süßschmecken Stoffe, die je einen Protonenakzeptor und -donorin 0,3 nm Abstand und einen weiteren Protonenakzeptor ineinem Abstand von 0,7 nm aufweisen. Aspartam ist ein sol-ches Molekül.

beta-D-Fructose(Honig)

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Der Drang des Menschen nach süßer Speise, der ursprünglich nur mit Zu-cker befriedigt werden konnte, war das Motiv für den brutalsten Sklavenhandelund -missbrauch der Geschichte. Zucker ist ein relativ junges Nahrungsmittel.In Deutschland standen um das Jahr 1000 insgesamt 12 kg Zuckerhüte ausdem Zuckerrohr der Kanarischen Inseln in den Regalen der Apotheker. Sie wur-den grammweise gegen Blähungen und Erkältungen verabreicht. Kolumbus,der auf Madeira verheiratet war, brachte 1479 Zucker erst nach Genua, 1492nach Kuba. Schon eine Generation später, 1535, gab es 30 Zuckermühlen fürdas Zuckerrohr und Tausende von Sklaven aus Afrika auf spanischen und por-tugiesischen Plantagen. Im 17. und 18. Jahrhundert tobten auf See Zuckerkrie-ge zwischen Portugal, Spanien, England und Frankreich. In San Domingo wur-den 450000 Sklaven zur Arbeit auf Zuckerplantagen gezwungen. Wenn auf derNordhalbkugel Winter herrschte, war die Überfahrt kühler, schneller und profi-tabler. Schiffe verließen deshalb Liverpool im Frühherbst in Richtung Afrika,überquerten zwischen Dezember und Februar mit frischen Sklaven den Atlan-tik, kamen im Frühherbst in der Karibik an und kehrten im Sommer mit einerLadung Zucker nach England zurück.

Die Einzelheiten des Sklavenhandels waren furchtbar. Bei der Gefangennah-me und dem Transport der Sklaven litten vor allem die Männer. Frauen undKinder konnten sich häufiger frei bewegen. Die westafrikanischen Männer derIbos und Yoruba zum Beispiel glaubten, dass man seine Seele nur in den Him-mel bringen könne, wenn man über Bord spränge. Vor diesem Glauben muss-ten die Sklaven als wertvolle Handelsware Mensch geschützt werden. Erwachse-ne Männer wurden deshalb aneinandergekettet und lagen wehrlos bis zu dreiMonate lang in ihren eigenen Exkrementen. In der Karibik angekommen, fuhrdas Schiff von Insel zu Insel, bis alle Sklaven von Bord und verkauft waren.Aus dem „Passagierschiff“ wurde wieder ein Frachtschiff, das man mit grobem,einmal raffiniertem Zucker belud und das nun mit den dann vorherrschendenwestlichen Winden binnen 30–50 Tagen nach Hause steuerte. Auf einer Planta-ge mit 50 Sklaven mussten jedes Jahr fünf Erwachsene ersetzt werden. 20% de-rer, die in Afrika eingeschifft wurden, starben an Bord. Um in Barbados fünf le-bende Sklaven zu haben, mussten sechs bis sieben in Afrika losgeschickt wer-den. In Jamaika war der Bedarf zehnmal höher.

Um 1800 reglementierte Englands Flotte den Zuckerhandel. Napoleon fordertealle französischen Gelehrten auf, einen Ersatzzucker zu finden, und sperrte denenglischen Handel mit dem europäischen Kontinent. Ein Berliner (Andreas Marg-graf) hatte 1747 den Zucker in Rüben entdeckt, ein anderer (Franz Achard)gründete unter Friedrich dem Großen in Kunern (Schlesien) die erste Rüben-zuckerfabrik, die fünf Jahre später niederbrannte, ohne wirtschaftlichen Erfolg ge-bracht zu haben. Erst ab 1830 setzte sich die Zuckerfabrikation aus Zuckerrübendurch, Zuckerfabriken wurden zu den größten Industriebetrieben in Deutschland.

1801 lebten in England neun Millionen Menschen und der Zuckerverbrauch lagbei 17 Pfund pro Kopf und Jahr, insgesamt 70 000 Tonnen. In jenem Jahr betrugder Gegenwert eines Schwarzen bereits zwei Tonnen Zucker. 35 000 schwarzeSklaven wurden auf den Zuckerinseln verschlissen. Anders gesagt: Für je 250 Eng-

2.4 Zucker 99

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länder – Männer, Frauen und Kinder – musste jedes Jahr ein Schwarzer sein Lebenlassen. Diese Mordrate betraf alle Europäer – auch die türkische Prinzessin, diesich ihren gesüßten Kaffee von einer Sklavin reichen ließ, die wegen ihrer Zartheitnicht in die Karibik verkauft worden war, aber an ihren Mann dort dachte.

Mit der Zuckerrübe war die Prophezeiung eines Kaffeehausgedichts aus demBerliner Tiergarten (Autor unbekannt) von 1799 Wirklichkeit geworden:

Im Zuckerschälchen ist, bei jetzt’gem hohen Preise,mehr als man nehmen will;kommt künftig nur die Runkelrübe ins GeleiseGibt’s wohl noch mal so viel.

O wundervolle Runkelrübe!Es welkt das blut’ge Zuckerrohr.Bald steigt beim Knall der RübchentriebeDer Sklaven Schrei nicht mehr empor.

1802 wurde die Sklavenarbeit auf Zuckerplantagen abgeschafft, aber auch derdeutsche Sozialbericht aus Schlesien von 1866 schildert miserable Zustände(Quelle: H. Olbrich (Hrsg.), Sozialbericht von Johannes Hesekiel, Über dieWanderarbeiter beim Rübenanbau und in den Zuckerfabriken der Provinz Sach-sen, Schriften aus dem Zuckermuseum, TU Berlin, 1982):

Die Kaserne aus drei gut gebauten Häusern mit je vier Räumenoben und unten beherbergt 350 Personen im Sommer. In einerStube zwei Familien mit acht und fünf Kindern von sehr ver-schiedenen Altern. Auf dem Schlafgerüst 12 Lagerstätten für die 17Personen in drei Reihen übereinander. Der Schlafraum dient auchals Wohn- und Speiseraum. . . vor der Kaserne ein Kochraum ohneRauchfang mit 20 Feuerstellen. . . . Im Winter ist die Kaserne von200 Personen für die Fabrikarbeit bewohnt. 7 Ehepaare liegen ineinem Raum dicht beieinander. Die Kinder bleiben den Sommerüber sich allein überlassen und auch während der Winterarbeitohne Unterricht. . . .Die Arbeit war hart und sauer, doch ver-gleichsweise gesund und lieferte den Arbeitern einen guten Lohn.Die Feldarbeit wurde meist Frauen und Kindern überlassen, diefür die krumm gebeugte Arbeitshaltung „besonders geeignet“ seien.

Männer besorgten das Waschen, Zerreißen und Ausquetschen der Rüben unddas Auswalken und Filtern der klebrigen Proteine an den Maschinen sowie denteuersten Prozess der Zuckerherstellung – das Eindampfen des Safts und dieKristallisation.

Die ersten 500 Jahre der Landwirtschaft mit Zuckerrohr und -rübe waren alsoeine Schreckensgeschichte. Dann aber wurde die Zuckerfabrikation aus Rübenim Norden ebenso erfolgreich wie die aus Rohr in den Tropen und der Drangzum Süßen, der lange Zeit die Ärmsten überleben ließ, führte schließlich auchzu normalen Betriebsverhältnissen auf Bauernhöfen und in Zuckerfabriken.

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr100

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Heute wird der Saft des zerkleinerten und zerquetschten Zuckerrohrs maschi-nell ausgepresst und zusätzlich mit Wasser ausgelaugt. Die Pressrückständewerden verbrannt und besorgen das Eindicken des Safts. Eine Tonne Zucker-rohr liefert etwa 100 kg Zucker. Die Zuckerrübe muss gewaschen, der Saft mitWasser in Diffusionskolonnen ausgezogen werden. Eine Tonne Rüben liefert120–150 kg Zucker. Der Zuckerertrag eines Jahres beim Rohr liegt bei 20 t/ha,mit der Rübe bei etwa 10 t/ha.

35 Millionen Tonnen Zucker werden in den gemäßigten Klimazonen dernördlichen Halbkugel (Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich, Polen,USA) jährlich aus Zuckerrüben auf einer Erntefläche von etwa 50 000 km2 ge-holt. 61 Millionen Tonnen Zucker werden aus Zuckerrohr in Amerika etwa zwi-schen 35� nördlicher und 30� südlicher Breite gewonnen. Hundert MillionenTonnen Zucker für sechs Milliarden Menschen bedeuten 1,6 kg für jeden. InWirklichkeit liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei denen, die es sich leisten können,weltweit zwischen 30 und 40 kg im Jahr.

Heute, 2007, tobt ein globaler Kampf um den Zucker, den ein Zeitungs-bericht zum „mehrkettigen Saccharid“ und „primitiven Ding“ verunstaltet. DerWeltmarktpreis einer Tonne Zucker beträgt 275 �, Europa verteuert ihn durchSchutzzölle auf 632 � und subventioniert darüber hinaus noch Exporte zumWeltmarktpreis. Deutsche Fabriken verlangen 63 Cent fürs Kilo; im Laden kos-tet es einen Euro; brasilianische Fabriken berechnen 28 Cent. Auch Brasilianerund andere Tropenländer verlieren, wenn ihr Zucker ständig zum Herstellungs-preis oder knapp darunter verkauft werden muss.

Der durchschnittliche Zuckerkonsum eines Europäers oder Amerikaners liegtbei 30–40 kg/Jahr, was vom Energiegehalt her einer einzigen Tankfüllung einesAutos entspricht, wobei der Staat Benzin ebenso teuer macht wie Zucker. Zu-cker ist überall der Treibstoff des Alltags geworden. Trotzdem können deutscheund französische Rübenäcker aus politischen Gründen zerfallen, während aufden tropischen Feldern Moskitowolken schwirren, Schlangen, Skorpione undMähnenwölfe wimmeln und die Machete und das Feuer schnell wirksameHauptwerkzeuge der Ernte sind. Zucker ist seit 700 Jahren ein wirtschaftlichesund nahrungstechnisches Kuriosum ersten Ranges und mit neun asymmetri-schen Kohlenstoffatomen ein kristallin-süßes Ungeheuer.

Und so haben Bücher über Zucker negative Titel wie „Pure, White and Deadly“„Sugar Blues“, „Essen wir uns krank“, „Zucker, nein danke“ und „Zucker: DerSchweiß der Sklaven“. Der Zuckerverbraucher merkt davon wenig. Er oder sienennt die Tochter „meine Süße“, die „Süße“ selbst kauft sich ein „süßes Kleid“.

Die modernen Ernährungsprobleme reicher Länder aber heißen nicht Zuckerund Fett, sondern Fresssucht und Bewegungsarmut. Populäre, schnell und groß-spurig formulierte Sätze wie: „Zucker verändert den Säuregehalt des Bluts, be-wirkt Diabetes, Rheuma, Arteriosklerose, Schlaganfälle, zerstört Vitamine underzeugt als einziges Nahrungsmittel das Verlangen, immer mehr davon zu ver-zehren“, sind hanebüchener Unsinn. Butter, Bier, Coca Cola (hier vor allem diePhosphorsäure), Wein, Erdnüsse, Kartoffelchips, Schnitzel, Maisfladen – alles Ka-tastrophenquellen ersten Ranges, wenn nicht Maß gehalten wird. Die Medizin-

2.4 Zucker 101

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geschichte des Zuckers ist tatsächlich eine zweieinhalb Jahrtausende andauerndeAbfolge von Irrtümern. Sakara („König“) ist der indische Sanskrit-Name des Zu-ckerrohrs; später wurde saccharum, Zucker, daraus. Arabische Gelehrte setztenden Begriff mit dem saccarum der Antike gleich, was sich auf die Schild- undBlattlaussekrete der Pflanzen bezog, die bei den Römern als erstens süß und zwei-tens „heilsam für Brust und Bauch und Nieren“ empfunden wurden. Im 13. Jahr-hundert wurde das irrtümlich auf Zucker übertragen: „Zucker trocknet, reinigt, löst,beruhigt die Eingeweide, feuchtet den Magen an und reinigt die Stimme.“ Von deut-schen Medizinern des 14. und 15. Jahrhunderts wurden daraufhin Zuckerlösun-gen auf Wunden geträufelt, wobei man sich wieder auf die Römer berief. Zwarist vorstellbar, dass die eine oder andere Entzündung unter Zuckersirup zurück-ging, weil der Bakterien durch Osmose entwässert, so wie man heute vor-geschichtliche oder antike Boote und Holzmöbel mit gesättigten Zuckerlösungenkonserviert. Andererseits wirkte der aufgeträufelte Zucker wohl fast immer alsNährboden für eben jene Bakterien, die man zu bekämpfen glaubte.

Im Körper wird die Saccharose schnell in Glucose verwandelt. Glucose rei-chert sich in Zellen an, die biologisch besonders aktiv sind. Dieser Zufluss vonGlucose kann zeitaufgelöst mit der Positronen-Emissions-Tomographie (Seite52) von 2-18Fluor-2-desoxyglucose (FDG) vermessen werden. Dieses Glucosederi-vat geht die gleichen Wege wie Glucose und bindet an die gleichen Rezeptoren,wird aber viel langsamer abgebaut. Bei der Anwendung geringer Mengen störtFDG die Energieversorgung des Gehirns nicht, und es ermöglicht lange Mess-zeiten. Abbildung 2.41 zeigt die FDG-Tomographie eines Mannes mit starkemGlucoseverbrauch in Gehirn, Penis und einem Tumor im Hals (Abb. 2.41).

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr102

Abb. 2.41 Die 18Fluordeoxyglucose(18FDG)-Tomographie eines Mannes mitstarkem Glucose-Metabolismus in Gehirn,Leber und Penis. Mit freundlicher Erlaub-nis von Jens Langner, www.Wikipedia

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Nicht alle im Blut gelösten Substanzen erreichen unser Gehirn. Es gibt einewirksame Blut-Hirn-Schranke, die viele Substanzen aussondert, bevor das Blutins Hirn strömt (Seite 147). Je älter ihr Träger ist, desto träger reagiert dieSchranke. Eine 70 Jahre alte Barriere zum Beispiel wird langsamer beim Gluco-se-Transport, woraufhin das Kurzzeitgedächtnis nachlässt. Es wird dann Zeit,nicht nur gemächlicher zu laufen, was das Herz schont, sondern auch behut-samer zu denken, um die Verbindung des Körpers mit dem Gehirn nicht zuüberfordern.

Glucose und sein �-Dimer, die Cellobiose, lösen sich in Wasser und fügensich fast perfekt in die hexagonalen Kristalle von Eis und die Cluster in flüssi-gem Wasser ein. In einem großen Volumen flüssigen Wassers fällt diese Ein-passung nicht auf, weil sich die Wassercluster und die darin eingeschlossenenGlucosemoleküle schnell bewegen und weil einzelne Wassermoleküle müheloszwischen benachbarten Clustern hin und her springen. Im großen Volumenherrscht das freie Spiel der Kräfte. An Membranoberflächen mit Glycoprotei-nen, die enge Zuckerhöhlen aufbauen, kommt die Unbeweglichkeit, die Kleb-rigkeit der Glucose und verwandter Kohlenhydrate ins Spiel. Diese dominiertdie Differenzierung und Signalgebung biologischer Zelloberflächen. Niere,Herz, Leber, Sexual- und andere Organe unterscheiden sich an ihrer Oberflächevor allem durch unterschiedliche Zuckermuster der baumkronenähnlichenEndstücke von Glycoproteinen. Das Wachstum eines Zellgewebes im Organis-mus endet, wenn seine Zuckerkronen die eines benachbarten Gewebes berüh-ren. Es sind die Zuckerkronen, die Steroidhormone von ihren Trägersystemenim Blut abpflücken und so das Signal zur Proteinsynthese (Anabolika) oder ih-res Stops (Katabolika) aufnehmen. Verschiedene Glycoproteine sind auch dieUrsache für die verschiedenen Blutgruppen A, B und 0. Sie markieren Blut-körperchen und sorgen für die Ausfällung durch Antikörper. Die Zucker verkle-ben in den Kapillaren miteinander (Abb. 2.42).

2.4 Zucker 103

Abb. 2.42 Modell der Gly-coproteine an der Oberflä-che von Membranen. Dieengen Räume zwischenden Kohlenhydratästen fi-xieren starre Moleküle.Das Wasser des Blutsführt diese Moleküle zwarheran, kann sie dann abernicht herauslösen.

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Die 5 L Blut des menschlichen Körpers enthalten 5–10 g Glucose; das ent-spricht 1,8 g/L oder 0,01 mol/L (Molmasse von Glucose: 180 g/mol) (Abb. 2.43).

Unsere Nahrungsmittel, insbesondere Zucker und Stärke, liefern reichlichGlucose. Man hat ihnen einen glycämischen Index (GI) zugeordnet, der denKaloriengehalt des Nahrungsmittels in Beziehung zum erreichten Glucosege-halt im Blut bringt. Glucose mit einem Energieinhalt von 420 kcal/100 g wirdauf 100% gesetzt; alle anderen Nahrungsmittel sind ihr höchstens gleichwertig.Die unten stehende Tabelle zeigt verblüffende Zuckerwertigkeiten in Bezug aufGlucose und Diabetes. Der Faktor zwei zu Gunsten gekochter gegenüber geba-ckenen Kartoffeln, die 20% Gewinn beim Verbrauch festen Zuckers an Stelleder Colalösung, die Gleichsetzung von Schokolade und Buttermilch kommenals Überraschung. Flüssige Nahrung schneidet nicht so gut ab.

Die Blutzuckerkurven nach einer Mahlzeit entsprechen den GI-Werten. DerBedarf an mahlzeitbedingtem Insulin ist jedoch kaum davon abhängig. Die Di-agnose „zuckerkrank“ gilt als gesichert, wenn der Glucosegehalt des Bluts lange

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr104

Abb. 2.43 Mengenverhältnisse Blutkreislauf der Glucose.

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nach einer Mahlzeit 1,4 g/L überschreitet. Das liegt dann entweder an einer ver-erbten Unfähigkeit, genügend Insulin zu produzieren (Diabetes Typ 1) oder aneiner meist altersbedingten Missfunktion des Insulins (Diabetes Typ 2, sieheSeite 209 ff). 95% aller Fälle gehören zum Typ 2; dies kostet in Westeuropa 30Milliarden Euro jährlich, 55% davon fürs Krankenhaus, 7% für Insulin und an-dere Drogen. Ein durchschnittlicher Patient kostet etwa 3000 Euro pro Jahr. VielGeld für ein bisschen Glucose (Tab. 2.1).

Das Gehirn darf im Gegensatz zum Körper nicht hungern: Ohne Glucose undSauerstoff stirbt das Gehirn nach wenigen Minuten. Das ist nur dann nicht derFall, wenn der Körper mehrere Tage gefastet hat und sein Glycogengehalt all-mählich auf fast null heruntergeschraubt wurde – dann erscheinen „Ketokör-per“ wie Aceton und Acetessigsäure im Blut (Seite 209 ff) und das Gehirn kannauch diese nutzen. Bis zu 50% seines Energiebedarfs kann es zur Not aus die-ser Quelle bestreiten, wenn es langsam an den Hunger angepasst wurde.

Im Blut gelöste Glucose dient aber natürlich nicht nur dem Gehirn als Ener-giequelle, sondern auch den Muskeln und Nerven des Körpers. Das Gehirn ver-braucht ziemlich gleichbleibend 5–6 g Glucose in der Stunde. Unter Ruhebedin-gungen sind das 50% des Gesamtverbrauchs. Bei physischer Aktivität abersteigt der Bedarf der Muskeln und der Leber bis auf das Zehnfache an, das Ge-hirn braucht immer noch 5–6 g/h und der Zuckergehalt des Bluts darf auf Dau-er 12 g nicht überschreiten. Enthält das Blut mehr als 12 g, sind wir zucker-krank, verbraucht werden aber bis zu 50 g/h, wenn wir uns warm laufen oderim kalten Wasser schwimmen und die Hautmuskeln zittern, um warm zu blei-ben. Die sechs Liter Blut durchströmen den ganzen Körper und das Gehirn,überall wird Glucose abgezapft oder eingeschleust und ein einziger Zucker-würfel zuviel macht krank. Ein einziger Zuckerwürfel oder ein paar Dutzend

2.4 Zucker 105

Tab. 2.1 Glycämische Indices (GI) von glucosehaltigen Nah-rungsmitteln

GI

Glucose und gebackene Kartoffeln (!) 100Coca 97Cornflakes 90Zucker 79 (!)Weißbrot 69Bier 67Orangensaft und Eiscreme 60Gekochte Kartoffeln 54 (!)Nudeln 50Reis, Bananen, Vollkornbrot, Orangen, Rosinen und Weintrauben 47Schokolade, Spaghetti, Buttermilch und Äpfel 32Milch und Joghurt 27Erdnüsse 12

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Atemzüge zu wenig können tödlich sein. Unser Leben hängt also nicht nur amWasser, sondern auch an der Glucose, dem Hydrat des Kohlenstoffs, und amSauerstoff. Die Regulierung der Glucosekonzentration im Blut wird in Kapitel 4(Seite 209 ff) erklärt, die des Sauerstoffs in Kapitel 6 (Seite 280 ff).

Fragen zur Glucose

1. Welchen Zucker enthalten Rosinen?2. Ein Liter Wasser löst etwa zwei Kilogramm Saccharose, aber nur halb so

viel Glucose und ein sechzehntel so viel Cellobiose. Kann man das auf mo-lekularer Basis verstehen, wo doch kleine Moleküle „immer“ besser löslichsind als große?

3. Welche Stoffe verbraucht das Gehirn beim Denken?4. Was wissen Sie über die Geschichte des Zuckeranbaus? Fallen Ihnen Be-

sonderheiten ein? Vergleichen Sie mit der Geschichte der Erdölförderung.Hinweis: Wie sind der Zuckeranbau und Erdölförderung heute organisiert?

5. Wie vermeidet man die Zuckerkrankheit – indem man wenig Zucker isst?6. Wieso schadet ein bisschen Säure aus Zucker den steinharten Zähnen?7. Was treiben Käfer auf Blättern und an Baumstämmen?8. Was unterscheidet das Gras der Kühe von den Nutzpflanzen der Men-

schen?9. Wieso muss man aus den Baumstämmen das Lignin entfernen, bevor man

zu brauchbarem Papierbrei kommt?10. Wieso kann man Papier bedrucken?11. Wie altert Papier?12. Was bewirkt geringen Pflanzenwuchs?13. Wie zaubern Sie eine betörende Basisnote mit einem flüchtigen Geruchs-

stoff?14. Ist ein Süßstoff schon ein Zuckerersatz, wenn er fest an die „Süßrezepto-

ren“ bindet? Was muss man vermeiden?15. Welche Glucose nutzt zur Krebsdiagnostik?

2 Glucose: Fünfzehn Milliarden Tonnen nachwachsender Rohstoff im Jahr106

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Ein Einzelmolekül wirst du nicht sichten,in Wasser bildet’s dünne Schichten.Macht phosphatierte Zellmembranenmit Ladungs- und Glucosebahnen.

Überblick

3.1 Hauptbestandteile des Lecithins und der nahe verwandten Fette sind dieFettsäuren. Besonders häufig sind gesättigte Fettsäuren mit linearen Kettenaus 15 (Palmitinsäure) oder 17 (Stearinsäure) Methylengliedern –CH2, einerCarboxylgruppe –COOH und einem Wasserstoffatom an beiden Enden.Ebenso oft findet man die Stearinsäurekette mit einer cis-Doppelbindungzwischen C-9 und C-10, die so genannte Ölsäure. Mehrfach ungesättigteFettsäuren oder omega-3-PUFAs (engl. polyunsaturated fatty acids) mit dreibis fünf cis-Doppelbindungen, die jeweils durch eine Methylengruppe von-einander getrennt sind, wirken vorbeugend gegen Herzinfarkte und kom-men vor allem in Leinöl und Fischölen vor. Die zwischen den Doppelbin-dungen stehenden, allylischen CH2-Gruppen werden von Sauerstoff zu

107

3Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran

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Allylradikalen oxidiert und gefährden so die Langlebigkeit der Öle mitPUFAs. Fettsäuren sind wasserunlöslich, ihre Salze („Seifen“) bilden aberspontan wasserlösliche Micellen, Blasen und Schäume.

3.2 Fette sind Triester des Glycerins mit drei Fettsäuren. Als Nahrungsmittelsind sie hauptverantwortlich für Übergewicht (body mass index, Masse/Größe2; BMI> 25) und Herzinfarkte (Ausnahme: �-3-PUFAs).

3.3 Im Lecithin ist eine der Fettsäuren durch Phosphat, –O–P(O)(O–)2, ersetzt,wodurch zwei negative Ladungen eingeführt werden. Diese Ladungen sindmeist durch den Alkohol Cholin, HO(CH2)2N(CH3)3

+, neutralisiert, der eineder sauren OH-Gruppen verestert und die zweite mit einer Trimethylam-moniumgruppe neutralisiert. Lecithin bildet in Wasser doppelschichtigeMembranen (BLM, bilayer lipid membrane). Zellmembranen sind undurch-lässig für Natrium- und Kalium-Ionen und stabilisieren elektrische Poten-ziale. Viele mehrstufige Prozesse der Photosynthese, der Atmung, des Ab-baus von Nahrungsmitteln, des Sehens, Fühlens und Denkens laufen ansolchen Zellmembranen ab. Die Elastizität der Lungenbläschen (Alveolen)und die Säurestabilität der Magenwand beruhen auf Lecithin-Monoschich-ten.

3.4 Das Steroid Cholesterin gibt es nur bei Tieren. Es dichtet die Grenzschichtzwischen fluiden Fettsäureketten und steifen Membranproteinen in denZellmembranen der Nerven und Muskeln ab. Andere membranlösliche Ste-roide schalten Proteinsynthesen an und ab, sie wirken als anabolische oderkatabolische „Hormone“.

Tiere und Menschen enthalten nur etwa 60 Gewichtsprozent Wasser, nicht 90%wie Pflanzen, und ihre Zellen bestehen nicht aus wasserfreundlicher Cellulose,sondern aus fettigen Lipidmembranen mit eingelagerten porösen Proteinen.Die wassergefüllten Gewebezellen, die faserigen Nerven und Muskeln sowie dieröhrenförmigen Adern sind funktionelle Teile von „Maschinen“, die sich zielge-richtet bewegen und die Prozesse des Sehens, Denkens und Fühlens betreiben.Diese biologischen Maschinen sind in jeder Hinsicht (Konstruktion, Produk-tion, Struktur, Energieversorgung, Abfallbeseitigung, Pflege) äußerst komplex.Keine Biomaschine ist auch nur annähernd durch Synthese zugänglich. Künst-liche Ersatzteile müssen grundsätzlich von außen, mit Batterien und anderenMaschinenteilen versorgt und gesteuert werden, sie können nicht „organisch“integriert, nicht dem Metabolismus eingegliedert werden.

Fettsäuren, Fette und schließlich das Lecithin sind zusammen mit ihren inWasser gebildeten Aggregaten Gegenstand der ersten drei Abschnitte dieses Ka-pitels. In einem vierten Abschnitt wird auch das leicht auskristallisierende Ste-roid (griech. stear, „fest“) Cholesterin (griech. chole, „Galle“) besprochen, das beiMensch und Tier hydrophobe Membranteile mit helicalen Membranproteinenverkittet. Solche Membranen lassen Wasser passieren, Natrium- und Kalium-Io-nen aber werden nur durch Proteinkanäle geleitet. So können elektrische Poten-ziale aufgebaut und der osmotische Druck aufgehoben werden. Der Abbau ei-ner Seitenkette des Cholesterins führt zu anderen Steroiden, die als Hormone

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran108

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(griech. horman, „anregen“) wirken, im Wesentlichen als Schalter für Protein-synthesen. Anabolika schalten die Synthese an (Schwangerschaft, Muskelauf-bau), Katabolika schalten sie ab (Entzündungshemmung).

3.1Fettsäuren

Die langen Kohlenwasserstoffketten der Fettsäuren sind von allen Molekülteilender Natur am beweglichsten. Diese Mobilität in wässrigen Medien muss Gliedfür Glied analysiert werden, um folgende essenzielle Eigenschaften biologischerZellwände zu verstehen:� Zellwände sind abgerundet und flexibel;� ihre Bestandteile sind wasserunlöslich, aber kristallisieren nicht aus;� die Membranen trennen Natrium- von Kalium-Ionen, obwohl sie nur 5 nm

dick sind;� dadurch entstehen Spannungen von 10 000V/cm, aber die Membranen reißen

trotzdem nicht auf und es gibt keine Entladungen;� das Membraninnere ist flüssig und erlaubt trotzdem die feste Verankerung

von Proteinen und von vielerlei Molekülen für die Reaktionsketten der Photo-synthese, der Atmung und der Stromleitung in Nerven.

Keine dieser Eigenschaften ist ohne die Methylenketten der Fettsäuren denkbar.Methylenketten treten bei Raumtemperatur in tausenderlei Gestalt auf, weil

bei Raum- und Körpertemperatur die vielen Kohlenstofftetraeder um dieC–C-Bindungen gegeneinander rotieren. Gestreckte Fäden, weite Schleifen unddicht gepackte Knäuels kommen gleichermaßen vor. Wie ein Wollfaden in ko-chendem Wasser verändert sich die äußere Form eines isolierten Fettsäuremo-leküls ständig so, wie es unten für die (CH2)12-Kette des Dodecans demonstriertist. Jede „Spitze“ des Kohlenstoffgerüsts entspricht einem tetraedrisch substitu-ierten Kohlenstoffatom.

Legt man alle zwölf Kohlenstoffatome als lineare Zickzack-Kette in eine Ebe-ne (hier in die Papierebene der Buchseite), so sind die Wasserstoffatome oderbeliebige andere Atomgruppen an benachbarten Kettengliedern weitestmöglichvoneinander entfernt. Diese Anordnung nennt man all-trans, weil alle benach-barten Substituenten des Kohlenstoffs aufeinander entgegengesetzten Seitender Kette liegen. In der Zickzack-Kette sind die Atome am untenstehenden Ket-tenglied („zick“) unten, die am obenstehenden Kettenglied („zack“) oben. In die-ser Lage ist die gegenseitige Abstoßung benachbarter Substituenten der Kohlen-stoffkette minimal.

Die Kohlenstoffatome der Zickzack-Kette liegen in der Papierebene. Verwen-det man an ihm für eine Bindung statt eines einfachen Strichs ein ausgefülltesDreiecks so legt man damit den Substituenten in einem Winkel von: 54� vordie Papierebene. Eine gestrichelte Linie bedeutet, dass das gebundene Atom 54�hinter der Papierebene liegt. So stehen z.B. die Wasserstoffatome an C-7 in Ab-

3.1 Fettsäuren 109

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bildung 3.2 nach unten, an den benachbarten Atomen C-6 und C-8 jedoch nachoben, eines der beiden Wasserstoffatome liegt immer hinten, das andere vorne.Betrachtet man nur die C-6–C-7-Bindung so zeigt das links benachbarte Kohlen-stoffatom C-5 in der Zickzack-Konformation nach unten, der rechte NachbarC-8 nach oben. Substituenten in der gleichen Ebene, also zum Beispiel zweiWasserstoffatome am Ende eines Balkens von benachbarten Kohlenstoffatomen,sind um 180� gegeneinander versetzt (sie stehen trans oder anti). Das trifft füralle 1,2- oder 1,4-ständigen Kohlenstoffatome der Zickzack-Kette zu.

Dreht man die Kohlenstoffatome nur um die Bindung C-6–C-7 so lange, bisihre Wasserstoffatome genau nebeneinander in einer Ebene liegen, so kommtman zur ekliptischen Konformation (ein Substituent steht im Schatten des ande-ren, so wie Mond und Sonne im Fall der Sonnenfinsternis oder Eklipse). DieseKonformation ist die energiereichste, weil die nebeneinander stehenden Atomesich mit ihren Elektronenwolken berühren – das bedeutet, Nähe und gegenseiti-ge Abstoßung der Substituenten sind maximal. Bei Raumtemperatur sind sol-che Stellungen kurzlebig und selten, während die trans- oder anti-Konformationdie energieärmste und entsprechend bei Raumtemperatur häufigste und längst-lebige ist. Grundsätzlich kommen alle Konformationen vor, weil die Zahl derMoleküle so groß ist und weil die Atome dauernd in der Wärme schwingen.Fettsäureketten von einzelnen Molekülen in Lösung haben keine feste Gestalt(Abb. 3.1).

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran110

Abb. 3.1 Konformationen der (CH2)12-Kette,die durch Drehungen um C–C-Einfachbin-dungen zustande kommen. a) Links ist allesBenachbarte trans oder anti, in der Mitte undrechts liegen C6-C7 in der ekliptischen Formvor, aber alle C-Atome liegen noch in einerEbene. Aus solchen Konformeren bilden sich

leicht ringförmige Verbindungen (Cyclen).b) Die um 60� versetzte gauche-Form derC–C-Bindung (rechts) führt bei regelmäßigerWiederholung zu schraubenförmigen Konfor-mationen (links). Regelmäßige Verdrillungwird meist durch einheitliche chirale Kohlen-stoffatome erzwungen (siehe Seite 71 ff).

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Diese Beweglichkeit der Alkanketten, der Hauptkomponenten der BLM, führtzum Anschmiegen der Membran an die Oberflächen starrer Proteine, wie sichButter in die Poren einer Scheibe Brot einfügt.

Diese Fluidität hat einen tiefen biologischen Sinn. Sie ermöglicht es, dass Na-trium- und Kalium-Ionen vollkommen kontrolliert durch steife Rohre im In-nern der Proteine fließen, anstatt in statistischer Weise durch Bruchstellen derMembran nach außen zu gelangen. Die absolute Undurchlässigkeit der 5 nmdicken Strukturen für Metallionen beruht vorwiegend auf der Fluidität der tieri-schen und anthropogenen Membranen. Cellulose, Nucleinsäuren, Proteinfasernoder andere Biopolymere ohne Abdichtung mit fluiden BLMs taugen hingegenweder zur Stromerzeugung noch zum Aufbau langer Reaktionsketten innerhalbder wasserabweisenden Membran-Doppelschicht.

Berechnungen der Abstoßungskräfte, die zwischen den Elektronen nahe zu-sammenliegender Atome auftreten, und die Analyse von 1H-NMR Spektren, diebei verschiedenen Temperaturen aufgenommen wurden, zeigen, dass ekliptischeStellungen bei Alkanen je nach Größe der Substituenten 3–6 kcal/mol energie-reicher sind als die gestaffelten Stellungen. Zwar finden Rotationen über dieseEnergiebarrieren in jedem Alkanmolekül mehrfach in jeder Sekunde statt, dielängste Zeit aber schwingen die Substituenten nur um die energieärmsten Stel-lungen (glatte und schwach verdrillte anti-Stellungen) hin und her (Abb. 3.2).

Im festen Zustand, also unterhalb des Schmelzpunktes eines Kohlenwasser-stoffs und in dicht gepackten Zellmembranen, ist die Beweglichkeit der Alkyl-ketten drastisch eingeschränkt. Die Moleküle in den weichen Kristallen von

3.1 Fettsäuren 111

Abb. 3.2 Energiebarrieren bei der Rotationum die innere C–C-Bindung des Butans,CH3–CH2–CH2–CH3. Um die beiden end-ständigen Methylgruppen (–CH3) in eineekliptische Position zu bringen, werden

5 kcal/mol gebraucht. Die Wärmeenergie beiRaumtemperatur (27 �C, 300 K) beträgt nur0,6 kcal/mol. Die energiereiche Konformationtritt dort nur in nicht messbarem Anteil auf.

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Kohlenwasserstoffen verschieben sich zwar mechanisch leicht gegeneinander,die mehr oder weniger gestreckte Gestalt der Moleküle bleibt aber auch in but-terartigen Festkörpern über längere Zeiträume konstant. Thermodynamisch sta-bile Konformationen herrschen sehr stark vor, die Kohlenwasserstoffkette wa-ckelt nur um ein paar Grad um die energiearmen anti-Stellungen herum.

Aus einheitlichen Fettsäuren oder Estern können deshalb bei sehr langsamemAbkühlen einer Schmelze über mehrere Tage hinweg reine Kristalle aus voll-ständig gestreckten Molekülen erhalten werden. Am schnellsten aber bildensich aus langkettigen Fettsäuren und ihren Estern (Seite 125) schmierigeSchichten oder wässrige Gele.

Neben C–C-Einfachbindungen gibt es in den Fettsäureketten auch C=C-Dop-pelbindungen, die wir im Folgenden meist rot einzeichnen. Die Kohlenstoffato-me der Doppelbindung sind im Gegensatz zu den Tetraedern der Einfachbin-dungen planar: Kohlenstoff und seine drei Substituenten bilden nun einenzweidimensionalen Mercedes-Stern. Die C=C-Doppelbindung ist außerdemstarr, also nicht verdrehbar.

Diese C=C-Doppelbindung absorbiert UV-Licht mit Wellenlängen von200–400 nm (1 Nanometer, nm, = 10–9 m). Durch diese Energiezufuhr verwan-delt sich die neutrale Doppelbindung in eine „angeregte“ Einfachbindung, inder sich das Elektronenpaar der Doppelbindung auf eines der beiden Kohlen-stoffatome konzentriert. Dieses Kohlenstoffatom gibt leicht Elektronen ab, es istein starkes Reduktionsmittel. Das zweite Kohlenstoffatom wird gleichzeitig posi-tiv geladen und nimmt deshalb leicht Elektronen aus der Umgebung auf; es istnun ein starkes Oxidationsmittel. Das ist typisch für Doppelbindungen, die einLichtquant absorbieren: Der angeregte Zustand ist immer zugleich ein starkesReduktions- und ein starkes Oxidationsmittel.

Außerdem wandeln sich im angeregten Zustand cis- und trans-Diastereomereineinander um. Aus diesem Grund wird in diesem Buch die Doppelbindung rotgezeichnet. Das soll zeigen, dass Licht chemische Oxidations- und Reduktions-kräfte freisetzt und die zuvor doppelt gebundenen Atome beweglich macht. Nurdurch diese Doppelbindungen können Kohlenstoffketten Lichtenergie aufneh-men, speichern und als elektrische Energie abgeben (Abb. 3.3).

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran112

Abb. 3.3 cis-trans-Diastereomere des 2-Butens sindformstabil wie Mauersteine. Das ändert sich,wenn kurzwelliges UV-Licht die Elektronen ver-schiebt, dabei die Doppelbindung aufspaltet undLadungen erzeugt.

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Etwa 10 kg oder 40% der organischen Körpermasse des Menschen sind Esterder Palmitin-, Stearin- und Ölsäure. Werden diese Fettsäuren freigesetzt, solösen sie sich in Wasser kaum (0,2–0,7 g/L), sondern knäueln sich zusammenund schwimmen als schmierige Filme an die Wasseroberfläche. Palmitinsäureist der Hauptbestandteil des Kokospalmenfetts, Stearinsäure (griech. stear, „starr,fest“) bildet besonders harte Fettblöcke, Ölsäure ist bei Raumtemperatur flüssig.Solche Trivialnamen chemischer Verbindungen weisen, wie Sie sehen, auf denUrsprung oder irgendeine beliebige physikalische Eigenschaft der Moleküle hin,und sind deshalb leicht einzuprägen.

Die Palmitinsäure wurde mit viel Geduld bei niedriger Temperatur und völligerRuhe langsam aus Wasser auskristallisiert, was nur funktionierte, weil die end-ständige Carboxylgruppe zur Dimerisierung durch –C=OHO-Wasserstoffbrückenneigt. Dabei lagert sich das positiv geladene Proton der OH-Gruppe an das negativgeladene Sauerstoffatom der C=O-Gruppe eines zweiten Moleküls an. SolcheBrückenbildung sorgt im fettig-schmierigen Feststoff für eine Paarung und Vor-orientierung der Moleküle und begünstigt die Ausbildung der Kristallebenen(Abb. 3.4). Solche Fettsäure-Kristallebenen sind wegen der Beweglichkeit der(CH2)-Ketten, die zum Chaos führt, allerdings schon im Labor mit reinen, voll-kommen einheitlichen Fettsäuren schwer zu realisieren. In den Fettsäuregemi-schen der Natur treten Fettsäurekristalle niemals auf. In einem Stück Butter odereinem Stück Seife gibt es auch nach jahrelangem Stehen keine Kristallebenen,selbst wenn der Oberflächenschimmer und das Farbenspiel der Seifen das zuwei-len vortäuschen. Mehr als Nanometer-Kristallite gibt es da nie.

3.1 Fettsäuren 113

Abb. 3.4 Die gestreckte Konformation derCH3(CH2)14COOH-Kette der Palmitinsäurea) im Kristall, b) in der üblichen Darstellungals Strukturformel. Die trans-Doppelbindungder Elaidinsäure ändert die lineare Gestaltnicht.

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Fettsäuren werden wasserlöslich, wenn die OH–-Ionen von Natronlauge dieProtonen der –COOH-Gruppe als Wasser abspalten und negativ geladene Na-triumcarboxylate, CH3(CH2)nCOO–Na+, zurücklassen. Die über Wasserstoff-brücken dimerisierenden Fettsäuremoleküle verwandeln sich so in Seifenmole-küle, deren „Kopfgruppen“ einander abstoßen, während sich die unlöslichenKohlenwasserstoffketten in Wasser zu molekularen Mono- oder Doppelschich-ten zusammendrängen. Wegen der Ladungsabstoßung ist die entstehende Sei-fendoppelschicht stark gekrümmt: Die negativen Ladungen wollen auseinander-gehen, die Kohlenwasserstoffketten aber drängen sich zusammen. Diese gegen-läufigen Triebkräfte erzwingen kugelförmige Haufen oder „Micellen“ der Seifen-moleküle, die in Wasser prächtig löslich sind, weil ihre stark gekrümmteOberfläche viel Wasser aufnimmt. Daraus folgt ein Paradoxon, das typisch istfür „Amphiphile“, Moleküle mit einem wasserfreundlichen („hydrophilen“) Car-boxylatkopf und einem wasserfeindlichen („hydrophoben“) Kohlenwasserstoff-schwanz: Einzelne Seifenmoleküle sind sehr schlecht in Wasser löslich, ein Ag-gregat von 50–100 Molekülen aber löst sich wunderbar.

Um die micellare Kugel zu füllen, müssen sich die Kohlenwasserstoffkettenzu Knäuels bündeln, denn für gestreckte Ketten wird nach innen der Platz zuklein. Nur je eine einzige endständige Methylgruppe von 50–100 Molekülenkann zum Beispiel das Zentrum der Kugel ausfüllen! Die Knäuelbildung abersetzt die vollkommene Beweglichkeit der Ketten voraus. Tatsächlich ist das In-nere der Micelle ein nur sehr wenig viskoses, benzinartiges Öltröpfchen, daszusammen mit der polaren Kopfgruppenregion eine ausgezeichneter Lösungs-kraft für Fette, hydrophobe Farbstoffe und vieles andere hat.

Die Lösungskraft der Seifenmicellen wird vor allem in Waschmitteln genutzt.Dabei ersetzt man die Carboxylatgruppe meist durch Sulfatgruppen –SO3

–, weilCarboxylatseifen mit den Calcium-Ionen Ca2+ „harten“ Wassers ausfallen unddie Wäsche dann eher verschmutzen als reinigen. Fettschichten auf der Haut,Fett- und Farbflecken auf Hemd und Hose werden von den CH2-Ketten derwasserlöslichen Seifen unterwandert. Die Oberflächenladungen der entstehen-den Micellen verwandeln klebrige Flecke dann in wasserlösliche Tröpfchen.

Aber Seifenmicellen „waschen“ nicht nur, sondern sie töten auch Bakterien.Ihre Fettsäureketten mischen sich mit denen der Zellmembranen, durchlöchernsie und zerstören Membranpotenzial und -organisation. Seife bildet deshalb diebillige Grundlage jeder Hygiene: Sie macht Wasser auf einfachste Weise zumtödlichen Lösungsmittel für Mikroorganismen.

Unser Körperwasser (ca. 5 L Blut, 45 L Zell- und interstitielles Wasser) ver-meidet natürlicherweise größere Konzentrationen von Fettsäuren, weil die beipH= 7 daraus gebildeten Micellen die Zellmembranen auflösen würden. Diebeim Abbau der Fette entstehenden und ins Blut gelangenden Seifen werdendeshalb von der Leber und den Fettkörperchen („Adipocyten“) schnell auf-genommen, zu Fetten oder Lecithin „verestert“ (Seite 125) oder zu Kohlendioxidabgebaut (Seite 131 f).

Fettsäuren und Seifen bilden also im Volumenwasser Micellen, sammeln sichaber außerdem spontan auf der Wasseroberfläche als glänzender, mehrschichti-

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran114

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ger oder monomolekularer Film. Multischichten schimmern dabei in den Re-genbogenfarben wie Seifenblasen und werden farblos, wenn sie nach maxima-ler Ausbreitung die Dünnheit einer molekularen Monoschicht erreicht haben(siehe den nächsten Absatz). Solche Monoschichten lassen sich auch ohne mi-cellare Unterphase dadurch herstellen, dass man eine stark verdünnte Lösungder Fettsäure in Ethanol oder Chloroform auf Wasser tropft. Das Lösungsmittelverdunstet, die zurückbleibenden Fettsäureflecken können mit einer schwim-menden Barriere zu einer geschlossenen Monoschicht zusammengeschobenwerden (Abb. 3.5). Diese sieht wie eine molekulare Bürste aus: Die Carboxylat-Gruppe und ihre Gegenionen schwimmen auf der Wasseroberfläche, die Koh-lenwasserstoff„borsten“ weisen in die Luft. Aus der abgewogenen Seifenmengeund der Fläche der erzeugten Monoschicht lässt sich eine Fläche von etwa0,2 nm2 und ein Durchmesser von 0,45 nm pro Seifenkette berechnen. Die mo-lekulare Monoschicht ist mit bloßem Auge als matt schimmernder Fettfilm zuerkennen und kann durch einfaches Eintauchen eines festen Gegenstands(Glas, Metall) auf diesen übertragen werden.

Bläst man Luft in eine Seifenlösung, so bildet sich um die Luftblase keine Mo-noschicht, sondern eine molekulare Doppelschicht aus. Die Natrium- und Carbox-ylat-Ionen bleiben in einer zentralen Wasserschicht, die wasserunlöslichen Alkyl-ketten zeigen auf die inneren und äußeren Luftvolumen. Zuerst liegen hundertesolcher Schichten übereinander. Bei zehn Doppelschichten ist die Seifenblasen-

3.1 Fettsäuren 115

Abb. 3.5 Eine rechteckige Schale wird mitWasser halb gefüllt. Ein genau vermessenesVolumen (z.B. 200 �L) einer Lösung genaubekannter Konzentration (z.B. 100 mg/L)eines Amphiphils wird aufgetropft. DasLösungsmittel (z.B. Ether) verdampft undzurück bleibt eine Monoschicht, derenMolekülzahl man weiß und die, wenn manalles richtig gemacht hat, kleiner ist als dieOberfläche des Trogs. Diese bedeckte Flächemuss man noch genau vermessen, um den

Durchmesser des Moleküls berechnen zukönnen. Dazu taucht man eine beweglicheBarriere in die Oberfläche des Wassers, dievon einem Motor langsam verschoben wirdund die Wasseroberfläche kontinuierlich so-lange verkleinert, bis die durchbrochene Mo-noschicht geschlossen ist. Dieser Effekt istmit bloßem Auge sichtbar und außerdem amschlagartig steigenden Bremsdruck der Bar-riere erkennbar: Der Motor muss von nun anMolekülschichten übereinander schieben.

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haut etwa 400–500 nm dick, was der Wellenlänge sichtbaren Lichts entspricht.Das Licht wird an den Oberflächen des Fettsäurehäutchens reflektiert und eskommt zu Auslöschungen mit dem eintreffenden Licht („Interferenzen“): diemultischichtige Haut der Seifenblase schillert in den Farben des Regenbogens.

Lässt man die Seifenblase aber stundenlang in einem staubfreien Raum aufeinem Ring stehen, so fließt das Wasser nach unten und bildet einen Tropfenam Fuß der Seifenblase. So dünnt sich deren Haut solange aus, bis sie nurnoch zwei Moleküle dick ist. Hält man eine schwarze Pappe hinter die Blase,so bleibt diese tiefschwarz; alle farbigen Interferenzen sind verschwunden. Mannennt deshalb die BLM nicht nur bilayer lipid membrane, sondern auch black li-pid membrane. Im Zwischenraum der molekularen Doppelschicht bleibt einekonzentrierte wässrige Salzlösung erhalten, die jahrelang stabil ist.

Der Dampfdruck der gesättigten Salzlösung im Zentrum der molekularen Dop-pelschicht ist extrem niedrig. Auch die Salzlake am Grund der Seifenblase trock-net nicht vollständig aus, solange die umgebende Luft einigermaßen feucht ist.Das wenige von der großflächigen inneren Schicht verdampfende Wasser wirdaus dem Tropfen am Boden ersetzt. Das Ensemble aus hydrophober Wand undSalzlake ist vollkommen undurchlässig für Luft, die Seifenblase bleibt jahrelang

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran116

Abb. 3.6 Querschnitt durch eine Seifenblase mit Ausschnitt-vergrößerung. Das Wasser der Innenschicht verdampft nicht,obwohl die Membran durchlässig ist.

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metastabil, obwohl der Luftdruck in der Blase höher ist als der äußere Luftdruck.Trifft allerdings ein Staubkorn die Blase, platzt sie sofort. Eine Selbstreparatur wiebei den wassergefüllten Vesikelmembranen (Seite 137) findet nicht statt.

„Metastabil“ bedeutet, dass ein die Organisation einer komplexen, zerbrech-lichen Struktur unter geeigneten Bedingungen viele Jahre lang existiert, bei kri-tischen äußeren Einwirkungen aber sofort zerfällt. Alle biologischen Organis-men sind metastabil gegenüber Temperaturschwankungen von mehr als 100 �C,Säuren und Basen in Blut und Zellwasser, mechanischen Kräften mit Messer-schärfe oder Hammerwucht, elektrischen Strömen, zu niedrigem und zu ho-hem Luftdruck und anderen Faktoren (Abb. 3.6).

Ersetzt man das kleine, harte Natrium-Ion der Seifenblasen durch organischeAmmonium-Ionen, dann integrieren sich die Ionen in benachbarte kleinere Sei-fenblasen und es entstehen stabile Schäume. Seifenschaum aus Stearinsäuremit Triethylethanolammonium, (C2H5)3N+-CH2CH2OH, als Gegenion und et-was Natriumdodecylsulfat, CH3(CH2)11OSO3Na, als Lückenfüller an Ecken ho-her Krümmung ist als Rasierschaum unübertrefflich: billig und glatt. Gleichesgilt für die positiv geladenen Seifen mit Tetraalkylammonium-Endgruppen an-stelle der negativ geladenen Carboxylate. Sie kleben sich als glänzende Mono-schicht auf das negativ geladene Keratin der Haare. Stumpfes altes Haar glänztdann wie der Fettfilm auf einem geputzten Schuh und die ultradünne Ölschichttrennt die aneinander klebenden Haare. Volumen kommt auf, die Fülle der gro-ßen Frisur entsteht (Abb. 3.7).

3.1 Fettsäuren 117

Abb. 3.7 a) Nackte Haare mit negativen Oberflächenladungenaus der Glutaminsäure der Haarproteine. b) Invertseifen be-seitigen die negativen Oberflächenladungen der Haut- undHaarproteine und legen eine Ölschicht von molekularer Dicke(3 nm) darüber. Das Haar wird „voluminös“, weil Salz- undWasserstoffbrücken es nicht mehr verkleben.

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Die fettigen Oliven des Mittelmeerraums konnten mit der Stearinsäure nichtsanfangen. Deren Schmelzpunkt von + 69 �C ließ Zellmembranen an kalten Ta-gen erstarren, sie wurden hart und leblos. Daraufhin entzog die Evolution dengesättigten C18-Ketten der Oliven im Zentrum zwei Wasserstoffatome und form-te so zwei tetraedrische Methylengruppen, C–CH2–C, in planare Methingrup-pen, –CH=, um. Ölsäure mit einer cis-Doppelbindung im Innern war entstan-den und der Schmelzpunkt auf –36 �C abgesenkt. Olivenöl würde in kaltenNächten oder im Kühlschrank nie mehr erstarren, weil die CH2-Ketten nunlinks und rechts von der zentralen, cis-konfigurierten CH=CH-Gruppierung freirotieren und jede Menge gekrümmte Formen erzeugen konnten. Eine trans-konfigurierte Doppelbindung zeigt diesen Effekt nicht, weil sie sich in das anti-Muster der CH2-Ketten ohne Störung einfügt (Abb. 3.8).

Auch alle ungesättigten Fettsäuren der Humanmilch enthalten ausschließlichcis-Doppelbindungen, die eine starre Doppelschicht aus gesättigten Fettsäurensehr stark auflockern, fluidisieren, beweglich machen. Das ist vor allem für diedurch die Kapillaren des Blutkreislaufs strömenden Erythrocyten (siehe Seite289) wichtig. Elastizität ist für jeden Lösungs- und Transportprozess in Zell-membranen absolut notwendig und spielt insbesondere im lipidreichen Gehirnund Nervensystem eine dominierende Rolle.

Neben der allgegenwärtigen Ölsäure mit einer cis-Doppelbindung im Zent-rum finden sich mehrfach ungesättigte Fettsäuren (PUFAs) in fluiden Lipidmo-dulen des Körpers, insbesondere in Neuronen, Muskeln und Erythrocyten.Quantitativ sind die PUFAs im Menschen von untergeordneter Bedeutung,ihr Anteil liegt wohl immer unter fünf Gewichtsprozent. Qualitativ sind diePUFAs, zwei- bis sechsfach ungesättigte Fettsäuren aus Leinensamen (Leinöl;

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran118

Abb. 3.8 Beweglichkeit der Kohlenwasserstoffkette um cis-Doppelbindungen herum.

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Linolensäure) und Fischölen (Eicosapentaensäure, EPA, und Docosahexaensäu-re, DHA) unverzichtbar.

Hier muss zunächst auf eine Besonderheit der Namensgebung der PUFAseingegangen werden, damit Zeitungsberichte verständlich werden. Die gängigeZählweise der Chemiker zur Lokalisierung der Doppelbindung geht von derCarboxylatgruppe aus. Dessen Kohlenstoffatom erhält die Zahl 1, die Doppel-bindung der Ölsäure ist dann zwischen C-9 und C-10. (Ölsäure ist dieC-18 :1,(n-9)-Carbonsäure). Bei Nahrungsfetten hat sich aber seit etwa 1980 diegegenläufige �-Zählung eingebürgert, bei der der endständigen Methylgruppedie Nummer 1 zugeordnet wird. Ölsäure ist dann eine �-9-Säure, weil ihre Dop-pelbindung gerade in der Mitte der Kohlenstoffkette liegt, Linolsäure ist eine�-6-Säure, Linolensäure, EPA und DHA sind �-3-Säuren (siehe Abb. 3.16). DieZahl gibt an, wo die erste Doppelbindung vom �-Ende aus gesehen lokalisiert ist.

Viele Pflanzen, vor allem Gräser, bilden die �-6-Linolsäure mit zwei und die�-3-Linolensäure mit drei cis-Doppelbindungen. Letztere ist die einzige �-3-Säureaus Landpflanzen und besonders das Leinöl ist reich daran (50–60%). Das inNordeuropa und Nordamerika heimische Leinöl (engl. linseed oil) ist dem Fischölgleichwertig, denn unser Körper macht die C20-Fettsäure EPA nötigenfalls selbstaus Linolensäure. Man muss dafür nicht gleich den Pazifik leer fischen.

Schon die ersten europäischen Bauern wussten, dass man mit Leinöl alt wird.Sie pflanzten in Griechenland wie in Deutschland Leinen an, pressten das Ölbehutsam aus und behandelten es vorsichtig. Allerdings kann man mit mehr-fach ungesättigten Fettsäuren weder kochen noch braten, weil sie sich beim Er-hitzen in einen ungenießbaren polymeren Firnis verwandeln. Das Bauernlebenim selbst angelegten Gräserfeld machte in früher Zeit den Menschen abhängigvon essenziellen Fettsäuren aus Pflanzen. Der Körper konnte die Stoffe hinfortnicht mehr selbst produzieren.

Das war nicht problematisch, solange das Leinöl zur Verfügung stand. Kri-tisch wurde die Lage erst, als der Bauer sich auf die Wiederkäuer und dieHühner als Nahrungsquelle einließ, denn die Fettsäuren aus den von Kühenwiedergekäuten Gräser und von Hühnern gepickten Körnern gingen nicht etwaunverändert in die Kuhmilch, den Rinderbraten oder das Eigelb über. Das be-queme Federvieh des Nordens und seine trägen Kühe hydrieren vielmehr alleDoppelbindungen und erzeugen ausschließlich gesättigte Fettsäuren in Eigelb,Milch, Butter, Käse und Fleisch, obwohl ihre Körner- und Grasnahrung viel Un-gesättigtes enthält. Amerikaner und Europäer verlieren deshalb sieben bis zehnJahre ihres Lebens und geben Milliarden für Herzinfarkte und Ähnliches aus,was den Fisch essenden Japanern und anderen Insulanern erspart bleibt. DieFische nämlich leben in kaltem Wasser und schwimmen unentwegt. Sie brau-chen die ungesättigten Fettsäuren, die sie aus Wasserpflanzen aufnehmen.

Die einzige reale Chance, kostengünstig alt zu werden, ist der gewohnheits-mäßige Verzehr von Leinöl. Für Fischöl sind wir einfach zu viele: Für Japaner,Kreter und vielleicht noch ein paar andere Inselbewohner mag es reichen, wennwir uns aber alle auf den Fischfang im lebensrettenden Ausmaß stürzen, rottenwir die Fische aus (Abb. 3.9).

3.1 Fettsäuren 119

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Das Problem des „Zuviel“ an gesättigten Fettsäuren ist physikalischer Natur:Die Säuren sind im Verbund der Zellmembran allein zu steif, verderben diePlastizität der Erythrocyten (Seite 289), erhöhen die Viskosität des Bluts undfördern den Herzinfarkt.

Chemisch aber sind sie auf ideale Weise unreaktiv oder „inert“. Beim Kochenund Braten sind es die mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die zu Problemendurch Radikalbildung und Polymerisation führen. Linolensäure reagiert mitOxidationsmitteln wie Sauerstoff und bildet instabile Moleküle mit einem ein-zelnen Elektron, also Radikale (siehe Seite 15 und 262). Das Oxidationsmittelspaltet ein Wasserstoffatom ab und lässt ein Elektron der C–H-Bindung zurück.Dieses einzelne Elektron hält sich gleichzeitig auf allen Kohlenstoffatomen derfünf benachbarten CH-Gruppen auf. Diese Verdünnung der Dichte des unge-paarten Elektrons („Resonanzstabilisierung“) macht es langlebig und lässt es al-le möglichen, oft folgeschweren Reaktionen eingehen (Abb. 3.10).

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran120

Abb. 3.9 Das Fett im Fleisch der Kuh und in ihrer Milch istnicht das Fett, das die Kuh im Gras vorfindet. Das Vieh lässtnur die Doppelbindung der Ölsäure unbeschädigt, alle PUFAs(siehe Text) werden vollkommen hydriert.

Abb. 3.10 Die CH2-Gruppe reagiert extrem schnell mit Sauer-stoff und anderen Radikalen. Dabei spielt es keine Rolle, obsie neben einer cis- oder einer trans-konfigurierten Doppelbin-dung steht.

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Im Laufe von Stunden wird nach einer Kaskade von Radikalreaktionen ausder flüssigen Linolensäure ein fester Lack. Maler nutzen diese Firnisbildung inder Ölmalerei: Sie verreiben ihre Pigmente in Leinöl, malen ein „Ölgemälde“und warten. Innerhalb von Tagen verfestigt sich ihr Bild, das Öl ist „trocken“geworden. Die Linolsäureradikale haben sich unter der Wirkung von Licht, Sau-erstoff und radikalischen Metalloxiden aus den Farben zu einem polymeren Fir-nis vernetzt. In der Küche sollten wir es halten wie die ersten Bauern: Leinölnicht erhitzen! In Magen und Darm wenigstens wird die Firnisbildung aus Li-nolensäure durch biologische Reduktionsmittel wie Ascorbinsäure und VitaminE zuverlässig verhindert (Abb. 3.11).

Leinöl ist mit 50% Linolensäure die beste europäische Quelle für die �-3-Li-nolensäure. Die Mais-, Sonnenblumen- und Rapsöle der Europäer und Ame-rikaner oder das Sesamöl der Inder und Afrikaner enthalten viel zu viel�-6-Linolsäure, die der menschliche Körper nicht in die Linolensäure verwan-deln kann. Aber sie bilden die Quellen der miesen Fast-food-Fette. Ihre Folge-produkte im Immunsystem des Bluts machen junge Menschen anfällig undtöten Alte (siehe Seite 123). Störend am Leinöl ist ein bitterer und etwas pene-tranter Nachgeschmack, der die allgemeine Anwendung als Nahrungsfett bishereinschränkt. Europäische und amerikanische Bauern haben nicht versucht, wasden Bauern im Mittelmeerraum selbstverständlich war, nämlich ihre wichtigsteFettquelle genießbar zu machen. Stattdessen haben sie sich im Schlepptau derFranzosen mit dem Butteraroma angefreundet, das auf dem Nachgeschmackder Fettsäuren mit kurzen Alkankette, insbesondere C6 und C8 beruht (Seite110 f). Was aus dem Olivenöl eine beliebte Delikatesse machte (Extraktion derBitterstoffe), sollte auch mit dem Leinöl in angemessener Weise möglich sein.Der Schutz vor Firnisbildung ist ein kleines Problem: Essen Sie das Öl einfachroh auf einer Scheibe Brot! Die fade und bittere Ranzigkeit des physiologisch

3.1 Fettsäuren 121

Abb. 3.11 Das „Öl“ der Ölmalerei ist Leinölmit vielen Radikal bildenden „allylischen“CH2-Gruppen neben Doppelbindungen(–CH2-CH=CH–CH2–). An der Luft polymeri-siert das Öl zu festem Firnis, indem die un-

gepaarten Elektronen neue C–C-Bindungenausbilden („Quervernetzung“). Metallionender Ölfarben mit einem ungepaarten Elekt-ron („Radikale“, z.B. Kupfer, Cu2+, Eisen,Fe3+) beschleunigen die Firnisbildung.

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hervorragenden Leinöls ist auch leicht durch einen Tropfen Honig oder etwasTomaten- oder Fleischhaltiges zu überdecken.

Ein seit Jahrzehnten andauernder Lebensmittelskandal ersten Ranges ist„Diätmargarine“. Dieser Skandal wird weder von Testjournalen noch von euro-päischen und amerikanischen Politikern und Verbrauchern zur Kenntnis ge-nommen. Lediglich Wissenschaftler und die Präsidentin der amerikanischenFettgesellschaft rümpfen die Nase. Diese Margarinesorten enthalten praktischausschließlich trans-Fettsäuren. Damit können sie zwar ebenso wie das Leinölverharzen, aber sie sind leider völlig wertlos beim Aufbau biologischer Membra-nen und Immunstoffe. Der lächerliche „Vorteil“ der trans-Fette heißt „butter-ähnliche Streichfähigkeit“. Nützliche Fette sind immer flüssig!

Die Linolensäure mit drei cis-Doppelbindungen und den vier allylischen Schar-nieren vermittelt den Membranen eine wunderbare Geschmeidigkeit und ist einSegen für den Fluss der Erythrocyten durch dünne Blutkapillaren (Seite 289) unddie Schmierung der Retinaporen, wenn sie Lichtsignale in Stromstöße verwan-deln. Die trans-Fettsäuren der Pflanzenmargarinen haben nur Nachteile und wer-den durch irreführende Werbekampagnen schön geredet. Auf der Verpackung vonDiätmargarinen werden Sie den guten Namen Linolensäure nie finden, weil sieschlicht nicht enthalten ist. Stattdessen faselt man von „edlen Speisefetten“. DieVersorgung der Menschheit mit Bioschrott sollte unterbunden, dafür aber die Ver-sorgung mit Linolensäure über Leinöl sichergestellt werden. Dabei ist jede Formder Zubereitung erlaubt und erwünscht, die die geschmackliche Zustimmung derMenschen findet, wenn nur die Struktur des Moleküls unangetastet bleibt. Che-mische Namen sind ehrlich und klar; suggestive Erfindungen der Werbung sindehrlich, aber irreführend. Sie nutzen den Lieferanten und der Lagerfähigkeit, kos-ten aber Milliarden gesunde Lebensjahre der Menschen.

Worauf beruht, elementar physikalisch und chemisch betrachtet, der Nutzender PUFAs, der ungesättigten, cis-konfigurierten Fettsäuren? Erstens vermittelnsie Zellmembranen die nötige Flexibilität, um eingelagerte Proteine abzudich-ten und unkontrollierten Ionentransport zu unterbinden. Da die PUFAs che-misch anfällig sind, aber besonders an chemisch aktiven Zentren wie der Netz-haut und den Ionengängen von Hirn und Nerven gebraucht werden, müssensie dauernd ersetzt werden. Den größten Bedarf haben wohl dabei die rotenBlutkörperchen, die Erythrocyten, die alle drei Monate sterben und neu entste-hen. Nur die PUFAs ermöglichen den Erythrocyten sich durch die engen Kapil-laren des Knochenmarks und des Gehirns zu winden. Im Prinzip weiß mandas schon lange. Empfohlen wurde deshalb gewöhnlich die Linolsäure, eine�-6-Säure zum Beispiel aus Sonnenblumen- und Maiskeimöl.

Ein zweiter, die �-6 Säuren als lebensbedrohend entlarvender Befund hingegenist allzu lange in medizinischen Fachblättern vergraben geblieben. Mehrfach un-gesättigte Fettsäuren erzeugen Prostaglandine, Leukotriene und Thromboxane,die im Immunsystem des Bluts auf alle Arten von Entzündungen reagieren.Die Abkömmlinge der �-6-Säuren, insbesondere der Linolsäure, wirken dortschnell und rabiat – was vielleicht nützlich für junge Menschen ist, die Krankhei-ten schnell los werden wollen, aber riskant und oft tödlich bei Alten, bei denen

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran122

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Entzündungsherde vor allem die Blutgefäße verstopfen. Die entsprechenden�-3-Säuren aber sind langsam und schonend; im Alter soll man es eben „lang-samer angehen lassen“ („walk slowly“, wie der Amerikaner sagt). Kreter und Japa-ner haben mit ihrer frischen Meereskost, den �-3-Fettsäuren der Fische, erstensbessere Gefäße und gehen zweitens sanfter mit ihnen um, wenn sie schließlichauch altern und von Entzündungen befallen werden. Ziehen sie von ihren Inselnfort in die weite Fast-food-�-6-Welt, verspielen sie diesen Vorteil und sterben sofrüh wie alle anderen. Die wohl einzig klare Diätvorschrift, die zur Verlängerungdes Lebens führt, heißt daher: Sorge für �-3-Fettsäuren. Für Festlandsbewohnerbedeutet das: Kümmere dich um unverletzte Linolensäure aus frischem Leinöl(Abb. 3.12).

Neurologen behandeln Schlaganfälle im Gehirn, Kardiologen kümmern sichum Herzanfälle und Nephrologen um Durchblutungsstörungen der Niere. We-sentlich sind für alle drei fettige Ablagerungen an Gefäßwänden. Man ist so altwie seine Blutgefäße, heißt es zu Recht. Sklerotische Herz- und Nierenarterienmachen sehr alt und führen eher zu Herzinfarkt und Nierenversagen als zu einerHirnblutung. Pharmaka, die den Blutdruck senken, verbessern die Symptome,aber nicht den Blutstrom, mehrfach ungesättigte cis-Fettsäuren und körperlichesTraining aber sorgen für geschmeidige Gefäße und Erythrocyten (Seite 289).

Fluide Membransegmente, gleichbedeutend mit cis-konfigurierten Fettsäuren,finden sich überall dort, wo schnell aufeinander folgende Reize verarbeitet wer-den. Der Kontakt von Tieren mit dem Sonnenlicht ist in der Retina, gleich hin-ter der Augenlinse, konzentriert. Die Zellmembranen dort sind reich an mehr-fach ungesättigten cis-konfigurierten Fettsäuren (�50%). Geier hacken deshalbdem Aas zuerst die Augen und den Sehnerv aus, um an die kostbaren �-3-Fett-

3.1 Fettsäuren 123

Abb. 3.12 �-6-Eicosansäure ist die Quelle der schnellen Agenziendes Immunsystems; das �-3-Gegenstück EPA erzeugt die schonen-den Analoga mit einer zusätzlichen cis-Doppelbindung.

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säuren (Linolensäure, EPA und DHA) zu kommen. Danach tauchen sie ihrenSchnabel in das offene Maul des Kadavers und holen sich über den Nahrungs-trakt mit ihrem langen Hals die inneren Organe, die die gleichen beweglichenFettsäuren anreichern. Das Licht sammelnde System der Retina ist übersät mitallylischen –CH2–CH=CH-Gruppen, weil die Fluidität der Membranen nirgend-wo nötiger ist als bei der Aufnahme der Flut von Lichtquanten und ihre Umfor-mung in Membranströme. Ein Retinaareal mit einer Oberfläche von einemQuadratzentimeter ist deshalb mit tausend Milliarden Molekülen gepflastert,die Membranporen öffnen und schließen (Kapitel 7).

In Pflanzen wird Wasser durch Sonnenlicht zu Wasserstoff und Sauerstoffzersetzt, was erstens eine ähnlich schnelle Prozessführung und zweitens einenSchutz der Linolensäure vor dem bei der Photosynthese entstehenden aktivenSauerstoff erfordert. Gräser und Blätter drehen ihre Oberfläche der Sonne zuund stehen in einer Sauerstoffatmosphäre. Dieses Verhalten und diese Umweltprovozieren geradezu einen schnellen Tod durch Verlackung der Zellmembra-nen, durch Firnisbildung aus Linol- und Linolensäure. Man möchte den Pflan-zen raten, auf gesättigte Fettsäuren umzurüsten wie es die Kühe und Menschentun. Dann aber würden die Zellmembranen der Blätter jedem Temperatursturzin der Nacht erliegen. Kein Baum kann sich den Luxus einer „Standheizung“leisten. Dazu reichen die am Tag angesammelten Energieträger nicht aus, dienur wenig Substanz zum Veratmen liefern.

Tatsächlich überleben die ungesättigten Fettsäuren Sonnenlicht und Sauer-stoff problemlos, weil Pflanzen wie alle biologischen Gewebe stark reduzierendwirken. Radikale werden von Zuckern und ihren metabolischen Produktenschnell weggefangen. Weder der Sauerstoff noch die Chlorophyll-Moleküle kom-men in Kontakt mit den allylischen CH2-Gruppen, den unentbehrlichen beweg-lichen Scharnieren in den PUFAs. Wenn Pflanzen einen Sommer lang mit Li-nolensäure so gut leben, muss es auch möglich sein, flüssige Linolensäureöleaufs Brot zu geben.

Wir begegnen hier einem sehr typischen Dilemma der Bio-Logik: Die moleku-laren Maschinenteile der Natur fallen ständig den in ihnen ablaufenden Prozes-sen zum Opfer. Die Beweglichkeit der Kette der ungesättigten Fettsäuren ist Vo-raussetzung für den Transport des Sauerstoffs im Blut und die Verarbeitungvon Lichtsignalen – alles hängt an der Beweglichkeit von Methylen-Scharnierenneben cis-Doppelbindungen. Andererseits ist dieses Scharnier extrem anfällig,weil es neben elektronenreichen Kohlenstoffatomen liegt, die die relativ schwacheC–H-Bindung der Oxidation durch Sauerstoff preisgeben. Die Doppelbindungselbst kann mit dem Sauerstoff-Biradikal wenig anfangen, aber die aktivierteCH2-Gruppe kann Hydroperoxide, –CH–O–OH, bilden, Wasser abspalten und da-mit zu C=O „ketonisieren“. Damit ist das Scharnier dann so unbrauchbar wie einfestgebackener Kolben im Automotor. Geschmeidige Teile einer Maschinemüssen dauernd gepflegt, das verbrauchte Schmieröl muss ersetzt werden.

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran124

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3.2Fette

Lecithin, Sphingosin, Fett und Cholesterin bezeichnet man zusammenfassendals Lipide (griech. lipos, „Speck“). Das sind Verbindungen, die in Wasser völligunlöslich sind, aber von Chloroform oder Ether aus totem biologischem Gewe-be leicht extrahiert werden, während Kohlenhydrate und Proteine zusammenmit anorganischen Salzen zurückbleiben.

Das Gehirn, das die Bilder der Umwelt gestochen scharf und zeitaufgelöst lie-fert, das Gedanken und Gefühle aus dem materiellen Nichts erzeugt, bestehtvor allem aus ultradünnen „Speckschichten“ besonderer Art, nämlich aus phos-phorylierten Wasserkanälen. Das Material dieser Kanäle ist vor allem Sphingo-sin (abgeleitet von Sphinx, gemeint ist das Rätselhafte); das der Zellmembranender Körperzellen heißt Lecithin (griech. lekithos, „Eidotter“). Beides sind phos-phathaltige Ester der Fettsäuren.

Nennenswerte Mengen an freien Fettsäuren gibt es beim Menschen nur aufder Hautoberfläche, wo sie den pH-Wert niedrig halten und damit Mikroorga-nismen abwehren. Im Rest des Körpers gibt es nur Ester der Fettsäuren mitwasserlöslichen Alkoholen, meist Glycerin, Acetylcholin oder Glucose. Diese Al-kohole addieren sich an die Carboxylgruppen –COOH, der Fettsäuren, wobeiein Molekül Wasser abgespalten wird (Kondensation). Der entstehende Ester isthydrophob. So kam auch der Name „Ester“ zustande: Schon der „Essigether“(Essigsäureethylester) aus den mit Wasser vollkommen mischbaren Komponen-ten Ethanol und Essigsäure schwimmt auf Wasser und bildet zwei Phasen wiedas Lösungsmittel Diethylether, C2H5–O–C2H5.

Für die unverzichtbaren, membranbildenden Lipide mit Phosphat oder ande-ren Kopfgruppen gibt es einen massenhaft vorkommenden Vorratsstoff ohnesolche Gruppen, das Fett. Es sitzt als Wärme-, Energie- und Rohstoffspeicher inFettzellen (Adipocyten) und ist funktionell kaum von Bedeutung, wohl aber aus-gesprochen problematisch im täglichen Leben.

Drei Hauptquellen speisen den Strom der Fette mit gesättigten Fettsäuren inNahrungs- und Reinigungsmitteln. Das sind erstens tropische Kokosnüsse, indenen C12- und C14-Säuren vorherrschen, und zweitens, quantitativ viel bedeu-tender, europäische und amerikanische Kuhmilch mit viel C16-, weniger C18-und einem Gemisch kürzerer Ketten und drittens Eigelb mit wenigstens 40%C18. Die aus diesen Quellen stammenden gesättigten Fette und das Lecithindes Eigelbs bilden in der Kälte perlartig schimmernde Haufen von Mikrometergroßen Kristalliten, die zum Namen Margarine geführt haben (griech. marga-rin, „Perle“). Kokospalmen gedeihen nur in den Tropen. Das Kokosfett erstarrtbei den niedrigen Temperaturen des Nordens. Pflanzliche Zellen ohne ungesät-tigte Fettsäuren sterben in kalten Nächten schnell (Abb. 3.13).

Butterfett (Seite 129) enthält 23% Palmitinsäure, 19% Ölsäure und 12% Stea-rinsäure. Das ist nichts Besonderes und würde sie nicht zur Delikatesse unterden Fetten mit ihrem berühmten Mundgefühl (amer. mouth feeling) machen.Dafür ist die zweite Hälfte aus wenigstens 14 Fettsäuren mit 4–18 Kohlenstoff-

3.2 Fette 125

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atomen verantwortlich. Neben dem wohligen Gefühl an den Schleimhäuten ver-mittelt die Butter, wie alle Fette, dem Magen ein Sättigungsgefühl. Das liegt da-ran, dass die Fette sich kaum mit Wasser mischen (ca. 20 g pro Badewanne),nur langsam abgebaut werden („liegen“ im Magen) und außerdem ihr Kalorien-gehalt etwa doppelt so hoch ist wie der der Glucose. Fette werden in den Mito-chondrien der Zellen, insbesondere auch denen des immer sehr aktiven Herz-muskels mit Sauerstoff oxidiert (Seite 282), wobei erst Essigsäure, dann Kohlen-dioxid entsteht.

11C-markierte Palmitinsäure (Halbwertszeit 23 min) strahlt Positronen (Seite52) ab und reichert sich im Myokard, im Herzmuskel an. Das ist der Fall, weilFettsäuren besonders viel Energie liefern, die im menschlichen Körper vor al-lem zum Betrieb des Herzens gebraucht wird. Für den gewaltigen Energiebe-darf des Herzmuskels sind die Fettsäuren gerade richtig; die Proteine des Herz-muskels müssen dann allerdings die Reaktionen mit molekularem und atoma-rem Sauerstoff (Seite 282) ertragen.

Für das Gehirn hingegen sind sowohl atomarer Sauerstoff und als auch Radi-kale unerträglich. Es beschränkt sich deswegen auf die sanftere Glycolyse derGlucose zur Energiegewinnung (Seite 76).

Europäer und Amerikaner sollten über das Fett der Kühe und Hühner Be-scheid wissen, das über Fleisch, Milchgetränke, Speiseeis, Käse, Mayonnaise,Butter und viele darauf beruhende Produkte den Fettmarkt dominiert.

Im Gegensatz zum einhöhligen Menschenmagen für unverdauliche Kost sinddem Kuhmagen drei Vormägen zugeschaltet, die nach einiger Vorverdauungdas Futter ins Maul zurückbefördern („Wiederkäuer“), wo andauerndes Kauendie Cellulose weiter zermahlt. Eine Kuh zermahlt das Gras mit 40 000 Kaubewe-gungen am Tag, womit sie den Menschen mindestens hundertfach übertrifft. Da-bei geht es weniger um die katalytische Effektivität der Cellulasen, die die Glucose

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran126

Abb. 3.13 Fettstruktur: Hier zwei ein-heitliche, synthetische Fette oder Tri-glyceride – links mit zwei Stearinsäu-ren und einer Ölsäure in der Mitte,rechts mit zwei Hexyl- und einer De-cylsäure-Kette. Solche synthetischenFette lassen sich kristallisieren. Biolo-gische Fette enthalten im Zentrumoft eine ungesättigte cis-Fettsäure undandere Fettsäuren in statistischer Ver-teilung. So etwas kristallisiert nie.

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der Cellulose für die Kuh freisetzen, als vielmehr um das unermüdlich-mecha-nische Zerreiben unlöslicher Fasern. Zusätzlich sorgen die 8 kg Mikroorganis-men der Vormägen für einen sehr hohen Eiweiß- und Mineralgehalt der Milch.Sie erzeugen aus der Glucose die gesättigten Fettsäuren; dabei benutzen siezwar die ungesättigten Fettsäuren der Gräser für sich selbst, liefern aber Protei-ne, Mineralstoffe und Vitamine mikrobiologischen Ursprungs. Kuhmilch ist we-gen der ewigen Wiederkäuerei besser mit Proteinen, Calcium und Phosphatausgestattet als Muttermilch, aber die Linolensäure ist weg. Ein Kalb schafft es,sein Geburtsgewicht von 35 kg bereits nach 45 Tagen zu verdoppeln und ist da-mit erstens dreimal so schnell wie ein Baby und zweitens zehnmal so schwer.

Das zentrale Nervensystem des Menschen entwickelt sich langsamer als das derKuh, weil die menschliche Großhirnrinde mehr Erfahrungen, Fähigkeiten undWissen aus dem Erbe der Vorfahren speichern muss als das der Kühe, die sichauf einige zweckmäßige Reaktionen auf die Umwelt beschränken. Wir lassenuns Zeit für eine lange Jugend, in der unsere Wasserkanäle sprechen, singenund differenziert sehen, denken und fühlen lernen. Zwischen dem Gehalt derMilch an Eiweiß für den Aufbau und die Funktion der Muskeln und Phosphatfür Gehirn, Nerven und ATP einerseits und der Wachstumsgeschwindigkeit vonNeugeborenen andererseits bestehen enge Beziehungen. Muttermilch trägt demvorhersehbar langsamen Wachstum Rechnung. Das Neugeborene wiegt 3,5 kg,verliert erst 10% davon und verdoppelt dann sein Gewicht nach 150 Tagen.

Milch ist eigentlich ein Sekret des Muttertiers, das unter natürlichen Bedingun-gen nur so lange gebildet wird, bis die Jungen sich an die Umwelt angepasst ha-ben und selbstständig werden. Bei hochgezüchteten Milchkühen aber durch-strömen 10 000 L Blut die Milchdrüsen, und ihre Sekretion kann durch fortlaufen-de Milchentnahme über fast beliebig lange Zeiträume aufrecht erhalten werden.

Die Drüsenzellen dieser Zuchttiere sind extrem reich an Mitochondrien unddas ATP setzt dort 4100 kcal am Tag frei. Die Milchdrüsen einer Kuh haben et-wa den gleichen Energieverbrauch wie zwei erwachsene Menschen. Die Produk-tion der fünf Billionen (5�1012) Fettkügelchen in einem Liter Milch hängt di-rekt mit der Glycolyse (siehe Seite 76) in den Vormägen zusammen und sinktbeim Ausbleiben von Futter steil ab. Ein erwachsener Mensch setzt 2500 kcalam Tag um, eine Kuh braucht 10 000 kcal zum Überleben und weitere26 000 kcal, um 20 L Milch zu erzeugen, bei Winterfütterung 10 L am Tag. Ext-rem viel Aufwand, bevor Butter und Käse im Kühlschrank liegen (Tab. 3.1).

3.2 Fette 127

Tab. 3.1 Zusammensetzung von Muttermilch und Kuhmilch.

Muttermilch Kuhmilch

Wasser 87,6% 87,5%Fett 4,1% 3,4%Eiweiß 1,2% 3,5%Milchzucker 6,9% 4,8%Mineralien (K+, Ca2+, PO4

3–, Cl-, Na+, Mg2+) 0,2% 0,8%

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Die Größe der Fetttröpfchen in der Kuhmilch liegt zwischen 0,1 und 10 �m.Die einzelnen Tropfen sind umhüllt von Lecithin, Proteinen und natürlich vonHydratwasser. Milch ist eine kolloidale Lösung von Fetttröpfchen mit negativenOberflächenladungen (Phosphat, Carboxylat), die sowohl von Lipiden als auchvon eingelagerten Milchproteinen herrühren. Neutralisiert man die Ladungenmit Säuren, z.B. Milchsäure, so geliert („gerinnt“) die Milch („Käsebildung“).Die Zentrifuge hingegen „entbuttert“ sie, indem sie das leichte Fett auf dieWasseroberfläche treibt.

Butter besteht aus wenigstens 500 verschiedenen Triestern des Glycerins mitverschiedenen Fettsäuren. Vor allem gibt es viele kurze Fettsäureketten in derButter, die auf der Zunge langsam schmelzen und gelöste Aromastoffe langsamund „zart“ verteilen. Herausragende Gegenstücke sind Kakaobutter und Palm-kernfett, die steil innerhalb eines Bereichs von 2 �C abschmelzen. Sie sindspröde und kühlen die Zunge, weil sie in einem engen Temperaturintervall vielWärme von ihr abziehen. Aroma findet da kaum statt. Nichts für Nordländer!

Kuhmilch ist die einzige Milch, die in großem Stil artfremd verwendet wird.Man zentrifugiert sie und erhält Butter mit 10% Wasser. Etwas eingelagertesCasein, ein Protein (siehe Kapitel 4), sorgt für die Mischung („Emulgierung“)beider Komponenten. Die Steifheit der CH2-Ketten der Palmitin- und Stearin-säure findet sich in der Robustheit des Kuhmagens, sowie in der Stabilität undSteifheit ihrer Gelenke wieder. Menschenmilch enthält viel weniger Stearinsäu-re. Gleiches gilt für die Eier von Hauskükenarten. Auch ihr Eigelb (Eidotter) istrigide, weil das domestizierte Huhn der Geschmeidigkeit wenig bedarf. Vogel-und Schlangeneier enthalten viel weniger Stearinsäure, mehr Linol- und Lino-lensäure. Beweglichkeit ist hier alles.

Körner und Gräser, das Futter der Hühner und Kühe, sind voll von �-3-Säu-ren. Das Fett der Frauenmilch enthält 48% gesättigte Fettsäuren und 36% Öl-säure, die Kuhmilch 64 bzw. 19%. Bei den Diensäuren beträgt der Gehalt beimMenschen 8, bei der Kuh 4%, bei den Triensäuren 1,1 bzw. 0,4%. Die Unter-schiede sind nicht dramatisch, aber signifikant, weil Milch-, Butter- und Käsefet-te im Zehn-Gramm-Maßstab verzehrt werden. Schnell entsprechen alle Fettsäu-ren des Menschen denen der Kuh.

Wenn schon Milchprodukte eine Grundlage der menschlichen Ernährungsein sollen („alles Essenzielle ist in ihr enthalten, sonst würde das Baby nichtgedeihen“) dann kann nur die Muttermilch des Menschen in der Menge, die ei-ne Mutter erzeugt, als Maßstab dienen, nicht der Riesenbetrieb des Euters derdomestizierten Kuh.

Fette werden in Milch und anderen Körperflüssigkeiten durch Proteine, zumBeispiel Casein, emulgiert. Danach aber müssen zunächst Fettsäuren und Gly-cerin durch Lipasen-katalysierte Wasseranlagerung (Hydrolyse) voneinander ge-trennt werden, die Fettsäuren schrittweise durch Sauerstoff zu Essigsäure abge-baut und zu Kohlendioxid verbrannt werden. Schon der erste Schritt, die ein-fache Hydrolyse, ist mühsam, denn Fetttröpfchen und wasserlösliche Enzymesind einander vollkommen fremd. Es bedarf eines Vermittlers (Aktivators), derbeide Komponenten bindet und zur Reaktion miteinander befähigt. Danach

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran128

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muss die Fettsäure schnell entfernt werden, bevor sich Micellen bilden undZellmembranen aufgelöst werden (Abb. 3.14).

Das Fettproblem landet – wenn nicht sportliche Aktivitäten sofortige Abhilfeschaffen – in den Adipocyten, den Fettzellen des Körpers. Kuhmilch und Folge-produkte sowie Rindfleisch machen Europäer und Amerikaner fett. Europäeressen Butter, Käse und Schokolade, Amerikaner in jeder Stunde eine MillionTiere, beide essen Milcheis und trinken Milch. All das sind europäisch-ame-rikanische Spezialitäten, die sich unwiderstehlich und schnell (als „Fast food“eben) in der Welt verbreiten. Kein Land Asiens oder Afrikas kennt Schlachthöfeim großen Stil, kein Mensch und auch kein Tier außer uns trinkt fremde Milchund isst reines Fett.

Das schlanke Volk der Japaner verfettete nach dem 2. Weltkrieg, als Milchpro-dukte das Land überschwemmten; zum Glück haben die Japaner die Milchschnell wieder „vergessen“. Käse- und Fleischverzehr sind auch für Europäer al-les andere als „natürlich“. Ihr Körper wurde von der Evolution auf beides nichteingerichtet. 99% der Evolutionsgeschichte war der Mensch ein Pflanzenesser.Das Töten von Tieren und das Melken der Kühe wurde erst vor hundert Jahrenzur Hauptnahrungsquelle. Schlachthäuser und Melkmaschinen kamen auf, dasErdöl trieb Autos, Eisenbahnen, Schiffe und Flugzeuge über die Erde, machteEuropäer, Amerikaner und nun auch viele andere reich und träge – ein breiterStrom gesättigter Fettsäureketten brachte nach der Sättigung die Übersättigung(Abb. 3.15).

3.2 Fette 129

Abb. 3.14 Modell eines Fetttröpfchens der Milch.88% ist Wasser, der Rest ist zu etwa gleichenTeilen Butterfett, Protein (vorwiegend Casein)und Milchzucker.

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Bei Wölfen und Hunden ist das anders. Sie waren schon immer Fleischfres-ser, trotzdem lernten sie die Arteriosklerose nie kennen. Käse und Butter essensie nicht, an das Fett im Fleisch sind sie adaptiert. Außerdem sterben sie jung.Letzteres wollen wir nicht nachahmen, aber ansonsten sollten wir uns wie dieWölfe an unsere Evolutionsgewohnheiten erinnern. Bei einer Beschränkung aufKohlenhydrate registrieren wir beim Essen sofort „genug“ und schieben nichtdauernd nach. Immer folgt auf ein üppiges Kartoffel- oder Reismahl zwangsläu-fig ein bescheidenes. Nicht so bei fettigem Essen. Das innere „Genug-Signal“kommt nicht, das überwältigende mouth feeling und der aromasüchtige Gaumenbefehlen mehr, mehr, mehr bis zur Völlerei.

Die gängige Mischung Alkohol plus Fett ist grundsätzlich ebenso misslich. DasGehirn wird durch den Wein aus seiner feinen Balance geworfen und befiehltdem Körper: „Raus damit!“ Der Körper beeilt sich daraufhin, den Alkoholschnellstmöglich zu verbrennen, wobei das Fett liegen bleibt. Mundgefühl, Aro-ma- und Alkohol-Rausch wirken gemeinsam, potenzieren ihre Wirkung RichtungGewichtszunahme und setzen den Aufbau unbeweglicher Adipocyten durch.

Einen Höhepunkt europäisch-amerikanischen Unsinns bei den Fettnahrungs-mitteln markiert das Produkt „Olestra“. Der Name weist daraufhin, dass mandas künstliche Nahrungsmittel wohl werbetaktisch als „Öl von den Sternen“ an-preisen wollte. Durch Veresterung aller OH-Gruppen des Zuckers mit gesättig-ten Fettsäuren erzeugte man ein Superfett mit dem berühmt-sahnigen Mund-gefühl. Dieses Superfett ist erstens absolut unverdaulich, weil die Fett-abbauen-den Lipasen den Kern des molekularen Fettklumpens nicht erreichen, undzweitens können auch die Adipocyten mit Olestra nichts anfangen. Olestra gehtdeshalb direkt in die Faeces und macht den Kot dünnflüssig. Das kalorienfreieFett mit sahnigem Charakter, das kulinarische Paradies auf Erden, hat also dieKehrseite des ständigen Durchfalls und setzt vor allem das Gesetz des Hungersnicht außer Kraft: Was den Körper nur durchläuft, sättigt nicht, der Hungerbleibt. Man isst dann das „normale“ Fett zusätzlich (Abb. 3.16).

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran130

Abb. 3.15 Weiße Fettkörperchen oder Adipocyten. Das sindkeine wirklichen Zellen, sondern gigantische Fettsäcke mit10 �m (10000 nm) Durchmesser.

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Kartoffeln, Gemüse, Fleisch und Fisch lassen sich wunderbar in Fett garenund knuspern, weil Fett bei hoher Hitze und intensivem Wärmeaustausch fürkurze Verweilzeit und wenig Strukturschaden sorgt. Leider saugt sich das gebra-tene oder frittierte Produkt mit Fett voll. Nach zwei Minuten Frittieren steigtder Fettgehalt auf 60%, wenn man mit einer Öltemperatur von 60 �C beginntund dann auf 180 �C erhitzt. Wirft man hingegen die Kartoffelstückchen direktin das 180 �C heiße Fettbad, dann sinkt der aufgenommene Fettanteil auf 30%,lässt man dann noch bei 180 �C sorgfältig abtropfen, auf 20%. Das macht dieFrittenbude mit ihren Sieben: Die Poren der Kartoffel haben sich im Hitze-schock blitzschnell geschlossen, sie bleiben mit Wasser gefüllt, und die Abtropf-dynamik des Fettes ist bei 180 �C optimal.

Gibt es fettarmes Fleisch? Die Zahl der Adipocyten ist bei Schweinen fest-gelegt. Verfettung beruht auf einer Vergrößerung der Fettzellen, nicht auf ihrerVermehrung. Bei geringem Fettverzehr lagern die Fettzellen Wasser ein, dasFettgewebe leert sich. Das Fleisch wird schlaff und wenig aromatisch. Schwei-nefleisch ist also immer fett, wenn es schmeckt, bei Rind und Geflügel kannaromatisches Fleisch fettarm sein.

Das bei der Atmung frei werdende Kohlendioxid kann aus der ausgeatmetenLuft (ca.4% CO2) mit Calciumhydroxid, Ca(OH)2, als Calciumcarbonat, CaCO3,abgetrennt und quantitativ bestimmt werden. Die Differenz des Sauerstoff-gehalts in der ein- und ausgeatmeten Luft (ca. 4%) lässt sich mit Sauerstoff-elektroden elektrochemisch bestimmen. Aus den beiden Werten berechnet sichVerhältnis CO2/O2, der Atemquotient. Die beiden Hauptnahrungsstoffe zur

3.2 Fette 131

Abb. 3.16 Molekülstruktur von Olestra, einemOctaester des Zuckers mit Palmitinsäure. DieEsterbindungen dieses Fetts (rot) sind fürLipasen unzugänglich, weil sie von den Alkyl-ketten der Fettsäuren abgedeckt werden(blau, hier nur unvollständig verknäuelt, um

das rote Reaktionszentrum sichtbar werdenzu lassen). Olestra ist damit unverdaulichund ohne Kalorien. Es schmeckt sahnig wieButter, sättigt aber nicht, sondern macht nurdie Ausscheidungen dünnflüssig.

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Energiegewinnung sind Kohlenhydrate, im Wesentlichen –CHOH–, und Fette,hauptsächlich –CH2–. Daraus ergeben sich folgende Atemquotienten AQ:

Kohlenhydrate: –CHOH–+ O2 �CO2 + H2O; AQ = 1

Fette: 2 –CH2–+ 3 O2 �2 CO2 + 2 H2O; AQ = 2/3= 0,66

Fette verbrauchen also ein Drittel mehr Sauerstoff als Kohlenhydrate, um einMolekül Kohlendioxid zu erzeugen. Durch eine Messung des AQ lässt sich fest-stellen, wie viel Fett und wie viel Kohlenhydrate ein Mensch, ein Tier oder einOrgan zu einem beliebigen Zeitpunkt verbrennt. Im Ruhezustand liegt der AQmeist um 0,8, das heißt Kohlenhydrat und Fett werden gleichermaßen ver-brannt. Intensive Bewegung und geistige Arbeit treiben den AQ auf 0,9 hoch,der schnelle Glucoseabbau dominiert mit 80%. Einen Abfall des AQ unter 0,75findet man auch im tiefen Schlaf nicht, weil das Gehirn immer Glucose ver-braucht. Atemquotienten über 1 bedeuten, dass sehr kalorienreich gegessenwurde und ein Teil der Glucose nicht vollständig verbrannt, sondern in Fett ver-wandelt wird, das sich zunächst in der Leber ansammelt. Der Sauerstoffver-brauch sinkt dann kräftiger als die Kohlendioxiderzeugung. AQ-Werte bis 1,2kommen vor.

Übergewicht ist das Hauptproblem der Ernährung mit Fetten. Der Körper-massenindex BMI (Körpergewicht in kg/(Körperlänge in cm)2) sollte unter 25liegen. Schon bei BMI= 30 verdoppeln sich die tödlichen Risiken der Herz-Kreislauf Krankheiten, liegt die Zahl der Krebstoten um 30% höher und wirddas Altern unnötig schmerzensreich.

In unserer Haut wirkt Fett wunderbar ausgleichend und wärmend. Nur unse-re Handflächen werden nicht von Talgdrüsen eingefettet, ihre Haut ist nichtwasserdicht. Im Seifenwasser tritt Wasser aus dem Körper, die Hände werdenfaltig und „schrumpeln“. Auf der Handfläche ist deshalb der Ersatz abgewasche-nen Fetts durch eine Fettcreme mindestens ebenso angemessen wie auf derZunge. Die Bedeckung mit Fett macht die Innenflächen der Hand weich undglatt, auf der Zunge erweckt sie die sahnige Geruchs- und Geschmacksanmu-tung, die Schleimhäute erfahren durch Weichheit und Feuchtigkeit der Fett-tröpfchen wohlige Gefühle.

Fett ist das auch das körpernächste organische Lösungsmittel. Pickel lösensich bei einer Behandlung mit erstens Badeschaumwasser, um den Schmutz zuentfernen, zweitens massiv Fettcreme, um die Membranen zu lösen, drittens ei-ner Bodylotion mit freien Fettsäuren und Zitronensäureestern in Wasser, umdie dicke Fettschicht wasserfreundlich zu machen, viertens warmem Leitungs-wasser, um den schmierigen Fettfilm mit dem Akneschmutz weitgehend abzu-spülen, und fünftens einem sauberen Handtuch, um alles abzutupfen. Sowäscht man den täglichen Schmutz schonend herunter und es bleibt eindünner sauberer Fettfilm auf der Haut. Die Pickel verschwinden hoffentlichund die Haut fühlt sich nicht gereizt, sondern gut behandelt.

Als dünne Schicht unter der Haut verteilt Fett auch wässrige Lösungen desProteins Insulin langsam und völlig gleichmäßig über den Körper. Nur wenige

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran132

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Tropfen einer wässrigen Lösung mit Phosphatpuffer (pH 7) und 100 U (engl.units, „Einheiten“) oder 3,75 mg Insulin werden am besten mit Fertigspritzenoder Kartuschen flach in die Fettschicht unter der Haut gespritzt, weil Injektio-nen direkt in durchblutete Muskeln zu unkontrollierbaren Konzentrations-schwankungen des Insulins und damit der Glucose im Blut führen. Die Vertei-lung über die große Fettfläche unter der Haut vermeidet das. Man führe des-halb die Nadel der Einwegspritze wie gesagt schräg in eine straff gehalteneHautfalte und richte sie beim Zurückziehen um 45� verwinkelt auf. So verhin-dert man das Zurückfließen des Wassertröpfchens der Insulinlösung aus demfettigen Stichkanal auf die Hautoberfläche. Nach einer kleinen Massage des Ein-stichs verteilt sich das ziemlich hydrophobe Insulin erst in der Fettschicht unddann innerhalb von etwa 30 min gleichmäßig im Blut. Die wasserunlöslicheFettschicht an der Oberfläche des Körpers kontrolliert so die Glucose-Konzentra-tion in den wässrigen Blutbahnen in seinem Inneren. Ein wunderbares Zusam-menspiel der äußeren Speckschichten mit den inneren Wasserstraßen ist ty-pisch für die Lebensprozesse der Tiere und Menschen (Abb. 3.17).

3.2 Fette 133

Abb. 3.17 Zuckerkranke (Seite 209) solltendie Injektionsnadel mit der wässrigen Insu-lin-Lösung nicht in Richtung des Injektions-kanals wieder herausziehen (rechts), son-dern vorher verkanten (links). Sonst drückt

die Fettschicht den Wassertropfen zurück inden offenen Kanal und der landet auf derHaut, anstatt sich im Fettpolster zu verteilen.Nach M. Berger (Hrsg.) Diabetes mellitus,Urban und Schwarzenberg, München, 1995.

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3.3Lecithinmembranen und Magenschleimhaut

Das Eigelb („Dotter“) im Zentrum der Hühnereier ist eine wässrige Emulsionvon Fett und Lecithin im Verhältnis 2:1, außerdem enthält es knapp 1 g Choles-terin (Seite 150) und ein paar Milligramm Carotine (Seite 295).

Wenn man ein Ei in kaltes Wasser legt und langsam erhitzt, schwimmt derleichte, fettige Dotter in der wässrigen Eiweißlösung häufig nach oben. Gleich-zeitig verlässt das Hydratwasser der Lecithinschichten das Eigelb und es trock-net zu einem Pulver aus, wenn man das Ei schließlich mehrere Minuten langim Wasser kocht. Damit ist das fettige Lecithin vom Protein abgetrennt undlässt sich dann weiter anreichern, indem man Fett, Cholesterin und Carotin mitChloroform herauswäscht.

Die etwa 8–10 kg Fettsäureester des Erwachsenen mit den beweglichen Alkan-ketten führen erstens zur runden Form, der Kurvatur, biologischer Zellen undZellverbände und machen sie zweitens unlöslich in Wasser. Zellmembranenaus Millionen von Lecithinmolekülen sind wasserlöslich, das einzelne Lecithin-molekül ist es nicht. Das ist eines der Paradoxa der Natur: Ein einziges Molekülmit einem Molekulargewicht unter 1000 ist nahezu vollkommen unlöslich, Ag-gregate mit einem Molekulargewicht von vielen Millionen lösen sich hingegenwunderbar und schwimmen seit Milliarden Jahren als Bakterien und Algen inFlüssen und Seen, ohne jemals auszukristallisieren.

Biologische Zellwasser und die einhüllenden Lipidmembranen sind wederFlüssigkeiten noch Festkörper. Es sind Hydrogele, d. h. dreidimensionale Netz-werke aus Membranen und Polymersträngen, die große Mengen Wasser ein-schließen (Zellwasser, Blut). Kapillarkräfte verfestigen diese Gele, das Zellwas-ser wird von biologischen Oberflächen makroskopisch fixiert. Unter günstigenäußeren Bedingungen leben biologische Gele hundert Jahre lang, aber sie sindanfällig gegenüber geringfügigen Änderungen der einfallenden Lichtenergie(UV-Licht), des äußeren Drucks (Zerstörung des Augapfels durch einen Druckmit dem Finger), der Temperatur (keine Palmen im Grunewald, keine lebendenFische oberhalb von 29�C) sowie des Lösungsmittel- und Säuregehalts des Was-sers. Ein paar Milliliter Chloroform im Blut oder im Blatt, ein paar Protonenzuviel – und der Organismus stirbt. Lebendiges ist zerbrechlich und verwestschnell nach dem Tod. Ist das räumliche Netzwerk des Gels in einem lebendenOrganismus einmal zerrissen, durch Mikroorganismen angefressen oder durchVersteifung zerbröselt, dann ist es kaum zu reparieren oder neu aufzubauen.Der langsame Verlust der Elastizität in dem Netzwerk ist die Ursache des Todesalles Lebendigen durch Altern. Ein Kristall ist ewig stabil und ewig tot, ein Hy-drogel kann lange leben, auch neu geboren werden – in sich aber ist es nurmetastabil.

Lecithinschichten gibt es aber nicht nur in Form der Fasern im Volumenwas-ser, sondern auch als stabile molekulare Monoschichten (MLM, monolayer lipidmembrane) auf Wasser oder festen Materialien. Benutzt man dazu Lipid mit nureiner Kopfgruppe, hydrophobisiert man die Oberfläche; werden aber Bolaam-

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran134

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phiphile mit zwei Kopfgruppen verwendet, erhält man stabile hydrophile Ober-flächen (Abb. 3.18).

Der wichtigste Fettsäureester unseres Körpers ist das Lecithin, das auch denHauptbestandteil des Fettkörpers „Eigelb“ im Hühnerei bildet. Der Alkohol desLecithins ist Glycerin, dessen drei OH-Gruppen mit zwei Fettsäuren und einerPhosphorsäure verestert sind. Phosphorsäure ist O=P–(OH)3, enthält also dreiOH-Gruppen, die leicht ein Proton abspalten. Die zweite OH-Gruppe der Phos-phorsäure ist mit einem stickstoffhaltigem Alkohol namens CholinchloridHO(CH2)2N(CH3)3

+ Cl–, verbunden, der auch eine positive Ladung mitbringt.Die dritte OH-Gruppe der Phosphorsäure bleibt frei und dissoziiert in Wasser.Lecithin ist dementsprechend ein Phosphorsäurediester und ein Zwitterion mitje einer positiven (Cholin) und einer negativen (Phosphat) Ladung. Die beidenFettsäuren steuern ihre wasserunlöslichen Alkylketten bei (Abb. 3.19).

Das Lecithin-Molekül ist vollkommen wasserunlöslich. Versuche, seine Wasser-löslichkeit zu messen, endeten bei 10–10 mol/L, etwa 0,0001 mg pro Liter Wasser.

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 135

Abb. 3.18 Molekulare Struktur eines Ge-mischs langkettiger Fettsäuren und ihrer De-rivate in Wasser. Die Kristallisation zu spitzenund kantigen Nadeln (links oben) ist schwie-rig und findet in Gemischen so gut wie niestatt, dagegen lässt sich die Bildung weicherFasern und Faserbündel in Wasser sowie dasGelieren leicht erreichen. Die elektronenmi-kroskopische Aufnahme (oben rechts) zeigtFasern, deren Durchmesser der Länge von

zwei Fettsäuremolekülen entspricht und die inWasser elastische Gele bilden. Fettsäurederi-vate kleben mit ihrer polaren Endgruppe oftan Glas oder anderen polaren Oberflächenfest und ordnen sich dort entsprechend ihrerKettenlänge. Solche geordneten Bereichegleicher Moleküle heißen „Domänen“. Fett-säuredomänen sind hydrophob, wenn dieKopfgruppen an den Festkörper gebundensind, Boladomänen sind immer hydrophil.

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Lecithin quillt aber in Wasser auf und bildet Fäden, die sich ablösen, um was-sergefüllte, kugelförmige Bläschen, sogenannte Vesikel (lat. vesicula, „Bläschen“)zu bilden. Diese Vesikel verkleinern sich beim Schütteln auf einen einheitlichenDurchmesser von 30 nm, werden aber in biologischen Zellen auch viele Mikro-meter groß. Die Hülle oder Membran besteht aus der gleichen, aber umgedreh-ten molekularen Doppelschicht wie die Seifenblasen: die polaren Gruppen sindjetzt außen und die Membran trennt nicht zwei Gasvolumen, sondern zweiWasservolumen voneinander. Diese BLM (bilayer lipid membrane) ist eine mole-kulare Doppelschicht (bilayer), weil die wasserlöslichen Kopfgruppen in den in-neren und äußeren Wasserschichten gelöst sind, ein Lipid, weil die Alkylkettenaus dem Wasservolumen herausstreben, und eine Membran, weil sie eine ganz,ganz dünne Trennschicht zwischen zwei Flüssigkeitsvolumen bildet, die für Sal-ze undurchlässig, für Wasser aber permeabel ist (Abb. 3.20).

Die Kohlenwasserstoffketten in den wenig gekrümmten Vesikelmembranenliegen im Wesentlichen in gestreckten Konformationen vor und laufen parallelzueinander. Deshalb sind diese Membranen viskoser als Micellen, aber immernoch sehr fluide Lösungsmittel und lassen keine Ionen, wohl aber Wasser pas-sieren. Die Trennfähigkeit für Salz und die Durchlässigkeit für Wasser machtdie BLM der Vesikel osmotisch (griech. osmos, „schieben, stoßen“) aktiv. Erzeugt

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran136

Abb. 3.19 Lecithin bildet sehr stabile molekulare Monoschichten aufWasseroberflächen (siehe Abb. 3.18) und bläschenartige (Abb. 3.21)oder schlauchförmige Doppelschichten in Volumenwasser.

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man eine Vesikel zum Beispiel in einer Kochsalzlösung und verdünnt dann dieLösung, so versucht das Wasser spontan einen Konzentrationsausgleich, indemes in die Vesikel eindringt. Das Innenvolumen vergrößert sich, die Vesikelplatzt. Erzeugt man hingegen die Vesikel in reinem Wasser und fügt Kochsalzzu, so diffundiert das reine Wasser innerhalb der Vesikel nach außen in dieSalzlösung und die Kugel schrumpft zusammen (Abb. 3.21 ).

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 137

Abb. 3.20 Modell eines wassergefüllten BLM-Vesikels (links)und elektronenmikroskopische Aufnahme eines beim Anlegendes Vakuums im Mikroskop nach innen gewölbten, wasser-freien Vesikels.

Abb. 3.21 Modell und osmotisches Verhal-ten von Vesikeln. Oben: Das Vesikelwasserenthält weniger Salz (Cl–) als das Außen-volumen. Wasser strömt durch die Membran

nach außen (Osmose), der Vesikel schrumpft.Unten: Die innere Salzlösung ist höher kon-zentriert, Wasser strömt in den Vesikel(Osmose) und bringt ihn zum Platzen.

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Lungenbläschen (Alveolen, lat. „kleiner Hohlraum“) sind die Luftzellen derLunge, deren Volumen sich beim Einatmen stark erhöht. Sie sind unterschied-lich groß und miteinander verbunden. Verhielten sie sich wie Seifenblasen,würden sich die kleinen in die großen entleeren, weil der Druck p in einer Sei-fenblase proportional zu 1/r ist, ein kleinerer Radius r also einen größeren in-neren Druck bedeutet. Die Lunge würde schließlich nur noch aus einer ein-zigen großen Luftblase bestehen; ihre Oberfläche wäre sehr klein geworden, siewürde schon bei einer kleinen Verletzung am Rand der Katastrophe stehen.

Dieser Überdruck kleiner Alveolen wird durch Lecithin-Monoschichten abge-baut. Sie erniedrigen die Oberflächenspannung des Wassers von 50 auf 30 mN/cm, indem die Ladungen der geladenen Phosphorestergruppen für unregelmä-ßige Wassercluster sorgen und die unterschiedlich langen, hydrophoben Ketteneine extrem bewegliche, fettige Oberflächenschicht bilden. Die Vergrößerungder Alveolen beim Einatmen sorgt dann für unbedeckte, freie Wasserflächenmit großer Oberflächenspannung, die wie gespannte Gummitücher wirken.Diese neigen zum Zusammenziehen. Da der Anteil unbedeckter Flächen beikleinen Blasen größer ist als bei großen Blasen, bauen diese Tücher den größe-ren Innendruck der kleineren Blasen in stärkerem Maße ab und ermöglichenden Druckausgleich verschieden großer Alveolen zu Beginn und Ende jedenAtemzugs. Die zerrissene Lecithinschicht wirkt wie ein angespannter, die ge-schlossene Lecithinschicht wie ein entspannter Muskel (Abb. 3.22).

Versteift man die molekularen Monoschichten auf festem Untergrund (Abb.3.24 und 3.25) mit Amid-Wasserstoffbrücken (siehe Seite 194), so lassen sichaus ihnen steife Wände molekularer Höhe aufbauen. Das funktioniert so: Zu-erst werden viele einzelne Moleküle, meist Porphyrine (siehe Seite 140 und

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran138

Abb. 3.22 Oben: Modell zweier miteinanderverbundener Lungenbläschen. Große Blä-schen haben einen geringeren Innendruckals kleinere und sollten so lange wachsen,bis nur noch eine große Luftblase übrigbleibt. Unten: Das ist unter anderem deshalbnicht der Fall, weil die Innenseite der Alveo-

lenmembran eine Lecithinmonoschicht trägt,die beim Vergrößern des Bläschens, alsobeim Einatmen, zerrissen wird (unten). Die-ser Film wirkt wie eine Federkraft, die demInnendruck entgegen wirkt und die kleinenBläschen stabilisiert.

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271), fleckenweise flach auf einer reaktiven Oberfläche, zum Beispiel einer glat-ten Elektrode aus Gold fixiert und dann mit aufrecht stehenden Fettsäure-Dia-miden umgeben. Die schrittweise Anbindung von Molekülen auf glatte Oberflä-chen nennt man englisch SAM (self assembly of membranes oder monolayers). Esentstehen feste Brunnen molekularer Größe, die man wegen ihres Volumensvon etwa 10�10–24 L oder 10 Yoctolitern als Yoctobrunnen bezeichnet. Auf dengenannten glatten Goldelektroden werden solche Yoctobrunnen elektrochemischaktiv, wenn man die Elektrode in die wässrige Lösung eines Eisensalzes taucht,zum Beispiel von Hexacyanoeisen(II)-Anionen. Die Lösung füllt dann denBrunnen aus und die Oxidation von Eisen(II) zu Eisen(III) findet bei einem ge-eigneten Elektrodenpotenzial auf der Goldelektrode ebenso statt wie die entspre-chende Reduktion von Eisen(III)-Ionen (Abb. 3.23).

Die Magie dieser Yoctobrunnen mit hydrophob-fettigen Wänden liegt in derEigenschaft, wasserlösliche Kantenamphiphile fixieren zu können. Das sind Mo-leküle wie Glucose und Cellobiose mit einer hydrophoben und einer hydrophi-len Kante (Seite 171 f). Innerhalb einiger Stunden besetzen die hydrophobenKanten die hydrophoben Brunnenwände und es bilden sich in den Brunnenaus verdünnten Lösungen spontan Nanokristalle, die in dem molekular-engenRaum wie Steine fixiert werden, auch wenn sie mit großen Wasservolumen ander Oberkante der Brunnen in direktem Kontakt stehen. Etwa dreißig Molekülewerden so im Brunnen vollkommen immobilisiert. Sie können ihn nicht verlas-sen, weil die Diffusionswege in dem Brunnen extrem eingeschränkt sind undweil die paar Wassermoleküle, für die zwischen den Glucosewänden noch Platzist, die bindenden hydrophoben Kräfte zwischen den Molekülen und den Wän-den des Brunnens nicht mehr lösen können. Die Moleküle werden in denYoctobrunnen hoffnungslos eingepfercht. Weder trennt sie ein Gitter vom Volu-

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 139

Abb. 3.23 Etwa dreihundert Wassermoleküle(nicht gezeichnet) in künstlichen Yoctoliter-brunnen transportieren große [Fe(CN)6]3–-Ionen (siehe Seite 267). Wasser dringt inmolekular kleine hydrophobe Poren ein undwird nicht kapillar abgestoßen (Seite 267).

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menwasser der Umgebung, noch klebt sie ein bindendes Mittel an die Brunnen-wände. Diese Einpferchung ist spezifisch für starre Moleküle vom Glucose- oderPhenol-Typ, die auch an biologischen Membran- oder Proteinoberflächen extremfest haften können. Im Fall der Yoctobrunnen lässt sich das leicht zeigen, indemman nachweist, dass die Fluoreszenz des Bodenporphyrins (Seite 274 ff) durchwasserlösliche Löschsubstanzen nicht mehr verdunkelt werden kann, wenn derBrunnen zum Beispiel durch Cellobiose verstopft ist (Abb. 3.24).

Der Schriftsteller Thomas Mann war Anfang des 20. Jahrhunderts, als er imZusammenhang mit seiner wissenschaftlich-interessierten Schöpfung namensHans Castrop im Zauberberg unzufrieden mit der „Ratlosigkeit der Wissen-schaften“ im Angesicht der Lebensprozesse war: „Man weiß nicht einmal, wa-rum der Magen sich nicht selbst verdaut ... Zwischen Leben und unbelebter Na-tur klafft ein Abgrund, den die Forschung vergebens zu überbrücken strebt.Man müht sich, den Abgrund mit Theorien zu schließen, die er verschlang,ohne an Tiefe und Breite im geringsten einzubüßen.“

Das war vor hundert Jahren schön geschrieben. Und es stimmte. Aber die Be-merkung „nicht einmal“ ist auch hochnäsig, denn die Sache mit der Magen-wand ist tatsächlich so kompliziert, wie alles, was lebt. Unser Magen ist mit et-wa einem Liter 3,5%iger Salzsäure gefüllt, die 99,99% unserer Protonen enthält.Der Rest des Körperwassers enthält zusammen ein paar Tausendstel MilligrammProtonen, die Magensäure 3,5 g. Wie kann die Magenwand 106-mal mehr Säureüberstehen als alle anderen Zellmembranen, die von Säuren zersetzt werdenund alle Proteine, deren Strukturen von Säure aufgelöst werden (Seite 57 und201)? Das biologische Wunder des Magens liegt in einer Schleimhaut, die dieempfindlichen Zellmembranen und Proteine von der Säure abschirmt. Dieser

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran140

Abb. 3.24 Mit Wasser gefüllte Yoctobrunnenmit hydrophoben Wänden, Porphyrinboden(siehe Seite 274 ff) und einem Glucose-Na-nokristallit. Diese Immobilisierung von Koh-lenhydraten an hydrophoben Wänden ist das

Grundphänomen, das zur Zelldifferenzierungim Menschen führt. Nieren-, Herz- und Le-berzellen zum Beispiel unterscheiden sichvor allem durch das Zuckermuster auf ihrenOberflächen.

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Schleimschutzmantel ist 50–400 �m dick – ein durchsichtiger, viskoser Film, derzerfließen und so den Formänderungen des Magens folgen kann.

Im Schleim findet sich ein Gerüst aus negativ geladenen Glycoproteinsulfa-ten und -carboxylaten, die massiv über Schwefelbrücken miteinander vernetztsind. Das ist ungewöhnlich innerhalb eines biologischen Organismus und derBefund kam entsprechend unerwartet. Diese Art der Vernetzung gibt es sonstnur auf der Körperoberfläche, in Haut, Haaren und Fingernägeln, weil nur dort(durch den Sauerstoff der Luft) eine oxidatives Milieu existiert, das Schwefel-Schwefel-Bindungen (S–S) aus dem –SH des Cysteins erzeugt. Das Innere jedesbiologischen Organismus aber ist, vom Magen abgesehen, ein starkes Reduk-tionsmittel. Alle anderen Körperzellen haben das gleiche Reduktionspotenzialwie molekularer Wasserstoff und spalten die S–S-Bindung zu zweimal SH. Diekonzentrierte Salzsäure aber entspricht einem Oxidationspotenzial von etwa+0,4 V – die S–S-Brücke überlebt im Körperinneren, so kann die Magen-schleimhaut durch die S–S-Vernetzung extrem viskos gemacht werden.

Die vernetzte innere Haut schützt auch die darüber liegenden Muskel-proteine. Es tritt jedoch ein zweites Problem auf: Weder die Zucker-Zucker-noch die Protein-Zucker-Ester-Bindungen sind säurestabil. Auch die Kohlenhy-drate des Glycoproteins sollten bei pH= 1 vom Wasser zersetzt („hydrolysiert“)werden. Dem entgehen sie mit einem zweiten, in der Evolution entwickeltenTrick � die quervernetzte Schleimhaut überzieht sich mit einer molekularenMonoschicht aus lecithinähnlichen Lipiden, ähnlich wie die Alveolen der Lunge.Die hydrophilen Kopfgruppen dieser Monoschicht lagern sich dicht an die pola-ren Kohlenhydratketten der Glycoproteine, die hydrophoben Seitenketten inte-grieren sich mit in den Schleim eingebauten, teilweise auch fest gebundenenCholesterin-, Fettsäure- und Fett-Molekülen. Mehrere heterogene und raueMonoschichten kooperieren auf der Schleimhaut, sie sind extrem beweglich.Überall, wo Säure ist, verdichten sich Multischichten zu undurchlässigen Bar-rieren aus vielen Komponenten. Die wasserabstoßende Schleimoberfläche, diedie Salzsäure nicht überwinden kann, erscheint im Foto als matt weiße Ober-fläche.

In ihr herrscht ein komplexes Kommen und Gehen der Proteine und Lipide.Die physikalische Fluidität der Fettsäuren koppelt sich mit chemischer Hydroly-se und Kondensation der Ester und erzeugt so einen dynamischen Schutzwallgegen Salzsäure. Andererseits ist das quervernetzte Mucin-Glycoprotein mitSchleimhaut für Nahrungsmittel und Medikamente durchlässig. Gegessenes ge-langt problemlos über die Schleimhäute in die Darmzotten mit einer Oberflä-che von 300 m2 und von dort zuverlässig ins Blut.

Schließlich muss die verbrauchte Salzsäure auch immer wieder ersetzt werden.Wie gelangt sie aus den sie erzeugenden Drüsen in der Magenwand durch die Ma-genschleimhaut, ohne diese zu zerstören? Das beruht wahrscheinlich auf derörtlichen Auflösung der geschlossenen Schleimhaut durch die Bildung „viskoserFinger“. Bei pH> 2 ist die Schleimhaut geschlossen, bei pH> 4 bilden sich Wasser-kanäle, weil in den Mucinen Ladungen auftauchen. Carboxylat-Gruppen sind beipH= 4 teilweise deprotoniert, die Salzsäure dringt in das Gel ein. Bei pH= 2 ver-

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 141

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schwinden Ladungen und Wasserkanäle. Man kann also von einer Selbstdichtungdes fingernden Gels durch höher konzentrierte Salzsäure sprechen.

So ist die Magenwand in der Evolution zu einer perfekten Maschine optimiertworden, deren molekulare Module schwer zu lokalisieren und zuzuordnen waren.Der besonderen Beweglichkeit der Linolensäure bedarf es hier nicht – die Magen-wand ist im Wesentlichen eine Domäne der gesättigten Fettsäuren (Abb. 3.25).

Monoschicht und Schleimgel auf der Magenhaut sind osmotisch aktiv – Was-ser passiert sie, Salze nicht – und so kann man den Magen willkürlich undproblemlos durch das Trinken einer konzentrierten Natriumsulfatlösung (Glau-bersalz) entleeren. Das Salzwasser sammelt sich im Magen, das übersalzte Ma-genvolumen zieht das Körperwasser osmotisch an und treibt den Mageninhaltdurch den Darm aus dem After („Fasten“). Nachträgliches Trinken von Süßwas-ser ersetzt den Wasserverlust. Unter Normalbedingungen entzieht der Dickdarmdem Speisebrei aus Magen und Dünndarm pro Tag etwa 5 L Wasser durch mus-kuläres Auspressen. Ist die Muskelwand des Dickdarms zu dieser Leistung nichtfähig, kommt es zu Durchfall, wobei dann nicht nur das Wasser, sondern auch diein ihm gelösten Salze (ca. 1,5 Gewichtsprozent) verloren gehen.

Hier gilt ein allgemeines Ernährungsgesetz: Verbrauchtes Wasser muss lau-fend durch Trinkwasser ersetzt werden. Zwei Liter am Tag sollten das wenigs-tens sein. Aber auch beim Wassertrinken sollte man mitdenken. Obstschalensind zum Beispiel von Bakterien besiedelt, die von der Magensäure getötet wer-den. Trinkt man Wasser zusammen mit Obst, so verdünnt man die Magensäureund gibt den Bakterien eine bessere Überlebenschance. Sie fangen womög-

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran142

Abb. 3.25 Foto der Magenwand eines Schweins(unten) und Modell (oben): Haut aus quer-vernetzten Proteinen (Keratin), bedeckt miteiner Schleimschicht aus Mucoproteinen mitviel Wasser und einer Lecithinmonoschicht,ähnlich wie bei den Lungenbläschen (Seite138).

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lich an den Zucker des Obstes zu vergären, erzeugen Ethanol, blasen den Ma-gen mit Kohlendioxid auf und vermehren sich ungehörig.

Lecithin wird durch seine Fähigkeit, bimolekulare Membranen zu bilden undMembranproteine darin zu integrieren, zu einem zentral wichtigen Baumaterialdes Körpers. Biologische Zellen, Nerven und Gehirn sind ohne lecithinartigeoder -ähnliche Moleküle undenkbar.

Biologische Zellen sind größer als Vesikel, aber immer noch mikroskopischklein. Ihr Durchmesser ist nicht größer als ein paar Mikrometer und doch ent-halten sie viele membranumhüllte Organellen (Zellkern, Mitochondrien) undMikroskelette. Da alles Zellwasser in engem Kontakt mit Protein- und Lipid-oberflächen ist, verhält es sich durchweg wie Kapillarwasser. Kaum ein Wasser-molekül ist mehr als ein paar Mikrometer von einer Oberfläche entfernt undwird nicht durch Kapillarkräfte, die über tausend Mikrometer weit wirken, im-mobilisiert. Das Volumenwasser der Zelle erstarrt deshalb makromolekular zueinem unbeweglichen Gel. Das bedeutet aber keineswegs, dass die einzelnenWassermoleküle unbeweglich wären – das Gegenteil ist der Fall. In ihren Mi-krometer großen Kammern bewegen sich die Wassermoleküle und Clustervöllig frei und springen auch von Kammer zu Kammer über. Etwa die Hälftebis zwei Drittel (25–30 L) des Körperwassers ist solches Zellwasser – im größe-ren Zellrahmen ein ziemlich starres Gel, im Kleinstvolumen aber frei beweg-lich, osmotisch aktiv, also im Stande, wasserdurchlässige Membranen zu durch-dringen und fähig, elektrische Potenziale zu erzeugen, indem es Salzlösungendurch engste Poren transportiert (Abb. 3.26).

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 143

Abb. 3.26 Schema einer biologischen Zellemit vielen Oberflächen, die Wasser kapillarbinden (Seite 48) – Kern, Mitochondrien,Zellwand usw.

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Zehn der 50 L Wasser eines Erwachsenen befinden sich außerhalb der Orga-ne, in Zwischenräumen, als „interstitielles“ Wasser; (lat. interstitium, „Zwischen-raum“). Seinen Transport durch die Herzpumpe behindern zottig-fettige Ober-flächen der Lungenbläschen, des Darms, des Magens, der Niere und andererOrgane. Vier weitere Liter Plasmawasser sind in die feinen Blutgefäßen einge-schlossen oder in Knorpeln und Bindegewebe gefangen. Natrium-, Kalium-,Calcium- und Magnesiumchlorid müssen ebenso durch enge Kapillaren trans-portiert werden wie das Phosphat zur Umsetzung des allgegenwärtigen ATP(Kapitel 6) und für den Aufbau von Lecithin, Knochen, Zähnen und DNS. DieseIonen sind in Wasser frei beweglich, der Körper aber ist in verschiedenste, von-einander durch Membranen getrennte Wasservolumen aufgeteilt, zwischen de-nen ein Transport der Ionen nur über streng regulierte Passagen erfolgt. Außer-dem muss die Ausfällung von Magnesium- und Calciumphosphat und -carbo-nat in Form kristalliner „Steine“ vermieden werden: Steine in den Wasserwegenblockieren den Transport und können tödlich sein (Abb. 3.27).

Der Blutstrom fließt schnell in großen Arterien und Venen zwischen Herzund Lunge sowie Herz und Körper (Seite 104). Im Innern des Gehirns und inder Organe (Leber, Niere, Milz) aber dominieren Kapillaren, in denen das Was-ser dahinkriecht (Abb. 3.28).

Die meisten Röhren des Körpers sind Millimeter und Mikrometer enge Kapil-laren (Seite 50 und 146). Ihre Oberfläche ist nicht fest wie Glas, sondern weichund geschmeidig wie Speck; ihre Wände sind wasserdurchlässig, verhindernaber den Durchtritt von Ionen. Die zwei Millionen Röhren einer Niere (Neph-ren) zum Beispiel bilden ein Netz aus Kapillaren, deren Wände mit 3 nm gro-

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran144

Abb. 3.27 Die Wasserräume und Wasserwege des Körpers.Zwei Drittel sind Zellwasser, das mit interstitiellem Wasser inLungen, Nieren, Magen-Darm-Trakt (20%) und mit dem Blut-wasser (10%) über Zellmembranen in Kontakt steht.

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ßen Poren durchlöchert sind, die mittlere und große Proteine abfiltrieren undins Blut zurückschicken. Überflüssige Ionen, Harnstoff, Glucose und anderekleine Moleküle erscheinen in 200 L Wasser des täglichen Filtrats, weniger alszwei Liter davon werden als Abfallwasser namens Urin ausgeschieden.

Die wesentlichen Effekte dieser Filtration und der partiellen Ausscheidungsind die Einhaltung konstanter Salz- und Glucose-Konzentrationen und dieAusscheidung von Harnstoff. Es ist die Tendenz des Wassers, von verdünntenSalzlösungen in konzentriertere zu fließen, die den Fluss durch die Rohrwände

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 145

Abb. 3.28 Quantitatives Schema der Blutversorgung der Organein Millilitern pro Kilogramm Gewebe und Sekunde.

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erzwingt. Biologische Rohrwände erlauben eine schnelle Äquilibrierung, obwohldie Flussgeschwindigkeit durch Membranen extrem langsam ist, denn Wasserist im Körper allgegenwärtig und die Diffusionswege aus den Leitungsrohrenin die Zellen und zurück sind nur ein paar Nanometer lang.

Die Glomeruli der Nieren filtern so täglich aus 900 L des fließenden Blutes160 L Wasser heraus. Etwa 130 L werden sofort („proximal“), 28 L später („dis-tal“) in die Blutgefäße zurückgeschleust. Letzteres wird durch das im Blutgelöste Protein Adiuretin geregelt. Lediglich 2 L Wasser von 160 L Filtrat werdenausgeschieden (Urese). Fehlt das Protein Adiuretin im Blut, kann das aus-geschiedene Wasservolumen durch Diurese von zwei auf 20 L am Tag ansteigen( griech. dia, „intensiv“ und urese, „urinieren“). Adiuretinmangel ist unter ande-rem eine Folge des Alkoholtrinkens oder der Diabetes. Auch ungeregelt hoheKonzentrationen gelöster Substanzen im Blut oder Darm (Harnstoff, Natrium-sulfat, Fasten) behindern die Reabsorption des Wassers und führen zu Diurese.Auf Membranen mit den 3 nm weiten Poren folgt in den Nephronen eine zwei-te Schicht aus einem polymeren Kohlenhydratsulfat („Heparansulfat“) das nega-tiv geladene Zellen und Proteine ins Blut zurückschickt, positiv geladene Am-moniumzucker und kationische Proteine aber passieren lässt. So beseitigt dieNiere giftige Fremdmoleküle und hält biologisches Baumaterial zurück (Abb.3.29).

Die lipidreichsten Gewebe unseres Körpers sind Gehirn und Nerven. 80% derGehirnsubstanzen sind Lipide, die nach Linolensäure und ihren beweglichenVerwandten hungern. In lipidbegrenzten Wasserkanälen (Synapsen) und Roh-ren transportiert der vom Herzen gepumpte Blutstrom die Nahrungsmittel desGehirns, die elektrisch geladenen Ionen und die Neurotransmitter. Für fast allewasserlöslichen Verbindungen aber besteht eine unüberwindbare Barriere zwi-schen den Blutvolumen des Gehirns und des Körpers (Blut-Hirn-Schranke). Diewichtigste Ausnahme ist der primäre Energielieferant des Gehirns, die Glucose.Dafür gibt es ein aktives Transportprotein in der Schranke. Statistische Unter-suchungen zeigen, dass dieses Transportsystem nach dem 45. Lebensjahr anAktivität einbüßt, die Vergesslichkeit steigt an.

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran146

Abb. 3.29 Modell eines Nephronennetzes (links) und der ver-schiedenen Typen von Nanometerporen (rechts) zur Filtrationund Diffusion des Wassers durch die Niere. Rechts außen:elektronenmikroskopisches Bild eines Nephrons.

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Nachweisen lässt sich die Wirksamkeit der Blut-Hirn-Schranke mit polarenFluoreszenzfarbstoffen, zum Beispiel Säureblau. Dieses verteilt sich gleichmä-ßig über die Blutbahn im Körper, wenn es in eine Arterie einer Ratte oder einesMenschen gespritzt wird. Ebenso erreicht es alle Teile des Gehirns, wenn manins Hirn der Ratte injiziert. Eine Verteilung auf die andere Seite der Schrankeaber findet nicht statt. Gleiches gilt für den passiven Transport aller geladenenund polaren Moleküle, wenn es für sie kein spezifisches Transportprotein gibt.Membranlösliche Verbindungen aber – zum Beispiel viele Neurotransmitter,Neuropeptide und Cholesterin – diffundieren problemlos von ihren Trägersyste-men im Blut in die Membran des Schrankengewebes und von da ins Gehirn.Das kann lediglich in Rattenversuchen getestet werden, deren Ergebnisse abernur ungefähr auf den Menschen zu übetragen sind. In Bezug auf den Men-schen ist man auf Versuche in vitro mit bekannten Transportproteinen angewie-sen. Welches Gift auf welchem Weg ins Gehirn gelangt, ist meist nicht vorher-zusagen (Abb. 3.30).

Die extrem druckfeste Knorpelschicht der Kniescheibe ist 2 mm dick. Sie be-steht aus 75% Wasser und einem eng verknüpftem Netz aus Proteinen undquervernetzenden, negativ geladenen Kohlenhydraten. Dieses Gel enthält25-mal mehr Festsubstanz als das Gel des Glaskörpers des Auges und reagiertauf Druck reversibel wie ein extrem viskoses Öl. Hoher Druck lässt es auf denKnochenoberflächen auseinander fließen, wonach es extrem elastisch federt.Die 75% Wasser des Knorpels sind gemäß dem Magnetresonanzfoto schwer be-wegliches Oberflächenwasser. Die Zerstörung des kleinen Polsters durch Bakte-rien, die sich in dem wässrigen Gel einnisten, führt zur Arthrose.

Der Körper schickt vorher sein Immunsystem mit Prostaglandinen, Leuko-trienen und Thromboxanen (Seite 123) und bekämpft die Mikroorganismen miteiner Entzündung. Aber auch die zerstört das Gel. Ebenso können Entzündun-

3.3 Lecithinmembranen und Magenschleimhaut 147

Abb. 3.30 Die Blut-Hirn-Schranke und ihre Undurchlässigkeitfür den angegebenen blauen Farbstoff Säureblau mit negativgeladenen Sulfatresten. Er erreicht nach dem Einspritzen inGehirnwasser oder Körperblut die jeweils andere Region nicht.

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gen, die weit entfernt von den Gelenken auftreten, auf diese übergreifen unddie Knorpelmasse erodieren. Das schwer bewegliche Wasser des festen Gels istsehr anfällig für Infektionen und im Blutstrom nicht leicht zu reinigen.Darüber hinaus degeneriert das Polster kontinuierlich ab dem 40. Lebensjahr.Arthrose droht – meist zuerst an den Schultern und mehr oder weniger unbe-merkt, dann an Knie und Hüfte. Auf Dauer aber helfen nur schnell umfließen-des Wasser und lebendige Knorpelzellen, die die Proteinfasern des Gels erneu-ern. Bleiben Sie in Bewegung (Abb. 3.31)!

3.4Cholesterin als flüssigkristalline Einheit

Pflanzen bauen ihre Gerüste aus Cellulosefasern auf, die Wasserrohre bildenund sie mit Lignin verfestigen (Seite 188 f). Das Körperskelett von Tieren be-kommt seine Standfestigkeit vom Calciumphosphat der Knochen; das Körper-wasser aber fließt durch Rohre und Kapillaren aus fluiden, weichen Membra-nen, deren Material ein fein abgestimmtes Gemisch aus Fett, Phosphaten, Pro-teinen und Cholesterin ist.

Cholesterin wirkt dabei als Mörtel zwischen dem Lecithin und helicalenMembranproteinen. Architektonisch ähnelt Cholesterin der Glucose, seineHauptbestandteile sind steife Cyclohexan-Sechsringe und flexible Cyclopentan-Fünfringe. Bei der Saccharose bringt der zusätzlich Fünfring eine exzellenteWasserlöslichkeit (Seite 94), beim Cholesterin Membrangängigkeit und bei derDNS die Teilbarkeit der Doppelhelix (Seite 239). Besonders deutlich wird derDoppelcharakter des Cholesterins in Derivaten, die an den Sechs- und Fünfrin-gen lange Kohlenwasserstoffketten tragen. Die Röntgenstrukturananlyse von wei-chen Kristallen („Flüssigkristallen“) solcher Art zeigt, dass die Kette am Sechsring

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran148

Abb. 3.31 Das Wasservolumen des fettigenKnorpelgels im Knie (blau markiert), wie esin Magnetresonanz-Schnittbildern erscheint.

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A praktisch völlig unbeweglich ist, während die Kette am Fünfring D sehr starkvibriert. Links ist das Steroid kristallhart, rechts butterweich (Abb. 3.32).

Solche Cholesterinderivate finden technische Anwendung in Flüssigkristall-Bildschirmen. Die kristallinen, leicht um die fluide Stelle und die verlängerteAchse herum verdrehbaren Stapel sind helikal, weil das Cholesterin selbst meh-rere chirale Kohlenstoffatome aufweist (zum Beispiel C-3 und C-17). DieGanghöhe der Helix ist dabei relativ lang und kann zum Beispiel der Wellen-länge roten Lichts (600–700 nm) entsprechen. Bei der Überlagerung einfallen-der und reflektierter Lichtstrahlung („Interferenz“) wird das rote Licht dann teil-weise gelöscht und der Kristall erscheint blau. Liegt der Stapel zwischen trans-parenten Elektroden, so verschwindet die Helix beim Anlegen einer kleinenelektrischen Spannung, die ihr Dipolmoment aufhebt. Farbige Pixel werdensehr schnell spontan aufgebaut und elektrisch gelöscht, ohne dass Lichtquantenabsorbiert und Farbstoffe ausgebleicht werden (Abb. 3.33).

3.4 Cholesterin als flüssigkristalline Einheit 149

Abb. 3.32 Die Molekülstruktur eines Choles-terinderivats mit einer reduzierten Doppel-bindung im Ring B (vgl. Abb. 4.33) und ei-nem Fettsäureester an C-3. Die Radien derAtome sind bei den drei Sechsringen und

der Seitenkette an C-3 relativ klein, aufGrund starker Wärmeschwingungen amFünfring D hingegen viel größer. Der langeHebelarm an C-17 verstärkt diese Wärme-schwingungen noch.

Abb. 3.33 Flüssigkristalle aus einem Choles-terinderivat mit einer zusätzlichen Seitenket-te an C-3 (siehe Abb. 4.31). Die Flüssigkris-talle bilden wegen der vielen Chiralitätszen-tren am Cholesterin Helices, die Interferenz-

farben erzeugen. Sie verschwinden, wenn dieMoleküle durch ein elektrisches Feld rever-sibel ausgerichtet werden, was die reflektie-renden Kristallebenen der helicalen Flüssig-keitskristalle reversibel zerstört.

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Auch das Cholesterin selbst ist links steif und klebt an jedem Kohlenstoff-gerüst fest, rechts ist es beweglich und drängt in jede Membranlücke. Die Leci-thin-Doppelschicht der Zellmembran wirkt generell als zweidimensionales Lö-sungsmittel. Gelöste hydrophobe Substanzen bewegen sich frei in der etwa5 nm dicken molekularen Lecithin-Doppelschicht, können sie aber nicht verlas-sen. Die freie Beweglichkeit in zwei Dimensionen begünstigt die Bildung vonMolekülkomplexen oder von Domänen mehrerer Fremdmoleküle innerhalb derLecithin-BLM. In menschlichen Zellmembranen betrifft das vor allem das Cho-lesterin, das sich als beweglicher Film an Membranproteine und an Lipide hef-tet und beide fest aneinander fügt. Cholesterin ist deshalb ein Bestandteil allerNerven- und Muskelgewebe.

100 g Eigelb enthalten zum Beispiel etwa 2 g Cholesterin, ein einzelnes Ei etwaein Gramm. Jedes heranwachsende Tier, jeder Mensch braucht zuerst ein funk-tionsfähiges Gehirn und dann ein Herz. In Butter ist der Cholesterinanteil 10-malkleiner, im Mais- und Sojaöl findet sich etwa ein Gewichtsprozent Pflanzensteroi-de, deren Sechs- und Fünfringe denen des Cholesterins gleichen, die aber mit ver-zweigten Seitenketten viel weniger schmiegsam sind. Nur Cholesterin kittet dieunterschiedlichen Proteine und Lipide der Zellmembran so fest zusammen, dassdie Membranen zu verlässlichen Barrieren für Ionenströme werden.

Die Evolution des Cholesterins war eine molekulare Voraussetzung für die Evo-lution der Nerven und Muskeln und damit für den Landgang der Tiere: erst Cho-lesterin, dann Knochen. Der aufrechte Gang im Schwerefeld, das Sehen undFühlen und Denken hängen von einer perfekt gedichteten Fettsäure-Protein-Zell-membran ab. Das kann das Cholesterin mit seiner steifen Stufe links und demunruhigen Fünfring mit seiner zweifach methylierten Seitenkette rechts. Ein70 kg schwerer Mann produziert etwa 700 mg Cholesterin am Tag. Das VerhältnisCholesterin :Lecithin ist in den sehr viskosen Plasmamembranen 1 :1, in fluidenMembranen im Inneren der Zelle hingegen nur 1 :9 (Abb. 3.34).

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran150

Abb. 3.34 Molekülstrukturen des Choleste-rins aus tierischem Gewebe und zweierPflanzensteroide aus Sojaöl.

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Die biomolekulare Architektur mit Cholesterin als Baumaterial ist oft vonüberragender Eleganz und Funktionalität. Vom Typ her – starrer Sechsring, ge-koppelt mit flexiblem Fünfring – gleicht das Cholesterin der Saccharose; durchelegant versetzte Zwischenringe und die mobile Seitenkette aber wurde es zumüberragend anpassungsfähigen Mörtel jeder Membranstruktur durchgestylt. So-zusagen ein Meisterwerk! Lecithin dringt mit seinen Fettsäureketten wohl kaumin ein Protein ein, aber es wird durch Cholesterin eng mit ihm verzahnt (sieheAbb. 3.19). Die weiter unten zu besprechenden Hormone schweben ähnlichsouverän über hydrophoben Bereichen der Proteine und trennen oder ver-knüpfen sie gleichermaßen von bzw. mit der Umgebung.

In Bezug auf die biologischen Wasserwege hat der Sechsring seinen Charak-ter auf dem Weg von der Glucose zum Steroid vollkommen verändert. Aus derGlucose, die in Wasser so leicht transportiert wird, nur an hydrophilen Oberflä-chen kleben bleibt und da gleich zu Carbonsäuren metabolisiert wird, ist fett-ähnliches Cholesterin geworden, das an allen fettigen Oberflächen haftet undDomänen und zum Beispiel in der Blutbahn molekulare Klümpchen bildet, diebiologisch nur sehr langsam abgebaut werden.

Nach einer fettreichen Mahlzeit trübt sich das Plasma des Blutes, seine Licht-streuung wird dreimal größer und normalisiert sich erst nach fünf Stunden wie-der. Der gemeinsame Transport von Fettsäuren mit dem wasserunlöslichen Cho-lesterin im Blut erfolgt in Form von Anlagerungsprodukten an verschiedene was-serlösliche Proteine oder an Fetttröpfchen mit einem Lecithin-Protein-Mantel.Das Transportprotein für Fettsäuren heißt Albumin, die vier unterschiedenenFetttröpfchen sind die relativ großen Chylomikronen (Molmasse 107; Massenver-hältnis Lipid :Protein= 99 :1), das Very-Low-Density-Lipoprotein VLDL (107; 10 : 1)– diese beiden rufen die Plasmatrübung hervor –, das Low-Density-LipoproteinLDL (3�106; 3 :1) und das High-Density Lipoprotein, HDL (3�105; 1 :1). Chylomi-kronen und VLDL nehmen das Cholesterin zunächst auf. Der VLDL-Komplexaber ist kurzlebig und übergibt das Cholesterin an LDL, wofür die dem Blut zu-gewandten „Plasmamembranen“ der Zellen Rezeptoren haben. LDL verschmilztmit der Membran und gibt das Cholesterin an die Zellmembranen ab, wo es drin-gend benötigt wird, um die Membranproteine dicht in die BLM aus Fettsäure-ketten einzufügen. Erst mit Cholesterin ist die Membran osmotisch aktiv, trenntNatrium- von Kalium-Ionen und erzeugt ATP mit Protonengradienten.

Überschüssiges Cholesterin aber ist problematisch. Es wird von scheib-chenförmigem HDL im Blut zurückgenommen, wobei das HDL sich zur Fett-kugel wandelt, zur Leber wandert und dort das Cholesterin wieder abliefert. DieLeber macht daraus entweder Micellen bildende, wasserlösliche Gallensäuren,die unlösliche Fette lösen, ohne Zellmembranen aufzulösen, oder sie baut es aboder entlässt es bei Bedarf wieder in den Blutstrom. Am LDL ist Cholesterin solocker gebunden, dass es im Überschuss auch von Arterienwänden adsorbiertwird, die eigentlich keine neuen Zellen aufbauen. Das trägt zu einer langsamfortschreitenden Verstopfung (Stenose) bei, führt zur Arteriosklerose und zumHerzinfarkt. Andererseits resorbieren auch wichtige, sich teilende Zellen dasCholesterin von diesem Trägersystem.

3.4 Cholesterin als flüssigkristalline Einheit 151

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Hohe Cholesterinwerte beruhen auf der Eigenproduktion in der Leber und ha-ben mit der Nahrung wenig zu tun. In diesem Zusammenhang ist wohl nur vomDotter des Hühnereis abzuraten. Jedes Ei enthält etwa 1 g Cholesterin und diezehnfache Menge an gesättigten Fettsäuren. Dieses zusätzliche Cholesterin gehtzwar vorwiegend an HDL und wird in der Leber oxidativ abgebaut, aber das istmühselig und langsam. Von „gutem“ Cholesterin kann keine Rede sein, auchwenn das immer wieder verbreitet wird. Es wirkt bei fettreicher Ernährung wieein schwer verdaulicher Fremdkörper und die 50 g gesättigten Fettsäuren aus ei-nem Eigelb sind problematisch. Das Eigelb ist deshalb im Gegensatz zum Eiweißkein nützliches Nahrungsmittel und sollte vermieden werden, wenn ein Herz-infarkt droht und man ein Übermaß an Fett und Cholesterin fürchten sollte (Abb.3.35).

Die Unterbindung der Eigenproduktion durch Cholesterinsenker gelingt che-misch mühelos, indem man die Synthese des Cholesterinvorläufers Mevalon-säure (HOOC-CH2-C(OH)(CH3)-CH2-CH2OH) durch Hemmung einer von au-ßen leicht zugänglichen Oxidase blockiert. Dafür gibt es inzwischen ein Dut-zend geeigneter, billiger Substanzen, die durch Patentschutz und Reklamekam-pagnen verteuert werden. Sie werden in großer Menge an Wohlstandsbürgermit prallen Adipocyten verkauft.

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran152

Abb. 3.35 Modell der Cholesterin und Fett transportierendenLipoproteinpartikel im Blutplasma: Chylomikronen, die dieTrübung des Bluts nach einer Mahlzeit verursachen, Very LowDensity Lipoprotein (VLDL), Low Density Lipoprotein, LDL,und High Density Lipoprotein, HDL, das Cholesterin zurLeber trägt, wenn die Proteine intakt sind.

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Die besten Verkaufsargumente für die eigentlich nutzlosen Cholesterinhem-mer sind zum einen der erste erlittene, sehr schmerzhafte und immer als le-bensbedrohend empfundene Herzinfarkt und zu anderen die Statistiken, die ei-nen geringen Chlesteringehalt und mit einer etwas niedrigeren Infarktrate inZusammenhang bringen. Manche Cholesterinsenker bringen so bis zu vier Mil-liarden Euro Umsatz im Jahr. Trotzdem bleibt es zweifelhaft, dem Körper in Be-zug auf die Behandlung seiner Zellmembranen Vorschriften machen zu wollen.

Hier sollte die demokratische Gesellschaft zumindest das Laster der Völlereimit hohen Versicherungsraten bestrafen, denn es ist wenigstens so schädlichwie das Rauchen, das die Lungenbläschen verdirbt und die Beladung der Ery-throcyten durch üble, obendrein Krebs erregende Teerfilme behindert. Überge-wicht und Trägheit kosten die Gemeinschaft noch mehr. Allerdings: Die Choles-terinsenker funktionieren. Man isst sie, und die Eigensynthese geht in den Kel-ler. Leute mit einem Herzinfarkt nehmen also Cholesterinsenker, denn sie wol-len keinen zweiten. Nach einem Infarkt stellt man keine Fragen mehr, sondernhört auf die Statistiker.

Auch die Pflanzen haben Dichtungsmaterial für ihre Membranen, das Phytos-terol. Es taugt nicht viel – ist längst nicht so wirksam wie Cholesterin –, aberman extrahiert es automatisch aus Sojabohnen, wenn man deren Proteine iso-liert. Dann liegt tonnenweise Phytosterol auf Halde und wird verbrannt. DieDiätmargarine-Leute erlagen der Verlockung, Phytosterol in ihr ohnehin zwei-felhaftes Produkt zu mischen und Reklame zu machen, dieses Gemisch senkeden Cholesterinspiegel im Blut. Wahrscheinlich aber verstopft es die Blutgefäßein ähnlicher Weise wie überschüssiges Cholesterin. So ersetzt man den evolu-tionären Gründerstoff der Tierwelt teilweise durch sinnloses Pflanzensteroidund niemand weiß genau, was Phytosterol darüber hinaus im tierischen Körperanrichtet. Nach der üblichen Testperiode von 30 Jahren wird es in Europa undAmerika vermutlich wieder mehr Herzinfarkte geben als je zuvor.

Neben dem Cholesterin, das im Körper 10- bis 100-Gramm-weise auftritt, gibtes Steroidhormone in Mikrogrammmengen. Hormone (griech. horman, „anre-gen“) sind Stoffe, die in winzigen Mengen von Drüsen in verschiedenen Regio-nen des Körpers synthetisiert und ins Blut abgegeben werden. Dort finden sieZielorgane und verändern den Ablauf chemischer Reaktionen. Steroidhormonesind vor allem aktiv bei der Steuerung der Synthese von Proteinen: Anabolikastarten sie, Katabolika bremsen sie. Anabolika sind bei der Schwangerschaft (Ei-sprung und Aufbau der Gebärmutter) sowie beim Muskelaufbau nützlich.

Estradiol (im Deutschen häufig Östradiol geschrieben) ist ein vorwiegendweibliches Hormon und reguliert den Eisprung, das synthetische Norgestrel istder wirksamste Bestandteil der Antibabypille und stürzt bei regelmäßiger Ein-nahme den Aufbau der Gebärmutterproteine ins Chaos. Testosteron ist vorwie-gend ein Männerhormon und induziert zum Beispiel gegenläufige Proteinauf-bau- und abbauwege beim Muskelwachstum und Haarausfall. Nandrolon (nichtabgebildet), dem eine der beiden Methylgruppen des Testosterons fehlt, ist hin-gegen ein typisches Anabolikum. Alle natürlichen Steroidhormone findet manbei Frauen wie bei Männern, alle Anabolika haben bei beiden ähnliche Wirkung

3.4 Cholesterin als flüssigkristalline Einheit 153

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(mit Ausnahme der Schwangerschaft). Geschlechter und Individuen unterschei-den sich vor allem hinsichtlich der Mengen.

DHEA (Dehydroepiandrosteron) und sein Sulfat gelten als Ursubstanz unse-rer Steroidhormone. DHEA induziert wahrscheinlich Enzyme, die Peroxide zer-stören, mildert die Entzündungen bei Rheuma und Autoimmunkrankheiten, re-guliert die katabolischen Wirkungen des Cortisons. Es schützt die Blutgefäßevor Verfettung (Arteriosklerose), Quervernetzung, Entzündung und verhindertschlecht regulierten Muskelschwund und Krebs – alles typische Altererschei-nungen. Kein Wunder, dass der DHEA-Spiegel eines 30-Jährigen 10-mal höherist als der eines 65-Jährigen. Jeden Morgen 10 mg davon eingenommen, einkleines Glas Milch als fettiges Lösungsmittel dazu – und der Spiegel ist wiederauf alter Höhe. Vielleicht macht der aktive Körper daraus auch Sexualhormone.Einen statistisch relevanten Nachweis gibt es für diese positive Wirkung nicht(Abb. 3.36).

Das meist benutzte Katabolikum heißt Cortisol oder Hydrocortison. Es ist dasan C-11 hydrierte Derivat des Cortisons und entsteht aus diesem im Körper. Cor-tisol ist die Basis für die Bekämpfung von Entzündungen im Körper und auf derHaut. Das umfassende Wirkungsspektrum des Blockers für Proteinsynthesen inverschiedenen Organen umfasst Akne, Arthritis, Leber-, Magen- und Nieren-erkrankungen, Infektionen, Diabetes, Ohren- und Kehlkopfschmerzen. Cortisonwird aber auch bei der Höhenkrankheit, Allergien, Herztransplantationen undvielen anderem eingesetzt. „Cortison-Therapie“ ist ein so umfassendes Thema

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran154

Abb. 3.36 Die Struktur des Hormonvorläufers DHEA und dreierHormone. Cortison ist das klassische Katabolikum, es verhindertdie Proteinsynthese in schnell wachsenden Bakterienkolonien undfördert als Hydrocortison oder Cortisol Depressionen. Testosteronund Östradiol sind anabolische Geschlechtshormone, die die Syn-these von Spermien und Eizellen steuern.

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und unter diversen Aspekten auch ein Phänomen vorübergehender medizini-scher Moden, dass ihm wahrscheinlich mehr enthusiastische und warnende wis-senschaftliche Artikel als irgendeinem anderen Medikament gewidmet wurden.

Cortisol ist auch eines der wirksamsten Stresshormone des Gehirns. DieSchmerzen der Cholera zum Beispiel lassen sich vor allem Dank seiner Hilfeüberstehen. Der Mensch produziert es dann selber. Nach Perioden der Hoff-nungslosigkeit aber bleibt der hohe Cortisolbestand des Körpers oft jahrelangerhalten und behindert das Lern- und Erinnerungszentrum bei der Arbeit. DerHippocampus schrumpft, späte manisch-depressive Phasen enden oft mitSelbstmordversuchen. Die Chemie des Gehirns hilft dem Körper Stress undLeiden zu ertragen, um das Vergessen kümmert sie sich nicht.

Cortisol und seine Derivate (Corticoide) wirken über Rezeptorproteine auf derOberfläche von DNS (siehe Seite 257 f). Die Einlagerung des Cortisols leitet dortReaktionsketten ein, die entweder die Proteinsynthese unterbinden – „genom-ische Wirkung“ bei der Übersetzung, der „Translation“, von DNS-Informationenin Protein-Sequenzen – oder die Proteinsynthese in späteren Stadien (posttrans-lational) hemmen. Beides dauert Stunden, Cortisol wirkt langsam. SchnellereWirkungen werden erzielt, wenn die Verbindung als Phosphatester intravenösgespritzt wird.

Fast alle Corticoide können auch gegessen werden. Innerhalb von ein biszwei Stunden erreichen sie im Blut ihre maximale Konzentration, ihre Halb-wertszeit beträgt zwei bis drei Stunden, ihre biologische Wirksamkeit hält einbis zwei Tage an. Die Nebenwirkungen sind dann ebenso vielfältig wie die Wir-kungen: Schlaflosigkeit, labile Gefühlslage, Appetit- und Gewichtszunahme sindcharakteristisch von Beginn an, weil Cortison auch ein Glucocortoid ist, dasdafür sorgt, dass Glucose auf unterschiedlichsten Wegen nachgeliefert wird,wenn der Blutzuckerspiegel über die Maßen sinkt. Der Körper macht dann dieGlucose auch aus Fetten und Aminosäuren (Seite 210). Längerfristig bewirktCortison Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Allergien, Magengeschwüre undAkne – Krankheiten also, die eigentlich bekämpft werden sollten. Außerdemkommt es zu bedrohlichen Zuständen, wenn das Cortison abgesetzt wird unddie gedrosselte Cortisolproduktion des Körpers zu extremen Mangelzuständenführt. Hormonbehandlungen sollten deshalb nur in Notfällen und nur in Klini-ken durchgeführt werden, die Erfahrung mit der angemessenen Dosierung undder zeitlichen Wirkung verschiedenster Cortison-Derivate haben und auf Ände-rungen schnell reagieren.

Der Massengebrauch des Cortisons sollte zurückgefahren werden. Was Ärzte„wissen“, kommt aus statistischen Langzeituntersuchungen an Mensch undTier, aus denen man für jede Einzelwirkung eine breite, glockenförmige Wahr-scheinlichkeitsverteilung erhält. Bei auftretender Depression oder Haarausfallzählt allein die individuelle Befindlichkeit und nicht die Statistik.

3.4 Cholesterin als flüssigkristalline Einheit 155

Page 166: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Fragen zu Lecithin und Steroiden

1. Was wissen Sie über das Altern der Blut-Hirn-Schranke?2. Wieso haben biologische Zellen keine Ecken, sondern sind rund?3. Gibt es Pflanzenfette mit �-3-Fettsäuren?4. Welches Öl benutzt man bei der Ölmalerei? Warum nimmt man kein Oli-

venöl?5. Wieso beruhigt sich die stürmische See in einem Hafenbecken, wenn man

Öl (flüssiges Fett) draufschüttet?6. Wieso wäscht eine Seifenlösung einen Fettfleck aus einem Pullover?7. Wieso glätten sich Haare nach dem Waschen mit Invertseife (besitzt eine

positiv geladene Kopfgruppe)?8. Wieso enthält das Fett der Kokosnuss wie das der Kuh vorwiegend gesättig-

te Fettsäuren, während Gras und Fische viel mehrfach ungesättigte Fettsäu-ren enthalten?

9. Warum machen Fettsäureester von Zucker („Olestra“) nicht dick?10. Was ist das Mundgefühl beim Essen?11. Ein 50-jähriger, 77 kg schwerer Mann verbraucht etwa 10 000 kJ (2400 kcal),

eine 50-jährige 65 kg schwere Frau 8000 kJ (1900 kcal) täglich. VergleichenSie das mit dem Tagesverbrauch einer 100-Watt-Glühlampe. 1 Watt = 1 J/s.

12. Was passiert, wenn Sie eine konzentrierte Natriumsulfatlösung trinken(„Fasten“)?

13. Wann sollte man das Wassertrinken kurz unterbrechen?14. Durch welche Organe fließt das meiste Blut?15. Wie funktioniert die Farbgebung durch farblose Flüssigkristalle?16. Welche Ursubstanz der Steroidhormone wird gerne gegessen?17. Welchen Unsinn treiben Diätmargarinen mit Sojabohnensteroiden und

mehrfach ungesättigten Fettsäuren?

3 Lecithin: Fünf Nanometer Fettmembran156

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Teil 2Molekulare Module für chemische Wechselwirkungen,Nerven, Muskeln, Atmung und das Sehen

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Protonen im All, Proteine in unserem Sein,die nehmen die ersten Plätze ein.Tyrosin ankert da sensibel,und kleben tut es auch nicht übel.

Überblick

4.1 Tyrosin ist eine von zwanzig �,L-Aminosäuren, die, über Amidbindungenkovalent miteinander verknüpft, die Proteine bilden. Jede dieser Aminosäu-ren enthält einen spezifischen Substituenten, der in den Proteinen als Sei-tenkette erscheint. Im Tyrosin ist das ein Benzolring mit einer leicht saurenOH-Gruppe, eine Phenolgruppe. Benzol ist ein „aromatischer“ Sechsring-Kohlenwasserstoff, C6H6, mit drei konjugierten Doppelbindungen. Er un-terscheidet sich von einem offenkettigen Polyen mit drei konjugierten Dop-pelbindungen durch sein Absorptionsspektrum und durch seine überragen-de thermische Stabilität. Beides beruht auf der Mesomerie der drei kon-jugierten Doppelbindungen. Benzol dringt in jede hydrophobe Lücke ander Oberfläche von Proteinen ein, was für die Wirksamkeit der Benzol- undPhenolderivate als Aromen, Pharmaka und Neurotransmitter verantwortlichist. Außerdem bildet das Phenol leicht Phenolat-Anionen, die von Sauer-stoff und anderen Oxidationsmitteln zu Radikalen oxidiert werden. Aspirinblockiert durch Umesterung mit einem Phenolacetat die Aggregation von

159

4Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen

Page 170: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Blutkörperchen. Die �,L-Aminosäure-Gruppierung des Tyrosins wird aus-schließlich zum Einbau des Tyrosins in Proteine verwandt. Tyrosin undachtzehn andere Aminosäuren sind chiral, weshalb ihre Polyamide häufigSchrauben (Helices) formen.

4.2 Polymere Aromaten dienen in der Natur (Lignin, Melanin) und Technik(Bakelit, Anilinschwarz) als wasserfeste Füllmaterialien und bilden stabile,variable Farbtupfen in polymerer Matrix (Pelargonidin). Sie eignen sichaber nicht als Bausteine definierter Fasern und Rohrleitungen.

4.3 Proteine sind lineare Polyamide, NH2(CHR–CO–NH–)nCOOH, aus zwanzigdurch die Art von R verschiedenen �,L-Aminosäuren. Die Abfolge der Amino-säuren 1 bis n heißt Sequenz oder Primärstruktur, die wichtigste Sekundär-struktur ist die Helix. Tyrosin ist eine �,L-Aminosäure mit einer leicht acidenPhenolgruppe. Wegen ihres flachen und hydrophoben Benzolrings drängt siesich in hydrophobe Taschen an Proteinoberflächen und ist deshalb der idealeAnker von Pharmaka und Neuropeptiden an Rezeptor- und Enzymoberflä-chen. In der pflanzlichen Photosynthese leitet der Phenolring des Tyrosinseinzelne Elektronen, indem er reversibel Radikale bildet.

4.4 Tyrosin ist ein klebriger Bestandteil des Insulins, das Membranporenöffnet. Tyrosinphosphat gibt das Signal zur Aufnahme von Zucker in derZelle weiter.

Oft ist es nützlich zu wissen, aus welchem biologischen Material und auf wel-che Weise ein Naturstoff zum ersten Mal isoliert wurde. Solche ersten Versuchesind meist einfach, bleiben deshalb im Gedächtnis haften und geben einen blei-benden Eindruck von den Moleküleigenschaften.

Die drei bisher beschriebenen Moleküle – Wasser, Glucose und Lecithin, diewichtigsten Baustoffe des Lebens – waren direkt zugänglich. Wasser fließt denMenschen seit Jahrmillionen in reinem Zustand zu, weil die Sonne es aus demMeer in die Wolken destilliert, von wo es im reinen Zustand herabregnet.Glucose wurde zuerst 1792 aus eingedicktem Traubensaft kristallisiert undals „Traubenzucker“ von „Rohrzucker“ unterschieden. Lecithin-Gemische lassensich zusammen mit viel Fetten, Carotin und Cholesterin als schmieriges „Ei-gelbpulver“ isolieren, wenn man Hühnereier kocht. Das Protein verfestigt sichals Eiweiß-Gel und entzieht dem Dotter das meiste Hydratwasser der Lecithin-schichten. Aus dem getrockneten Dotterpulver werden die Lecithine am bestendurch Wasserdampf herausgelöst, Fette und Cholesterin bleiben ungelöstzurück. WaGluLe sind also leicht zu haben, wobei WaGlu reine Verbindungen,Le aber ein wildes Gemisch verschiedener, aber einander ähnlicher Fettsäurees-ter und Phosphatester ist.

Das Tyrosin ist eine von zwanzig Aminosäuren, kovalent als Amid in Protei-nen gebunden, also nicht direkt zugänglich: Tyrosin wird aus Proteinen mitstarken Laugen freigesetzt und kann erst danach aus Wasser kristallisiert wer-den. Das erste Mal gelang das 1846 mit dem käsebildenden Protein der Milch(Caseïn) als Ausgangsmaterial und geschmolzener Kalilauge (KOH). Mischteman die beiden bei 200 �C, so zersetzte sich das Casein fast quantitativ zu Am-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen160

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moniak, Wasser, Wasserstoff und wasserlöslichen Zersetzungsprodukten. Nurdas Tyrosin war bei der großen Hitze in der Lauge stabil und kristallisierte nachZugabe von Essigsäure als reiner „Käsestoff“ (griech. tyros, „Käse“) aus. 100 gCasein gaben etwa 1 g Tyrosin. Das Verfahren wurde auf Albumin aus Blut,Ochsenhorn, Haaren, Vogelfedern, Muskeln, Hautschuppen und Tierkadavernübertragen. Man fand in fast allen Proteinen ein bis zwei Gewichtsprozent Tyro-sin mit den immer gleichen charakteristischen Eigenschaften extremer Stabilitätund Schwerlöslichkeit in schwach saurem Wasser.

4.1�,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine

Ein „Modul“ ist ein funktioneller Teil einer Maschine, also zum Beispiel einRad, eine Bremse usw. So etwas ist das Tyrosin als extrem variabler Bausteinbiologisch aktiver Proteine. Tyrosin ist eine �,L-Aminosäure mit einem Phenol-ring; � bedeutet hier, dass Amin und (Carbon-)Säure benachbart sind, L weistauf die Chiralität des �-Kohlenstoffatoms hin, das vier verschiedene Substituen-ten trägt: ein Proton, ein Phenol, eine Carboxyl- und eine Aminogruppe. Phenolund Amin sind Bausteine, die in der Glucose und im Lecithin nicht vorkom-men. Wir werden sie deshalb im Folgenden zuerst beschreiben, einführen sozu-sagen.

Nach H, C, O und P aus SCHÖPFeN in den Gerüststoffen der Pflanze (Glu-cose) und Tiere (Lecithin) kommen wir nun zu N, dem Stickstoffatom (griech.nitro-gen, „Nitrat-Bildner“), dem letzten Element aus dem CNO-Fusionszyklusder mittleren Sterne. Die CHO-Verbindungen mit ein bisschen Phosphat sindeinfach und übersichtlich. Ihre molekulare Welt lässt sich mit hundert Abbil-dungen und ein paar Erklärungen gut darstellen. Die Addition des Stickstoffsaber führt zu Proteinen, Nucleinsäuren und Heterocyclen unglaublicher Viel-falt. Von jetzt an müssen ausgewählte Beispiele genügen: Von zwanzig Amino-säuren der Tiere und Menschen beschreiben wir nur das Tyrosin, von Tausen-den bekannter Proteine müssen ein paar wichtige Strukturtypen und das Ver-halten eines Dutzends auffälliger Individuen genügen.

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 161

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Obwohl der Name Nitrogen des Elements an das Nitrat-Anion, NO3–, die Mut-

ter aller Sprengstoffe, erinnert, ist der reduzierte Stickstoff in Form des Ammo-niaks, NH3, als Muttersubstanz der biologischen Stickstoffverbindungen aufzu-fassen. Alle biologischen Organismen haben ein Reduktionspotenzial von nullVolt, was dem Potenzial des reduzierend wirkenden Wasserstoffmoleküls aufder einen Seite einer Membran im Kontakt mit Protonen, auf der anderen Seiteeiner Membran entspricht.

Ammoniak, NH3, ist ein Gas, das in großer Konzentration brennend nachSalmiak riecht, verdünnt nach Urin. Flüchtige Stickstoffverbindungen riechengenerell, oft in Verbindung mit Schwefelverbindungen, nach Kadavern, nachKot, nach Tod und Verderben. Diese Gerüche sind deshalb psychologisch oftekelerregend, die gasförmigen Amine und Schwefelverbindungen (Zwiebel,Knoblauch) aber kaum giftig. Schwer giftige Gase sind hingegen oft geruchlos(Kohlenmonoxid) oder riechen angenehm nach Mandelblüte (Blausäure) oderaromatisch (Benzolderivate, Tetrachlorkohlenstoff). Man kann eine Lebensge-fahr oft sehen und hören, aber kaum riechen.

Ammoniak wird bei –33 �C flüssig und gefriert bei –78 �C. Flüssiger Ammoni-ak enthält ähnlich wasserstoffverbrückte Cluster wie Wasser, seine Dielektrizi-tätskonstante (22 Debye) ist aber viermal kleiner.

Ammoniak ist extrem gut wasserlöslich. Bei –90 �C fallen zwei Hydrate aus(NH3 · H2O und 2NH3 · H2O), die durch Wasserstoffbrücken verknüpft sind. Esgibt in diesen Hydraten kein NH4OH, sondern nur Wasserketten, die durchAmmoniak quervernetzt sind. Auch in wässriger Lösung gibt es kein NH4OH,wohl aber die Ionen NH4

+ und OH–. Die OH–-Ionen machen das Ammonium-hydroxid zu einer Base. Eine einmolare wässrige Ammoniaklösung (17 g/L) ent-hält nur 60 mg NH4

+ plus OH–, obwohl das Salz NH4OH vollständig dissoziiertist. Gelöstes Ammoniakgas liegt im hundertfachen Überschuss vor!

Der Ammoniakstickstoff hat fünf Außenelektronen, die sich in vier tetraed-risch angeordneten Orbitalen bewegen, die wir vom Kohlenstoff (Seite 61) undSauerstoff (Seite 15) schon kennen. Drei Orbitale vom Stickstoff sind zur Hälftebesetzt und können je ein Elektron von anderen Atomen aufnehmen, zum Bei-spiel von den drei Wasserstoffatomen des Ammoniaks, vom Kohlenstoff, waszu Aminen führt, oder von anderen Stickstoffatomen. Diese sechs „bindenden“Elektronen oder drei Elektronenpaare befinden sich dann zwischen je zwei Ato-men. Das übrig bleibende, nur am Stickstoffatom befindliche Elektronenpaarheißt „einsam“ oder „nichtbindend“.

Ungebundene, einsame Elektronenpaare kennen wir schon vom Sauerstoff,der über zwei davon verfügt (Seite 15). Wasserstoff und Kohlenstoff bindet derStickstoff immer mit insgesamt drei Bindungen. Das können beim Kohlenstoffdrei Einfachbindungen oder eine Doppelbindung und eine Einfachbindungoder eine Dreifachbindung sein. Ein Elektronenpaar aber bleibt „ungebunden“oder „frei“. Wasserstoff ist immer „einbindig“ oder „einwertig“, Sauerstoff im-mer zweiwertig, Stickstoff meist dreiwertig und Kohlenstoff fast immer vierwer-tig (Ausnahme: CO). Anders ausgedrückt: Ein Wasserstoffatom kann ein Elekt-ron aufnehmen, Sauerstoff zwei, Stickstoff drei und Kohlenstoff vier (Abb. 4.1).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen162

Page 173: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Es sind aber auch vier Bindungen zum Stickstoff möglich, wenn nämlich dasungebundene, einsame Elektronenpaar ein Proton oder eine Methylgruppe ohneElektron bindet: Das Stickstoffatom reagiert dann als „Base“, die mit ProtonenAmmonium-Ionen, NH4

+, und mit Methylgruppen Tetramethylammoniumsalzebildet. Solche protonierten oder alkylierten Stickstoffatome sind die einzigen po-sitiv geladenen Zentren von Kohlenstoffverbindungen. Nur Ammoniumverbin-dungen tragen eine volle positive Ladung an einem einzigen Atom und nur sielagern sich an biologische und geologische Oberflächen an, die durch saure OH-Gruppen aller Art (Phosphat, Oxid, Carboxylat) fast immer negativ aufgeladensind. Die positive Ladung der Ammoniumverbindungen ist einerseits der wirk-samste Überträger chemischer Botschaften zwischen biologischen Zellverbänden,insbesondere beim Acetylcholin, CH3COO(CH2)2N(CH3)3

+, dem häufigsten Neu-rotransmitter zwischen den Enden von Nerven- und Muskelfasern (siehe Seite243, 251 ff). Andererseits sind manche Ammoniumverbindungen schwere Zell-und Atemgifte, weil sie negativ geladene Rezeptorproteine dauerhaft blockieren(Abb. 4.2).

Außerdem bildet der Stickstoff, ebenso wie Kohlenstoff, Doppel- und Drei-fachbindungen aus. Im Benzol ersetzt der dreiwertige Stickstoff zum Beispieleine ebenfalls dreiwertige CH-Gruppe, es entsteht Pyridin, C5H5N. Pyridin ist

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 163

Abb. 4.1 Verteilung der fünf Außenelektro-nen des Stickstoffatoms in vier Orbitalen.Eines der Orbitale ist schon mit zwei Elekt-ronen gefüllt, deren Spins gepaart sind. Die-ses Orbital kann von anderen Atomen keine

Elektronen mehr aufnehmen, es ist nichtbin-dend. Die drei anderen Orbitale sind bin-dend, wenn sie je ein Elektron von anderenAtomen, zum Beispiel Wasserstoff oder Koh-lenstoff, übernehmen (siehe Abb. �).

Abb. 4.2 Ammoniak und sein protoniertes (oben) bzw. tetra-alkyliertes (unten) Kation. Der Bindungswinkel des Ammoni-aks ist 107,3�, also dem Tetraederwinkel des Methans nahe.

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fast genauso hitzestabil wie Benzol und stinkt widerlich. Die Geruchsstoffe In-dol und Skatol der Faeces (Kot, Scheiße, Seite 78 f) sind ähnlicher Natur.

Die stabilste Bindung des Stickstoffs ist die Dreifachbindung. Sie tritt zumBeispiel im Stickstoffgas der Luft, N2, und in der Blausäure, HCN, auf. Blau-säure entsteht unter anderem, wenn elektrische Entladungen („Blitze“) auf Ge-mische von Kohlenstoff- und Stickstoffverbindungen treffen, z.B. N2 + CO2 oderNH3 + CH4 (Seite 78 f). Die Hitzestabilität der Dreifachbindung erklärt sich da-raus, dass die Spaltung der Bindung nur dann erfolgt, wenn alle drei Bindun-gen gleichzeitig gelöst werden. Das ist unwahrscheinlich und deshalb selten.Die drei Bindungen wirken kooperativ (Abb. 4.3).

Die �,L-Aminosäuregruppe des Tyrosins fixiert dieses über eine Amidbin-dung, –CO–NH–, in Proteinen. � bezeichnet die direkte Nachbarschaft der Ami-no- und Carbonsäuregruppen an einem Ende der zwanzig proteinbildenden(proteinogenen) Aminosäuren, „L“ steht für die chirale Konformation des �-Kohlenstoffatoms (das neben der Carboxylgruppe). Wichtig ist die Einheitlichkeitder Händigkeit (Seite 71 f): In den Proteinen gibt es ausschließlich linkshändigeAminosäuren, rechte Hände kommen nicht vor. Daraus erklärt sich die einheitli-che Schraubung der Helices in biologischen Geweben.

Die zwanzig verschiedenen Reste R der proteinogenen Aminosäuren in Abbil-dung 4.4 sind hydrophob (Phe, Trp, Leu, Ile, Val, Met, Glu, Gln) oder hydrophil(Arg, Asp, Lys, Ser, Thr), manche sind sauer (Asp, Glu), andere basisch (Arg,Lys), extrem flexibel (Pro) oder sehr stark zur oxidativen Vernetzung neigend(Sh, Lys). His ist ein guter Säure-Basen-Puffer bei pH= 7. Die Eigenschaften derAminosäurereste bestimmen erstens die Faltung der Proteine (hydrophob paartmit hydrophob, Säure paart mit Base, hydrophob geht nach innen, hydrophilnach außen in wässriger Lösung). Zweitens ermöglichen sie äußerst komplexeReaktionsmuster von Proteinen, in denen Tausende von Aminosäuren je nachLage und Zugänglichkeit unterschiedliches Verhalten zeigen. Cystin vervielfachtzum Beispiel über S–S-Brücken das Molekulargewicht der Proteine z.B. in Haa-ren und Pigmenten (Seite 190) und macht sie unlöslich; Lysin produziert geord-nete Tetramere, Prolin begünstigt die Entstehung von Tripelhelices (Seite 196)und die Faltung von Proteinsträngen (Abb. 4.4).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen164

Abb. 4.3 Wichtige Stickstoffverbindungen mit Doppel- undDreifachbindungen. Im Pyridin, C5H5N, ist eine CH-Gruppedes Benzols durch N ersetzt. Der molekulare Stickstoff derLuft, N2, enthält ebenso wie die Blausäure, HCN, eine Drei-fachbindung.

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4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 165

Abb. 4.4 Molekülstrukturen der 20 Amino-säuren von Proteinen und die gängigen Ab-kürzungen ihrer Namen. Die Computer-abkürzung besteht nur aus einem Buchsta-ben: Glycin (Gly, G), Alanin (Ala, A), Arginin(Arg, R), Asparagin (Asn, N), Asparaginsäure(Asp, D), Cystein (Cys, C), Glutamin (Gln,

Q), Glutaminsäure (Glu, E), Histidin (His,H), Isoleucin (Ile, I), Leucin (Leu, L), Lysin(Lys, K), Methionin (Met, M), Phenylalanin(Phe, F), Prolin (Pro, P), Serin (Ser, S),Threonin (Thr, T), Tryptophan (Trp, W),Tyrosin (Tyr, Y) und Valin (Val, V).

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Acht der zwanzig Aminosäuren sind „essenzielle“ Nahrungskomponenten.Sie müssen täglich aus der Nahrung zugänglich sein, weil die Menschen ver-lernt haben, sie selbst zu synthetisieren, ohne sie jedoch weder lebenswichtigeMuskeln noch Nerven oder Erythrocyten produzieren können. Diese partielleUnfähigkeit, aus eigener Kraft zu leben, ist eine typische Degenerationserschei-nung der Zivilisation: Irgendwann hatte es der Bauer nicht mehr nötig, komple-xe oder wenig beständige Aminosäuren selbst zu machen. Sein Hof, sein Ge-treide und sein Vieh sorgten schon dafür.

Die täglich minimal benötigten Mengen und die Zusammensetzung typischerNahrungsmittel sind in Tabelle 4.1 zusammengefasst. Proteine sind mit Ab-stand die teuersten Grundnahrungsmittel: Ein Kilogramm Protein kostet rund10 Euro, ein Kilogramm Fett 2 Euro und ein Kilogramm Stärke 1 Euro. Diewertvollsten Nahrungsproteine ähneln in ihrer Zusammensetzung den Human-proteinen. Tierische Proteine sind den pflanzlichen überlegen. Gut verdaulicheProteine enthalten außerdem große Anteile von Einzelhelices, die viel Wasseraufnehmen und deshalb leicht zu hydrolysieren, leicht verdaulich sind. Außer-dem fördern Kochen und Braten die Verdaulichkeit (Tab. 4.1).

Vor der biologischen Evolution, die sich durch versteinerte Fossilien in dieferne Vergangenheit Hunderte von Millionen Jahren zurück verfolgen lässt,könnte auf der Erde vor drei bis vier Milliarden Jahren eine „präbiotische“ oder„chemische“ Evolution stattgefunden haben in Form einer spontanen und wahr-scheinlich massenhaften Entstehung von Kohlenstoffverbindungen. Dafür gibt

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen166

Tab. 4.1 Anteile der essenziellen Aminosäuren in Nahrungs-mittelproteinen.

Verbraucher(Milligrammpro Tag)

Quellenausbeute(Milligramm Aminosäurepro Gramm Stickstoff )

Mann Frau Kuhmilch Eiweiß Rind Weizen

Isoleucin 700 450 407 428 332 262Leucin 1100 620 630 565 515 442Lysin 800 500 496 396 540 126(die Lysinwerte gelten nur ohne Backen und Braten; Lysin ist empfindlich)

Methionin 1100 550 154 196 154 78Phenylalanin 1100 1120 311 368 256 322(daraus auch Tyrosin und DOPA)

Threonin 500 305 295 310 275 174Tryptophan 250 157 90 106 75 69Valin 800 650 440 460 345 262

Proteingehalt der Feststoffe: Milch 25%; Eiweiß 100%;Rind 40–80%; Weizen 15%

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es keine fossilen Zeugen und es sind auch keine zu erwarten. Chaotische Ge-mische metastabiler Substanzen hinterlassen keine Steinabdrücke. Andererseitsentstehen aus Wasser allein keine Zellmembranen, Zellkerne und Proteine, kei-ne Rohrsysteme zur Wasserleitung (Leben) oder sich teilende Zellen.

Dieser Mangel an erdgeschichtlich alten Proben macht naturgemäß jede For-schung zur Entstehungsgeschichte der Moleküle und jede Ahnenreihe spekula-tiv. Zunächst ist die Annahme unwiderstehlich, dass die präbiotische Chemieauf der glühenden Magmakugel, die sich nur langsam abkühlte, Hochtempera-turchemie gewesen sein muss. Deshalb beginnt man mit einer hitzestabilenund gleichermaßen reaktiven Verbindung aus Kohlenstoff und Stickstoff, ausder Aminosäuren und Nucleinbasen (Seite 221) entstehen könnten. Das ein-fachste Molekül dieser Art ist Blausäure, HCN. Deren Reiz liegt vor allem da-rin, dass HCN elektropositiven Kohlenstoff (Yang) enthält, während nach Ab-spaltung eines Protons das Cyanid-Anion, CN–, entsteht, also elektronegativerKohlenstoff (Yin). Wenn Blausäure in Wasser also zu CN– und H+ zerfällt, kannCN– mit dem C(+) von HCN reagieren, sich eine C–C-Bindung bilden und sodie „Ursynthese“ (Yin-Yang, I Ging) stattfinden (Abb. 4.5).

Tatsächlich entstehen die beiden einfachsten �-Aminosäuren, Glycin und Ala-nin, spontan, wenn man elektrische Entladungen durch Wolken aus Wasser-dampf, Stickstoff oder Ammoniak und Methan fahren lässt. Zuerst bildet sichdabei in größeren Mengen wie erwartet Blausäure. Das ist eine plausible Ursyn-these, wie sie sich in der Uratmosphäre des sich abkühlenden Planeten Erdezugetragen haben könnte. Außerdem fand man nach der Blausäure Ameisen-säure (4%), Glycin, Alanin und Milchsäure (je 2%). Formaldehyd, der Urkörperder Kohlenhydrate (siehe Seite 63 ff), und Tyrosin oder Phenylalanin, die ther-misch stabilsten Aminosäuren, sind allerdings ebenso wenig in dem Urgemischenthalten wie die unverzweigten Kohlenwasserstoffketten der Fettsäuren.

Glycin und Alanin aber endeten vielleicht auf Felswänden, wanderten in dieZwischenräume der Gittersilicate und polymerisierten dort zu seidenähnlichenProteinen ohne Stereochemie und Materialwert. Ein Anfang wäre gemacht wor-den – die Blausäurechemie hätte die Synthese von Kohlenstoffverbindungen aufder Erde etabliert. So kann man es sich vorstellen und Plausibleres ist bis heuteniemandem eingefallen (Abb. 4.6).

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 167

Abb. 4.5 Die plausible Ursynthese einer C–C-Bindung ausBlausäure, HCN.

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Vom Ergebnis der biologischen Evolution her wissen wir, dass Gottes Augegnädig auf seinem fleißigsten und frommsten Element, dem Kohlenstoff, ruhte.Kohlenstoff wirkt weder aggressiv oxidierend noch reduzierend, noch zerfallenseine Bindungen zu H, C, N und O, den anderen häufigen Elementen in Me-teoren, im Wasser. Vor allem aber ist seine kovalente Chemie sehr abwechs-lungsreich und bietet sich für eine Evolution am ehesten an.

Schon bei der Geburt der Elemente in den Sternen und bei ihrer Zusammen-ballung in kaltem Gestein des Universums hatte es sich ergeben, dass das Ele-ment Nummer sechs, der schwarze Kohlenstoff eben, ebenso bereitwillig Elekt-ronen vom Wasserstoff aufnahm (Yin), wie er sie an Stickstoff oder Sauerstoffabgab (Yang). Wenn er mit sich selber reagierte, war das Yin-Yang, was schonim Weltall zu viel neutraler „Kohle“ aus Benzolringen führte (Graphit). Aberauch die Reduktion zu Methan und die Oxidation zu Kohlendioxid und Kohlen-monoxid sind gängige Weltraumreaktionen. Die ganze wunderbare Vielfalt derOxidationszahlen von –4, 0 und +4 stand von vorneherein zur Verfügung, als esauf dem Planeten Erde mit der Kohlenstoffchemie im großen Stil losging. Nurder Kohlenstoff war ziemlich genau zur Hälfte Yin und zur Hälfte Yang. Ermachte sich das Wasser zunutze, indem er seinen Wasserstoff und Sauerstoffin den Kohlenhydraten gleichermaßen verbaute, und kam auch mit dem Stick-stoff so gut zurecht, dass er nach den Pflanzen eine komplexe Tierwelt in An-griff nehmen konnte. Gott ließ den Kohlenstoff gewähren und der macht bisheute alles richtig. Sechs unserer sieben Moleküle konnten nur auf Grund derausgewogenen Eigenschaften des Kohlenstoffs optimiert und beseelt werden –dieses Element war zu jeder Art der Bindungsbildung bereit und fähig, es rea-gierte heftig mit Wasser, Ammoniak und Sauerstoff und seine vier halbbesetz-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen168

Abb. 4.6 Links: Modellexperiment zur Ursyn-these. Kohlenstoff- und stickstoffhaltige Gasewerden einem Lichtbogen ausgesetzt undgasförmige Produkte im Kreislauf durchWasser geführt. Rechts: Zuerst entsteht

Blausäure, HCN (grüne Spur), die sich zu di-versen niedermolekularen Kohlenstoffverbin-dungen (rote Spur, vor allem Ameisen- undMilchsäure) und Aminosäuren (blaue Spur)umwandelt.

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ten Orbitale machten eine äußerst komplexe Molekülarchitektur in drei Dimen-sionen möglich.

Mit diesen elementaren Deutungen sollte man sich hinsichtlich der „präbioti-schen Synthese“ zufrieden geben. Die Ursprünge der temperaturempfindlichenKohlenhydrate – der thermisch ganz unwahrscheinlichen unverzweigtenCH2-Ketten der Fettsäuren, der Verknüpfung des Benzols mit dem Alanin imTyrosin – bleiben vorerst unverstanden.

Nehmen wir an, dass die zwanzig proteinogenen Aminosäuren schon dasind. Sehen wir auf die Proteine. Dabei werden wir schnell das Tyrosin wiederin den Mittelpunkt des Interesses stellen. Die einfachste Reaktion der �-Amino-säuren ist die Bildung eines Zwitterions mit den geladenen Gruppen –NH3

+

und –COO–. Beide Ladungen werden vom Wasser stark hydratisiert (Abb. 4.7).

Proteine (griech. proteuein, „der Erste sein“) sind zusammen mit dem Leci-thin die wichtigsten Materialien des Menschen und der Tiere. Der Mensch be-steht (vom Wasser abgesehen) in erster Näherung aus Estern (Lecithin) undAmiden. Proteine sind Polyamide (griech. poly, „viel“) aus �,L-Aminosäuren. EinProton einer Aminogruppe einer Aminosäure nimmt bei der Amidbildung dieOH-Gruppe des Carboxylats, COOH, einer zweiten Aminosäure auf und bildetWasser. Die Bildung von Amiden, –CO–NH–, ist also wie die Esterbildung,–CO–OC, eine Kondensation. Amide sind allerdings in neutralem Wasser, inSäuren und Basen viel stabiler. Man benutzt am besten wie die Natur Katalysa-toren (Enzyme, Amidasen, Seite 201), um die Amidbindung zu bilden und zuspalten.

Die gleiche Amidbildung innerhalb eines einzigen Moleküls („intramoleku-lar“) ist bei �-Aminosäuren in wässrigen Medien nicht möglich, weil der dabeientstehende Dreiring mit einem Bindungswinkel von 60� in Wasser instabil ist.Er hydrolysiert sofort wieder zur Aminosäure. Aus �-Aminosäuren entstehenbei derselben intramolekularen Wasserabspaltung Vierringamide (�-Lactame,Beispiel: Penicillin) mit Bindungswinkeln von 90�, die schon viel stabiler sind,sich aber immer noch langsam öffnen. Bei noch größeren Abständen zwischenCarbonsäure und Aminogruppe reagieren Aminosäuren aber fast ausschließlichzu stabilen, cyclischen Amiden („Lactamen“) mit fünf oder mehr Atomen imRing. Offenkettige Polymere lassen sich aus solchen Aminosäuren nur über be-

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 169

Abb. 4.7 In Wasser übernimmt der basische Stickstoff derAminosäuren das Proton der Carbonsäuren – es entsteht einZwitterion. Aminosäuren sind deshalb wasserlöslich, die Un-terschiede sind aber sehr groß: Von Prolin lösen sich 1,5 kgim Liter Wasser, von Tyrosin nur 0,6 g.

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sonders geschützte Zwischenstufen herstellen. Die �-Aminosäuregruppierunghat sich in der Evolution der Proteine also wahrscheinlich deswegen durchge-setzt, weil sie erstens direkt aus Blausäure entsteht (Seite 167) und zweitens in-termolekulare Kondensationen, die Bildung der Proteinkettenmoleküle, gegenü-ber der eigentlich wahrscheinlicheren intramolekularen Reaktion begünstigt.An cyclischen Einzelgängern war die Evolution nicht interessiert, die Proteineaus zwanzig proteinogenen Aminosäuren haben sich durchgesetzt (Abb. 4.8).

In Bezug auf das Tyrosin muss jetzt das zweite Motiv, der Phenolring, ein-geführt werden, mit dem das Molekül nach außen agiert. Obwohl Tyrosin dieam wenigsten wasserlösliche der 20 Aminosäuren ist, wirkt sie hydrophil, dennin kugelförmigen („sphärischen“) Proteinen versteckt sie sich nicht im hydro-phoben Inneren wie das Phenylalanin ohne OH-Gruppe, sondern zeigt sichgern an der Proteinoberfläche. „Hydrophil“ und „wasserlöslich“ sind also keineSynonyme, sondern nicht vorhersagbare, voneinander unabhängige Eigenschaf-ten der Moleküle, insbesondere der Aminosäuren in Proteinen, die experimen-tell ermittelt werden müssen. Tyrosin ist mit 450 mg/L Wasser die am schwers-ten in Wasser lösliche aller Aminosäuren, aber in kugelförmigen Proteinen,zum Beispiel in vielen Enzymen und Hormonen, erscheint sie durchaus nichtim hydrophoben Inneren, sondern an der dem Wasser zugewandten Oberflä-che. Tyrosin ist schwer löslich in Wasser, aber in Proteinen hydrophil (Abb.4.9).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen170

Abb. 4.8 �- und �-Aminosäuren cyclisierennur zögerlich zu Lactamen, obwohl Amino-gruppen und Carbonsäuren eigentlich dazuneigen, unter Wasserabspaltung Amide zubilden. Die Kondensation führt in diesen

Fällen aber zu Ringen mit ungünstigen Bin-dungswinkeln von 60� bzw. 90�. Diese Ringesind gespannt und zerfallen in Wasser. Dieintermolekulare Polymerisierung zu Protei-nen verläuft hingegen problemlos.

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Trotzdem binden hydrophobe Taschen von Proteinen gerne an Tyrosin, indemsie am Boden der Tasche einen Protonenakzeptor für die OH-Gruppe bereitstel-len, zum Beispiel die CO-Gruppe eines Amids. Auch die hydrophoben CH-Kantender Glucose werden fest von zwei Phenolgruppen des Tyrosins eingeklemmt. Die-sen Effekt findet man vor allem in Pflanzenproteinen, die sich auf die Erkennungvon Kohlenhydraten spezialisiert haben, den Lectinen (Abb. 4.10).

Bei der Isolierung des Tyrosins aus Käse (Seite 160 f) fiel auf, dass Tyrosin alseinzige von zwanzig Aminosäuren die Alkalischmelze überstand. Ursache fürdie außergewöhnliche Hitzestabilität des Tyrosins ist ein Bestandteil mit dem Na-men Benzol (engl. benzene) und der Summenformel C6H6. Benzol wurde erstmalsdurch Destillation aus übelriechendem Teer in einer besser, fast angenehm rie-chenden Fraktion isoliert, die man deshalb die „Aromaten“-Fraktion nannte.

Die Analyse des Benzols ergab sechs CH-Gruppen in einem völlig ebenenSechsring mit sechs 120�-Bindungswinkeln und sechs p-Orbitalen als Aufent-haltsräume für die sechs Elektronen von drei Doppelbindungen. Wenn mandiese Orbitalformel der Abbildung 4.10 mit den Strichformeln darunter ver-gleicht, fällt auf, dass das mittlere p-Orbital links und rechts genau gleichep-Orbitale als Nachbarn hat. Die Strichformeln darunter aber behaupten, dassnach links eine Doppel- nach rechts eine Einfachbindung vorliegt oder umge-kehrt. Die Aussagen beider Formeln stimmen nicht überein, denn woher sollte

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 171

Abb. 4.9 In kugelförmigen Proteinen drängenmanche Aminosäuren an die Oberfläche undsind damit vom Wasser aus zugänglich. Sol-che Aminosäuren heißen „hydrophil“. a) Ty-rosin gehört trotz seiner Schwerlöslichkeit inWasser dazu. b) Das Phenylalanin ohne dieOH-Gruppe ist hingegen hydrophob – derBenzolring versteckt sich im Inneren desProteinknäuels. c) Das hydrophile Tyrosineignet sich hervorragend als Anker in hydro-phoben Lücken an der Oberfläche von Re-

zeptorproteinen oder Enzymen, die den Mit-telteil des Phenols umschließen und dassaure Proton mit einer Wasserstoffbrücke fi-xieren. Viele biologisch aktive Proteine ver-haken sich mit anderen Proteinen über dasTyrosin. Das gilt auch für Aromen, Adstrin-genzien und Pharmaka, die Tyrosin oderPhenylalanin enthalten, aber keine Proteinesind. Tyrosin und viele andere Aminosäurenaus Abb. 4.4 sind auch als Monomere biolo-gisch aktiv.

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das mittlere p-Orbital der oberen Formel wissen, dass es nur mit dem linkenoder nur mit dem rechten Nachbar in Wechselwirkung treten darf, wie die bei-den unteren Formeln das suggerieren. Andererseits sind zwei Doppelbindun-gen und eine C–H-Bindung, was zehn Elektronen an einem Kohlenstoffatombedeutet, nicht möglich. Die beteiligten Atome haben nur acht Elektronen, dasTetraeder schafft nur Platz für vier Elektronenpaare.

Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma liegt in der Annahme von Einein-halbbindungen an Stelle der Kombination einer Einfach- mit einer Doppelbin-dung. Tatsächlich zeigt eine Vermessung, dass alle sechs C–C-Bindungen glei-che Längen von 140 pm haben, was etwa dem Mittelwert einer Einfachbindung(154 pm) und einer Doppelbindung (128 pm) entspricht. Man verbindet deshalbdie möglichen Formeln mit isolierten Doppelbindungen mit Mesomeriepfeilen(�) und stellt sich eine „Resonanz“ zwischen ihnen vor. Alle cyclischen Mole-küle mit solchen Resonanzstrukturen heißen Aromaten. Wegen der Delokalisie-rung der oxidationsempfindlichen C=C-Doppelbindungen sind sie besondershitzestabil. Benzol ist erstens flach und schmal, zweitens extrem elektronen-reich und stabil, drittens hydrophob und kaum wasserlöslich. Diese einzigartigeKombination macht es zu einem extrem potenten Anker für Arzneimittel, diean hydrophoben Spalten in den Oberflächen biologisch aktiver Proteine ando-cken und sie dann blockieren.

Benzol ist der thermisch stabilste Kohlenstoffwasserstoff. Er entsteht immerdann, wenn Kohlenstoffverbindungen unter Luftausschluss hoch erhitzt wer-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen172

Abb. 4.10 Vereinfachtes Modell der Kristallstruktur des Gluco-se-Lectin-Komplexes, in dem zwei hydrophobe Phenolgruppendes Tyrosins (schwarz) die eigentlich hydrophile Glucose anderen CH-Oberflächen (grün) einklemmen. Die Polyamidkettedes Lectins setzt sich nach oben rechts und unten links fort.

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den. Eine solche Pyrolyse (griech. pyros, „Feuer“; lyse, „Auflösung“) zerstört Koh-lenstofftetraeder, insbesondere solche von Kohlenhydraten, die Wasser abspaltenund endet, wenn durch große Hitze auch die CH-Bindungen gespalten undWasserstoff erzeugt wird, beim unendlichen Gitter aus dehydrierten Benzolrin-gen ohne Wasserstoff. Ein solches Material ist schwarz (absorbiert sichtbaresLicht aller Wellenlängen) und heißt Kohle, Koks oder Graphit. Die Benzolgitter-ebenen sind im festen Graphit gegeneinander verschiebbar und können leichtabgerieben werden. Bleistiftminen aus Graphit hinterlassen unter leichtemDruck Spuren auf jeder aufgerauten Oberfläche (Abb. 4.11).

Mit dem Benzol kommen wir zu Verbindungen, die Licht absorbieren – denFarbstoffen. Schon bei den isolierten, einzelnen C=C-Doppelbindungen wurdedie Absorption ultravioletten Lichts mit Wellenlängen um 240 nm erwähnt, diezur chemischen Aktivierung der Doppelbindung, zu Oxidations- und Redukti-onsmitteln führt (Seite 112). Von den drei konjugierten Doppelbindungen wirdnoch mehr UV-Licht pro Molekül aufgenommen. („Konjugiert“ nennt man zweiDoppelbindungen, die durch eine Einfachbindung voneinander getrennt sind.)

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 173

Abb. 4.11 Molekülstruktur des Benzols und seines Dehydrie-rungsprodukts, des Graphits. Graphit hat die gleiche Sum-menformel wie Diamant, nämlich Cn (siehe Abb. 1.10).

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Benzol absorbiert bei mehreren Wellenlängen; sein Absorptionsspektrum liegtim ultravioletten Bereich und lässt sich mit Spektrometern routinemäßig,schnell und quantitativ messen.

Das Hexatrien, ein offenkettiges Polyen mit sechs („hexa“) Kohlenstoffatomenund drei konjugierten Doppelbindungen („tri-en“), erzeugt eine einzige Absorp-tionsbande mit einem Gipfel bei 274 nm. Benzol, der Sechsring mit ebenfallsdrei konjugierten Doppelbindungen, zeigt dagegen ein kompliziertes UV-Spekt-rum mit einer sehr intensiven Bande bei 184 nm und mehreren zehnmalschwächeren Banden um 250 nm. Das Spektrum mit Banden vergleichbarer In-tensität (ultraviolettes oder sichtbares Licht) ist typisch für offenkettige Polyene,das charakteristische Spektrum mit einer intensiven Bande im Kurzwelligenund mehreren Banden im Längerwelligen findet man nur bei benzolartigenoder aromatischen Verbindungen.

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen174

Abb. 4.12 UV-Spektren des Benzols mit dreiC=C-Doppelbindungen (–––––) und des He-xadienals mit sechs Kohlenstoffatomen, zweiC=C-Doppelbindungen und einer Aldehyd-gruppe –C=O ( – – –). Das Aromatenspek-trum des Benzols besteht aus einer Bandeim kurzwelligen UV-Bereich (184 nm) mit ei-ner relativen Intensität (Höhe) von etwa68000 und einer längerwelligen Gruppe von

Banden (250 nm) mit etwa 300-mal kleinerenIntensitäten (relative Intensität 250, blauausgefüllt). Das Polyenspektrum hat nur einelängerwellige Bande mittlerer Intensität(25000) bei 261 nm. Die Aromatenspektrensind typisch für Pyrrol, Pyridin und die Blut-und Blattfarbstoffe (siehe Kapitel 6), Poly-enspektren treten vor allem beim Carotin undbeim Sehfarbstoff Retinal (Kapitel 7) auf.

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In beiden Molekülarten, Aromaten und Polyenen, erzeugt das absorbierteLicht angeregte Zustände, die gleichzeitig ein starkes Oxidationsmittel und einReduktionsmittel sind. Der angeregte Zustand existiert nur ein paar Pikosekun-den lang und geht dann bei den meisten Aromaten unter Abstrahlung vonLicht (Fluoreszenz), bei den meisten Polyenen unter Erwärmung wieder in denGrundzustand über. Gelingt es aber anderen Molekülen, die nur wenige Nano-meter von dem angeregten Molekül entfernt sein dürfen, das angeregte Elekt-ron schnell zu übernehmen, dann folgen der Bestrahlung interessante Photore-aktionen, zum Beispiel die Spaltung des Wassers in seine Elemente (Photosyn-these, Abb. 4.12).

Mittels Röntgenstrahl-Beugung an Kristallebenen kann die Länge der Bindun-gen in Polyenen und Aromaten vermessen werden. Bei Polyenen alternierendie Bindungslängen (etwa 0,15 nm für die formalen Einfachbindungen und0,13 nm für die Doppelbindungen), im Benzol aber sind alle Bindungen mit0,14 nm gleich lang. Man verknüpft solche mesomeren („gemittelten“) Struktur-formeln mit einem Doppelpfeil (�), der besagt, dass nur Elektronen verscho-ben wurden. (Zwei einander entgegen gerichtete Einzelpfeile hingegen bezeich-nen ein chemisches Gleichgewicht, bei dem sich auch Bindungen zwischenAtomen verändern.) Die Mesomerie der Einfach- und Doppelbindungen, diebeide zu Eineinhalbbindungen macht, heißt Resonanz – und es ist die vollkom-mene Resonanz zwischen zwei mesomeren Formen, die Aromaten energiearmund hitzestabil macht und die auch angeregte Zustände stabilisiert (Abb. 4.13).

Der Kern des Benzols ist extrem elektronenreich, die CH-Peripherie hingegeneher positiv geladen. In Benzolkristallen stehen deshalb die Ringe senkrechtaufeinander, ein Proton taucht jeweils in die Elektronenwolke. Tyrosin aber bil-det starke Wasserstoffbrücken zwischen den Aminosäuren und Phenolgruppenaus, die die Benzolringe in leicht gewinkelte, parallele Stellungen zwingen(Abb. 4.14).

Wenn Benzol zusammen mit Kohlenwasserstoffen ohne Doppelbindungen(z. B. Paraffin) verbrannt wird, dann verbrennen diese direkt zu Kohlendioxidund entwickeln dabei viel Hitze. Das hitzestabile Benzol aber verbrennt nichtgleich zu Kohlendioxid, sondern gibt zuerst seinen Wasserstoff ab, wird zu Koh-le, den unendlichen Kristallebenen aus Kohlenstoff-Sechsringen mit Eineinhalb-bindungen. Diese Kohlenstoffpartikel glühen dann in der Flamme und leuchtenim Benzinfeuer. Dieser „Leuchtgaseffekt“ des Benzols wurde im 19. Jahrhun-

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Abb. 4.13 Alle sechs C–C-Bindungslängen im Benzol sind voll-kommen gleich. Die Elektronen der Doppelbindungen sind„delokalisiert“, was typisch für Aromaten ist und ihnen ihreHitzestabilität verleiht.

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dert in den Leuchten und Laternen von London, Paris und Berlin genutzt. Daserste Dehydrierungsprodukt auf dem Weg der Verglühung des Benzols, C6H6,zur Kohle ist –C6H5 und heißt „Phenyl“ (von griech. „scheinen, leuchten“).

Die Haupteigenschaft einer brauchbaren Leuchtflamme ist neben einer ho-hen Lichtintensität auch eine ruhige Stetigkeit. Flackern stört. Nur bei richtigerAusflussgeschwindigkeit des Gases aus dem Brennerrohr rußt die Flammenicht und brennt nicht blau, sondern glühend weiß. Ein zu mächtiger Leucht-gasstrom flackert immer und wird von Rußwolken begleitet, strömt hingegendie Luft zu schnell zu, so kühlt die Flamme zu weit ab, flackert nicht mehr,aber leuchtet auch nicht.

Eine kreisförmige Flamme aus einem einfachen Rohr mit einem Durchmes-ser von 2 mm für Kohlegas gibt blendend weiße, stete Flammen, aber der Nutz-effekt des nach außen dringenden Lichts bleibt auch hier gering, weil ein gro-

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Abb. 4.14 In den Kristallebenen des Benzols stehen die Mo-leküle senkrecht aufeinander; die Tyrosin-Substituenten dre-hen die Benzolringe eher parallel zueinander, die Phenol-OH-Gruppen bilden Wasserstoffbrücken mit den Ammonium-protonen.

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ßer Teil des im Innern der Flamme entwickelten Lichts von den äußerenSchichten absorbiert wird. Die Flamme muss deshalb platt sein, der Gasstrommuss aus dem Schlitz eines „Fischschwanzbrenners“ kommen. Zwei schmale,runde Öffnungen am Ende einer kleinen Wirbelkammer führen innerhalb die-ses Fischschwanzes zwei scharfe Flammenkegel schräg aufeinander, sodass siegleichmäßig und ruhig strömen. An beiden Rändern hat die Flamme dann diegrößte Höhe und Dicke, die Lichtquelle liegt jetzt außen.

Eine Galerie mehrerer solcher schräg gestellter Flammenkegel auf einerringförmigen Eisenplatte führt zu strahlenden Leuchtern mit dem gezackt-fla-chen Flammenbild eines Fledermausflügels ganz in Weiß. So sah die Einzel-flamme eines Gasleuchters des neunzehnten Jahrhunderts aus (Abb. 4.15).

In rot glühenden Eisenrohren und in Abwesenheit von Sauerstoff zerfallenGemische von Kohlenstoffverbindungen, zum Beispiel Holz, tierische Gewebe,Erdgas und Erdöl zu Wasserstoff, Wasser und Benzol – große Moleküle werdenin der Glut zerbrochen (pyrolysiert). In Erdölraffinerien findet dieses „Cracken“im Millionen-Tonnen-Maßstab statt. Das Erdöl wird zu den aus dem Universumbekannten, kleinen, hitzestabilen Moleküle demoliert, die danach die „Rohstoff-Basis“ der chemischen Industrie bilden.

Im Tyrosin findet sich aber kein Phenylrest, sondern dessen oxidierte Form,das Phenol. Die Oxidation können Tiere und Menschen mithilfe von CytochromP450 und Sauerstoff selbst durchführen (Seite 283), aber sie funktioniert auchim Reagenzglas: Man entzieht dem Benzol am besten durch Erhitzen ein Elekt-ron, erhält ein Phenylradikal und gibt Wasserstoffperoxid, HO–OH, dazu, dasin der Hitze zu OH-Radikalen zerfällt. HO und C6H5 schließen sich dann zuPhenol, C6H5OH, zusammen.

Benzol löst sich kaum in Wasser. Außerdem ist es hydrophob. Die OH-Grup-pe des Phenols sollte das Benzol wasserfreundlicher machen, aber sie tut esnicht. Phenol löst sich noch weniger in Wasser als Benzol. Das liegt daran, dass

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 177

Abb. 4.15 Die Konstruktion einer Gaslampeals „Fischschwanz“. Zwei einander abstoßen-de Flammenkegel wirbeln die schweren Koh-lenstoffpartikel des unvollständig verbrann-

ten Benzols nach außen in einen dickenWulst um die Flamme, ohne sie abkühlen zulassen. Dort verglühen sie vollständig undgeben weißes Licht.

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Phenol leicht Protonen abspaltet und dann als negatives Anion C6H5O– vorliegt,das starke Wasserstoffbrücken zu anderen Phenolmolekülen bildet. Das führtzu unlöslichen Aggregaten.

Phenol spaltet beim Erhitzen kein Wasser ab. Glucose „verkohlt“ trotz derkohlefremden C–O–C-Bindung im Ring spontan unter Wasserabspaltung zuGraphit, während Phenol bei der Destillation des Steinkohlenteers in der Frakti-on zwischen 150 und 200 �C als stabile, farblose Verbindung übergeht, ohneauch nur eine Spur Kohle zu bilden. Der Grund dafür erkennt man sofort ausden Summenformeln: Glucose, C6(H2O)6, zerfällt mühelos in 6 C und 6 H2O;Phenol, C6H5OH, aber gäbe nach Abspaltung eines Wassermoleküls C6H4 oderDehydrobenzol mit einer Dreifachbindung im Sechsring. So ein Molekül gibtes nicht, weil die Dreifachbindung nur lineare, also 180�-Strukturen erlaubt, diesich nicht zum Ring knicken lassen. Phenol überlebt starkes Erhitzen, weil eskeine stabilen Dehydratisierungsprodukte bilden kann.

Mit fester Kalilauge scheidet sich aus Phenol ein weißes Salz aus (Seite160 f), das sich beim Zusatz von Wasser wieder verflüssigt. Phenol verliert seineOH-Gruppe niemals, wohl aber wird die OH-Gruppe durch Laugen deprotoniertund nimmt dann eine negative Ladung auf. Die OH-Gruppen der Glucose hin-gegen dehydratisieren, aber deprotonieren nicht (Abb. 4.16).

Das Elektronenpaar des Phenolat-Anions gibt an Oxidationsmittel, zum Bei-spiel den Sauerstoff der Luft, leicht ein Elektron ab. Es entsteht ein Phenylradikalmit einem ungepaarten Elektron. Solche Radikale reagieren spontan mit allenmöglichen Elektronendonatoren, zum Beispiel mit Sulfiden, mit anderen Aroma-ten, aber vor allem mit sich selbst. Gesättigte Alkohole, vor allem Kohlenhydratewie Glucose, spalten Wasser zuerst an C-1 ab und polymerisieren danach rever-sibel zu Polysacchariden (Cellulose, Stärke), danach verkohlen sie irreversibelzu Graphit. Aromatische Alkohole (Phenole) dehydratisieren niemals, sondern

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Abb. 4.16 Nicht aromatische Hydroxyverbindungen des Koh-lenstoffs, zum Beispiel Glucose, verkohlen beim Erhitzen.Aromatische Hydroxyverbindungen hingegen, zum BeispielTyrosin, sind hitzefest, weil das DehydratisierungsproduktDehydrobenzol sich wegen des ungünstigen Bindungswinkelseiner Dreifachbindung (180�) nicht als Sechsring bilden kann.

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spalten ein Proton und ein Elektron ab und werden zu Radikalen (Abb. 4.17). Die-se Radikale polymerisieren leicht über die Bildung von C–C-Bindungen (Lignin,Seite 189) und wirken deshalb als Quervernetzer von Proteinen (Seite 197).

Reines Phenol, C6H5OH, erweist sich einerseits als gutes organisches Lösungs-mittel wie Benzol, andererseits auch als schwache Säure, die bei pH= 7 (dem Zu-stand des Bluts und anderer Wasservolumen in lebenden Organismen) zu einemTausendstel Protonen abspaltet. Diese Kombination – Säure plus Lösungsmittel –ist gegenüber Lebewesen aller Art extrem aggressiv: Das abgelöste Proton zerstörtWasserstoffbrücken in Proteinen, der Benzolring löst Membranen auf. Auf dieseWeise lässt Phenol das Protein der Haut aufquellen, betäubt die in ihr befindli-

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Abb. 4.17 Typische chemische Reaktionendes Phenols.a) Bestrahlung mit UV-Licht oder Oxidationmit Sauerstoff liefert Radikale (instabile Mo-leküle mit ungepaarten Elektronen), dieschmierige, undefinierte Polymere bilden.

b) Polymerisierung bei sperrigen Substituen-ten (hier Tertiärbutyl, –C(CH3)3). c) Schwefel-verbindungen oder Aromaten lagern sichleicht an Phenolradikale an. Solche Reaktio-nen führen zur Quervernetzung von Gewe-ben, zur Alterung.

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chen Nerven, zerstört Proteingewebe und verursacht nie vernarbende Verätzun-gen. Schon eine 1%ige wässrige Lösung von Phenol lässt die Proteine irreversibelkoagulieren. Dabei schiebt sich der Benzolring in Helices hinein und die Enol-gruppe des Phenols bricht natürliche Wasserstoffbrücken auf. Das Phenol wirktalso kooperativ zerstörerisch. Starre helicale Proteine mit starker Krümmung, En-zyme oder Rezeptorproteine mit einer hydrophoben Spalte werden durch Phenolaufgequollen und in klebrige Tropfen verwandelt. Auch in das vernetzte Keratinder Haut brennt reines Phenol weiße Flecken, die bald rot werden und sich in we-nigen Tagen abschuppen. Anfangs schmerzt es, dann sterben die Nerven ab undes bleibt nichts als die Taubheit abgestorbenen Gewebes.

Phenol ist generell für Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen ein starkes Gift.Tierhaut und andere faulig riechende Stoffe verlieren ihren Geruch, wenn siemit Phenol behandelt werden. Phenol schmeckt in großer Verdünnung ange-nehm brennend, ätzend und muffig, wie Vanille ohne Aroma. Verdünnte wäss-rige Lösungen lassen Pflanzen schnell welken. Hunde sterben nach Dosen vonwenigen Tropfen in einer Viertelstunde unter heftigen Krampfanfällen, für denMenschen beträgt die tödliche Dosis bei oraler Aufnahme etwa 1 g. Das Mittelbewirkt Atemlähmung und Herzstillstand. Phenol ist neben dem QuervernetzerFormaldehyd das wirksamste Desinfektionsmittel für Operationssäle.

Phenol riecht wie Bibergeil, eine Flüssigkeit, die sich bei männlichen Bibernin Beuteln hinter der Vorhaut, beim Weibchen oberhalb der Scheide ablagert.Sie wurde im 19. Jahrhundert in Form alkoholischer Lösungen (Tinctura Cas-torei) als „inneres Heilmittel“ verwendet. Ein realer Nutzen wurde nicht erkenn-

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Abb. 4.18 Das Bibergeilorgan scheidet ein Substanzgemischaus, das Phenole enthält und deshalb relativ steril ist und an-genehm riecht.

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bar, weshalb Tinctura Castorei aus der medizinischen Getränkeliste verschwun-den ist (Abb. 4.18).

Phenole werden noch ätzender, wenn ihnen eine negativ geladene Carboxyl-gruppe zugeordnet wird, gleichzeitig aber werden sie harmloser, weil sie damitkaum noch durch die Fettschicht der Haut oder durch Membranen dringen.Carboxylierte Phenole erreichen bei äußerlicher Anwendung kein Organ undkönnen als hautauflösende Keratolytika (griech. keras, Horn) verwendet werden.Warzen, Hühneraugen und Schwielen werden mit Salicylsäure weggeätzt, einegeschickt gesetzte Gesichtsmaske pellt alte Haut ab und wird in „Schönheits-operationen“ unter dem Namen „skin peeling“ missbraucht. Dieser Jungbrun-nen jedoch ist der pure Zynismus, denn die Kraft der jugendlichen Zellteilungkehrt nicht wieder. Die Faltung der Haut trägt der in Jahrzehnten des Ge-brauchs nachlassenden Proteinelastizität Rechnung – eine Zerstörung der Al-tersstruktur und oberflächliche Reparatur schafft nichts als tote Fassaden.

Verestert man die phenolische OH-Gruppe der Salicylsäure mit Essigsäure, soerhält man Acetylsalicylsäure, die unter dem Namen „Aspirin“ ein klassischesfiebersenkendes und entzündungshemmendes Heilmittel geworden ist. SeineWirkung beruht auf der Hemmung eines Enzyms namens MAO (Monoamino-oxidase), das mit der Essigsäure des membrangängigen Aspirins verestert wirdund dann Arachidonsäure nicht mehr in Prostaglandine verwandeln kann (Seite123), die Entzündungen induzieren. Entzündungen und Schmerzen klingen ab.Die gleiche Reaktion behindert auch die Plättchen-Aggregation der Blutkörper-chen bei der Blutgerinnung. Aspirin ist deshalb eines der wirksamsten Mittelzur Vermeidung eines Herzinfarkts. Fast alle alten Amerikaner und Europäerfangen früher oder später an, täglich 100 mg davon zu essen.

Die Salicylate verteilen sich auf alle Gewebe und Flüssigkeitsräume desKörpers. Dort wird die Essigsäure durch alle möglichen Enzyme schnell wiederabgespalten. Danach bindet Salicylsäure Eisen(II)-Ionen sehr effektiv, eine Ei-senmangelanämie wird begünstigt. Dosen über zehn Gramm entkoppeln außer-dem massiv Phosphorylierungen, die ATP-Bildung geht zurück, der Sauerstoff-verbrauch in der Atmung und entsprechend die Bildung von Kohlendioxid stei-gen an. Zwar überlebt die robuste Magenwand das bisschen Extrasäure unbe-schadet, aber die Darmwände dahinter leiden. Mehr Glucoseverbrennung führtzudem über den Citronensäurezyklus zu mehr Brenztraubensäure, Milchsäureund Acetessigsäure. Das Säure-Basen-Gleichgewicht wird gestört – Hyperventi-lation, Ohrensausen und Übelkeit sind erste Anzeichen, Delirien, Atemnot undKoma drohen als Endzustand. Für Salicylsäure gilt, was für alle Nichtnahrungs-stoffe gilt: Die eingenommene Menge darf den Gramm-, häufig selbst den Mil-ligrammmaßstab nicht überschreiten.

Desaktiviert und ausgeschieden wird die Salicylsäure schließlich in Form vonGlycinat (70%) oder Glucuronid (20%) bei saurem Urin (pH 6,5) oder als freie Sa-licylsäure (85%) bei alkalischem Urin (pH 8). Kurz: Das alte Arzneimittel ist allesandere als harmlos. Es sollte möglichst bei den hundert Milligramm am Tag blei-ben. Ähnlich wirken die giftigen Cumarine, die in den Blüten von Gräsern undden Blättern von Klee als Zuckeracetale vorkommen. Beim Welken wird der Zu-

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 181

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cker abgespalten und das Cumarin als Heugeruch freigesetzt. In größerer Kon-zentration rufen Cumarine Kopfschmerzen, Übelkeit und schließlich Atemläh-mung hervor, außerdem blockieren sie wie das Aspirin die Blutgerinnung.

Viele Aromen gelten als „harmlose“ Phenole. Japaner sind anderer Meinung.Immer, wenn ich einem japanischen Chemiker in der dritten Woche eines Besuchsin seinem Land sage, alles sei wunderbar, Gastfreundschaft und Großzügigkeit ein-zigartig und nur das Essen auf Dauer ein wenig zu eintönig, zu wenig „aroma-tisch“, dann lächelt er höflich und antwortet: „Sie haben vollkommen Recht.“Natürlich weiß er, dass Europäer und Amerikaner sich mit ihren aromatischenQuervernetzern Gehirn und Körper vergiften und verzichtet weise. Deshalb gehter auch Diskussionen über „Genuss“ aus dem Weg, wovon Europäer und Amerika-ner merkwürdige, in der Tat kaum diskussionsfähige Vorstellungen haben.

Nehmen wir zum Beispiel Vanillin, Europeïn und Himbeeraroma. Vanillin istmassiv in der Frucht einer zu den Orchideen gehörenden Schlingpflanze (Vanil-la planifolia) enthalten. Eine 12–20 cm lange, stielrunde Kapsel ist an ihrerrunzligen Oberfläche mit feinen, weiß-glänzenden Kristallen aus Vanillin be-deckt, im Innern findet sich eine pulpöse Samenmasse, die ebenfalls Vanillin-kristalle enthält. Umkristallisieren führt zu harten, vierseitigen Nadeln mit pris-matischen Enden, starkem Vanillegeruch und heißem Geschmack. Mitte des19. Jahrhunderts fiel der Preis von 140 auf 10 Taler pro Kilogramm, sodass einekünstliche Kultur den Aufwand nicht mehr lohnte. Die Gesamtproduktion lagbei 15 t/Jahr. Vanillin riecht nach allgemeiner Meinung angenehm undschmeckt auch so – absurd im Grunde, denn Vanille riecht genauso muffig wiealle Phenole, nur hat es noch so eine leicht blumige Anmutung von der Alde-hydgruppe her. Aber eigentlich sollte einen diese Gruppe nicht erfreuen, son-dern warnen: Mit ihr enthält das Vanillin nicht nur eine ätzende Phenolgruppe,sondern auch eine extrem reaktive Formylgruppe. Wer weiß, was passiert, wenndas Phenol des Vanillins in einer Proteintasche verschwindet und der Aldehydan ein Lysin oder ein Adenosin gegenüber bindet.

Oleuropein ist der wichtigste Bitterstoff des Olivenöls und enthält Catechol,ein Phenol mit einer zweiten Hydroxylgruppe in Nachbarschaft zur ersten. DieOlive reichert dieses Phenol in Form eines Bitterstoffs in seinem Fettgewebean, um sich vor Mikroorganismen zu schützen. Bei der Verarbeitung des Oli-venöls wird es durch Natronlauge freigesetzt und vorübergehend extrahiert, umden übermäßig bitteren Geschmack des nativen Öls loszuwerden. Der Ausdruck„jungfräuliches Olivenöl“ ist mediterraner Kitsch. Direkt „ausgepresst“, nativ, istjeder Tropfen Olivenöl ungenießbar, er muss mit Natronlauge versetzt werden,bevor er die Zunge erreicht.

Geringe Mengen eines Bitterstoffs sind jedoch auch nützliche Drogen zu Ap-petitanregung und Völlegefühl, weil sie die Sekretion des so genanntenZündsafts im Magen anspringen lassen, der dann die Abgabe der Verdauungs-säfte in Gang setzt. Ein großer Anteil des aus dem Oleuropein hydrolytisch ab-gespaltenen Catechols bleibt im Öl allerdings erhalten und man kann die statis-tisch auffallende Langlebigkeit der Bewohner Kretas vielleicht auf diesen Radi-kalfänger zurückführen. Auch viele Früchtearomen werden durch einen Phenol-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen182

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ring an die Rezeptoren der Geschmackszellen gebunden. Ein bekanntes Bei-spiel ist das Himbeeraroma mit einem Phenolanker für ein fruchtig riechendesButylketon. Auch dieses Phenol ist wie das Vanillin und das Oleuropeïn einQuervernetzer, denn beide Enden, Phenylradikal und Keton, reagieren mit Pro-teinen und anderen Molekülen. Für die Schärfe des Paprikas, das Capsaicin, giltdas auch, nachdem die Amid-Seitenkette durch Amidasen abgespalten ist. EinAminophenol ist dann auch wieder ein potenter Quervernetzer. So ist das über-all, wenn wir unsere Speisen „würzen“ – der Japaner lächelt und lässt es ste-hen. Denn Proteine quervernetzen heißt „altern“ (Seite 77).

Nun könnte man meinen, dass es das Lächeln und die Höflichkeit sind, die denJapaner sechs Jahre länger leben lassen als den Amerikaner und Europäer. Das istein Irrtum – denn Japaner, die lange in Amerika oder Europa leben, lächeln immernoch höflich, aber sterben genauso früh wie ihre Gastgeber. Wenn der frische Fischmit den �-3-Säuren nicht kommt und sie sich an das „aromatische“ Essengewöhnen, altern sie nicht langsamer als die Amerikaner und Europäer (Abb. 4.19).

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 183

Abb. 4.19 Strukturformeln einiger bekannterArznei- und Nahrungsmittel mit Phenol-Grundkörper. Salicylsäure ätzt die Haut; wirddie OH-Gruppe mit Essigsäure verestert, er-hält man das Schmerzmittel Aspirin, dasauch die Aggregation der Blutplättchen be-hindert. Vanillin ist ein intensives Aroma

und ein prächtiger Quervernetzer, Isovanillinist fast geschmacklos. Oleuropein ist der Bit-terstoff des Olivenöls, Butanonphenol einkünstliches Himbeeraroma, Capsaicin hin-gegen brennt auf der Zunge, ist “scharf“.Cumarin riecht nach Heu und ist giftig.

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Adstringenzien (lat. adstringere, „zusammenziehen“) fällen in Schleimhäutenund Wunden Proteine aus und verdichten verletzte Gewebe an der Oberfläche.Es sind meistens Phenole und sie gerben die Haut. Corilagin aus dem Tanninvon Eichen und Kastanien besetzt wahrscheinlich zwei nebeneinander liegendeRezeptoren und ist ebenfalls prädisponiert, für irreversible Quervernetzungenzu sorgen, denn die beiden über Glucose verbrückten Phenoleinheiten könnensich in Proteinlücken kovalent festhaken (Abb. 4.20).

Man kann den Sauerstoff des Phenols durch Stickstoff ersetzen, was zu Anilinführt. Das Protonen anziehende (basische), nach außen wirkende Elektronenpaardes Stickstoffs aber macht das Anilin extrem reaktiv – die Oxidation mit Sauerstoffund die darauffolgende Polymerisierung zu Anilinschwarz ist kaum zu verhin-dern (siehe den nächsten Absatz). Die Natur benutzte deshalb ein Anilinderivatnur im Falle des harmlosen Adenins (Seite 230 f) und entschärfte es sonst, indemes neben dem Benzol am Stickstoffatom noch eine zweite Doppelbindung ein-führte – das Tryptophan war erfunden und gesellte sich zum Tyrosin. Beidepaaren sich im Gehirn und wirken dort vielfältig zusammen; beide bilden ge-meinsam das Lignin der Baumstämme und die Melanine der Haut- und Haarpig-mente (siehe Seite 189 und 190f). Der Name Tryptophan weist auf die Entdeckungdieser zerbrechlichen Aminosäure hin, die beim Proteinabbau mit Salzsäure oderBase und Luft vollkommen zerstört wird und erst bei der schonenden Caseinspal-tung mit dem Enzym Trypsin (von griech. „Verreibung“, ein Verdauungsenzym)unverändert freigesetzt oder „offenbar“ (griech. phaneros) wurde (Abb. 4.21).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen184

Abb. 4.20 Ein typisches Kreuzungsprodukt zwischen Glucoseund Phenolen ist das Adstringens Corilagin. Es wirkt in denAchselhöhlen desinfizierend wie das Phenol an den Wändenvon Operationssälen.

Abb. 4.21 Tryptophan lagert in salzsaurer Lösung Protonen anund zersetzt sich danach zu einem Substanzgemisch. Es istein stetiger Begleiter des Tyrosins in Biopolymeren.

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Der Tyrosin-Abkömmling Tryptophan tritt übrigens nicht nur im Lignin undMelanin auf, sondern auch in Schokolade. Im Körper wird der Benzolring desTryptophans genauso hydroxyliert wie der des Phenylalanins bei der Tyrosin-synthese. Dabei entsteht dann Serotonin, welches dadurch bekannt gewordenist, dass es die Produktion von Endorphinen anregt. Das sind opiumähnlichwirkende kleine Proteine („Peptide“), die „Glückshormone“ genannt werden. Esist wohl Serotonin, das uns aus Erschöpfungszuständen herausholt und uns,zum Beispiel am Ende eines Marathonlaufs, zu plötzlichen Glücksgefühlen ver-hilft.

Andererseits führt winterliche Dunkelheit zur Ausschüttung von Melatonin,eines mit Essigsäure veresterten Serotonins. Dieses besser membranlöslicheTryptophanderivat macht uns müde und antriebsschwach, gibt uns aber aucheinen gesegneten Schlaf ohne Gedanken an die Arbeit von gestern und mor-gen. Wann immer uns die Arbeit des Tages in der Nacht nicht los lässt, einpaar Milligramm Melatonin schaffen es, weil sie problemlos die Blut-Hirn-Schranke passieren und das Schlafzentrum aktivieren. Das Morgenlicht bewirktdann wieder die Ausschüttung des Serotonins, des Aktivitäts-Hormons, direktim Gehirn. Hochstimmung, Müdigkeit und Stress unterliegen kurzfristig derKontrolle kleiner Moleküle im Hirn, die kommen und gehen. Ein Charakter bil-det sich nur im Netzwerk, in den phosphorylierten Wasserwegen der synapti-schen Spalten.

Tyrosin- und Tryptophanderivate schwimmen auch im Blut und in den Sy-napsen des Gehirns. Tyramin oder Adrenalin im Blut ziehen die Muskeln derArterien zusammen und erhöhen damit den Blutdruck. Darum kümmern sichKardiologen, wenn ihre Patienten alt werden und das Herz von einem Infarktbedroht ist. Man gibt dann Antagonisten, die die entsprechenden Rezeptorpro-teine blockieren (�-Blocker).

Für Psychiater hingegen ist viel Dopamin mit zwei Hydroxylgruppen am Ben-zolring im Blut ein Zeichen des Verliebtseins, Männer reagieren darauf mithäufigen Erektionen. Auch viele Neurotransmitter sind Hydroxyphenol- (Cate-chol-) oder analoge Tryptophan-Derivate (Dopamin, Serotonin). Sie sind für Psy-chiater interessant, die Angst, Traurigkeit, Wahnvorstellungen oder Hysterienmit Anxiolytika, Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillantien und Stimulantiendämpfen wollen. Das sind alles membrangängige Benzol- oder Cyclohexanderi-vate, die Rezeptoren der Neurotransmitter blockieren oder Enzyme, die Benzoloxidieren. Eine solche Aminooxidase-Hemmung kann die allgemeine Stim-mung heben: Je mehr Amin im Blut ist, desto besser ist die Laune. Psychophar-maka schalten meistens Enzyme oder Rezeptoren aus, sind lange lagerfähigund leicht zu synthetisieren, das heißt billig, und sie überwinden die Blut-Hirn-Schranke. Diese Bedingungen erfüllen vor allem Benzol- und Phenolderivate.Bezüglich der chemischen Reaktivität und architektonischen Erscheinung sindPharmaka fast ausnahmslos so interessant wie ein Topfdeckel, der Schalter ei-ner Verkehrsampel oder der Stöpsel eines Wasserbeckens. Sie funktionieren,lassen sich Gewinn bringend verkaufen und nüchtern, guten Gewissens ver-schreiben. Sie lassen sich aufs Milligramm genau dosieren und man kann als

4.1 �,L-Aminosäuren und Phenol als Modul der Proteine 185

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Arzt quantifizierbare Erfahrungen mit ihnen sammeln, was bei Naturstoffenwie Cortison (Seite 154 f) oft schwierig bis unmöglich ist (Abb. 4.22).

4.2Polyphenole

Die Proteine, die Polyamide, die durchschnittlich zu einem Prozent aus Tyrosinbestehen, sind die herrschenden Biopolymere der Tiere und Menschen und kon-trollieren auch die chemischen Reaktionen der Pflanzen und Mikroorganismen.

Es gibt aber auch Biopolymere, die zu fast hundert Prozent aus Phenylalanin,Tyrosin und Tryptophan bestehen. Das negativ geladene Phenolat verteilt vorder Entstehung dieser Polymere sein Elektronenpaar auf den Sauerstoff und dreiKohlenstoffatome des Phenylrings (siehe Abb. 4.6) und wird dann von Sauerstoffoder Eisen(III)-Salzen zum Phenylradikal oxidiert, das sofort in Kettenreaktionenmit anderen Phenolmolekülen zu neuen Radikalen weiterreagiert, neue C–C- undC–O-Bindungen bildet und schließlich polymerisiert. Genauso ergeht es dem He-teroaromaten Pyrrol (Seite 203) des Tryptophans. Wo immer Phenol oder elektro-nenreiche Heterocyclen und Sauerstoff zusammenstoßen, entstehen farblose bisbraune Polymere mit völlig uneinheitlichen Strukturen, denn diese Radikalre-aktionen erfolgen regellos, ohne Enzymkontrolle (Abb. 4.23).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen186

Abb. 4.22 Tyrosin und typische Derivate, dieals Signalüberträger (Neurotransmitter) fun-gieren. Tyramin und Adrenalin (Epinephrin)wirken ebenso wie Adenosin (Seite 229 f) aufMuskeln von Blutgefäßen und bewirken ei-nen plötzlichen, dramatischen Anstieg desBlutdrucks. Viel Dopamin im Blut deutet aufVerliebtheit hin; eine künstliche Anregungder Dopamin-Rezeptoren im Gehirn mitMorphinderivaten (Seite 269 f) löst zum Bei-spiel zwanghafte Putzanfälle aus. Adrenalin

ohne die Methylgruppe am Stickstoff (Nor-epinephrin) erzeugt Depressionen, das ver-wandte Tryptophan-Derivat Melatonin regeltden Rhythmus der Abendmüdigkeit, Seroto-nin mindert Angstgefühle und macht„glücklich“. Glück und Schlaf sind offenbardurch einen Essigester und einen Methyl-ether voneinander getrennt; Schlaf ist hydro-phober als Glück. Wenn Phenole in Proteinerutschen, fühlt man das.

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Die Kondensationsprodukte aus dem Phenolderivat Coniferol mit einem zu-sätzlichen Vinylsubstituenten, –CH=CH2, und Cellulose sind der Hauptbestand-teil der Baumstämme und Äste. Das Coniferolpolymer heißt Lignin und stellt30% der Masse des Holzes. Aufeinander folgende Behandlungen mit Ethanol,Ether, Alkalien, Säure und Wasser lösen zuerst das Lignin in den alkalisiertenLösungsmitteln und fällen es dann mit Säuren wieder aus. Die Cellulosefasernwerden abgepresst, durch Sulfatierung mit Schwefelsäure werden Ligninrestewasserlöslich gemacht und abgewaschen und die Cellulose schließlich zur Her-stellung von Papier und Pappe verwendet. 300 kg brauner Plastikmüll (Ligninund Ligninsulfat) fallen pro Tonne Baumstamm an und bleiben als Rohstoffungenutzt. Sie werden schließlich verbrannt und liefern die von Sägewerkenund Papierfabriken benötigte Energie. Danach wird für jeden gefällten Baum inverantwortlich handelnden Forstwirtschaften sofort ein neuer gepflanzt – so lebtund überlebt der Wald in Deutschland. Politik und Verwaltung müssen daraufachten, dass jeder Besitzer eines Waldes sich strikt und innerhalb von sehr kur-zer Zeit an diese bewährte Regel hält.

Das Lignin der Bäume entsteht durch radikalische Polymerisation einer Vi-nylgruppe, –CH=CH2, des oben genannten Coniferols (Coniferen sind Nadel-bäume) völlig in Analogie zu Styrol, C6H5CH=CH2, und dem Polystyrol derPlastiktüten. Schon in den lebendigen Baumstämmen vernetzt der Coniferylal-kohol die Cellulosefasern, verklebt und verfestigt das mit Wasser quellbare Cel-lulosegerüst. Im Stamm erzeugen die OH-Gruppen der Cellulose mit den Keto-

4.2 Polyphenole 187

Abb. 4.23 Phenylradikale polymerisieren spontan miteinanderoder mit Thiophen oder Pyrrolen zu roten Farbstoffen. Fastimmer ist der Sauerstoff der Luft an der Radikalbildung betei-ligt, das heißt, dass in biologischen Organismen die Atmungvon Polymerisierungen begleitet ist.

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gruppen von Chinonen die nötigen Querverbindungen zwischen der Lignin-masse und den Cellulosefasern (Phenolacetale). Lignin ist das elastische Gum-mi und der Klebstoff zwischen den toten Cellulosesäulen im Innern der Baum-stämme und den kurzlebigen Zucker- und Salzleitungen des außen liegendenPhloems (Seite 94). Die braunen Baumrinden schließlich bestehen ebenfallsvorwiegend aus Lignin. Die Rinde ist nur locker gebunden und verhindert vorallem die Austrocknung des Phloems. Schließlich taucht das Phenol aus Tyro-sin auch massiv in den Huminsäuren auf, den braunen Resten abgefallenerBlätter und Nadeln, dem Staub aus abgestorbenen Pflanzen. Huminsäuren sindein undefiniertes Polykondensat aus einem polycyclischen braunen Kern mit lo-cker daran gebundenen Cellulose- und Proteinresten. Phenolderivate sind we-gen der außergewöhnlichen Stabilität des Phenylrings Hauptbestandteile derHuminsäuren. Dieser hydrophobe Belag des Waldbodens bildet auch einen De-ckel für die Verdunstung des Bodenwassers.

Tyrosin ist also einerseits außergewöhnlich reaktiv, polymerisiert leicht undlagert sich an alles an – andererseits überleben der Benzolring und die BindungSauerstoff besser als alle anderen Motive der Proteine. Die Abbildung 4.24 zeigteinen kleinen Ausschnitt aus einer Holzzellwand mit hydrophilen Cellulosefib-rillen und kurzen Cellulosefasern (Hemicellulose) sowie hydrophobem Lignin-netz (Abb. 4.24).

In Weichholz (Pinien) verbinden kleine Ligninpolymere die Cellulosesträngedurch hydrophobe Kräfte und Wasserstoffbrücken. In hartem Holz (Teak) herr-schen Quervernetzungen großer Ligninpolymere mit oxidierten Cellulosesträn-gen vor. Analoge Versteifungen lassen sich auch künstlich zwischen Cellulosefo-lien und isoliertem Lignin erzielen. Streicht man eine Ligninlösung auf glasarti-ge Celluloseschichten (Cellophan), so haftet die nach dem Verdampfen desLösungsmittels gebildete Ligninschicht auf dem Cellophan sehr fest, macht eshydrophob.

Lignin ist unerlässlich für Bäume, weil reine Cellulosefasern kaum querver-netzen, sondern wie Papier aufquellen und in Wasser zu einem unförmigenBrei zerfallen. Das Material eines Baumstamms mit seinem Wasser führendenRohrsystem aus Kapillaren braucht den Wasser abstoßenden Verbundstoff, da-mit es im eigenen Zellwasser und im Leben spendenden Regen nicht aufquilltund umknickt. Auch in den Pflanzen herrscht ein Yin (Cellulose)-Yang (Lignin)-Gleichgewicht.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden 800 L Flusswasser zu Abwasser ver-dorben, um 1 kg Papier herzustellen. Heute sind es weniger als 20 L. Eine flei-ßige Sekretärin verbraucht ein halbes Kilogramm Papier am Tag und ver-schmutzt damit 10 L Wasser mit Schwefelsäure und Phenolen, die die Pa-piermühlen wieder abtrennen müssen. Den Schwefel und den Eimer Wasserführen die Mühlen im Kreislauf zurück, das Phenolpolymer, das heißt fast einDrittel des Baumstamms, verbrennen sie.

Über das Lignin hinaus gibt es im Holz auch wasserlösliche Phenole. Holzi-ger Geschmack deutet meist auf ein nicht polymeres Phenol. Das Kernholz vonKiefern und Fichten ist voll davon und aus den Ablaugen der Zellstoff- und Pa-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen188

Page 199: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

4.2 Polyphenole 189

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pierproduktion können die Stoffe in großen Mengen gewonnen werden. Pheno-le aus Holzfässern sind zum Beispiel wichtige Whiskyaromen: Je höher dieKonzentration, desto „rauchiger“ ist der Whisky. Spuren eines Trichlorphenolssollen den Korkgeschmack von Weinen bewirken. Ersetzt man den Sechsringdes Phenols durch einen Siebenring, so erhält man sehr wirksame Gifte für vie-le Mikroorganismen. Zedernholz enthält so etwas und widersteht deshalb fastjedem Schädlingsbefall.

„Melanin“ heißt ein anderes, ligninähnliches Polyphenol, das Zellen (Melano-cyten) unter der Haut, Haare und Federn braun bis schwarz anfärbt. Menschenverschiedener Hautfarbe unterscheiden sich lediglich durch die Konzentrationdes Melaninfarbstoffs in den Melanocyten, nicht durch andersartige Gewebe.Melanin dient als Schutz gegen Bakterien und Pilze, die sich im braunen Poly-mergerüst auf der Haut verheddern und sich nicht ausbreiten können. Im Viet-namkrieg erkrankten Hellhäutige dreimal mehr an Hautkrankheiten als Dun-kelhäutige. Das hat jedoch wenig mit einem Sonnenschutz zu tun; dunkle Hautbietet nur einen Lichtschutzfaktor 4.

Bei Weißhäutigen bilden die Melanocyten in der Basalschicht der Oberhautbei Sonnenbestrahlung im UV-Bereich zusätzliches Melanin. Später verhornendie Zellen dann und schilfern ab, die helle Haut kommt wieder zum Vorschein.Die Melaninbildung nimmt im Alter ab, die Haare werden weiß. Blondes undschwarzes Haar enthält nur Melanine, rotes Haar und Vogelfedern sind durchPhäomelanine (Schwefelverbindungen) gefärbt. Melanine entstehen wie Ligninbeim biologischen Tyrosinabbau zu DOPA. Sepia ist ein grauschwarzer Aqua-rellfarbstoff, den Tintenfische ausstoßen. Man trocknet deren Sepiadrüsen zuBrocken mit einem muscheligen Bruch, extrahiert den Phenolfarbstoff mit Kali-lauge und fällt ihn mit Salzsäure wieder aus. Das getrocknete Pulver löst manin wenig heißem Wasser und erhält so eine lichtechte Melanintinte (Abb. 4.25).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen190

Abb. 4.25 Von links nach rechts: Ein typisches Eumelanin vonblonden oder schwarzhaarigen Menschen aus oxidiertem Tryp-tophan, ein Galleophäomelanin mit Schwefel aus braunenHühnerfedern und ein typisches lineares Melanin von Rot-haarigen.

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Viele Blütenfarbstoffe und Pigmente des Rotweins sind ebenfalls Phenolderi-vate, aber sie polymerisieren nicht, sondern sind einheitliche Moleküle und Ge-mische. Ihre leuchtende Farbe in tausend feinsten Schattierungen ändert sichunter anderem mit dem Säuregrad des umgebenden Pflanzensafts, der Dickeder Fettschichten, in denen der Farbstoff gelöst ist, und bei Komplexierung mitMetallionen. Die roten Farbstoffe der Rose und des Rotweins zum Beispiel sindsehr ähnliche Verbindungen vom Typ der Pelargonidinsalze. Der blaue Farbstoffder Kornblumen entsteht aus dem roten „Originalfarbstoff“ der Rose, indemein Proton abgespalten wird und das entstandene Salz deprotonierte Stapel bil-det. Pelargonidin ist einer der Spurenstoffe des Weins, die sowohl Farbe alsauch „Bukett“ bestimmen. Quantitativ ist Wein eigentlich neun Zehntel Wasserund ein Zehntel Ethanol – der Rest ist dem Gewicht nach unerheblich und alsNahrungsmittel wertlos. Die paar Milligramm Bukett schmecken sekundenlanggut, aber die leuchtenden Augen von „Weinkennern“ sind wohl eher Angeberei(Abb. 4.26).

Technisch wichtig ist auch das Stickstoffderivat des Phenols, das Anilin,C6H5NH2. Es bildete einmal die Grundlage der chemischen Industrie inDeutschland, weil man billige, lichtbeständige Farben daraus machen kann.Aus einer „Industrie-Gemeinschaft (IG) Farben“ erwuchs die deutsche Chemie-industrie. Außerdem polymerisiert Anilin viel schneller als das Phenol zumAnilinschwarz der Schuhwichse. Biologische Organismen meiden deshalb dasAnilin. Anilinschwarz ist noch heute eine erste kommerzielle Basis sich neuentwickelnder Chemieindustrie – nichts ist leichter zugänglich als diese schwar-ze Farbe in öligen Pasten und Lacken. Das Polyanilin ist außerdem eines derwenigen Polymere, das unter geeigneten Bedingungen elektrischen Strom her-vorragend leitet und zur Zeit als Halbleiter für Nanochips in der Entwicklungsteht. Man muss es nur ansäuern, die Chinone protonieren.

Das Bakelit ist ein Polymer aus Phenol und Formaldehyd und dient alsFüllmasse in elektrischen Isolierungen. Tausende von Phenoleinheiten sind da-rin durch CH2-Brücken verbunden (Abb. 4.27).

4.2 Polyphenole 191

Abb. 4.26 Rote Naturfarbstoffe (Rose, Rotwein) sind oft vomPelargonidinchloridtyp. Blaue Farbstoffe, in der Natur selten,entstehen aus den roten durch Abspaltung eines Protonsund/oder Stapelung der Moleküle an Membranen unter ver-schiedensten Bedingungen.

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Der Phenolteil des Tyrosins tritt also in Form unterschiedlichster Produkteüberall auf. Phenol bildet typisch-amorphe Füllmaterialien und braune, fett-lösliche Farbtupfen großer Stabilität. Es verleiht wässrigen und alkoholischenLösungen einen angenehm-unauffälligen Holzgeschmack, unterbricht aggressi-ve Radikal-Kettenreaktionen und verlangsamt damit das Altern biologischer Ge-webe und Materialien. Es klebt Proteine an Stahlkörpern, Holz und Knochenfest. Zum Aufbau geordneter Strukturen in höheren Organismen aber eignen

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen192

Abb. 4.27 Oben: Anilin-Polymerisierungen führen zu einemlinearen, teerartigen Produkt, dem Anilinschwarz. Das sindKetten aus Diiminochinonen und Diaminoanilinen im Ge-misch mit schlecht definierten Heterocyclen. Unten: Die Kon-densation mit Formaldehyd, CH2O, gibt ein farbloses Polymer,das Bakelit, das an der Luft langsam schwarz wird.

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sich Phenolpolymere offensichtlich nicht – sonst hätte die Evolution das wohlverwirklicht. Die konkurrierende 180- und 60�-Verknüpfung der Radikale istvon regelnd wirkenden Proteinen offenbar ebenso wenig in den Griff zu be-kommen. Sie führt, wie unten gezeigt wird, schon bei dimeren Phenolen zumChaos (4.28).

4.3Tyrosin in Proteinen

Einerseits hat die Natur das Phenolmotiv zur Herstellung ungeordneter Füllma-terialien gebraucht, andererseit aber auch streng geordnet in Proteine einge-führt und als klebrige Seitenkette, als Anker genutzt.

Der Ausdruck „geordnete Proteinstruktur“ bezeichnet eine vollkommen un-verzweigte Polyamidkette der Aminosäuren (Primärstruktur) in vollkommeneinheitlicher Abfolge (Sequenz) bei jedem individuellen Protein, die zur Schrau-be aufgedreht ist, zur Helix (Sekundärstruktur). Um Sequenzen aufzubauen, isteine kontrollierte, schrittweise Kette von Kondensationsreaktionen an einerDNS-Matrix vonnöten. Vorbedingung für eine Helix ist die einheitliche Chirali-tät L der Aminosäuren.

4.3 Tyrosin in Proteinen 193

Abb. 4.28 Die Polymerisation des Phenylradikals am Beispieldes Tyrosins. Schon die Dimerisierung führt zu wenigstenssechs unterschiedlichen Strukturen, was sich kaum steuernlässt. Tyrosin-Polymere sind deshalb nicht einheitlich, sondernstatistische Gemenge.

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Die biochemische Sequenzkontrolle der Proteinsynthese im Zellkern werdenwir hier nicht beschreiben. Die Schraubenform der Proteine aber entsteht aus�,L-Aminosäuren spontan, „von alleine“, weil größere Substituenten R in einer ge-radlinigen Kette einander im Wege stehen würden. Die kleinste Schraubenwin-dung besteht aus 3,6 Aminosäure-Einheiten, und die Schraube heißt „�-Helix“ („�“bedeutet hier einfach die historisch erste identifizierte Helix). Der Befund, dassjede Schraubenwindung aus wenigstens ca. 4 Aminosäuren besteht, ist plausibel,denn jede Amid-Gruppierung steht etwa senkrecht auf der benachbarten, nach vierAminosäuren ist ein Zyklus geschlossen. Die Windung einer Helixschraube kannbeliebig weitläufig werden, aber nicht enger als vier Aminosäuren. Aminosäurenmittlerer Wasserlöslichkeit stabilisieren Helices; schwer lösliche wie Tyrosin oderextrem lösliche, vor allem das Prolin, wirken als „Helixbrecher“ (Abb. 4.29).

Das häufigste helicale Protein in Tieren und Menschen enthält kein Tyrosinund heißt „Collagen“ oder, in leicht veränderter Form, „�-Keratin“. Das sind dieSkleroproteine (griech. skleros, „hart, trocken“), die den Landtieren als Stützma-terial dienen. Fische enthalten nur sehr wenig davon, weil sie im Wasser schwe-ben und auf mechanische Steifigkeit ebenso verzichten können wie auf ein wär-mendes Fell. Collagene finden sich in weichen Bindegeweben (Haut, Knorpel,Sehnen, Blutgefäßen) und in Knochen. �-Keratine (griech. keras, „Horn“) sinddie Collagene der Haare, Fingernägel, Hufe, Klauen, Schnäbel und Hühner-augen, die durch viele Cystin-S–S-Brücken (Seite 164) quervernetzt sind.

Die Sekundärstruktur des Collagens ist hundertprozentig helical, obwohl ihreProteinhelix in Wasser eigentlich nicht haltbar ist. Die Hydrathülle verwandeltsolch schmale Schrauben sofort in ein Knäuel. Helices müssen entweder durchein kugeliges Protein (zum Beispiel Globin) oder eine Membran (Membranpro-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen194

Abb. 4.29 Struktur der �-Helix eines Proteins. Die Aminosäu-ren 1 und 4 in der Sequenz sind jeweils durch Wasserstoff-brücken, NH···C=O, in Richtung der Helixachse miteinanderverbunden.

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teine) vom Wasser abgetrennt sein, oder sie müssen sich zu Doppel- oder Tri-pelhelices zusammenlagern, deren Innenraum durch hydrophobe Wechselwir-kungen stabilisiert ist.

Letzteres ist im Collagen der Fall. Dort winden sich drei �-Helices ineinander,die einzeln nicht nur von Hydratathüllen, sondern auch von großen Anteilendes beweglichen Prolins destabilisiert würden. In der Tripelhelix aber werdendie drei Stränge durch unpolare Aminosäuren wie von „Knöpfen“ (engl. but-tons) zusammengehalten. Diese hydrophoben Seitenketten passen genau in dieZwischenräume („Knopflöcher“, engl. holes) zwischen unpolaren Aminosäureneiner zweiten und dritten Helix und das Prolin begünstigt die flüssige Einpas-sung der drei Ketten. Entgegengesetzte Ladungen (Arginin-Glutaminsäure) die-nen an manchen Stellen als zusätzliche Knopf-Bindungen.

Eine vielfach durch Knöpfe vernetzte Tripelhelix ist extrem steif, wenn sie nichtdurch Fünfringe (Seite 95), Scharniere aus Prolin und Hydroxyprolin, beweglichergemacht wird. Isoliertes Prolin und Hydroxyprolin sind wegen der Pseudorotationdes Fünfrings (Seite 71) extrem flexibel und deshalb erstens die am besten in Was-ser löslichen proteinogenen Aminosäuren (1,5 kg/L) und zweitens die besten elas-tischen Bauteile in Tripelhelices. Tatsächlich besteht Collagen etwa zu einem Drit-tel aus solchen Fünfringen. Die dichte Packung der Tripelhelix begünstigt außer-dem der fast ausschließlich aus Glycin, der Aminosäure mit einem Proton alskleinstmöglicher Seitenkette, bestehende Innenraum.

Collagene sind stark gekrümmte Fasern, die in Wasser nicht auskristallisie-ren, weil sich ihre Stränge nur tangential berühren und die gemeinsame Ober-fläche zweier aneinander liegender Fasern klein ist. Die hochmolekularenSchraubenstrukturen sind zwar stark hydratisiert, aber sie bewegen sich kaum.Das führt zu wässrigen Gelen, in denen das Wasser durch Kapillarkräfte an denOberflächen der Proteine (oder Cellulose, Stärke, DNS) immobilisiert wird undso nicht aus dem Gel herausfließen kann.

Biologisches Material ist weder eine wässrige Lösung noch ein Kristall, son-dern vor allem ein wässriges Gel unterschiedlicher Elastizität, das von Wasserführenden Rohren oder hydratisierten Stäben durchzogen wird. Dieses Gel istim Gegensatz zu Lösungen und Kristallen nicht stabil, sondern metastabil: Eskann jederzeit dehydratisieren und zu einem Pulver und flüssigem Wasser zer-fallen. Ein simpler Druck mit dem Daumen oder etwas zuviel Hitze könnengenügen. Das gilt nicht nur für die gelartigen Sehnen und Knorpel aus Colla-gen, sondern für alle Gele aus beliebigen helicalen Proteinen, zum Beispiel imGlaskörper des Auges oder im Muskelfleisch. Beim Braten oder Kochen vonFleisch verschwindet die Zähigkeit des Gels, weil die Helices bei etwa 70 �Cschmelzen und sich beim Abkühlen nicht wieder ordnen. Gebratenes Fleischwird ohne Pyrolyse knusprig, weil sich die Helices in Knäuel verwandeln, inder Hitze chemisch miteinander vernetzen und die Oberfläche verhärtet. Schonbei 41 �C beginnen Proteine zu „gerinnen“. Frostbeulen hingegen entstehen alschronische Entzündung auf Grund einer Kälteschädigung des Gewebes. Ent-scheidende Ursache ist hier eine mangelhafte Durchblutung – das Rohrsystemfunktioniert nicht optimal (Abb. 4.30).

4.3 Tyrosin in Proteinen 195

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Collagen wird aus Knorpelmasse, Sehnen und Knochen von Schlachttiereneinfach durch Erhitzen und Druck als „Gelatine“ in großen Mengen abgetrennt.Heute liegt die jährliche Produktion bei mageren 125000 t, was sich leicht ver-hundertfachen ließe. Die Hydrolyse von 100 g Gelatine, der kommerziellenForm des Collagens, liefert zum Beispiel 27 g Glycin, 20 g Prolin, 14 g Hydroxy-prolin, 20 g Glutaminsäure und 15 g Arginin (zusammen 96 g), das heißt, dieKnöpfe und Löcher werden fast vollständig aus Glutaminsäure-Argininbase-Paa-ren gebildet und die Prolin-Beweglichkeit ist das Motiv, das der Tripelhelix ihreBeweglichkeit verschafft. Die käufliche Gelatine ist allerdings meist durch Be-handlung mit Natronlauge (NaOH) völlig denaturiert, Arginin und Glutamin-säure sind zum großen Teil entfernt. Solche Gelatine reagiert leicht sauer undgeliert beim Erkalten bereits als einprozentige Lösung. Die Veresterung desHydroxyprolins mit Fettsäuren ergibt sanfte Emulgatoren für Hautcremes. Dasflexible Polyamid-Rückgrat dieser gelatineartigen Proteinsorte aus der Haut undden Knochen von Schlachttieren erlaubt eine optimale Ausbildung molekularerKontaktflächen, gekoppelt mit unübertrefflichen Kohäsionskräften. Deshalb istwässrige Gelatine in Konserven ein hervorragendes Bindemittel für Aromastoffeund gibt dem hoch erhitzten Fleisch seinen Geschmack zurück.

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen196

Abb. 4.30 Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Colla-gen-Gels der Haut und schematisierter Ausschnitt aus derStrukturformel mit Oxyprolin-, Lysin- und Glutaminsäure-Ein-heiten an der äußeren Oberfläche. Innen herrscht Glycin vor,das nicht gezeichnet wurde.

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Die Skleroproteine des Menschen und der meisten Tiere sind praktisch freivon Tyrosin. Sie hätten in diesem Tyrosin-Kapitel nichts zu suchen, wenn nichtMuschelcollagene mit Tyrosin dessen Bedeutung als molekularen Klebstoff be-sonders deutlich machen würden.

Collagen (von griech. „Leimbildner“) ist deshalb auch eine großartige Basisfür die Entwicklung komplexer Klebstoffe aus erneuerbaren Rohstoffen undwurde tatsächlich lange als Zimmermannsleim verwendet. Heute ist es aus derMode gekommen, weil es in feuchter Umgebung 90% der Haftfestigkeit undScherstabilität verliert. Außerdem wird feuchte Gelatine von Proteasen zersetzt– Pilzen und Bakterien fressen sie auf. Andererseits sind viele natürliche Kleb-stoffe auf Gelatine-Basis hart und wasserstabil. Der quervernetzte Klebstoff, denMuscheln ausscheiden, wenn sie sich an Schiffsrümpfen festsetzen, ist ein ein-drucksvolles Beispiel.

Die Festigkeit der biologischen Muschel-Stahl-Verbindung ist der von ge-schweißten Stahl-Stahl-Verbindungen fast ebenbürtig. Von Protease-Empfind-lichkeit kann keine Rede sein. Die Muschel macht etwas, was die Natur demCollagen ursprünglich versagt hat: Sie setzt ihm das bishydroxylierte Tyrosin,das Dihydroxyphenylalanin (DOPA) zu, das wir schon von den Neurotransmit-tern her kennen (Seite 186). Auf dem Schiffsrumpf erzeugt sie daraus mit mu-scheltypischer Ruhe unlösliche 1,2-Chinone, die die Aminogruppen des Colla-gens kovalent binden, die Tripelhelices quervernetzen und dann auch gleichnoch an die OH-Gruppen des Rosts der Stahlschiffe oder der Cellulose derHolzboote binden. Im Prinzip ist das dem Cellulose-Lignin-Gemisch der Baum-

4.3 Tyrosin in Proteinen 197

Abb. 4.31 Struktur a) der Collagen-Tripelhelixund b) dessen Verklebung mit DOPA-Poly-meren. Die drei Einzelhelices wurden über-trieben weit auseinander gerückt, um dieVerknüpfung darstellen zu können. In Wirk-

lichkeit klebt der Benzolring flach auf derOberfläche der Fasern. Die innere Verkle-bung wird durch Außenverklebungen, zumBeispiel mit Knochen oder rostigenSchiffsrümpfen, ergänzt.

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stämme abgesehen: Biologische Materialien koppeln gern mit steifen Polyphe-nol-Blattstrukturen an hydroxylierte Oberflächen.

Die Zimmerleute aber müssen die richtige Quervernetzungstechnik erst nochlernen. Zunächst liegt die Zukunft der Gelatinekleber sicher in intelligenten Ver-netzungen auf der Oberfläche von Knochen, wobei das oxidierte DOPA Knochen-proteine und Gelatine verleimen könnte. Die Medizin kann zunächst die etwasteure Materialforschung bezahlen; die gesammelten Erfahrungen sollten danntechnisch beispielsweise auf Metalloberflächen übertragen werden können (Abb.4.31).

Collagen ist nicht nur als Gel und Leim, sondern auch als festes Materialnützlich und überdies schön. Denken Sie etwa an die Darmsaiten der Geigenund Gitarren, Nebenprodukte der Fleischindustrie. Die innerste Schicht desDarms von Schafen und Rindern aus kargen, trockenen Gegenden (Schottland,das Latium um Rom) wird bis auf die Muskelhaut gereinigt, in Streifen ge-schnitten und nass zu Seilen zusammengedreht, danach langsam getrocknetund so lange rund geschliffen, bis die „quintenreine Saite“ einen vollkommengleichmäßigen Durchmesser hat. Solche Darmsaiten erzeugen einen unver-

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen198

Abb. 4.32 Der chirale Doppelschichteffektbei helicalen Polyamiden aus nur einer Ami-nosäure, zum Beispiel Poly-L-tyrosin oder Po-ly-L-lysin. Mischt man Helices aus L-Amino-säuren mit solchen aus D-Aminosäuren, solegen sich die Helices antiparallel (blauePfeile), damit die Aminosäurereste (zum Bei-

spiel das Phenol beim Tyrosin) sich nichtberühren, sondern abwechselnd oben undunten stehen (grüne Kugeln). Danach stre-cken sich die Windungen und bilden lineareFadenstrukturen, die sich im Wasser zuerstknäueln und dann zu kristallinen Blattstruk-turen zusammenwachsen.

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kennbar warmen Klang in Geigen und können durch Bespinnen mit Silber-draht in Klang und Festigkeit optimiert, dem Zeitgeschmack angepasst werden.

Nur Proteine aus einheitlich chiralen Aminosäuren bilden Helices. Ein Ge-misch aus D- und L-Aminosäuren in der Sequenz führt zu Knäueln. Mischtman Helices aus Homoproteinen, die nur aus einer einzigen Aminosäure beste-hen, zum Beispiel poly(L-Lysin) oder poly(L-Tyrosin), mit den entsprechendenD-Proteinen, so fällt innerhalb weniger Minuten ein blattartiger Festkörper ausdem Wasser aus und das Gel verschwindet. Kovalent geknüpfte Polymere zei-gen also den chiralen Doppelschichteffekt ebenso wie nicht kovalente Fasern(Seite 73 ff). Daraus ergibt sich, dass die Stabilität biologischer Gele wesentlichvon der einheitlichen Chiralität der Faserkomponenten abhängt. Ohne chiraleGlucose, Ribose und Aminosäuren gäbe es weder Cellulosefasern noch Muskelnund Nerven oder Chromosomen, weder das Auge noch den Knorpel der Knie.Chiralität ist eine wesentliche Grundlage zur Herstellung langlebiger Gele oderzur Integration von Wasser in Organismen (Abb. 4.32).

Der Raumbedarf der verschiedenen Proteinstrukturen ist sehr unterschiedlich.�-Helices sind extrem lang gestreckt, die Tripelhelix des Collagens bei gleicher An-zahl von Aminosäuren nur etwa halb so lang und doppelt so dick. GlobuläreStrukturen, zum Beispiel Hämoglobin (Seite 281) und fast alle Enzyme, sindkompakt („globulär“) und weich, Blattstrukturen kompakt und oft hart (Natursei-de). Alle Proteinstränge werden unbeweglich und hart, wenn man sie durch kurze–S–S-Brücken quervernetzt. Der größte Teil des Hausstaubs besteht aus Haut-abfall, den Hornplättchen. Das ist –S–S-quervernetztes Keratin. In staubfreien Fa-brikationshallen muss jeder Arbeiter staubdichte Kleidung tragen, weil er selbstStaub erzeugt. Eine Quervernetzung mit Lysin wirkt wegen der langen und be-weglichen (CH2)4-Seitenkette weniger „härtend“. Eine braune Brotkruste istzum Beispiel Lysin-quervernetzt, ihre Krümel zerfallen deshalb unter Druck.Ein Pferdehuf (Keratin) ist hingegen kurzkettig cystinvernetzt, und ein Pferdkann darauf von der Mongolei bis nach Frankreich galoppieren (Abb. 4.33).

4.3 Tyrosin in Proteinen 199

Abb. 4.33 Der Raumbedarf von Proteinen aus ca. 100Aminosäuren mit unterschiedlicher Sekundärstruktur.

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Skleroproteine sind unverdaulich, aber abgesehen von einem bisschen Lysin istsowieso nichts Wertvolles drin. Beim Keratin von Haaren und Fingernägeln liegtdie totale Unverdaulichkeit vor allem an den –S–S-Quervernetzungen. Mensch-liche Haut und Rindsleder hingegen enthalten 65% Wasser und 33% Collagen-Tri-pelhelices, aber kaum Cystein-Quervernetzungen. Die häufigste Aminosäurese-quenz ist Glycin-Prolin-Hydroxyprolin, wobei das wasserlösliche Hydroxyprolincollagentypisch ist. Es fragt sich also, warum auch Haut, Knorpel und Sehnen un-verdaulich sind. Das liegt allein daran, dass die Tripelhelix als Ganzes sehr schwerzu knacken ist. Das hydrophobe Innere macht sie fettähnlich und kaum zugäng-lich für Proteasen, die relativ steife Faser sorgt für stabile Aggregate. So ist Keratin„chemisch (S–S-) unverdaulich“, Collagen eher „physikalisch unzugänglich“.

Aus den jährlich etwa drei Milliarden geschlachteten Tieren wird das Lederals eines der wichtigsten erneuerbaren Rohmaterialen gewonnen. Eigentlichsollte es ebenso stabil wie die Haut selbst sein, aber das ist nicht der Fall. Häuteund Felle faulen schnell, wenn sie vor Fäulnisbakterien, die mit der Chemie derTierhäute vertraut sind, nicht geschützt werden.

In grauer Vorzeit wurde das Leder in Leinöl getaucht, von dem bei der Polymeri-sation der ungesättigten Fettsäuren entstehenden Firnis (Seite 121) eingehülltund geschützt. Heute wird Leder mit pflanzlichen Extrakten (Rotgerbung), Alumi-nium-Chromsalzen (Chromleder) sowie synthetischen Phenolen gegerbt. Die Pro-teine vernetzen sich mit Phenolpolymeren wie die Cellulose der Baumstämmemit Lignin und das Keratin der Haare mit Melaninfarbstoffen (Seite 189 f).

Jeder dieser Gerbungsprozesse befreit das Leder von Harzen und Bindegewe-be und vernetzt die Collagenfasern, wobei die Chromgerbung vor allem–COO––Chrom––OOC-Brücken einführt, Aldehyde mit dem Amin des Lysinsreagieren (Schiff’sche Basen) und Phenolharze und Phosphate Wasserstoff-brücken-Netze einlagern. Der Aldehyd ist oft einfach Glucose, das Phenol kannein Extrakt des Kastanienholzes sein. Reaktive Harze werden mechanisch indas Ledergefüge eingewalkt, um die Haut zu verdichten und zu verfestigen.

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen200

Abb. 4.34 Gerben des Leders mit a) Phenolen aus Eichen-und Kastanienholz, b) Chrom- und c) Aluminiumsalzen. DasCollagen des Hautproteins wird quervernetzt.

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Die Kunst des Gerbens optimiert Haltbarkeit, Geschmeidigkeit und Farbe derLederhaut, wobei die lockere Faserstruktur der inneren Lederseite (Flame) vielHarzgerbstoff aufnimmt, die äußere Seite (Rücken) vergleichsweise wenig. Ent-sprechend bläht sich die Flame auf, die glatte Seite bleibt unverändert. Das Er-gebnis ist wunderbar weiches Leder (Abb. 4.34).

Schaf- und Ziegenwolle (Angora, Kaschmir) besteht ebenfalls aus ineinandergewundenen Helices (�-Keratin, Ganghöhe 0,5 nm), die im feuchten Zustand me-chanisch zu Blattstrukturen (�-Keratin) gestreckt werden können, weil Helicesmechanisch sehr empfindlich sind – besonders, wenn sie hydratisiert sind.

Naturseide ist reines �-Keratin aus Glycin und Alanin, Schafwolle enthält alle 20Aminosäuren und ist massiv durch Schwefelbrücken (Protein 1–S–S–Protein 2)und durch wenige Lysin-Glutaminsäure-Amidbindungen (Protein 1–(CH2)2–CONH–(CH2)4–Protein 2) vernetzt. In kochendem Wasser quillt Schafwolle erstauf und verklebt dann irreversibel, weil Wasserstoffbrückenbindungen gelöstund an anderer Stelle neu gebildet werden. Das lockere Gewebe hat eine großeOberfläche und klumpt zusammen, das Gewebe „verfilzt“. Trocknet man diesesMaterial und presst es in der Hitze zusammen, erhält man tatsächlich Filz. DieJahresproduktion des Rohstoffs Schafwolle liegt bei etwa 1,7 Millionen Tonnen.

Verdauliche Proteine, also Muskeln („Fleisch“), Eiweiß, Milch- und Weizenpro-teine, werden im Körper von Proteasen zu Aminosäuren hydrolysiert und dort alsBauelemente der eigenen Muskeln und anderer Proteine genutzt. Enzymatisch istdiese Hydrolyse sehr schnell und braucht keine Säuren. Die chemische Hydrolysein konzentrierter Salzsäure im Druckrohr bei 130 �C aber benötigt mehrere Stun-den, bis sie ein Muskelprotein in seine Einzelteile aufgespalten hat.

Merkwürdigerweise unterscheiden sich die Proteasen aus lebenden Tieren,die die tierischen und pflanzlichen Proteine spontan und sehr schnell hydroly-sieren, kaum von ihren Substraten. Warum hydrolysieren sich die Proteasennicht selbst? Das ist wieder das Yin-Yang-Spiel der Evolution. Enzyme und ihreCofaktoren, zum Beispiel das Imidazol in Abbildung 4.35, reagieren grundsätz-lich ähnlich wie die gleichen Einheiten in den umzusetzenden Verbindungen.Auch die Muskelproteine werden Imidazol enthalten, das mit Protonen Hydro-lysen katalysieren kann. Aber es wird nicht so wie das Enzym mit anderenMuskelproteinen Molekülkomplexe bilden (Abb. 4.35).

4.3 Tyrosin in Proteinen 201

Abb. 4.35 Typische Detailstruktur einer Protease. Ein His-tidinring des Chymotrypsins wird von einer Asparagin-säure protoniert und zwingt dem Stickstoff eines Amidsdieses Proton auf. Gleichzeitig schiebt die OH-Gruppeeines benachbarten Serins dem Carboxyl-Kohlenstoff desAmids ein Elektronenpaar zu. Das entstehende Zwitterionzerfällt, indem die Amidbindung aufbricht und Amino-säuren frei werden. Das geschieht bei neutralem pH-Wertin Wasser 10000-mal in der Sekunde. Das Imidazolium-Ion ist dabei selbst hydrolyseempfindlich.

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Die erste Wechselwirkung von Enzymen und Rezeptoren mit anderen Mole-külen besteht in wässriger Umgebung häufig in der Einschiebung hydrophoberPhenyl- oder Phenolgruppen in hydrophobe Lücken an der Proteinoberfläche.Von diesem Befund lebt die Pharmaindustrie. Fast alle Arzneimittel-Bestsellerwirken dadurch, dass sie Enzymreaktionen oder Rezeptoren blockieren. Dasgeht am besten mit Benzol oder Phenolderivaten. Die „Heilmittel“ tun dannnichts anderes, als unerwünschte Reaktionen zu unterbinden, indem sie aus-gewählte Katalysatoren (Enzyme) oder Rezeptoren an Membranoberflächen aus-schalten. 1998 waren zum Beispiel Simvastin (Hemmung einer Reduktase inder Cholesterin-Biosynthese), Omeprazol (Blockade einer ATPase, Seite 242)und Fluoxetin (Blockade eines Serotonin-Rezeptors) die drei umsatzstärkstenProdukte der Pharmaindustrie mit jeweils mehr als 3 Milliarden Dollar Umsatz.Nummer eins unterbindet die Bildung von „zu viel“ Cholesterin im Körper undverzögert daraus resultierende Herzinfarkte und Schlaganfälle, Nummer zwei,der ATPase-Hemmer, beruhigt überreizte Mägen, und Nummer drei, der Sero-toninverdränger, dämpft Depressionen – obwohl wir doch gerade erst der Mei-nung waren, dass Serotonin glücklich macht (Seite 185 f). Der „Mechanismus“dieser drei sehr unterschiedlichen Wirkungen ist immer derselbe: Ein Benzol-oder (bei Simvastin) ein Cyclohexenring schlüpft in die hydrophobe Tasche ei-nes Proteins, die Substituenten sorgen für die selektive Bindung an hoffentlichnur ein einziges Protein und dann hängt das Pharmakon dort einige Zeit fest,blockiert den natürlichen Lauf der Dinge, der uns nicht passt, wird schließlichherausgewaschen . . .und eine neue Pille eingenommen (Abb. 4.36).

Das wasserunlösliche und trotzdem hydrophile Tyrosin findet man außerdemregelmäßig als erste Aminosäure bei den opiumähnlich wirkenden Endorphi-nen, Peptiden, die an die gleichen Membran-Rezeptorproteine von Schmerz-zentren binden wie Morphium.

Das menschliche Gehirn weist drei Schichten auf: den Hirnstamm (Rautenhirn)für unbewusstes, automatisches Tun wie die Atmung und die Regulierung desBlutkreislaufs, der Körpertemperatur und der Verdauung, das limbische System

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen202

Abb. 4.36 Die drei meistverkauften Pharmaka(1998). Simvastin hat als hydrophobes Teil,das in eine Proteinbindungstasche taucht,zwei Cyclohexenringe, Omeprazol und Fluo-xetin haben für den gleichen Zweck Phenol-

ringe (jeweils grün). – Vermutlich sind 2008andere Produkte Spitzenreiter, aber weder ih-re Chemie noch der Wirkungsmechanismus(Blockierung von Proteinen) haben sich we-sentlich geändert.

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dicht darüber für Gefühle und die Großhirnrinde für Denkprozesse und vernünf-tiges Abwägen. Automatische Aktivitäten und Denken benutzen im Wesentlichendie Aktionspotenziale des Nervensystems, deren Kontrolle übernimmt das elekt-rische Netzwerk, das „synaptische Selbst“. Angst, Durst, Verlangen und andereGefühle hingegen basieren auf den chemischen Wechselwirkungen zwischen In-formationsmolekülen oder „Botenstoffen“, den Neurotransmittern, Magenpepti-den, Hormonen und Rezeptoren in besonderen, örtlich fixierten Gehirnzentren.

Im Zusammenhang mit dem Tyrosin interessieren hier besonders die Boten-stoffe; auf elektrische Signale gehen wir im nächsten Kapitel ein. Die Postämterfür den Empfang von Botenstoffen und die Verarbeitung ihrer Botschaften lie-gen auf Zelloberflächen und heißen Rezeptorproteine. Nach dem Andocken derBotenstoffes öffnen und schließen sie Membranporen, wobei die molekularenWechselwirkungen zwischen Boten und Rezeptor oft merkwürdig und von ver-wirrender Komplexität sind.

Für Opiate zum Beispiel, die Schmerzen aufheben und Glücksgefühle erzeu-gen, liegen die Rezeptoren in den Stirnlappen der Großhirnrinde. Morphiumaber ist ein Produkt der Mohnpflanze. Es ergibt eigentlich keinen Sinn, dasssich das Gehirn mit Rezeptoren für Moleküle aus Schlafmohnsamen ausstattet.Was soll das? Der körpereigene Botenstoff für den gleichen Opiumrezeptor istein Peptid namens Enkephalin. Es enthält wie das Morphium einen Phenol-ring, gleicht ihm aber ansonsten überhaupt nicht.

Enkephalin ist ein offenkettiges Pentapeptid mit Tyrosin als erster Aminosäure,Morphium ist ein starres Molekül mit fünf ineinander verkeilten Ringen. Nach 20Jahren intensiver Suche nach einer biologisch aktiven Konformation des beweg-lichen Peptids (in einer Publikation von 2004: „im Grunde genommen ist Enkephalinin Lösung vollkommen strukturlos, M.M. Palian, V. I. Boguslavsky, D.F. O’Brien, R.Polt, J. Am. Chem. Soc. 2003, 125, 5823–5831), wurden cyclische Abkömmlingehergestellt. Besonders wirkungsvoll und leicht zu kristallisieren war ein Enkepha-linderivat mit zwei HS-C(CH3)2–CHNH2–COO-Seitenketten, die die Bildung ei-nes relativ starren Disulfid-Rings (–S–S–) erlaubten. Es ist dann wohl ein Zufall,

4.3 Tyrosin in Proteinen 203

Abb. 4.37 Das Schmerzzentrum des Gehirnsenthält einen Rezeptor für das PentapeptidTyr-Gly-Gly-Phe-Leu, das Enkephalin. Dergleiche Rezeptor reagiert auch mit Morphinaus der Schlafmohnpflanze. Enkephalin zeigtin Lösung hunderte verschiedener Gestalten,weil um die C–C-Bindungen alle möglichen

Verdrehungen auftreten. Das polycyclischeMorphin hingegen ist vollkommen starr.Man könnte vermuten, dass im Gehirn dasEnkephalin durch irgendeinen Faktor so ver-bogen wird, dass die beiden Benzolringe ei-nander ähnlich nahe kommen wie die Ringeim Morphin.

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dass Morphium die Gestalt der aktiven Konformation des Enkephalins annimmt,wie sie in diesem Disulfid verwirklicht ist. Das kovalent cyclische Morphium bin-det viel länger und fester als das bewegliche Enkephalin, lähmt das Schmerzzen-trum namens Opiumrezeptor für lange Zeit und drängt die Schmerzen in einenDämmerzustand des Unbewussten ab (Abb. 4.37).

Die Proteine von Mikroorganismen sind viel komplexer als die des Menschenund ändern sich außerdem innerhalb weniger Generationen, das heißt in ein paarMonaten, drastisch durch Mutationen. Mikroorganismen enthalten viel mehr ver-schiedene Aminosäuren als die zwanzig des Menschen, die überdies häufig durchzusätzliche Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen miteinander vernetzt werden.

Ein typisches Beispiel ist das biotechnologisch aus Streptococcus-Bakterien zu-gängliche Antibiotikum Vancomycin, das neben Tyrosin auch DOPA- und Chlor-tyrosin-Einheiten enthält, die in keinem humanen Protein auftauchen. HöhereOrganismen meiden chlorierte Kohlenstoffverbindungen wie die Pest, weil siesie nicht kontrolliert abbauen können und weil sie leicht Salzsäure abspalten.Chlorierte Verbindungen aus der technologischen Umwelt werden deshalb soschnell wie möglich (und möglichst unverändert) mit dem Harn eliminiert.

Die Mikroorganismen des Darms können Vancomycin nicht verdauen. Mankönnte es also oral geben. Trotzdem wird es intravenös in 10- bis 60-mg-Dosengespritzt, 90% davon werden sofort über die Niere wieder ausgeschieden. Dierestlichen 10% aber werden über Proteine des Blutplasmas in das zentrale Ner-vensystem transportiert. Dort unterbindet Vancomycin die Vermehrung der ge-fährlichen, klinisch wichtigen Staphylokokken und drängt Hirnhautentzündun-gen (Meningitis) zurück. Die beiden hydrophoben Phenoleinheiten, die nichtdem humanen Tyrosin entsprechen, binden wahrscheinlich an das wachsendeZellwandprotein; der polare Rest deckt das wachsende Ende des Membranpro-teins der Bakterien spezifisch zu und verhindert deren Wachstum (Abb. 4.38).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen204

Abb. 4.38 Molekülstruktur desgegen Meningitis wirksamenPentapeptids Vancomycin.Drei Quervernetzungen derphenolischen Seitenketten anNicht-Tyrosin-Aminosäuren,zwei ungewöhnliche Chlorsub-stituenten am Benzol und einphenolisches Glycosid entrü-cken das Vancomycin weitvom Metabolismus des Men-schen.

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In erster Näherung koordinieren zwei Steuerungssysteme die Aktionen desmenschlichen Körpers: Das Nervensystem sendet schnelle Stromimpulse unddie endokrinen Drüsen (Hypophyse und Hypothalamus im Gehirn hinter derNasenwurzel, Schilddrüsen links und rechts neben dem Kehlkopf, Pankreasund Nebenniere in der Magengegend) senden Botenstoffe ins Blut, die länger-fristig an den Zellen wirken.

Schon lange bekannt ist, dass die Neurotransmitter fast gleichermaßen reich-lich im Gehirn (verständlich) und im Magen (überraschend) vorkommen. Aberauch viele im Blutkreislauf bewegliche Zellen wie Leukocyten oder die allgegen-wärtigen Antikörper scheiden solche Botenstoffe aus, die wie Neurotransmitterund Hormone Nervenimpulse leiten und integrieren. Letzteres tun vor allemdie so genannten „Neuropeptide“. Die beweglichen Zellen und Antikörper imBlutkreislauf in Gehirn, Magen, Geschlechtsorganen und Haut entlassen nichtnur alle die gleichen Peptide ins Blut, sondern sie haben auch die gleichen Re-zeptorproteine. So breiten sich die Gefühle des Schmerzes und des Wohlseinsüberall im Körper aus. Die Antikörper folgen dabei in der Blutbahn den Boten-stoffen in Richtung steigender Konzentration.

Das häufigste Gehirnpeptid der Säugetiere ist ein Polyamid namens Neuro-peptid Y5 aus 36 Aminosäuren; fünf davon sind Tyrosin oder Y (in der Compu-tersprache). Y5 steigert den Appetit, reguliert den Blutdruck und sorgt für einbesseres Gedächtnis. Es fällt wieder besonders auf, dass Anfang, Ende undZentrum des Neuropeptids von Tyrosin besetzt werden. Im Zentrum sind esdie Aminosäuren 20 und 21 in der Sequenz; eines zeigt nach innen, das anderenach außen. Nur das äußere Tyrosin kann an ein Rezeptorprotein binden, dasinnere taugt vielleicht zur Phosphorylierung in einer Membran. Das Tyrosin amAminoende der Sequenz weist dann wieder auf eine Tyrosin-Tasche des Rezep-tors, in der das Neuropeptid wohl zunächst fixiert wird, um mit Y-21 oder Y-22festgezurrt zu werden.

Vasopressin schließlich ist ein Nonapeptidhormon, das beim Menschen dieRückresorption des Wassers aus den Nieren kontrolliert (Seite 146). FehlendesVasopressin verursacht eine massenhafte Ausschwemmung von Harn. Bei Mäu-sen wirkt die Verbindung als Neuropeptid. Manche Präriemäuse sind monogam– sie lieben ihren Partner, paaren sich nicht mit Fremden. Das Liebesleben derPräriemäuse wird von der Lokalisierung der Rezeptoren für Vasopressin im Ge-hirn bestimmt, die mittels Positronen-Tomographie mit 18-Fluor-Tyrosin he-rausgefunden wurde.

Die beobachtete selektive Aggression gegen Mäuse gleichen Geschlechts hängtebenso wie die selektive Partnerwahl stark von der Konzentration des injiziertenVasopressins ab. Sexuell erregte Mäusemännchen schütteten Vasopressin aus.Beim Menschen beobachtete man das auch. Dort reguliert es aber offensichtlichnicht die Beziehung zum anderen Geschlecht, sondern die Wasserausscheidung.

Oxytocin ist ein sehr ähnliches Nonapeptid und stimuliert die Aufnahme desSpermiums bei der Befruchtung, die Kontraktion der Gebärmutter bei der Nie-derkunft und die nachfolgende Milchbildung. Antagonisten des Vasopressinsvermindern den Harndrang, solche des Oxytocins verhindern Frühgeburten.

4.3 Tyrosin in Proteinen 205

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Immer sind es das Phenol des Tyrosins und die endständigen polaren Gruppender Seitenkette des großen Rings, die an die Rezeptoren der Hormone binden.

Psychiaterphantasien, die Derivate des Oxytocins als „jüdisch-christliches“Hormon heilig sprechen, weil es Nächstenliebe und Treue induziere, extrapolie-ren von Besonderheiten im Gehirn kurzlebiger amerikanischer Präriemäuse aufein sechzigjähriges Eheleben der Menschen. Das ist wohl kaum relevant. Im-merhin ist auffällig, dass nur Mäuse mit dem Oxytocin-Gen das Begehren nachMännchen von deren Geruch abhängig machen, von Krankheiten infizierteMäuse hingegen meiden. Mäusefrauen ohne Oxytocin differenzieren da nicht.Weder bei männlichen Mäusen noch bei männlichen Menschen sind physiolo-gische Wirkungen des Oxytocins bekannt (Abb. 4.39).

Tyrosin ist also diejenige �,L-Aminosäure, die wegen ihrer leicht aciden OH-Gruppe aus hydrophoben Zentren heraus ins Wasser ragt, sich aber anderer-seits wegen ihres glatten, flachen und hydrophoben Benzolrings in hydrophobeTaschen an Proteinoberflächen drängt. Tyrosin ist deshalb der ideale und ammeisten verwendete Anker, um Pharmaka an Rezeptoren und Enzymen zu fi-xieren. Viele Verbindungen mit Phenolringen wirken außerdem als effizienteNeurotransmitter, wichtige Moleküle in der Psychiatrie (Dopamin, Serotonin,Morphin, Oxytocin und viele Agonisten und Antagonisten).

Außerdem ist Tyrosin chemisch reaktiv. In der pflanzlichen Photosynthesespielt das Tyrosin die Rolle eines Elektronenüberträgers von einem Mangan-Ionzu einem photooxidierten Chlorophyll-Molekül. Für die Pflanze ist das nützlich,

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen206

Abb. 4.39 Strukturformeln des HormonsOxytocin und eines Antagonisten. Das Hor-mon taucht wahrscheinlich mit dem Phenol-ring in die hydrophobe Spalte seines Rezep-tors, die spezifische Erkennung und das da-rauffolgende Öffnen der Membranspalteaber wird von den benachbarten und den

endständigen Aminosäuren bewirkt. Detailsim Macrocyclus wie „–X–X–“ spielen für dieprimäre Bindung keine Rolle, wohl aber fürdie der Spaltöffnung folgende Abspaltungdes Hormons (Öffnung des Rings durchS–S-Spaltung).

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weil der direkte Kontakt zwischen dem leicht zersetzlichen Chlorophyll unddem schließlich gebildeten OH-Radikal vermieden wird (Abb. 4.40).

4.4Tyrosinphosphat

Die Phosphorylierung des Tyrosins von Membranproteinen führt uns ins nächsteKapitel. Phosphat lässt Natrium-, Kalium- und Calcium-Ionen durch die Lecithin-BLMs in die Zellen hinein- und wieder herausfließen. Das erzeugt elektrischeStröme, lässt Menschen und Tiere hören und sehen, sich bewegen, denken undfühlen. Wenn mit dem Phosphat oder mit den Zell- und Nervenströmen irgend-etwas schief geht, wird man zuckerkrank oder Nerven und Herz versagen.

Negative Ladungen von Phosphat in Membranporen erlauben den selektivenTransport von Natrium- und Kalium-Ionen durch Zellmembranen und erzeu-

4.4 Tyrosinphosphat 207

Abb. 4.40 Modell der Elektronenübertragungin der pflanzlichen Photosynthese vom Was-ser zum Chlorophyllradikal mit einer Elektro-nenlücke und einer positiven Ladung überein dazwischen liegendes Tyrosin. Vier der-artige Reaktionen liefern vier OH-Radikale

oder zwei Wasserstoffperoxid-Moleküle,H2O2 (nicht gezeigt). Dieses zerfällt schließ-lich an Mangan-Ionen zu Wasser und Sauer-stoffmolekülen. Der Sauerstoff der Atmo-sphäre stammt aus diesem Prozess.

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gen so elektrische Potenziale und elektrische Ströme (Seite 245 ff). Das Tyrosinarbeitet dabei vorwiegend an der inneren Membranoberfläche. Dort wird dasPhosphat sowohl an die 6-OH-Gruppe der Glucose als auch an das Tyrosin ei-nes Membranproteins addiert (Kinasen) oder von ihnen entfernt (Phosphata-sen). Die tägliche Umsatzrate dieses Phosphataustauschs beträgt zwischen 50und 100 kg! Quantitativ machen wir eigentlich kaum etwas anderes als phos-phorylieren und dephosphorylieren. Phosphat ran, Phosphat ab – das ist fast al-les, was der Mensch an Chemie macht.

Der gewaltige Umsatz wird von der geringen O–P-Bindungsenergie von ledig-lich –1,4 kcal/mol begünstigt. Das entspricht etwa der Bindungsenergie einesMagnesium-Ions an Adenosintriphosphat (Seite 239 ff). Phosphatreste am Tyro-sin werden dementsprechend extrem leicht ausgetauscht. In Modellexperimen-ten lassen sich Phosphorylierungen mit entwässerter Phosphorsäure, der Meta-phosphorsäure HPO3, durchführen. Dephosphorylierungen des Phenols lassensich leicht dadurch induzieren, dass man das Phenol oxidiert: Diese oxidativeDephosphorylierung spaltet direkt Metaphosphat ab, das nun andere Alkohol-gruppen phosphorylieren kann, und aus dem Phenol wird ein Chinon, das vonden reduktiven biologischen Organismen sofort zum Hydrochinon reduziertwird (Abb. 4.41).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen208

Abb. 4.41 Einfacher „Mechanismus“ einer oxidativen Phosphory-lierung. Dehydratisierte Phosphorsäure (Metaphosphorsäure)phosphoryliert den Phenolsauerstoff des Tyrosins; die Oxidation desPhenols setzt Metaphosphorsäure frei, die nun andere OH-Gruppenphosphorylieren kann. Bei der Oxidation werden auch Protonen frei,die die ATP-Bildung fördern (Seite 243).

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Am besten untersucht ist die Rolle der Phosphorylierung des Tyrosins beidem sehr häufig vorkommenden und sehr kostspieligen Diabetes mellitus(griech. dia-betes, „Durchgehen“, mellitus, „honigsüß“). Diese Zuckerkrankheitberuht nicht auf der Giftigkeit der Glucose, sondern auf einem Mangel an Insu-lin im Blut, einem kleinen Protein, das erstens Glucoseporen in Zellmembra-nen öffnet und zweitens die Umwandlung der wasserlöslichen Glucose inunlösliche Fette einleitet, indem es hilft, Glucose in Fettzellen abzulagern. Glu-cose muss aus dem Blut mühsam heraustransportiert werden, Fette hingegenwerden sofort aus dem fließenden Wasser ausgeschieden, weil sie dort unlös-lich sind. Aber die Fette verschwinden nicht, sondern füllen Fettzellen auf undbilden als Artefakt alle Arten von unangenehmen Ablagerungen auf den Rohr-wänden der Wasserleitungen (Plaques).

Wenn Poren in Zellmembranen sich nach einer Mahlzeit nicht öffnen, um dieGlucose aus dem Blut heraus in Zellen zu leiten, kommt es zu einem ungehemm-ten Abbau der Glucose zu Acetessigsäure und Aceton im Blut (> 5 mmol, Keton-ämie, Ketoazidose), zu hohen Glucosewerten im Urin (3,5 g/L) und zu extremerAustrocknung des ganzen Körpers durch exzessives Urinieren von bis zu zwölfLitern am Tag. Es ist vor allem die Entwicklung eines Flüssigkeitsdefizits, dieschließlich ins Coma diabeticum mit einem Sterberisiko von etwa 10% führt. Ur-sache des Ketons im Blut und der Glucose im Harn ist immer ein Insulinmangelbei häufig hoher Blutglucose, die dann bei intensiver körperlicher Betätigunggleichzeitig einen katastrophalen Anstieg der Ketoazidose und der Wasserausschei-dung bewirken. Die Niere filtriert nicht mehr, sie scheidet ungehemmt Wasser aus(Abb. 4.42).

4.4 Tyrosinphosphat 209

Abb. 4.42 Modell der Umwandlung der Glu-cose im Blut zu Acetessigsäure und Aceton(„Ketonkörper“), wenn der Abtransport derGlucose in Leber, Muskeln und Adipocytennicht schnell genug verläuft. Der Niere wer-

den dann unter Umständen große MengenGlucose, Aceton und Wasser aufgezwungen,der Körper dehydratisiert möglicherweise inlebensgefährlichem Ausmaß.

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Gesundes Blut enthält etwa 1–2 g Glucose pro Liter (5�10–3 mol/L) und au-ßerdem 10–10 mol/L Insulin. Wenn die Glucosewerte nicht mehr als doppelt sohoch werden und die Insulinkonzentration um nicht mehr als 50% reduziertwird, kann der Mensch eine normale, zucker- und stärkehaltige Mahlzeit unbe-schadet überstehen. Außerdem muss der wenige Blutzucker dauernd nachgelie-fert werden, denn er wird massiv verbraucht.

Wenigstens 5 g gelöste Glucose benötigt das Gehirn in einer Stunde. Ein Ma-rathonlauf ist schon kritisch – er kann allen Zucker verbrauchen. Dann mussder Körper ihn aus Fett, Glycogen und Aminosäuren schnell nachproduzieren.

Es ist schon merkwürdig: Der Mensch ist keine Pflanze, er enthält kaum Glu-cose. Andererseits ist er stark abhängig vom dauernden Fluss der wenigen Glu-cose in seinem Blut. Mangelt es ihm akut an ein paar Gramm Glucose, stirbter schnell. Es ist nicht nur fast unmöglich, sich glucosefrei zu ernähren, son-dern auch komplett unsinnig.

Bei 15 g Glucose in 5 L Blut und bei mangelnder Bewegung aber beginnt dieZuckerkrankheit, wenn nämlich nicht genügend Insulin zur Verfügung steht,um die Glucose abzuleiten. Fehlendes Insulin ist ein Notfall. Damit der Diabeti-ker überlebt, muss er es vor jeder Mahlzeit injizieren (Seite 133). Sonst setztdie exzessive Bildung von Fett und Glucoseabbauprodukten ein, das Nervensys-tem wird langsam zerrüttet. Schon ein Viertelliter Coca Cola bedeutet eineplötzliche Überflutung mit 20 g Zucker, aus dem die Glucose schnell freigesetztwird. Das Blutprotein Insulin ist der einzige Schlüssel, der sofort alle Abflüsseöffnet: Die meiste Glucose wird in die Leber geschleust und dort in Stärke (Gly-cogen) verwandelt. Dafür braucht man wenig Insulin. Wenn das nicht reicht,muss die Glucose in Fettzellen und Muskeln geleitet werden, wo sie in Fett-und Aminosäuren verwandelt wird.

Der Glucosespiegel im Körper steigt bei einer Mahlzeit rasch an und fälltbeim Sporttreiben oder beim Hungern ebenso rasch wieder ab. Niemals aberwird Glucose zum Baustein des Körpers, nirgends wird sie in größeren Mengengelagert. Der Mensch ist keine Pflanze, aber immerhin hat er Pflanzen stets inReichweite – er kann sie ja essen! Insgesamt tritt Diabetes mellitus bei etwa 5%der Europäer und Amerikaner auf, jenseits eines Alters von 70 Jahren sind es20–25%. Behandelt wird der Diabetes mit Insulin, das die Glucose aus der Blut-bahn entfernt.

Dabei ist es klug, die „Fettsenke“ nur wenig zu benutzen, sondern überschüs-sige Glucose lieber durch Muskelbewegung des Körpers zu verbrennen. Dannist es der Herzmuskel, der am meisten Fett und Glucose verbraucht. Wennman andererseits den Körper ein Leben lang überstrapaziert, dann ist das Le-ben auch nicht länger, als wenn man ihn gar nicht belastet hätte. GebrauchenSie Ihr Gehirn, um Ihren Körper selbst zu beobachten und richtig einzuschät-zen. Jeder ist seines Körpers und Gehirns eigener Schmied (Abb. 4.43)!

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen210

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Die wichtigste Aufgabe der in Wasser gelösten Glucose und ihres Folgepro-dukts Fett ist die Energieversorgung aller Körperzellen, im Besonderen aber diedes Herzens und des Gehirns. Die Kohlenhydrate und Fette treiben dabei nichtnur die mechanische Herzpumpe für den Blutstrom an, sondern liefern auchdie Energie für die chemische Fabrik der Leber und das Elektrizitätswerk derNerven, Muskeln und Sinnesorgane in Gehirn und Körper. Glucose und Fettesind also nicht nur die elementaren Baumaterialien des Lebens, sondern zu-sammen mit dem Sauerstoff auch seine Betriebsmittel.

Die Glucose kommt aus der Nahrung. Woher aber kommt das Insulin? Insu-lin ist ein kleines Protein oder Polypeptid. Es besteht aus einer A-Kette mit 21Aminosäuren und einer B-Kette mit 30 Aminosäuren, die über zwei Disulfid-Brücken (–S–S–) miteinander verbunden sind. Eine Internationale Einheit (I.E.)entspricht 38,5 �g/mL oder 6 nmol (6�10–9 mol). Unser eigenes Insulinstammt aus den so genannten �-Zellen des Pankreas (Bauchspeicheldrüse), ei-

4.4 Tyrosinphosphat 211

Abb. 4.43 Insulin wird über das Fettgewebeins Blut gebracht und öffnet dort die Porenin den Rezeptoren für den Transport der Glu-cose in Leber, Niere und Muskeln. Solangeder Körper intensiv arbeitet, kreist die Glu-cose im Blut und wird zum Beispiel im

Gehirn direkt verbraucht, oder sie wird nachder Umwandlung in Fett in den Adipocytenvon den Muskeln verbrannt. Untätigkeit undGewichtszunahme verlangsamen den Abbauder Glucose und überfordern das körpereige-ne Insulin.

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ner 20 cm langen, 80 g schweren Drüse im oberen Bauchraum. KrankhafteÜberdosen von Insulin oder Pankreastumore erzeugen Hypophysenstörungenund wecken eine unwiderstehliche Fettsucht. Käufliches Insulin wird meist ausdem Pankreas von Schlachttieren hergestellt, die etwa 100 mg Insulin pro Kilo-gramm liefern. Das Insulin aus einem Kilogramm Schweinepankreas reicht für100000 Spritzen. Humaninsulin wird biotechnologisch hergestellt. Das mensch-liche oder äffische (Macaca) Insulingenom dient als Ausgangsprodukt, Bakteri-en- (Escherichia coli) oder Hefekulturen in großen Fermentationstanks sind dieMultiplikatoren.

Synthetisch eingeführte, hydrophile Aminosäuren lassen das Insulin schnel-ler wirken, die künstlich herbeigeführte Aggregation führt zu Langzeitinsuli-nen. Das natürliche Langzeit-Insulin aus der Bauchspeicheldrüse ist ein Hexa-mer mit einem zentralen Zink-Ion, das im Blut erst in Monomere gespaltenwerden muss, bevor es wirksam wird. Die Zusammenfügung der sechs Einhei-ten zum kreisförmigen Hexamer wird dabei vor allem von drei Tyrosin-Einhei-ten der Insulinketten bewirkt und tritt auch ein, wenn zu viel Insulin gespritztwird. Die hydrophoben Zentren, die die Bindung des Insulins an seine Rezep-toren einleiten, enthalten zwei der vier Tyrosineinheiten des Insulins und au-ßerdem zwei ähnliche Phenylalanin-Kettenglieder (unten nicht hervorgehoben).Die Injektion einer einzigen Einheit senkt bei einem 2,0–2,5 kg schweren Ka-ninchen die Blutglucose nach einer Stunde vom Normalwert 1,0 auf 0,5 g/L.Zuckerkrankheit wird durch Fettleibigkeit begünstigt und erzeugt außerdem dieSucht nach immer mehr Fett (Abb. 4.44).

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen212

Abb. 4.44 Schematische Struktur des Insu-lins mit einer A-Kette (oben) und einerB-Kette. Es ist leicht vorstellbar, dass die Ra-dikalchemie des Phenols mit der derS–S-Brücken gekoppelt ist, denn beide sindziemlich hydrophob. Das Phenol verliert

leicht ein Proton und der negativ geladeneSauerstoff könnte die Brücken spalten. Dienach außen zeigenden Tyrosin-Einheiten sor-gen für die durch Zink-Ionen geförderte Ag-gregation zu Hexameren.

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Ein „normaler“ Insulinverbrauch oder eine „normale“ Insulinresistenzkönnen nicht festgelegt werden, weil beides sehr stark von der Person und ih-ren Ess- und Trinkgewohnheiten abhängt, insbesondere vom Verhältnis aller in-sulinregulierten Substanzen (Glucose, Aminosäuren, Fettsäuren). Die postpran-dialen (nach der Mahlzeit) Schwankungen der Hyperglycämie (zu viel Glucoseim Blut) stimulieren die �-Zellen der Bauchspeicheldrüse, die dann automatischdie richtige Menge Insulin oder die Vorstufe (Proinsulin) ins Blut schütten. BeiZuckerkranken funktioniert diese physiologische Wechselwirkung der Nah-rungsaufnahme mit der Insulinausschüttung nur noch rudimentär und zulangsam. So wird die Hyperglykämie chronisch, wobei die Störungen der kom-plexen Rückkopplungsmechanismen letzten Endes oft multigenetischen Ur-sprungs sind, was perfekte Übereinstimmungen bei eineiigen Zwillingen imGegensatz zu wesentlich geringeren Konkordanzen bei Verwandten ersten bisdritten Grades belegen. Trotzdem: Zu große Glucosemengen oder zu wenig In-sulin im Blut werden als Krankheit oft erst manifest, wenn zu wenig Glucoseverbrannt und zu viel Fett ausgesondert wird. Nur der Abtransport der Glucoseaus dem Blut, nicht aber ihr Metabolismus in den Muskeln oder im Gehirnwird vom Insulin gesteuert. Deshalb besteht ein enger Zusammenhang zwi-schen Fettleibigkeit und Diabetes mellitus. Eine ungünstige Erbmasse kannmeist viel einfacher bewältigt werden.

In der Zuckerkrankheit wirken die Moleküle eins bis vier zusammen, die Was-serströme mit Glucose durch die Lecithinmembranen, die Ablagerung von Fettund das Tyrosin der Phosphorylierung und des Insulins. Damit leiten wir zumATP, dem fünften unserer sieben Moleküle, und zum nächsten Kapitel über.

Der Abtransport von Glucosemolekülen aus dem Blut in Leber-, Fett- undMuskelzellen durch Zellmembranen erfolgt durch Glucose-Transportproteine(„carrier“), genannt Glut 1 bis Glut 4. Alle vier enthalten Tyrosin, das an derOH-Gruppe phosphoryliert und dephosphoryliert wird. In Darm- und Nieren-zellen operieren sie im Zusammenspiel mit einem Konzentrationsgefälle vonNatrium-Ionen, in anderen Körperzellen erfolgt der passive Glucosetransportentlang dem Gefälle der Glucosekonzentration. Die Transporter („Glut“) sind150–200 nm (500–600 Aminosäuren) lang und meist in die zu durchquerendeMembran integriert. Glut 1 ermöglicht die Grundversorgung der Zellen mitGlucose, Glut 2 ist typisch für den Transport in die Leber, Glut 4 arbeitet inMuskeln und in Fettzellen und ist besonders während der Nahrungsaufnahmeaktiv. Glut 3 wirkt im Gehirn und hat die höchste Bindungskonstante zur Glu-cose: Es springt schon im millimolaren Bereich an, d.h. bei einer Konzentrati-on, die etwa 5-mal niedriger ist als der Glucosegehalt des Bluts – das Gehirn istwichtiger als andere Organe und deshalb saugt es die Glucose von anderen Or-ganen ab, wenn Mangel herrscht. Glut 4 ist mit einem Enzym gekoppelt, dasdie Phenylgruppen von seinem Tyrosinrest mit Phosphorsäure verestert (Tyro-sinkinase). Dadurch wird der Glut 4-Kanal negativ aufgeladen, Wasser strömt insein Inneres und trägt die Glucose durch die Membran. Merkwürdigerweiseverestert das Enzym auch seine eigenen Tyrosin-Reste („Autophosphorylierung“)und erleichtert damit auch in seiner Umgebung den Glucosetransport.

4.4 Tyrosinphosphat 213

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Das Ausmaß der Phosphorylierung des Tyrosins wird, wie üblich, durch dasWechselspiel zweier Proteine bestimmt: einer Kinase, die phosphoryliert, undeiner Phosphatase, die dephosphoryliert. Erst die Tyrosin-Phosphorylierungmacht Rezeptoren in Zellmembranen zu wässrigen Kanälen für die Glucose.Die Kinase ist dabei meist an einen Rezeptor in der Zellmembran gebunden,die Phosphatasen regulieren eher aus dem wässrigen Zellvolumen heraus. Soerreicht die wässrige Glucoselösung das Fett-Territorium der Adipocyten, wirddort zu Essigsäure abgebaut (C6H12O6�3 CH3COOH) und schrittweise in Fett-säuren und Brenztraubensäure, CH3COCOOH, umgewandelt (zum Beispiel9 CH3COOH+ 9H2�C17H12O6 + O2�2 CH3COCOOH+ 2 H2O), wobei Letzterezu Alanin (CH3COCOOH+ H2 + NH3�CH3CHNH2–COOH+ 2 H2O) und ande-ren Aminosäuren metabolisiert wird.

Lassen wir den Strom der Tyrosinwirkungen mit ein paar Bemerkungen zuneueren Projekten ausmäandern (Seite 40).

Auch das assoziative Lernen des Gehirns und die Speicherung des Gelerntenim Gedächtnis funktioniert über die Phosphorylierung von Tyrosin. Hier sindes Calcium- und GABA-Ströme, die das Signal zur Phosphorylierung von Pro-teinen an den Synapsenwänden geben, indem sie Proteinkinasen aktivieren, dievom Zellinnern an die Zelloberfläche gelotst werden und dort das molekulareGedächtnis „bahnen“. Das wichtigste bekannte Lernprotein heißt G-Proteincp20 und verschließt Kalium-Kanäle, wodurch die Depolarisation der Nerven-zelle (Seite 246) abnimmt und ihre Erregbarkeit ansteigt. Aufeinander folgendeModifizierungen des cp20-G-Proteins durch Phospholipasen könnten dann dasErgebnis des Lernprozesses in der Nervenzelle zementieren. Dieser Phosphory-lierungs-Mechanismus des Lernens wurde bei Meeresschnecken charakterisiert,die ihren Fuß bei Turbulenzen einziehen. Ihnen wurde beigebracht, dass Turbu-lenzen (Rühren ihres Mediums) immer mit einem Lichtreiz verknüpft waren,bis sie schließlich in ruhigem Wasser den Fuß einzogen, wenn man sie anblitz-te. Dieser Lernprozess war eindeutig mit der Phosphorylierung des kleinencp20-Lernproteins und der Inaktivierung der Kaliumkanäle verknüpft.

Tyrosinkinase kontrolliert auch das Wachstum von Zellen und Tumoren undist an der Aktivierung des Immunsystems beteiligt. Manche Krebs erregendenViren enthalten das Gen, das für Tyrosinkinase codiert, die dann viele Wege inder Zelle unkontrolliert öffnet und so deren Wachstum und ihre Vermehrungbeschleunigt.

Ähnliche Phosphorylierungen bestimmen die „Plastizität“ des Gehirns, dasheißt die strukturelle Fixierung synaptischer Kanäle in Lern- und Gedächtnis-prozessen. Das zeigt zum Beispiel der Einfluss großer Insulinmengen auf dieSchizophrenie. Patienten sind aus einem Koma nach ungewollt zu hohen Insu-lin-Mengen zuweilen erwacht und waren von der Schizophrenie geheilt.

Proteine binden Wasser vor allem an Phosphatstellen. Fehlen Proteine undgebundenes Phosphat bei Verhungernden, so kommt es zu enormen Wasser-ansammlungen im Körper, den Hungerödemen. Unterernährte in Slums ster-ben an Krankheiten dieser Art, die in reichen Industrieländern keine Bedeu-tung haben.

4 Tyrosin: In Proteinen zwischen Proteinen214

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Bei Gesunden öffnet die Phosphorylierung die Wasserwege zwischen den Zel-len und in den Membranporen. Phosphat ist das wichtigste molekulare Bin-dungs- und Schleusenelement auf den Wasserwegen für die gelösten Na+-, K+-und Ca2+-Ionen und an den Oberflächen von Muskel- und Nervenzellen.

Fragen zu Tyrosin

1. Was ist die Ursache von Hungerödemen?2. Wie funktionieren die meisten essbaren („oral wirksamen“) Pharmaka?3. Was passiert mit Proteinen, die Sie essen, zuerst?4. Woraus besteht Hausstaub hauptsächlich?5. Woraus besteht ein Pferdehuf?6. Nennen Sie essenzielle Aminosäuren und gute Quellen dafür.7. Wo kommen Neurotransmitter hauptsächlich vor?8. Was tun Serotonin und Melatonin für Sie?9. Wieso ist Phenol ein guter Proteinanker für Pharmaka aller Art?

10. Woraus bestehen die harten, trockenen Blätter auf dem herbstlichen undwinterlichen Waldboden?

11. Können Sie helicale und blattartige Proteine im Kaufhaus kaufen?12. Wieso ist Leder stabil, tote Tierhäute aber nicht?13. Was wissen Sie von den Polyamiden der Bakterien? Gleichen sie alle denen

der Tiere und Menschen?14. Was dürfen Psychologen im Gegensatz zu Psychiatern nicht? Warum

nicht?15. Fassen Sie die biologische Wirkung des Phenols in zwei kurzen Sätzen zu-

sammen.

Fragen zu Tyrosin 215

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Wahr ist, dass es ohne Phosphor keine Gedanken gibt . . . (Joseph Conrad)Existenz ist Nervenexistenz. (Gottfried Benn)

Überblick

Die Phosphatchemie versorgt das Innenleben der Menschen und Tiere mit denfesten Gerüsten der Knochen und Zähne, den Phosphatester-Oberflächen der flui-den Zellmembranen, den dynamischen Phosphat-Leitsystemen für Kalium- undNatrium-Ionenströme in Nerven und Muskeln sowie den Phosphorsäurediester-Gerüsten der DNS- und RNS-Matrizen für die Zellteilung. Die dazu verwendetenPhosphatmoleküle heißen Apatit, Lecithin, Tyrosin- und Serinester, Phosphorsäu-reanhydride, Nucleotide, Cyclonucleotide und Polynucleinsäuren. Ohne Phosphatgäbe es kein Denken, Fühlen, Sehen, keine zielgerichtete Bewegung, keine Zell-membranen und keine Zellteilung. 50–100 kg ATP werden von einem Menschentäglich gebildet und wieder zersetzt, um den Phosphorylierungsbetrieb in diesenunterschiedlichen Reaktionszentren aufrecht zu erhalten.5.1 Nucleoside sind N-Glycoside von Nucleinbasen mit Ribose oder Desoxyribo-

se. Wenn die Ribose oder Desoxyribose außerdem mit Phosphorsäure ver-estert ist, spricht man von Nucleotiden. In der DNS gibt es vier Nucleinba-sen: die beiden Pyrimidinbasen Cytosin (C) und Thymin (T), sowie die bei-

217

5ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens,der Bewegung und der Zellteilung

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den Purinbasen Guanin (G) und Adenin (A). Drei der Nucleinbasen enthal-ten das unübertroffen polare Harnstoffmotiv –NH–CO–NH–, nur das Ade-nin ist ein unpolarer Aromat.

5.2 Die Beweglichkeit der Fünfringzucker Ribose und 2-Desoxyribose (Pseudo-rotation der Furanosen) erlaubt die Bildung eng gewickelter Doppelhelicesund macht Nucleoside und Nucleotide wasserlöslich. Adenosin bestimmtden Schlaf- und Lebensrhythmus der Tiere; Coffein stört den Schlaf, Barbi-tale unterstützen ihn.

5.3 Das Erbmaterial Desoxyribonucleinsäure (DNS; engl. DNA für Acid anstellevon „Säure“) ist ein polymerer Phosphorsäurediester aus Nucleotiden. DNSist eine Doppelhelix mit einem negativ geladenen Außengerüst aus Phos-phorsäurediestern und A-T- und C-G-Basenpaaren. Die Auftrennung derDoppelhelix in Einzelstränge bei Zellteilungen ist nur möglich, weil dieDesoxyribose die Basenstapel auflockert. Die negative Ladung der Phos-phorsäurediester schützt sie vor der Hydrolyse.

5.4 Enzymatische Phosphorylierungen von Alkoholen mittels ATP und Kinasensowie Dephosphorylierungen mittels Phosphorylasen und ADP sind die häu-figsten chemischen Reaktionen in Menschen und Tieren. Sie kontrollierendie negativen Ladungen in Membranporen, die dort zuerst die Ionenströme(Na+, K+, Ca2+) steuern, sie dann entlang der Nerven- und Muskelfasernführen und schließlich zusammen mit ortsspezifischen Signalmolekülen(Neurotransmittern) über synaptische Spalten zur nächsten Faser leiten.

Wir kommen mit dem Phosphor zum ersten der drei Elemente aus SCHÖP-FeN, die schwerer als Sauerstoff sind, also nicht aus dem C,N,O-Zyklus stam-men. Phosphat-Anionen (15PO4

3–), die uns als stabiler Baustein schon im Leci-thin begegnet sind, werden hier als aktivste Moleküle der Menschen und Tierebeschrieben, im nächsten Kapitel folgen Schwefel (16S) und Eisen (26Fe), die dieAtmung ermöglichen.

Diese drei Elemente kommen aus den Kernfusionen in großen Sternen undsind Millionen, der Phosphor sogar Milliarden Mal seltener als Wasserstoff. Au-ßerdem brauchen wir für die Ionenströme der Nerven und Muskeln die Metall-ionen 11Na+, 12Mg2+, 19K+ und 20Ca2+. Nur das Magnesium ist davon ein häufi-ges Atom im Weltall.

Elementarer Phosphor (griech. phosphorus, „Leuchtstoff“) ist biologisch irrele-vant, wird aber aus den biologischen Phosphaten einfach dadurch freigesetzt,dass man tierisches Material, zum Beispiel Urin, unter Luftabschluss erhitztund eindampft. So wurde der Phosphor im 17. Jahrhundert entdeckt: Nachdem Eindampfen hunderter Liter menschlichen Urins leuchtete der Rückstandin einem verschlossenen Glaskolben magisch weiß, mit einem blauen Schim-mer. Der unappetitliche Harnrückstand „phosphoreszierte“ allein deshalb, weilseine durchs Eindampfen angereicherten Kohlenstoffverbindungen und seinAmmoniak das Phosphat in der Hitze langsam zu weißem Phosphor reduzierthatten. In Gegenwart von Spuren Sauerstoff verglomm dieser weiße Belag derKolbenwand dann „kalt“, er leuchtete (Abb. 5.1).

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung218

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In lebenden Organismen aber (bei 37 �C) bleibt der Phosphor immer im Oxi-dationszustand des Phosphats mit fünfwertigem Phosphor (P(V)). Die niedrigenTemperaturen und die niedrigen Konzentrationen der Reduktionsmittel in le-bendigen Zellen reichen als Aktivierungsenergie zur Phosphatreduktion nichtaus, ein Enzym dafür gibt es nicht.

Phosphat zieht mit seinen vielen negativen Ladungen positiv geladene Metall-ionen stärker an als irgendein anderes wasserlösliches Anion. Diese starke elek-trostatische Wechselwirkung des Phosphattetraeders mit Metallionen zeigt sichin Kristallstrukturen (Abb. 5.2), ist auch in wässrigen Lösungen noch selektiv

Überblick 219

Abb. 5.1 Unter Luftabschluss eingetrock-neter Urin enthält elementaren Phosphor,der durch die Reduktion des in ihm enthalte-nen Phosphats entstanden ist. Als Redukti-onsmittel wirken praktisch alle Verbindungenbiologischen Ursprungs. An der Luft leuchtet(„phosphoresziert“) der weiße Phosphor,

während er langsam wieder zurück zu Phos-phat oxidiert wird. Durch Eindampfen großerHarnmengen unter Luftabschluss haben dieAlchemisten im 17. Jahrhundert zum erstenMal elementaren Phosphor hergestellt. Fikti-ves Porträt des Apothekers Hennig Brandt(etwa 1630–1692) von Joseph Wright (1771).

Abb. 5.2 In kristallinen Metallphosphatentritt das Phosphat-Ion als Monomer oderauch als Polyanhydrid auf. Das Natrium desNatriumphosphats ist ein typischer Ladungs-träger für Nervenströme, aus Calciumphos-

phat sind die Zähne und Knochen. Eisen(III)benutzt man in Berlin täglich tonnenweise,um das Düngerphosphat aus dem TegelerFließ und dem Nordgraben auszufällen, be-vor es in den Tegeler See gelangen kann.

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wirksam (Na+ < K+ < Ca2+ < Mg2+ < Fe3+) und bildet die chemische Basis derNervenströme und Muskelbewegungen. Ohne Phosphat gäbe es keine Io-nenströme aus Natrium- und Kalium-Ionen, oft unter Beteiligung von Calcium-Ionen. Muskeln, Nerven und Gehirn wären nicht aktiv, den typisch tierischenGeweben fehlte jede Existenzberechtigung (Abb. 5.2).

Phosphate treten mit vier stark elektronegativen Sauerstoffatomen und we-nigstens einer einzigen negativen Ladung im Lecithin-Diester (Seite 107) odermit bis zu fünf negativen Ladungen im Adenosintriphosphat ATP (Seite 217)auf. Phosphat saugt Metallionen auf wie kein anderes negativ geladenes Ion derNatur und ist damit der stärkste Vertreter des empfangenden Yin-Prinzips imMenschen. Es wird täglich in 10-kg-Mengen eingesetzt, um positiv geladeneMetallionen zu bewegen. Jede humane Aktivität läuft auf wässrigen Wegstre-cken entlang von Phosphatsammelstellen ab, die die Ströme der positiv gelade-nen Ionen (Yang) leiten. Die Salzströme entlang der Oberfläche unserer Nervenund Muskeln, die elektrischen Netzwerke unseres Gehirns sind ohne die „Phos-phorylierung“ der biologischen Oberflächen undenkbar. Phosphat hält die Nat-rium-, Kalium-, Calcium- und Magnesium-Ionen im Körper fest.

Eine Feinabstimmung der Phosphatwirkung, insbesondere die Anreicherungvon Kalium-Ionen, erfolgt außerdem durch die Carboxylat-Gruppen (–COO–)der Proteine (Glutamat, Aspartat) innerhalb der biologischen Zellen. Diese sor-gen dafür, dass sich locker hydratisierte Kalium-Ionen innerhalb der porösenMembran direkt als K+ anreichern, während die hydratisierten Natrium-Ionendraußen bleiben.

Der Ausspruch von Joseph Conrad – „Wahr ist, wie irgendein Deutscher be-merkt hat, dass es ohne Phosphor keine Gedanken gäbe“ – ist für unser Lebenvon gleicher allgemeiner Bedeutung wie Heraklits Wassersatz „Alles fließt.“ DieHöflichkeit des Engländers aus Polen, diese Erkenntnis ausgerechnet „irgend-einem Deutschen“ in den Mund zu legen, folgt über das Poetische hinaus außer-dem bester europäischer Tradition. Man liest das noch nach hundert Jahren gern.

Die funktionellen Teile oder Module biologischer Maschinen halten in wäss-rigen Medien lückenlos zusammen und greifen reibungslos ineinander. Nur sokonnten sich die sieben Moleküle in der biologischen Evolution durchsetzen.Räumlich und funktionell genau passende Moleküle, die außerdem vom Orga-nismus selbst hergestellt werden, wurden von den milliardenfach reproduzier-ten lebendigen Spezies aller Art über tausend Generationen hinweg wieder undwieder verwendet. Lösliche Kohlenhydrate und Sauerstoff, beide erst durch diebiologische Evolution zugänglich gemacht, dienen den Menschen schon zwei-hunderttausend Jahre lang als Betriebsmittel. Unlösliche Lecithinmembranenund funktionelle Proteinfasern erzeugen quellfähige wässrige Gele und kapillareLeitsysteme.

Mit dem wasserlöslichen Überträger des Phosphats, dem Adenosintriphos-phat oder ATP, kommt Leben in die Wasserwege zwischen den Zellmembranenaus Phospholipiden. Elektrische Ströme fließen auf ATP-Initiative, die riesigenDNS-Polymerstränge mit der Zuckerphosphatoberfläche leiten Zellteilungenein. Ohne das Phosphat aus dem ATP gäbe es nicht nur keinen Gedanken, son-

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung220

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dern auch keine Sinnesorgane, kein Gefühl, keine Bewegung und keine Ver-erbung. ATP ist ein Zuckertriphosphat (TP) und ein Aminopurin N-Glycosid(A). Wir werden uns zuerst das „A“ ansehen.

5.1Aminopurin-Motive

Der Charakter von drei der vier Nucleinbasen wird vom Strukturmotiv desHarnstoffs –NH–CO–NH– bestimmt. Nur das Adenin, die Base des allgegen-wärtigen ATP, enthält es nicht. Harnstoff ist aggressiv gegenüber Proteinenund zerstört seine Helices. Man hat Harnstoffmotive nicht gern in großen Men-gen im Körper.

Harnstoff selbst, NH2CONH2, ist ein Hauptprodukt des Proteinabbaus undwird im Magen und im Harn (Urin) entsorgt. Es ist das sehr gut wasserlöslicheDiamid der Kohlensäure: Die beiden Hydroxylgruppen der KohlensäureO=C(OH)2 sind gegen Aminogruppen ausgetauscht, also O=C(NH2)2. Währenddie Kohlensäure in Wasser spontan zu gasförmigem Kohlendioxid und Wasserzerfällt, ist Harnstoff dort relativ langlebig. In Toiletten und im Wassersäckchender Vorhaut des männlichen Glieds bildet er langsam Kohlendioxid und Ammo-niak gemäß (NH2)2C=O+ H2O�CO2 + 2NH3, wobei Letzterer den unangeneh-men Geruch öffentlicher Aborte und alternder Männer bewirkt. Urin ist, frischaus der Niere kommend, zunächst nur schwach basisch (pH = 7,4), aber „altert“dann rasch mit einem pH-Anstieg auf 9 bis 11. Harnstoff hat von allen biolo-gisch relevanten Verbindungen das höchste Dipolmoment (3,8 Debye). Das Di-polmoment des Wassers ist nur halb so groß (1,8 Debye), beim Formaldehydmit einer einzigen polarisierbaren C=O-Doppelbindung findet man 2,8 Debye.Beim Harnstoff wirkt die gleiche Mesomerie zugunsten dipolarer Grundzustän-de wie in der Amidbindung der Proteine, nur ist sie im Harnstoff doppelt aus-geprägt und doppelt wirksam (Seite 222).

Harnstoff ist billig aus Ammoniak und Kohlendioxid zu machen und er istnützlich. Verspritzt man eine wässrige Harnstoff-Lösung in Automotoren zu-sammen mit Dieselöl, so reduziert der in der Hitze entstehende Ammoniak die

5.1 Aminopurin-Motive 221

Abb. 5.3 Der Dipol des Harnstoffs. Sein Dipolmoment ist3,8 Debye (D), das des Formaldehyds H2C=O 2,8 D, das desWassers 1,8 D. Die Ursache des hohen Dipolmoments vonHarnstoff ist die Mesomerie mit einer effektiven Übertragungvon Elektronen vom Stickstoff auf den Sauerstoff.

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Stickoxide der Verbrennungsgase zum elementaren Stickstoff der Luft und löstdamit das Umweltproblem moderner Dieselmotoren. Es entsteht dann wederNO noch NO2 noch irgendwelche Säuren, die Wälder vernichten. Es könnteaber geschehen, dass Tankstellen an Regentagen nach Urin riechen (Abb. 5.3).

Harnstoff lagert sich auf Grund seines Dipols an die Carbonylgruppen (=CO)der Proteine an und spaltet dabei deren Wasserstoffbrücken. Das hat zur Folge,dass sich Membranporen in Nerven, die aus Helices gebildet werden, schließen(Seite 246 f), dass Enzyme desaktiviert werden und Helices sich zu statistischenKnäuels wandeln. Ursprünglich perfekt organisierte Proteine verlieren in einerHarnstofflösung ihre Funktionalität. In Körperflüssigkeiten spielen die zerstöre-rischen Kräfte bei geringer Konzentration allerdings kaum eine Rolle, weilHarnstoff so gut wasserlöslich ist, dass er eher im Wasserstrom des Bluts dasWeite sucht und im Urin abläuft als sich auf Dauer an einem Protein festzuha-ken (Abb. 5.4).

Harnsäure, ein anderes Abbauprodukt der Proteine, ist ein Molekül mit zweiHarnstoffmotiven. Sie landet wegen ihrer Wasserunlöslichkeit nicht in Niereund Harn, sondern in den Faeces. Die beiden Stickstoffcyclen der Harnsäuremit doppeltem Harnstoffmotiv bezeichnet man als „Purin“, sie bilden beidseitigstarke Wasserstoffbrücken aus, sodass sich nur 1 g Harnsäure bei Raumtempera-tur in 15 L Wasser löst. Harnsäure ist deshalb der Hauptbestandteil fester Vogelex-kremente (Guano), der Blasensteine und der Gichtablagerungen in Gelenken.

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung222

Abb. 5.4 Harnstoff, O=C(NH2)2 (zweimal im Bild als polareGrenzform), zerstört jede Ordnung, die auf Wasserstoff-brücken beruht (gestrichelte Linien in der Protein-�-Helixlinks). Geordnete Polymerstrukturen werden zu regel- undfunktionslosen Knäueln.

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Andererseits ist Harnsäure so polar, dass die Amid-Stickstoffatome in wäss-riger Lösung bei pH= 7 teilweise deprotoniert werden. Die sonst immer basi-sche oder neutrale N–H-Bindung wird hier zur schwachen Säure, was derHarnsäure den Namen gab. Im „Blasenstein“, der die Harnwege verstopft, lie-gen meist Natrium- oder Ammoniumsalze der Harnsäure vor (Abb. 5.5).

Die Paarbildung von sekundären Amiden, –CO–NH–, ist die molekulareGrundlage der Helixbildung in Proteinen (Seite 222) und der Dimerisierungvon Nucleinbasen in DNS-Doppelhelices (Seite 233). Hydrophobisierte Harnsäu-re-Derivate, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden (Seite 147), zerstören Was-serstoffbrücken in Membranproteinen des Gehirns und versetzen dieses füreinige Stunden in einen Schlafzustand (Barbital, Adenosin). Analog gebauteMoleküle mit blockierten Protonendonoren rütteln es wieder wach (Coffein).

Ein für die Pharmaindustrie seit 125 Jahren lukratives Schlafmittel ist dieBarbitursäure, die aus Harnstoff und Malonsäure im Tonnenmaßstab billig pro-duziert wird. Ihr Harnstoff-Motiv stört die Ordnung der Membranproteine; dasHirn schaltet den Körper in den Ruhezustand, bis die Störung verschwundenist. Barbitursäure selbst ist wenig wasserlöslich (< 5 g/L), aber immer noch zustark hydratisiert, um das Innere der Proteine attackieren zu können. Sie haftetsich lediglich an deren Oberfläche. Zellmembranen kann sie nicht passieren.

Die Lage ändert sich, wenn zwei hydrophobisierende Ethyl- oder Phenylgrup-pen (Wasserlöslichkeit: 1 g/L) die Wasserstoffatome der Malonsäurekomponente–COCH2CO– ersetzen. Solche Substituenten erzeugen eine hydrophobe Kante,über die sich die Moleküle in die Membran einschleusen. Die hydrophobe Kantebringt das Barbital durch die Blut-Hirn-Schranke hindurch (Seite 147). Im Gehirnstören die Harnstoffgruppen –NH–CO–NH– dann die Ionenporen aus Membran-proteinen. Das bringt die Nervenströme durcheinander, die Synapsen funktionie-ren nicht mehr richtig und das Gehirn dämmert in einem Ruhezustand der Zell-kommunikation hin. Es schläft! Der Impulsverkehr wird so lange gedrosselt, bisdas störende Harnstoffderivat wieder abgebaut und ausgeschieden ist (Abb. 5.6).

Der harnstoffinduzierte Schlafzustand ist umkehrbar, nicht aber die Ver-krüppelung einer im Mutterleib heranwachsenden Frucht, bei der blockierte En-zyme und Hormone zur Unterentwicklung von Gliedmaßen und Gehirnführen. Die Contergan-Katastrophe von 1962 beruhte auf einer Vergiftung derEmbryos mit einem besonders gut membrangängigem Barbitursäure-Derivat.Man versprach sich geringe Nebenwirkungen für die Mutter, weil Contergan in

5.1 Aminopurin-Motive 223

Abb. 5.5 Harnsäure wird schon bei den leicht basischen pH-Werten des Harns im Körper in das leicht auskristallisierendeNatriumsalz umgewandelt.

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geringer Dosis wirkte, aber leider überwand das Mittel die Plazentaschrankeebenso mühelos wie die Blut-Hirn-Schranke. Der Stoffwechsel der ungeborenenBabys wurde gedrosselt und die Glieder verkümmerten (Abb. 5.7).

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung224

Abb. 5.6 Kristallstrukturen a) der Diethyl-harnsäure-Bänder (Barbital, die Ethylgruppen–C2H5 sind die blauen Häkchen, vgl. Seite110) und b) des „Mercedes-Sterns“ aus ei-nem Molekül Harnstoff im Zentrum und dreiMolekülen Barbital. Die extrem stabilen Was-serstoffbrücken begünstigen einerseits die

Bildung von Kristallen in Wasser, anderer-seits zerreißen sie schwächere Wasserstoff-brücken in Proteinen. Die reversible Zer-störung von Proteinstrukturen veranlasst dasGehirn einzuschlafen. Die hydrophoben Kan-ten mit den beiden Ethylgruppen schleusendas Molekül durch die Blut-Hirn-Schranke.

Abb. 5.7 Barbiturate und Schlaf: Purinbasen in den Steuerzentren von Rezeptoren. Der Rezep-tor wird erst wieder funktionieren, wenn das Barbiturat-Molekül verschwunden ist.

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Zurück zur Harnsäure, der Mutter der Purinbasen (Purin, lat. purum urinae,„Reines vom Harn“). Purin besteht aus den beiden Stickstoff-Aromaten Imida-zol und Pyrimidin mit je sechs �-Elektronen. Adenin enthält außerdem eineAminogruppe, ist so stabil wie ein Benzolderivat, das aromatische �-Elektronen-system des Rings wird durch die externe NH2-Gruppe nicht gestört. Mit Säurenbildet Adenin protonierte Kationen –NH3

+, mit Basen deprotonierte Anionen–NH–. Beide sind in Wasser langlebig und zersetzen sich kaum.

Guanin, das erstmals aus Guano isoliert wurde, dem Vogelmist auf denKüstenfelsen Chiles, ist die zweite Purinbase der DNS (Seite 231). Es enthältzwei Harnstoffmotive mit C=O-Bindungen und ist kein Aromat, sondern eincyclisches Amid, ein Lactam. Der doppelt gebundene Sauerstoff-Substituent amSechsring zieht die Elektronenpaare aus dem Pyrimidin-Ring heraus und unter-bricht das cyclische Elektronensystem der Doppelbindungen im Sechsring; derBenzolcharakter geht verloren (siehe Seite 173). Guanin verhält sich wie Harn-stoff, bildet sehr feste Wasserstoffbrücken und schuppenartige, harte Kristalle,die zum Beispiel den Glanz der Fisch- und Reptilienhäute hervorrufen.

Ein anderes Harnsäuremolekül, bei dem die drei NH-Gruppen zu N–CH3

methyliert wurden, heißt Coffein. Dieser Ersatz behindert zwar die Hydratisie-rung, sprengt aber gleichzeitig drei Wasserstoffbrücken. Coffein ist deshalb inWasser (22 g/L) viel besser löslich als Harnsäure (0,07 g/L) und durchdringtZellmembranen (Abb. 5.8).

5.1 Aminopurin-Motive 225

Abb. 5.8 In den Kristallen von Coffein, Guaninund Adenin liegen die verschiedenen Ebenender Purinbasen in gleicher Weise schräg hin-tereinander. Im Coffein sorgen drei Methyl-gruppen für die Trennung der einzelnenMoleküle; die Kristalle sind weich undunscheinbar. Im Guanin sind die Moleküledurch starke –NH···O=C- Wasserstoffbrücken(NH2–OC) zu harten glänzenden Schuppen

verbunden. Adenin bildet schwache Brückenaus und konnte überhaupt nur durch Zuga-be von Salzsäure (Chlorid, grün), also durchdie erzwungene Bildung von Ammoniumsal-zen, kristallisiert werden. Welches der fünfStickstoffatome protoniert wurde, ist in derStruktur nicht erkennbar; für das Protonreichte die Auflösung nicht.

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Coffein findet sich im Samen des Kaffeestrauchs, in Blättern und Stielen derTeepflanze und im fein gemahlenen Samen des Kakaobaums. Kaffee und Kakaoenthalten etwa 1,5 Gewichtsprozent Coffein (beim Kakao auch als Theobrominmit einer Methylgruppe weniger, aber ähnlicher Wirkung), trockener Tee etwaacht Gewichtsprozent. In einer Tasse Kaffee sind durchschnittlich 100 mg Coffeingelöst, eine Tasse Tee oder eine Tafel Schokolade enthält die Hälfte davon. Orga-nische Lösungsmittel extrahieren Coffein aus geröstetem Kaffee, aber entfernenauch viele Aromastoffe. Coffeinfreier Kaffee wird so geschmacklos und unverkäuf-lich. Geschmacklich bewährt hat sich die milde Extraktion des Coffeins mit kal-tem, flüssigem Kohlendioxid unter Druck. Da Kohlendioxid ebenso ein Derivatder Kohlensäure ist wie Coffein, mögen die beiden einander – „Gleiches löst Glei-ches“ – während die weniger polaren Aromastoffe kaum entfernt werden.

Das vom Kaffee abgetrennte Coffein wird in Colagetränke gemischt, derbraun-körnige Rückstand der Extraktion ist coffeinfreier, „aromatischer“ Pulver-kaffee. Dieser Vorgang charakterisiert die Getränkeindustrie – sie beschäftigtsich fast ausschließlich mit der Umverteilung und dem Vertrieb einiger wenigerWirk- und Aromastoffe (Ethanol, Coffein, Saccharose, Kohlen-, Citronen- undetwas Ascorbinsäure, Aspartat, Phenole aller Art), die sie in sehr großen Was-servolumen auflöst. Der finanzielle Aufwand dieser Industrie kann dort, wo rei-nes Trinkwasser zur Verfügung steht, nur als absurd bezeichnet werden, denndas Kanalisationssystem und eine Tüte Kaffee oder Tee oder sonst irgendeinPulver tun es auch; die Industrie macht nichts weiter als einzudampfen, wiederaufzulösen und Lastwagenkolonnen durch die Gegend zu schicken. Viel Wasserund Tee zu trinken und es dabei mit dem Coffein nicht zu übertreiben, scheintein Gebot der Vernunft zu sein, wenn Sie weder die vielen Lastwagen noch diegroßflächigen Supermärkte in Ihrer Straße mögen.

Kaffeebohnen sind fermentierte und geröstete Samenkörner, die von Samen-schalen und Fruchtfleisch befreit wurden. Fermentation verwandelt das schlei-mige Fruchtfleisch in einen Brei, der abgewaschen wird. Der erhaltene „Horn-schalenkaffee“ wird in der Sonne getrocknet, Keime sterben dabei ab, die Horn-schale wird abgeschält und abgeblasen und der verbleibende Kern des Kaffee-samens in Trommeln bei 200–250 �C geröstet. Bei dieser heftigen Trocknungentstehen mehr als dreihundert Pyrolyseprodukte, die Geschmack und Aromabestimmen. Beides kann durch einzelne „Stinker“ nachhaltig verdorben wer-den. Stinkerbohnen sind Samen, deren Embryonen nach zu lange währenderFermentation abgestorben sind und die dann zur Brutstelle für schwefelhaltigeMikroorganismen wurden. Äußerlich sind Stinkerbohnen kaum zu erkennen,in ultraviolettem Licht aber fluoresziert das Tyrosin der mikrobiellen Zellprotei-ne. Fluoreszenzgesteuerte Verlesemaschinen sortieren die Stinker aus.

Mit zunehmendem Alter verschlechtert sich die Qualität von frischen Teeblät-tern, was nur heißt, dass das Teearoma verloren geht. Das noch nicht voll ent-faltete Spitzenblatt eines Zweigs, das Pekoeblatt, enthält am meisten Phenole(26% Catechole und Coffein (5%). Das ist wohl deshalb der Fall, weil das jung-zarte Blatt im Frühling auf hungrige Insekten und Hasen trifft, vor denen essich mit Bitterstoffen schützt. Das dritte Teeblatt von oben ist schon weniger

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung226

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aggressiv (17% Phenole und 3% Coffein), dessen oberer Stielteil noch weniger(11 bzw. 2,5%), unten ist kaum noch Wirkstoff (5 bzw. 1,4%). Die entsprechen-den Pflückformen heißen Imperial (nur die Pekoespitze P) und Weiß- oderGoldpunkt (Pekoespitze plus erstes Blatt, P + 1). Mindere Qualitäten bekommennur noch Nummern (z. B. P + 4). Prestigesüchtiges, gewinnoptimiertes Marke-ting ist hier wie überall etwas abwegig, die zu Grunde liegende Biologie oftwunderbar einsichtig. Beim Grüntee werden die Enzyme der Teeblätter durchkurzes Erhitzen deaktiviert, schwarzer Tee hingegen wird tagelang bei 30 �C fer-mentiert und dann erst eine halbe Stunde lang bei 100 �C deaktiviert.

Kakao ist das dritte und das fetthaltigste (54%) coffein- und theobrominhaltige(zusammen 1,4%) Produkt. Er enthält aber auch viele Phenole und Proteine (je12%) und hunderte von flüchtigen und nicht flüchtigen Aromastoffen (Abb. 5.9).

Adenin ist der in Wasser wenig lösliche (0,5 g/L) „Erkennungsteil“ oder der„Anker“ des ATPs, das Triphosphat ist sein reaktives Zentrum (Seite 239). Diemit dem Adenin verknüpfte, bewegliche Ribose macht Adenin zum wasserlös-lichen Adenosin.

Überschüssiges Adenosin wird abends vermehrt von Adenosin-Rezeptorendes Nervensystems und Gehirns aufgenommen, was zur Ermüdung führt. Ver-mutlich hat die Evolution das beim Landgang der Meerestiere eingeführt, diebei Nacht nichts sehen können und dann Jäger nicht zu fürchten brauchen.Nach kurzem oder längerem Schlaf regenerieren Kinasen dann ATP auf Kostendes Adenosins und stellen bei Sonnenaufgang den wachen Zustand wieder her.

5.1 Aminopurin-Motive 227

Abb. 5.9 Der grünliche Samen in roten Kaf-feekirschen, der gelbe Samen der Kakao-früchte und die grünen Teeblätter enthaltenCoffein aus demselben Grund: Sie wollenvon Tieren und Mikroorganismen nicht auf-gefressen werden. Coffein ist für diese ent

weder ein ungenießbarer Bitterstoff oder einGift. Bei uns verdrängt es das Adenosin beiTag und Nacht und hält uns wach. Lexiko-graphisches Institut München, Neuer Bild-atlas Pflanzen, Parkland, München, 1991.

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Wasserlösliches Coffein bindet im Gehirn an die gleichen Rezeptoren wie dasAdenosin. Mit einer Halbwertszeit des Coffeins von sechs Stunden hält es dasGehirn dadurch eine Nacht lang wach, weil nun die ATP-Konzentration immergleich hoch bleibt.

Die Verdrängung des aromatischen Adenins durch das Lactam Coffein mitdem polaren Harnstoffmotiv –N(CH3)CON(CH3)– ist nicht leicht zu verstehen.Coffein und Adenin gleiten in die gleichen Spalten an der Oberfläche von Re-zeptorproteinen, obwohl sie sich nur wenig ähneln. Das ist wohl einfach des-halb der Fall, weil die Methylgruppen dem Harnstoffmotiv die Wasserstoff-brücken unmöglich machen. Dann entscheidet das gleichartige Einpassen dergleich großen Moleküle in die Spalte.

Die Störung durch das Coffein beschleunigt Grundumsatz, Herzrhythmusund Atmung. Drei bis vier Tassen Kaffee, innerhalb weniger Minuten getrun-ken, bewirken Ruhelosigkeit, Zittern und Krämpfe. Zehn Tassen täglich ver-drängen den nächtlichen Schlaf zugunsten eines Zustands zwischen Migräneund Schwindelgefühl. Verstopfung, Erbrechen und Kollaps können folgen. EineKaffeesucht aber gibt es nicht, Abstinenzerscheinungen äußern sich lediglichals vorübergehende Unlust.

Coffein hilft bei Arbeiten, die müde machen – Korrekturlesen aller Art, Aus-wendiglernen, Wiederholen, die endlosen Gespräche in Cafés und Konferenzen.

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung228

Abb. 5.10 Geistige Routinearbeit – eine Tasse Kaffee wärejetzt gut.

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Routinearbeiten des Geisteslebens florieren so im Kaffeeduft, originelle Ideenaber entstehen erfahrungsgemäß im Dämmerzustand vor dem Ermatten, beimuntätigen An-die-Wand-Starren oder in verlegenen Gesprächspausen, wenn sichdie ATP-Aktivität auf das Eigenleben des Gehirns beschränkt (Abb. 5.10).

5.2Die Pseudorotation der (Desoxy-)ribose

Die schlechte Wasser- und Membranlöslichkeit des Adenins beruht darauf, dasssich seine aromatisch-hydrophoben Purinringe schräg aufeinander stapeln undunlösliche Kristallite bilden. Beim Guanin bewirken hingegen die starken Wasser-stoffbrücken zwischen den sekundären Amidgruppen eine Schuppenbildung(Abb. 5.9). Tote Kristalle aber können lebendige Organismen nicht brauchen, egalob verbrückt oder gestapelt. Kristalle verstopfen die Wasserwege des Lebens.

Adenin (Löslichkeit: 3,6 g/L) und Guanin (0,6 g/L) haben im Lauf der Evoluti-on davon gelernt und sich mit einem beweglichen und deshalb gut löslichenFünfringzucker verbunden, der Ribose. Adenin plus Ribose gibt Adenosin, ausGuanin wird Guanosin. Beim Guanosin bringt das allerdings zunächst nichtviel, es löst sich immer noch weniger als ein Gramm davon im Liter Wasser(0,75 g/L). Erst bei biologisch utopisch hohen Temperaturen von über 80 �C wer-den die Wasserstoffbrücken des Guanins gesprengt, was dann 33 g in Lösungbringt. Beim Adenosin sieht das anders aus – da lösen sich bei 25 �C schon143 g/L, was die Löslichkeit des Coffeins von 21,7 g/L deutlich übertrifft. Was-serstoffbrücken werden durch die beweglichen Ribose-Substituenten also nichtgesprengt, wohl aber wird die Stapelung starrer Anteile unterbunden.

Ribose oder 2-Desoxyribose allein spielen keine Rolle in der Entwicklung derBiologie (Evolution, lat. evolvere, „entwickeln“), wohl aber ihre mit Phosphatund Purinen substituierten Derivate AMP und GMP. Phosphorsäure verestert

5.2 Die Pseudorotation der (Desoxy-)ribose 229

Abb. 5.11 Desoxyribose liegt zu drei Vierteln als steifer Sechsring vor.Lagert man aber große Substituenten an, zum Beispiel Nucleinbasenoder Phosphat, so wandelt sie sich spontan und quantitativ in einenflexiblen Fünfring um (Seite 95 f), der genug Beweglichkeit bietet, umgroßen Substituenten zu erlauben, einander aus dem Weg zu gehen.

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die primäre Alkoholgruppe an C-5, die Halbacetalgruppen der Ribose der Puri-ne bilden mit dem aromatischen Imidazolring N-Acetale. Die Einführung dieserbeiden großen Substituenten verwandelt den starren Sechsring der Ribose in ei-nen vibrierenden Fünfring. Die großen Substituenten brauchen die Beweglich-keit des Fünfrings. Das prägt sich noch aus, wenn die Phosphorsäure mit ei-nem zweiten Ribose-Ring verestert wird und die polymere DNS bildet (Abb.5.11).

Desoxyribose, das beweglichste Teil der DNS, verbindet so Nucleinbasen anC-1� mit Phosphorsäurediestern an C-5�, wobei der Beistrich die Atome der Ri-bose von denen der Nucleinbase unterscheidet. In den Briefumschlagsformen E(von engl. envelope) liegen vier der fünf Atome des Rings in einer Ebene, dasfünfte Atom ist herunter- oder hochgeklappt. In den ebenso häufig vorkommen-den Twistformen T sind nur drei Atome in einer Ebene, zwei liegen auf ent-gegengesetzten Seiten dieser Ebene. Beide Faltungen, Briefumschlag E undTwist T, sind etwa von gleicher Energie, beide treten bei Raumtemperatur häu-fig auf.

Die Nucleinbasen N an C-1 und das Phosphat an C-3 und C-5 liegen in derDNS-Doppelhelix in einer Ebene oberhalb und unterhalb des Fünfrings derDesoxyribose. Wenn C-3 und C-4 um ihre Ruhelage vibrieren, vibrieren auchdie Phosphorsäurediester-Ketten und die Aufspaltung der Doppelhelix in Einzel-

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung230

Abb. 5.12 a) Viele Gestalten (Konformatio-nen) der Ribose, und solche b) die sichdurch Rotation um die C–C-Bindungen erge-ben, haben die gleiche Energie. Die Beweg-lichkeit der Ribose ist die Ursache der Flexi-bilität der DNS, mit einem weniger beweg-lichen Zuckerester wäre die Teilung der Dop-pelhelix bei Körpertemperatur kaum möglich.

c) Energiediagramm der Rotation der Ribo-seester-Bindungen von 60� bis 160� (prak-tisch energielos). Das synthetische Glucose-Analogon hingegen fällt bei 60� in ein Ener-gieminimum von –9 kcal/mol. Diese Gestaltdes Moleküls könnte bei Raumtemperaturnicht verändert werden, sie würde „einfrie-ren“.

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stränge ist vorbereitet. Wärmeschwingungen des Fünfrings im Desoxyribose-Kettenglied führen zu ausgeprägten, weiträumigen Bewegungen der Phosphor-säurediester-Kette in der DNS und der Nucleinbasen. Beide Substituenten bewe-gen sich heftig, wenn der Zuckerfünfring vibriert, wenn er „pseudorotiert“ (Sei-te 95 f). Die großen Substituenten wirken als Hebelarme (Abb. 5.12).

5.3DNS (Desoxyribonucleinsäure)

Die Desoxyribonucleinsäure (DNS), das genetische Material der Chromosomen,ist ein Phosphorsäurediester wie Lecithin (siehe Seite 107). Die vier Sauerstoff-atome gemeinsam mit der negativen Ladung halten das elektronegative Sauer-stoffatom des Wassers vom zentralen Phosphoratom fern. Deshalb findet eineHydrolyse von Phosphorsäurediestern bei pH= 7 kaum statt – nur darf die ne-gative Ladung nicht von Protonen (Säuren) neutralisiert werden.

Der Phosphorsäure-Diester ist ein Polymer mit der Sequenz Phosphor-säure(1)–Desoxyribose(1)–Phosphorsäure(2)–Desoxyribose(2)–Phosphorsäure(3)–Desoxyribose(3), wobei die OH-Gruppen an C-3 und C-5 der Ribose die Phos-phorsäure verestern. Außerdem ist jede der Halbacetalgruppen (Seite 60) anC-1 mit Nucleinbasen substituiert, die Desoxyribose liegt als N-Glycosid oder

5.3 DNS (Desoxyribonucleinsäure) 231

Abb. 5.13 Drei Nucleotide (pTpCpA) der DNS und ihr Gegen-strang (ApGpTp) in einer Doppelhelix, die flach in die Papier-ebene projiziert wurde.

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Nucleosid vor. DNS ist ein Phosphorsäurediester-Polymer von Nucleosiden. Nu-cleoside sind N-Glycoside der 2-Desoxyribose mit einer von vier Nucleinbasen.Die vier Nucleinbasen sind die Purine Guanin (G) und Adenin (A) und die Pyrimi-dine Thymin (T) und Cytosin (C) (Abb. 5.13).

Die oben erwähnte Beweglichkeit der Desoxyribose erlaubt der –C–O–P–O–C-Bindungssequenz des Diesters fast jede beliebige Verdrillung – die Kohlenstof-fatome der Desoxyribose drehen ihre OH-Gruppen mit Leichtigkeit beiseite,wenn sie sich zu nahe kommen. Aus der üblichen gestreckten all-trans-Stellungkann problemlos die äußere C–O-Bindung um 60� verdreht werden, was eineKrümmung der Helix erzeugt und die elektronische Abstoßung zwischen denbeiden Estersauerstoffatomen verringert (Abb. 5.14).

Der dritte Teil eines Kettenglieds der DNS ist, nach dem Phosphat und derDesoxyribose, eine der vier Nucleinbasen Guanin (G), Cytosin (C), Adenin (A)und Thymin (T). Sie sind als Stickstoff-Acetale an das Aldehyd-Kohlenstoffatom(C-1) der Desoxyribose gebunden und treten in der DNS-Kette in beliebiger Rei-henfolge auf, z.B. ApGpCpCpT, wobei „p“ Desoxyribosediphosphat gemäß Ab-bildung 5.13 bedeutet. Die Dicke eines Basenpaares beträgt 0,34 nm und eineentsprechende Packungsdichte wird mit Röntgenstrahlen in der DNS auch ge-messen. Die Basenpaare berühren sich also, sie bilden einen Stapel innerhalbder Doppelhelix. Die Basensequenz in der zweiten Kette korreliert vollständigmit der der ersten Kette, wobei einer großen Purinbase mit zwei Ringen immereine kleine Pyrimidinbase mit einem Ring gegenübersteht. Nur A-T- undG-C-Paarungen kommen vor. Ist in der ersten Kette G, so wird ihr von der zwei-ten C gegenüber gestellt, A paart sich immer mit T. Die Merkregel der Che-miker heißt „AT“ (engl. at, „an“), A geht also immer mit T. Für G-C brauchtman dann keine Merkregel mehr. Diese Paarungsregel wird vor allem deshalbstrikt eingehalten, damit der Durchmesser der Doppelschraube einheitlich0,8 nm beträgt, was der Breite von drei kleinen Ringen entspricht, einer Purin-base mit zwei und einer Pyrimidinbase mit einem Ring.

Das Fremdgehen auch nur einer einzigen Base, die Bildung eines anderenPaars als AT und GC, wird in der Doppelhelix strikt unterbunden. Regionenmit einer Anreicherung von G-C-Paaren mit drei Wasserstoffbrücken sorgen zu-

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung232

Abb. 5.14 Die Phosphorsäurediester-Bindung favorisiert einegauche-Position der mit dem Phosphat verknüpften Kohlen-stoffatome der Desoxyribose (grau). Dadurch wird die Ketteleicht gekrümmt, die gewundene Doppelhelix der DNS ist vor-programmiert.

gauche

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verlässig für Festigkeit und Ordnung der Doppelhelix, eine längere Abfolge vonA-T-Paaren vermittelt der Doppelhelix die Flexibilität für Zellteilungen. Lineareall-trans-Phosphorsäurediester haben allerdings die doppelte Länge der Dickeder Basenpaare. Wären die Basenpaare einfach so gestapelt, dass sie einandervollkommen bedecken, käme es zu großen Lücken (Abb. 5.15).

Die Desoxyribose aber verleiht dem Doppelstrang der Basenpaare die Beweg-lichkeit, die er braucht, um� durch seitliche Verschiebung und Rotation der Phosphorsäurediesterkette um

die Achse der Doppelhelix die Basenpaare gegeneinander zu verrücken, zuverdrehen und dadurch aufeinander zu pressen (B-DNS),

� durch Gleiten und Rollen der Basenpaare deren optimale Stapelung im Ab-stand von 0,35 nm bei einer Länge der Phosphorsäurediester-Bindung von0,6 nm zu ermöglichen (B- oder A-DNS),

� Botenmolekülen zu ermöglichen, mit den Basen in Kontakt zu treten,� die Auftrennung der Doppelhelix in zwei Einzelstränge vorzubereiten und

5.3 DNS (Desoxyribonucleinsäure) 233

Abb. 5.15 Die Nucleinbasen A, T, C und G treten in Doppelhelicesausschließlich als Basenpaare A=T mit zwei Wasserstoffbrücken undG�C mit drei Wasserstoffbrücken auf. A und G sind bicyclischePurinbasen, T und C monocyclische Pyrimidinbasen.

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� mit Proteinen in Wechselwirkung zu treten, die die Doppelstränge nach derZellteilung oder nach chemischer Zerstörung mit neuen Nucleotiden versehen.

Die relativ steife B-DNS-Form ergibt sich direkt aus der Wasserunlöslichkeit derBasenpaare: Der hydrophobe Effekt presst sie zusammen. Phosphat und Riboseziehen Wasserhüllen zwar an, aber die Basen und die CH2-Gruppe der Desoxy-ribose stoßen es ab. B ist deshalb die bevorzugte Gestalt der DNS in reinemWasser. Sie wandelt sich in die beweglichere A-Form, wenn das umgebende Me-dium zur Salzlake wird (Abb. 5.16).

Die Abstoßung der �-Elektronen gestapelter Basenpaare ist eine weitere Kraft,die DNS-Strukturen beeinflusst. Ein Computermodell des GC-Paars zeigt zumBeispiel, dass die obere Kante des Guanins G oben und unten von dichten Elekt-ronenwolken eingehüllt wird, während C nur schwache Ladungen aufweist. Daserzeugt ein positiv geladenes Elektronenloch auf der rechten C-Seite. Liegen, zumBeispiel, zwei Gs und zwei Cs übereinander, so sollten sie schweben wie zweigleich gepolte Magneten und auf möglichst weiten Abstand gehen. Platziertman hingegen GC über CG, so kleben die übereinander liegenden G- und C-Paarefest aufeinander.

Nur ein optimiertes Verhältnis zwischen bindenden und abstoßenden Seg-menten schafft die Voraussetzung sowohl für die Stabilität einer lagerfähigenErbinformation als auch für Teilbarkeit als Voraussetzung für die Zellteilung.

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung234

Abb. 5.16 Zwei extreme Formen der DNS: Die B-DNS (links)ist steif, die A-DNS (rechts) beweglich bis zur Klapprigkeit.A-DNS tritt zum Beispiel auf, wenn wässrige Lösungen derB-DNS mit viel Kochsalz versetzt werden und dem PhosphatHydratwasser entziehen.

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Jeder Salzzusatz zum Zellwasser lockert die hydrophobe Beziehung zwischenden Basenpaaren, weil Salze viel Hydratwasser binden. Den gleichen Effekt ha-ben Wechselwirkungen der DNS mit den polaren Seitenketten von Proteinen(Abb. 5.17).

Das Vererbungspolymer DNS ähnelt mit seiner nach außen wirkenden Phos-phorsäurediester-Peripherie den Oberflächen von Nerven- und Muskelzellmemb-ranen. Dementsprechend kann die Vermehrung und Reparatur des genetischenMaterials mit den gängigen Phosphorylierungsreaktionen bewerkstelligt werden,was von großem Nutzen ist, weil ATP überall im menschlichen Körper vorhandenist und die sehr zerbrechliche DNS-Struktur dauernd repariert werden muss. Diemechanische Unbeständigkeit der DNS zeigt sich zum Beispiel bei Aufnahmenmit dem Rasterkraftmikroskop: Die Doppelhelix ist etwa 2,3 nm dick. Blästman aber einen zarten Luftstrom darüber, dann streckt sie sich und zerbricht.Die Doppelhelix zerfällt vollständig, die Nucleinbasen liegen flach auf der Unter-fläche und die gemessene Dicke beträgt nur noch 0,6–0,8 nm.

Die differenzierten und spezialisierten Zellen von Säugetieren enthaltenmehr Nucleotide als Zellen weniger entwickelter Organismen. Herz-, Nieren-,

5.3 DNS (Desoxyribonucleinsäure) 235

Abb. 5.17 Konstruktionsmerkmale der DNS-Doppelhelix. a) Kommen zwei Guanin-Basen(G) in der Doppelhelix direkt übereinanderzu liegen, so stoßen sie einander ab; dasPaar ist bei einer Zellteilung leicht zu tren-nen. Das Gleiche gilt für zwei Cytosin-BasenC, nicht aber für ein orthogonales Paar GC(CG), das fest zusammenhält. b) Da die

Phosphorsäurediester-Bindung (Desoxyribo-se-Phosphat-Desoxyribose) länger ist als einNucleinbasenstapel dick, liegen die Basenschräg gestapelt. Sie haben dann nur gerin-gen Kontakt. c) Um diesen bindenden Kon-takt zu vergrößern, gleiten und rollen dieBasen umeinander und erzeugen verdrillteStapel.

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Nerven-, Muskel- und Gehirnzellen haben eine lange Evolution durchlaufen. Siebrauchen etwa 2 Milliarden Nucleotide, um ihre Proteinsynthese und Vermeh-rung zu steuern. Die Länge der 1,8 nm dicken DNS-Stränge summiert sich ineiner Säugetierzelle zu etwa 30–40 cm, das Verhältnis Länge zu Dicke, derAspekt der DNS, ist 2�108 zu 1. Der Faden ist also extrem lang und dünn. Umin der Zelle untergebracht zu werden und im Strudel des Lebens nicht zu zer-reißen, wird der Faden deshalb im Chromosom eng gewickelt. Die einfachsteLagerungsform der DNS ist die einer endlosen Rolle, die Toroid (span. toros,„Stier“; bezieht sich auf den Nasenring der Stiere) heißt. Die Gesamtheit ver-schieden gewickelter DNS-Moleküle heißt dann Chromosom. Überträgt manden Aspekt (2�108 :1) des DNS-Fadens auf einen 1 mm dicken Wollfaden, sowäre der 200 km lang und sein Volumen würde einen 10-L-Eimer füllen (Abb.5.18).

Tausende solcher „Über-Windungen“ (engl. superhelical coil) in einem DNS-To-roid führen dazu, dass die entstehenden Superhelices räumlich extrem dicht ge-packt und Abstoßungskräfte, die die Doppelhelix destabilisieren, klein gehaltenwerden. Die Natur benutzt Topoisomeraseproteine (DNS-Gyrasen), um solcheextrem kompakten, verzwirbelten Strukturen zu erzwingen und darin eineschnelle Teilung und Replikation der DNS zu ermöglichen.

Die Aufwindung der Doppelhelix (9000 Umdrehungen in der Minute!) über-nimmt eine Helicase, die Topoisomerasen helfen bei der Aufwindung der Ver-zwirbelungen, und ein drittes Enzym spreizt die Gabel durch Spaltung vonWasserstoffbrücken. Die chemisch wichtigsten Enzyme der Replikation abersind die DNS-Polymerasen, die an beiden DNS-Strängen gleichzeitig neueStränge zusammensetzen. Einer der Stränge ist jeweils identisch mit dem El-ternstrang, der zweite wird durch die Phosphorsäurediester neu synthetisierter,komplementärer Nucleotide ersetzt. In mikroskopischen Aufnahmen lassen sichsolche Replikationsgabeln beobachten. Der Motor der Replikation an der Gabel-stelle ist, wie nicht anders zu erwarten, ATP, das das Phosphat für die Ver-knüpfung der neuen DNS-Stränge liefert.

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung236

Abb. 5.18 a) Modell eines vielfach ineinander gewundenenStrangs einer DNS. b) Elektronenmikroskopische Aufnahmeeines Toroids, in dem ein DNS-Strang von wenigen Mikro-metern Länge aufgewickelt ist.

a) b)

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Der wichtigste medizinische Aspekt der DNS-Chemie ist der Zelltod vonKrebszellen nach der Quervernetzung der beiden Stränge durch Alkylanzien inder Chemotherapie. Auch hier ist wieder eine besondere Art der Phosphatche-mie besonders erfolgreich. Stickstofflost oder Methyl-bis-(�-chlorethyl)amin (Me-chlorethamin) wurde 1854 erstmals synthetisiert und charakterisiert. 1887 fandman, dass es als blasentreibendes Hautgift Augen und Atemwege zerstört, 1917wurde es als Giftgas im Ersten Weltkrieg eingesetzt und 1942 in der Krebs-bekämpfung erprobt. 1988 wurde dann gezeigt, dass bifunktionelle Alkylanzienwie Stickstofflost vor allem deshalb selektiv als Zellgifte wirken, weil sie benach-barte DNS-Stränge in einer Doppelhelix über N-1 oder N-3 von Adenin, N-3 von

5.3 DNS (Desoxyribonucleinsäure) 237

Abb. 5.19 Modell der DNS-Replikation durch Ausbildung einerReplikationsgabel an einem Replikationsstartpunkt. ATP liefertdas Phosphat, die Polymerase führt die Nucleoside (Nuclein-base + Desoxyribose) zu.

Abb. 5.20 Wachsende und sich vermehrendeZellen werden abgetötet, wenn ihre DNS-Doppelhelices quervernetzt werden, weil die-ser Schaden biologisch nicht repariert wird.Das wird in der Chemotherapie von wu-chernden Krebszellen ausgenutzt. Ein allge-

mein wirksames Zellgift wie das Stickstoff-lost stört aber auch massiv das Wachstumder roten Blutkörperchen, die laufend abge-baut werden und ersetzt werden müssen(Seite 288 f). Das begrenzt die Zeitdauerund die Intensität der Chemotherapie.

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Cytosin oder O-6 von Guanin mit dem Phosphatsauerstoff kovalent verbinden.Solche Vernetzungen werden von den allgegenwärtigen DNS-Reparatursyste-men nicht gelöst; Zellen mit solchen inaktivierten DNS-Doppelhelices sterbenin der Regel bald ab. Schnell wachsende Metastasen verschwinden. Die Mengeund Zeitdauer des intravenösen Einspritzens von Mechlorethamin ist allerdingsdurch die rasche Abnahme der Erythrocyten- und Leukocytenproduktion (Anä-mie, Leukopenie) im Knochenmark begrenzt. Auch die Hämoglobinsyntheseleidet, wenn Nucleinsäuren systematisch quervernetzt werden (Abb. 5.20).

Moderne Alkylanzien wie das Cyclophosphamid werden nicht in den Blut-kreislauf gespritzt, sondern als Pillen gegessen und sind zunächst ungiftig.Dann wird das Diamid der Phosphorsäure durch Cytochrom P450 an einemSubstituenten des Phosphors langsam oxidiert, sodass nach und nach ein was-serempfindliches Derivat entsteht. Dieses wird sofort hydrolysiert, ein offenket-tiges Phosphorsäurediamid entsteht, dessen Stickstofflost-Reste merkwürdiger-weise sofort als Quervernetzer wirksam werden. Hier ist das wasserlöslichePhosphamid voll reaktiv, während das hydrophobe, cyclische Analogon wohl inMembranen festklebt und an der DNS nicht zur Wirkung kommt (Abb. 5.21).

5.4Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester

Wir kommen zu der Tätigkeit des ATP, des Adenosintriphosphats, die seine ge-waltige Umsatzrate (100 kg täglich) bestimmt. Sie findet im gesamten Körperstatt und betrifft die Erzeugung und Steuerung von Nerven- und Muskelströ-men.

Ein Kilo Säugetiermuskel enthält etwa 4 g Adenosintriphosphat, ATP, die auswässrigen Extrakten mit Schwermetallen als Phosphatsalze gefällt, mit Schwe-felsäure wieder aufgelöst werden und nach Zugabe von organischen Lösungs-mitteln als freies ATP auskristallisieren. In dieser Prozedur erweist sich derPhosphatmonoester des Adenosins als ebenso erstaunlich säurestabil wie diebeiden Phosphorsäureanhydride –P–O–P– im ATP. cAMP macht man aus ATP

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung238

Abb. 5.21 Das hydrophobe, oral eingenom-mene Cyclophosphamid ist als Zellgift wenigaktiv. Erst die Oxidation in den Mitochon-drien durch Cytochrom P450 und nachfol-gende Hydrolyse des Sechsrings aktiviert es

und trägt es in den Blutstrom, wo es wu-chernde Krebszellen angreifen kann. Es wirderst nach einer Stunde wirksam und vermin-dert die Zahl der roten Blutkörperchenkaum.

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mit dem magnesiumhaltigen Enzym Adenylatcyclase. AMP und ADP sinddurch schrittweise pH-kontrollierte Hydrolysen des ATP zugänglich (Abb. 5.22).

Das Adenosin-5�-Monophosphat, AMP, ist in neutralem Wasser stabil. Bei sei-ner Hydrolyse mit angesäuertem (protonenhaltigem) Wasser werden lediglich3,2 kcal/mol oder 1 kcal/100 g frei. AMP ist energiearm. Das Diphosphat ADPmit einer Phosphoranhydrid-Einheit, –PO3–O–PO3–, ist erstaunlicherweiseebenso stabil. Erst das ATP mit zwei Anhydridbindungen ist energiereich undsetzt bei der Hydrolyse mit Wasser bei pH 7 knapp 8 kcal/mol frei. Nur imATP ist eine der negativen Ladungen des Phosphats, nämlich die mittlere, teil-weise durch Protonen oder Metallionen neutralisiert, weil das saure Protondurch zwei benachbarte negative Ladungen fixiert wird. Wasser kann sich des-halb an dieses elektroneutrale Phosphat addieren und das äußere Phosphat hy-

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 239

Abb. 5.22 Die chemischen Gleichgewichte zwischen A, cAMP,AMP, ADP und ATP. Das ATP-ADP-Gleichgewicht wird vonProtonen in Richtung ATP verschoben.

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drolysieren. Beim Dianion ADP ist das schwieriger und findet kaum statt. DasTriphosphat kann deshalb Alkohole kilogrammweise und blitzschnell phospho-rylieren, das Diphosphat nicht – Diphosphat kann nur dephosphorylieren undATP bilden.

Auch das kommerziell wichtige Guanosinmonophosphat GMP (Seite 252 f)ist bei pH= 7 in Wasser stabil. Es wird vielen Konserven als Aroma zugegeben.Zwar ist GMP selbst fast geschmacklos, es gibt aber salzigen Speisen, aus de-nen die Aromen weitgehend herausgekocht wurden, „Fülle, Volumen undKörper“ zurück. Das funktioniert, weil viele Rezeptorproteine in den Membra-nen der Sinneszellen auf der Zungenoberfläche mit GMP länger und in größe-rer Zahl geöffnet bleiben als ohne GMP. Ionenströme fließen in Gegenwartvon GMP stärker durch die Neuronen zum Hirnstamm, die Geschmackser-regung zittert länger im nervösen Zentrum und gibt ihm Zeit zur Kompositioneines vollwertigen Aromasignals aus süß-sauer und bitter-salzig. GMP wirkt alsUmami (jap. „köstlicher Geschmack“), als Geschmacksverstärker. Das istnatürlich nur dann von Nutzen, wenn wenigstens noch ein magerer Rest desursprünglichen Aromas vorhanden ist. Das wiederum setzt voraus, dass dasGemüse, Obst oder Fleisch schnell und bei nicht zu hohen Temperaturen in ge-schlossenen Anlagen eingedampft und das erhaltene Pulver sofort zusammenmit GMP und Glutamat, dem zweiten wichtigen Umami, versiegelt wurde.

Das wichtigste Phosphorylierungsmittel ist wie gesagt das Adenosintriphos-phat (ATP). Menschen bilden und zersetzen an einem Tag etwa so viel ATP,wie sie selber wiegen, also je nach körperlicher und geistiger Aktivität fünfzigbis hundert Kilogramm in vierundzwanzig Stunden oder zwei bis vier Kilo-gramm in jeder Stunde oder fünfzig Gramm in jeder Minute oder ein Grammpro Sekunde. ATP wird aus ADP und anorganischem Natriumphosphat gebildetund sofort wieder zersetzt, indem das ATP die OH-Gruppen von Proteinen undMembranen phosphoryliert. Der tägliche ATP-Umsatz entspricht etwa demDoppelten der Wassermenge in unserem Körper; ATP ist neben dem Wasserdas aktivste Molekül des Menschen. Wasser herrscht durch die überwältigendeAnzahl der Moleküle (Seite 19 ff), beim ATP ist es seine rasante Umsatzrate.

ADP und ATP sind in Wasser sehr gut löslich. Das Triphosphat hydrolysiertbeim einfachen Stehen in wässriger Lösung innerhalb weniger Minuten zumDiphosphat, dann innerhalb von Stunden weiter zum Monophosphat. Anderer-seits lässt sich ATP mit Säuren unzersetzt ausfällen. Im lebenden Organismusspielt die Autohydrolyse keine Rolle: Die Katalysatoren Kinasen und Phosphata-sen sind überall und beschleunigen die Reaktion zehn- bis hunderttausendfach.Das Phosphatgeschehen wird vollständig durch Proteine reguliert.

Die Sauerstoffatome des Phosphats binden sehr fest an Metallionen mit zweipositiven Ladungen (siehe Seite 217 ff), in biologischen Organismen insbeson-dere an Mg2+ und weniger fest an Ca2+. Metallierungen schützen ATP und GTPvor Phosphatasen, die die Hydrolyse der Phosphatester katalysieren. Isst manMagnesiumsalze, laufen Energiestoffwechsel und Nervenimpulse langsamer:Körper und Geist werden gleichermaßen beschwichtigt (Abb. 5.23).

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung240

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Nervenimpulse sind auf extrem schnelle Phosphorylierungen angewiesen.Ein optischer oder sexueller Impuls wird in Millisekunden durch den Körpergeleitet und von Millionen Phosphorylierungen und Dephosphorylierungen be-gleitet. Deshalb sättigen sich die Wasservolumen des Körpers mit Kinasen undPhosphatasen.

Die Molmasse des ATP entspricht etwa der von fünfhundert Protonen. TausendMillionen ATP-Moleküle, die etwa verbraucht werden, um einen flüchtigen Bild-wechsel mit Auge und Hirn zu registrieren, entsprechen also 500�109 : 6�1023 goder 10–12 g oder 10–15 kg. Umgesetzt werden aber 100 kg am Tag. Das reicht für1017 flüchtige Bilder täglich oder 1012 Bilder pro Sekunde. Damit kann man dannnicht nur sehen, sondern auch denken und fühlen und hören und laufen und soweiter.

Abbildung 5.23 skizziert die Schlüsselwechselwirkungen der Kinasen undPhosphatasen bei der Beschleunigung des Phosphattransfers. Erstens bindenCarbonsäuren der Enzymseitenketten (Asparagin- und Glutaminsäure, Asp,Glu) zweifach positiv geladene Magnesium-Ionen, Mg2+, wodurch aus der nega-tiven Ladung eine positive wird, (COO-Mg2+)+, die leichter mit Alkoholen rea-giert und auch schneller vom Wasser angegriffen wird. Zweitens binden auchpolare ungeladene Aminosäuren Magnesium, lassen ihm aber beide positive La-dungen, so zum Beispiel im Magnesium-Komplex des Asparaginsäureamids(Asn, –CONH2Mg2+). Auch dieser Komplex aktiviert das Phosphat für Reaktio-nen mit OH-Gruppen. Schließlich wird die endständige Ladung des Triphos-phats von der Ammoniumgruppe eines Lysins neutralisiert und damit für denAngriff durch die OH–-Gruppe aktiviert.

Im großen Ganzen wirken Kinasen und Phosphatasen so, dass der Schutzdes Phosphoratoms im Zentrum des Phosphats vor dem Angriff von Hydroxyl-gruppen, OH–, weitgehend aufgehoben wird. Die Enzyme nehmen dem Tri-phosphat die negative Ladung und aktivieren es so für Veresterungen durch ver-schiedenartige Säurekatalysen. Danach wandert das positivierte Phosphat oft zu-erst zur Carbonsäure eines Aspartats, bildet mit ihm ein gemischtes Anhydrid

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 241

Abb. 5.23 Die Molekülstrukturen des ATP und ADP mit einemMagnesium-Ion am zweiten Anhydrid.

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und geht von da an die Alkoholgruppe des Serins oder Tyrosins einer Kinase, ei-nes Rezeptorproteins oder einer Ribose, Desoxyribose oder ähnlichem. Genau dasGleiche (mit umgekehrten Vorzeichen) geschieht mit den Phosphatestern undPhosphatasen. Aspartat, Lysin und Magnesium am richtigen Platz steuern wohldie überwältigende Aktivität des Phosphats in unserem Körper (Abb. 5.24).

Die wichtigsten Erstsubstrate für die Phosphorylierung sind die Kinasenselbst. Das freigesetzte Phosphat ist aktives Metaphosphat ohne Wasser (HPO3)und reagiert sehr gern mit Tyrosin oder anderen funktionellen Gruppen in derUmgebung, also mit denen des Enzyms. Außerdem gibt es meist viel mehr Ki-nasemoleküle in einer Zelle als andere Substratproteine. So antworten die Zel-len sehr schnell auf Anregungen aller Art (Licht, Gefühl, Gedanken, Musik . . . )mit Phosphorylierungen erst der Kinasen und dann aller möglichen Membran-proteine.

Diese unendlich vielen und schnellen Phosphorylierungen lassen sich mitder Regulation eines rasant funktionierenden Straßenverkehrs durch Straßen-verbreiterung, Asphaltierung und Ampeln in einer Metropole vergleichen. DieAktivität der Proteine (Muskelarbeit, Rezeptoren und Membranporen, Enzyme,Erythrocyten) entspricht dann dem Arbeitsleben der Stadt, der nervösen Tätig-keit des Geistes- und Kulturlebens. So wie sich ein Stadtbewohner in jederWohnung, in jedem Geschäft und in jeder Bibliothek seiner Stadt zurecht-

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung242

Abb. 5.24 Die Schlüsselwechselwirkungen des ATP mit Kinasen.Diese Proteine binden das ATP mit den gleichen Gruppen, die esauch zersetzen. Nach dem Abbau des Triphosphats ist die Bin-dung viel schwächer, ADP wird sofort hinausgeworfen und durchneues ATP ersetzt. Analoges gilt für ADP und Phosphatasen.

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findet, solange er die Sprache der Stadt spricht und versteht, so finden die Io-nen auf den Wasserstraßen des Körpers ihren Weg von der Retina über das Ge-hirn zur Zunge, zu den Mundmuskeln oder zum Penis, und erfüllen dort ihreAufgaben (mouth feeling, plaisir d’amour oder die Gedanken dazu und die Worte,um es auszudrücken).

Menschen optimieren in ihrer Kindheit erst das Nervensystem ihres Gehirns,dann ihre neuronalen Wasserwege, ihre Neuronen und Synapsen. Beim Klein-kind wuchern die neuronalen Verknüpfungen, bei Sechsjährigen erreichen siedie größte Dichte. Während der Pubertät werden dann allerlei Irrwege eliminiert.Vom Schulalter an werden Zahl und Art der neuronalen Verbindungen ständigund lebenslang erst vermindert, dann verändert – der Mensch lernt und lehrtund lernt wieder neu. Nur im nicht geforderten Gehirn dünnen die Wasserwegeund der Verkehr auf ihnen stetig aus, bis das Gehirn auf die Umwelt nicht mehrreagiert. Auf gleiche Art verliert der körperlich unbewegliche Mensch die Kraftund Geschmeidigkeit seiner Muskeln, bis das Herz still steht (Abb. 5.25).

ATP wirkt als Energiequelle menschlichen Lebens zuerst im Gehirn. Dessendominierende Energiequellen sind Glucose und Sauerstoff. Der Sauerstoff oxi-diert die Glucose (C6H12O6), bildet daraus Kohlendioxid (CO2), und setzt aufdem langen Weg von der Glucose zum CO2 Protonen (H+) und Elektronen (e–)frei. Die Reaktionsfolgen sind lang, kompliziert und je nach äußeren Bedingun-gen abwechslungsreich, die Bilanz jedoch ist einfach:

C6H12O6 + 3 O2�6 CO2 + 12 H+ + 12e–

Zwölf Protonen und zwölf Elektronen vereinen sich zu sechs Wasserstoffmole-külen (12 H+ + 12 e–�6 H2) – das heißt, dass das bei der Oxidation der Glucoseentstehende Gemisch reduzierende Eigenschaften hat und mit dem Oxidations-mittel Sauerstoff aus der Luft Wasser bilden kann, wobei viel Energie frei wird.Bei der Bildung von einem Molekül Wasser aus Knallgas werden 68,3 kcal frei,also:

3 O2 + 6 H2�6 H2O+ 409,8 kcal

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 243

Abb. 5.25 Schematische Darstellung der neuronalen Verbin-dungen (blau) im Gehirn eines Neugeborenen (links), einesSechsjährigen (Mitte) und eines Erwachsenen (rechts).

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So hitzig wie die Knallgasreaktion des Wasserstoffs mit Sauerstoff läuft die Oxi-dation der Glucose im Gehirn aber nicht ab. Die wichtigste real ablaufende Re-aktionsfolge im Gehirn heißt Glycolyse und erzeugt aus Glucose je zwei Mole-küle Brenztraubensäure (Pyruvat), die dann zu Kohlendioxid, Essigsäure, ATPund NADH (Seite 72) weiterverarbeitet werden. Zuerst wird die Glucose so zer-brochen, dass der Aldehyd zur Carbonsäure oxidiert, ihr endständiger Alkoholaber gleichzeitig zur Methylgruppe des Pyruvats reduziert wird.

Insgesamt ändert sich der Oxidationszustand der Glucose nicht, aber es werdenerstens 32 kcal/mol Wärme und zweitens zwei ATP-Moleküle mit einer nutzbarenEnergie von 7 kcal/mol freigesetzt. Das ist der Fall, weil die Reduktion wenig Ener-gie braucht (C–H-Bindungen sind nicht sehr fest), während die Oxidation zumCarboxylat viel Energie freisetzt. Das Gehirn wird thermisch nicht belastet, son-dern profitiert davon, dass nur exakt so viel Energie und vor allem ATP geliefertwird, wie für die Aufrechterhaltung der Gehirnströme benötigt wird (Abb. 5.26).

Die reduzierende Kraft des NADH ist nicht essenziell für die Glycolyse; siekönnte durch reduzierende Nahrungsmittel, insbesondere Glucose, ersetzt wer-den. Die Bildung des ATPs aber ist notwendig, denn ohne Phosphorylierungenläuft nichts im Gehirn. ATP wird letzten Endes über den Aufbau eines Säure-gradienten an der Lipidmembran erzeugt, wobei Protonenbildung und Oxidati-onsreaktionen ähnlich gekoppelt sind wie im Chinon-Hydrochinon-Wechselspielder Abbildung 4.41.

Phenolderivate lösen sich gut in Membranen. Sie transportieren mit ihrerleicht sauren OH-Gruppe Protonen durch Membranen und sorgen so für denin der ATP-Synthese benötigten Protonennachschub. Eine Polarisierung derMembran durch Elektronen- und Protonentransport ist für die ATP-Bildungdann nicht mehr nötig, sodass ATP-Bildung und Sauerstoffreduktion durch diePhenole entkoppelt werden. P450 verbrennt dann noch immer Nahrung mitSauerstoffatomen (Seite 283), Chinone phosphorylieren immer noch ADP (Seite208) und ATP phosphoryliert weiter Glucose (oben), aber die drei Reaktionenlaufen nun unabhängig voneinander. Dadurch wird Energie verschwendet,mehr Nahrungsmittel wird verbraucht. Auf diese Weise könnten Phenole alsDiätpille wirken: Man „verbrennt“ mehr Nahrung, die Fettzellen wachsen nicht

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung244

Abb. 5.26 Die Glycolyse ermöglicht dem Ge-hirn die Umwandlung der Glucose zu Koh-lendioxid ohne direkte Oxidation. Das verein-fachte Schema zeigt, dass Glucose-6-phos-phat zuerst über mehrere nicht gezeigte Zwi-schenstufen zu zwei Molekülen Brenz-

traubensäure, dann zu Kohlendioxid und Es-sigsäure abgebaut wird. Dabei wird Redukti-onsenergie in Form von NADH und energie-reichem ATP gewonnen. Von dieser Energielebt das Gehirn.

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und das Körpergewicht nimmt ab. Das ist zunächst Theorie, verlässliche Statis-tiken gibt es wohl dazu noch nicht.

Wie erzeugen nun die im Wasser gelösten Metallionen Na+ und K+ elektrischeNerven- und Muskelpotenziale? Wie entstehen die elektrischen Signale, die unssehen, hören, riechen, denken und fühlen lassen? Um das experimentell zu klä-ren, braucht man Elektroden, die Natrium- und Kaliumströme unterscheidenkönnen. Diese ionenselektiven Elektroden erhält man, indem man konzentrierteKalium- oder Natriumlösungen zwischen die zu vermessende Probe und die Me-tallelektrode bringt. Fremdionen haben es viel schwerer als die identischen Ionen,durch diese Lösungen zu wandern, weil sie dauernd Energie verschlingende undschwierige Umlagerungen der Hydratwasserhüllen erzwingen müssen. Mit io-nenselektiven Elektroden, deren Innenraum entweder von Natrium- oder Kalium-Ionen umspült ist, lassen sich die Natrium- und Kaliumpotenziale einzeln undunabhängig voneinander messen. Die Elektroden selbst bestehen aus dünnen,porösen Natron- oder Kaligläsern (Glasmembranen), die von den eigenen Ionen105-mal schneller durchflossen werden als von fremden Ionen (Abb. 5.27).

Isolierte und aktive Muskeln und Nerven kennt man seit 200 Jahren in Formvon Froschschenkeln und heute in großer Auswahl aus anderen Amphibienund Tintenfischen. Diese Muskeln zucken nach elektrischen Impulsen undkönnen unter dem Mikroskop manipuliert werden.

Muskeln und Nerven sind wie fast alle biologischen Gewebe an der Oberflächevom Glutamat und Aspartat der Proteine und vom Phosphat der Lipidmemb-ranen negativ aufgeladen. Jede der negativen Ladungen braucht ein positiv gela-denes Gegenion. Das ist an der äußeren Oberfläche der Membran meist Natrium,zuweilen auch Calcium oder Magnesium, innerhalb der Zelle fast immer Kalium.Die aktive Anreicherung des Kaliums innerhalb von Zellen rührt daher, dass das

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 245

Abb. 5.27 Eine mit Natrium-Ionen gesättigte Glaselektrode(–Si–O–Al–) lässt die „eigenen“ Ionen 10000-mal schnellerpassieren als Kalium-Ionen, weil Letztere das Hydratwasserdes Natriums kaum nutzen und bewegen können. DieseElektrode ist natriumselektiv.

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Cytoplasma der Zellen viel mehr negativ aufgeladene Proteine als der Außenraumenthält, und dass diese Proteine Kalium-Ionen weitgehend dehydratisieren undfesthalten, hydratisierten Natrium-Ionen ihr Wasser aber nicht entreißen können.Die Kaliumanreicherung an Proteinen gleicht der Anreicherung des Kaliums inden Sedimenten von Flüssen und Meeren (Seite 54). Die Anreicherung des Nat-riums außen ist hingegen passiver Natur und balanciert den großen Ionenüber-schuss innen lediglich aus.

Das Kalium-Ruhepotenzial ist –80 mV, das Natrium-Ruhepotenzial +60 mV,das Membranpotenzial ist dann –20 mV. Minus bedeutet hier, dass innen mehrIonen sind als außen. Das Natriumpotenzial von +60 mV pro 5 nm entspricht120000 V/cm. Das ist eine Spannung, mit der sich im Nerven- und Muskelnetzeffizient und schnell arbeiten lässt.

Ein Nervenimpuls bedeutet eine Depolarisation der Membran: Erst fließt Nat-rium durch eine kurzzeitig geöffnete Membranpore, dann Kalium durch eineandere Pore, die Natrium-Ionen von außen nach innen, die Kalium-Ionen inumgekehrter Richtung. Dabei stellt sich zuerst ein Depolarisationspotenzial von–40 mV ein, das sich entlang des Axons fortpflanzt. Danach wird ein Aktions-potenzial von +40 mV ausgelöst, weil Kalium-Ionen nach außen fließen. DasVorzeichen des Membranpotenzials hat sich geändert. Die Natriumkanäle blei-ben solange geschlossen. Danach öffnen sich die Natriumkanäle wieder, das Ak-tionspotenzial bricht zusammen, was eine neue Welle der Depolarisierung miteinem Membranpotenzial von –40 bis +40 mV auslöst.

Bei jeder dieser Kanal- oder Porenöffnungen fließen etwa sechstausend Ionenpro Millisekunde. Die Depolarisierungswelle sorgt dafür, dass das Aktionspoten-zial weiterspringt. Die zweite Pore öffnet sich, Einzelströme fließen durch dieMembran, ein Gesamtstrom entlang der Oberfläche des Axons. Das geht umsoschneller, je besser die Membran durch umhüllende Proteine (Myelin) isoliertist. Leitungsgeschwindigkeiten von bis zu 100 m/s werden erreicht (Abb. 5.28).

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung246

Abb. 5.28 Leitung elektrischer Reize entlang von Nervenfasern(Axonen). Die Öffnung der Natriumporen löst über 10–20 cmeine Welle der Depolarisierung aus, die Öffnung der Poren fürdie Kalium-Ionen innerhalb des Axons sorgt für positive Akti-onspotenziale.

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Die Glucose sorgt durch die Glycolyse für die Versorgung mit ATP, das Pro-teine in Doppelschichtmembranen phosphoryliert. Natrium- und Kalium-Ionenwerden durch derart aktivierte Poren zu ihren Ausgangsorten zurückgebracht.Als aktives Membrantransportsystem dient die so genannte Natrium-Kalium-AT-Pase, die drei Natrium-Ionen aktiv von innen nach außen transportiert, dannan einer Aspartat-Seitenkette phosphoryliert wird (von –CH2–COO– zu–CH2–CO–OPO3

2–) und schließlich zwei Kalium-Ionen von außen zurück nachinnen schafft. Dieser Ablauf heißt Post-Albers-Zyklus und wurde durch elekt-rische Messungen an Muskelzellmembranen mit ionenselektiven Elektroden(Seite 245) aufgeklärt.

ATPase ist demnach das molekulare Elektrizitätswerk des Gehirns, der Nervenund der Muskeln, ATP das Betriebsmittel (die Nahrung) und ihre Veratmung derEnergielieferant (Seite 282 ff). In Ruhe herrscht der Standardzustand anima-lischer Zellen: hohe Natrium-Konzentration im Blut, hohe Kalium-Konzentrationim Zellwasser (Cytoplasma). Im Arbeitsprozess elektrisch reizbarer Zellen fließendie Ionen durch Membranproteine und die Faseroberflächen entlang.

Das Wissen um die Elektrik dieses Zyklus bedeutet wohlgemerkt nicht, dasssein Ablauf molekular verstanden wäre oder gar künstlich nachgeahmt werdenkönnte. Es passt da nichts zusammen. Kein organisches Molekül kann drei undnur drei Natrium-Ionen im wässrigen Medium binden, geschweige denn selek-tiv und reversibel. Ebenso ist unverständlich, wie das gleiche Molekül zwei Kali-um-Ionen binden soll, ausgerechnet nachdem die Phosphatgruppe verschwun-den ist. Die bekannten Bindungskonstanten für einzelne Natrium- oder Kalium-Ionen sind um mehrere Zehnerpotenzen zu klein, um solche Selektivitäten zu

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 247

Abb. 5.29 Formales Modell der Na,K-ATPase, die zwei Kali-um-Ionen in das Zellinnere und drei Natrium-Ionen nach au-ßen transportiert und dabei ATP verbraucht. Für Natrium gibtes außen ein Tor und innen eine Sperre und drei Bindungs-zentren, für Kalium innen ein Tor und außen eine Sperre undBindungszentren. Dieses Modell reproduziert nur die elektro-chemischen Daten; wie das Ganze (insbesondere die Bin-dungszentren für Natrium-Ionen) wirklich funktioniert, weißniemand.

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erlauben. Das gilt in noch stärkerem Ausmaß für die selektive Abgabe der Io-nen nach Öffnung der Pore. Wahrscheinlich nimmt jedes ATPase-Molekül zujeder Zeit eine unbestimmte Zahl von Ionen auf, die vielleicht zwischen nullund zehn liegt, und gibt eine ebenso unbestimmte Zahl bei Öffnung der Porenwieder ab. Das mittelt sich dann zu den gemessenen Werten aus: drei Natrium-Ionen raus, zwei Kalium-Ionen rein.

Dabei ist plausibel, dass die ATPase im phosphorylierten Zustand mehr Nat-rium-Kationen aufnehmen kann als ohne Phosphat. Auch die Triebkraft für dieBewegung der Kalium-Ionen hinein in das Cytoplasma ist bekannt. Letzterekann natürlich durch Protonen modifiziert werden, die die Proteine an der in-neren Zelloberfläche partiell neutralisieren. In welcher Schrittfolge die ATPase-Maschine aber so schnell und wirksam Na+ und K+ austauscht, bleibt geheim(Abb. 5.29).

Relativ gut verstanden ist nur der passive und selektive Transport von Kalium-Ionen durch Membranporen. Helicale Membranproteine werden hier gegenei-nander verschoben, indem man ihre Ladungen durch ATP, Säurezugabe, Addi-tion eines Neurotransmitters oder Variation des Membranpotenzials verändert.Nach dem erfolgten Öffnen des Poreneingangs („gating“) machen mehrere dieMembran durchspannende Proteinhelices die Pore so eng, dass das Kalium-Ionzunächst sein Hydratwasser abstreifen muss. Dann ahmen die Wände der Pro-teinrohre mit ihren Amid-Carbonylsauerstoffatomen das Bindungsmuster derWassercluster nach, um das Kaliumion zu umhüllen. Das kleinere Natriumionpasst nicht in diese Pore, weil es sein Wasser nicht abstreifen kann. Um zu ver-hindern, dass die positiv geladenen Kalium-Ionen in der Pore hängen bleiben,wandern mehrere Kalium-Ionen gleichzeitig, sodass K+-K+-Abstoßungskräfteden schnellen Durchfluss garantieren (Abb. 5.30).

Siebzig Gewichtsprozent der Kohlenstoffverbindungen des menschlichenKörpers sind im Muskelgewebe lokalisiert. Die Mineralstoffe des Fleisches spie-geln die Chemie der Muskeln wider: 0,5% ist Phosphor (gemessen als Phos-phat) und 0,4% Kalium, das Metallion des Zell-Innenraums. Auf etwa 20 Ami-

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung248

Abb. 5.30 Modell einer Kaliumpore mit einem engen Kanal,der nur dehydratisierte Kalium-Ionen passieren lässt.

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nosäuren der Muskelproteine, die 22% der Muskelmasse ausmachen, kommenein Phosphat- und zwei Kalium-Ionen, der Rest ist Wasser (76%). Diese Zusam-mensetzung suggeriert schon, dass auch die Muskeln vor allem phosphorylierteWasserwege darstellen, tatsächlich sind sie wassergefüllte Nanoröhrchen, derenWände aus Proteinen bestehen. Die Besonderheit des Rohrsystems der Muskelnliegt in der inneren Beweglichkeit der Fasern gegeneinander.

Wie werden nun die muskulären Wasserrohre mit Proteinwänden dazu ge-bracht, sich zu bewegen? Natürlich wieder über Phosphorylierung und Dephos-phorylierung. Zwanzig Kilo Muskeln enthalten etwa 60 g eines ATP/ADP/AMP-Gemischs, das von den Aminosäuren der Proteine kovalent gebunden wird, sowieetwa die gleiche Menge anorganisches Phosphat (Pi von inorganic phosphate). Je-des einzelne Muskelprotein-Faserbündel (Filament) wird am Tag Tausende vonMalen phosphoryliert und wieder dephosphoryliert, jedes einzelne ATP-Moleküldurchläuft den gleichen Zyklus in etwa gleichem Maße. Am häufigsten natürlichim Herzen.

Der Energiequotient eines Muskels (vgl. Abb. 5.22) Eq ist gegeben durch

Konzentration �ATP� � Konzentration �ADP�2�Gesamtkonzentration �ATP � ADP � AMP�

Wenn nur ATP vorhanden ist wird Eq = 1, was der maximalen Energieaufladungdes Muskels entspricht: Er ist „vollgepumpt“. Am Ende eines Marathonlaufsgeht Eq gegen null, es gibt weder ATP noch ADP, sondern nur noch AMP. DerKraftstoff für Muskelbewegungen ist eine 3�10–3-molare wässrige ATP-Lösung,wobei sich diese Konzentration während einer einzelnen Muskelkontraktionkaum ändert, weil ADP dauernd nachphosphoryliert wird.

Wir kommen zu unserer Ausgangsfrage nach dem Ursprung der Muskelbe-wegung. Die aktiven Hauptkomponenten der Muskelfasern sind die beiden Pro-teine Actin und Myosin. Beide bilden einen Molekülkomplex namens Actino-myosin und beide verschieben sich bei der Muskelbewegung gegeneinander.Zuerst verkleben sie in Gegenwart von ATP zu einem locker verknüpften Kom-plex, der sich nach Abgabe anorganischen Phosphats Pi in einen festen Kom-plex umwandelt. Ein weiteres ATP-Molekül bewirkt dann, dass die Brücke sichin einem „Ruderschlag“ (engl. power stroke) zusammenzieht. Die Muskelkon-traktion findet statt, wobei sich viele dünne und dicke „Filamente“ ineinanderschieben wie die Segmente eines Fernrohrs.

Die Energie für den entscheidenden Ruderschlag, der das äußere über das in-nere Rohr schiebt, stammt aus der Hydrolyse eines ATP-Moleküls durch dasMyosin, das auch eine ATPase-Aktivität besitzt. Bei dieser Hydrolyse werdensehr schnell Protonen freigesetzt, während ADP und Pi am Myosin verbleiben.Dieser Myosin-ADP-Pi-Komplex bindet das Ruder-Actin fester als das ur-sprüngliche Myosin unter einem Winkel von 45�. Dieser aktive Faserzustandlässt sich elektronenmikroskopisch charakterisieren.

Außerdem dreht ADP-Pi das Ruder des Myosins von 45� auf 90�. Danach la-gert sich erneut ATP an das Myosin an, der ADP-Pi-Myosin-Komplex zerfällt

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 249

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wieder und die ungeordnete, geknäuelte Actin-Form bildet sich zurück. ATP be-wirkt also erstens die Actinomyosin-Bildung, zweitens die Actin-Streckung, aufder Muskelkraft und Bewegungen beruhen, und drittens die Actinomyosin-Spal-tung. So wandert das Myosinruder an den Actinfilamenten entlang. Elektronen-mikroskopisch wird beobachtet, wie die Actin- und Myosinfasern aneinandervorbeigleiten (Abb. 5.31).

Das Myokard des Herzens ist der aktivste aller Muskeln. Membranpotenziale,die Depolarisierung durch die Öffnung von Poren und der die Muskeln entlangfließende Strom ähneln dem Na+, K+-Neuronenstrom (Abb. 5.28). Das ununter-brochen beanspruchte Herz aber schafft sich durch die zusätzliche Verwendungvon Ca2+ ein höheres Membranpotenzial. Das hilft, ist aber störanfällig, weil Cal-cium von Phosphat-Ionen schwer zu trennen ist. Für schnelle Nervenimpulse istdas nicht geeignet, offensichtlich aber für die robuste Maschine Herz mit dem re-lativ langsamen Rhythmus von durchschnittlich 60 bis 70 Schlägen pro Minute.

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung250

Abb. 5.31 Oben: Bei der Muskelkontraktiongleiten zwei Proteine M (Myosin) und A(Actin) aneinander vorbei, wobei es zur re-versiblen Bildung eines schwach und einesstark gebundenen MA-Komplexes kommt.Letzterer wandelt sich laufend von einem45�- in einen 90�-Komplex um, was das Myo-sin am Actinfilament entlang gleiten lässt.

Nach jeder Streckung wird der Komplex wie-der gespalten. Unten rechts: Ein Computer-modell des AM-Dockings und des 45�-Kom-plexes vor dem Ruderschlag. Unten links:Gestreckte und kontrahierte Myosinfilament-Modelle, die sich je nach Richtung des Ru-derschlags bilden.

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Jede unserer bewussten Empfindungen beginnt und endet im Gehirn. DieWandspannung des Herzens zum Beispiel wird vom Hirn registriert und gibtihm ein Maß für das bei dieser Spannung erforderliche Blutvolumen. Die Salz-konzentration im Blut informiert den Hypothalamus des Gehirns über den Rest-wasserstand, Durst wird im Zwischenhirn ausgelöst, das ein Zentrum zur Rege-lung des Wasserhaushalts enthält. Zuviel Wasser trinken ist so gut wie unmöglich,denn das Gehirn sorgt kontinuierlich für die Ausscheidung im Harn undSchweiß. Allerdings kann das Gehirn kein Wasser herbeischaffen, wenn keinesgetrunken wird. Nutze dein Gehirn und trinke Wasser gewohnheitsmäßig – dassind und bleiben zwei Grundgesetze des differenzierten Lebens.

Die cyclischen Phosphatester der Abbildung 5.21/5.22 (Seite 238 f) verwandelnmit Hilfe von Enzymen die Polarität von Membranporen, ohne Ladungeneinzuführen. Das erlaubt dort den Transport von zweiwertigen Ionen, zum Bei-spiel Ca2+. Wir wählen hier das basische Guaninmonophosphat cGMP an Stelledes neutralen Adenosinmonophosphats der Abbildung, weil cGMP nicht nurein kommerzieller Geschmacksverstärker ist (Seite 240), sondern auch eine inte-ressante Rolle im Zusammenhang mit der sexuellen Erregung spielt (Abb. 5.32).

Bekannt geworden ist cGMP dadurch, dass es erotische Empfindungen desSexualzentrums im Gehirn in Schwellungen des Penis übersetzt.

Zuerst setzen sexuell erregende Beobachtungen oder Phantasien im Gehirn Do-pamin (Seite 185 f), Stickstoffmonoxid (NO, Seite 264) und Cholinchlorid (Seite135) frei. Letzteres läuft die fettigen Nervenwege im Rückenmark von Synapsezu Synapse ab und gelangt so zum Penis. Dessen Nerven bringen wiederumStickstoffmonoxid (NO) und zusätzlich ein „vasoaktives intestinales Protein“(VIP) ins Blut. NO und VIP aktivieren gemeinsam eine penisspezifische Guano-

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 251

Abb. 5.32 Die reversible Bildung des cycli-schen Guanosin- Monophosphat-EsterscGMP aus dem offenkettigen GMP führt un-ter anderem zur Dilatation (Erweiterung)und Kontraktion (Verengung) von Arterienund Venen. Die Hinreaktion wird durch eineCyclase, die Rückreaktion durch eine Estera-se bewirkt. Beim Penis zum Beispiel lässt

die Hinreaktion das Blut einströmen undverhindert den Abfluss, die Rückreaktionöffnet die Vene und das Blut fließt ab. DieEsterase V der Rückreaktion wird von Viagra®

blockiert (siehe Abb. 5.33). Die Reaktions-wärme von 3,5 kcal/mol ist typisch für dieBildung von Phosphorestern und so gering,dass sie kaum zu merklicher Erhitzung führt.

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sincyclase, die Guanosintriphosphat (GTP) in den cyclischen Diester cGMP ver-wandelt. Diese Cyclase ist wie Hämoglobin und Cytochrom P450 ein Hämprotein,das wir erst später kennen lernen werden (Seite 283). Ihr Eisenion bindet keinenmolekularen Sauerstoff, sondern ausschließlich Stickstoffmonoxid, NO, das sonstnirgendwo reagiert. NO verdrängt einen Histidin-Liganden vom Eisen des Häms,ändert damit die Gestalt des Proteins und aktiviert es für die Cyclisierung desGMP. Wahrscheinlich ist der Imidazolring des freigesetzten Histidins direkt ander Katalyse dieser Kondensationsreaktion beteiligt. Das cGMP öffnet dann Kanä-le für den Calciumtransport – der Penis ist hinsichtlich des elektrischen Potenzi-als dabei ähnlich anspruchsvoll wie der Herzmuskel.

Das oben erwähnte VIP-Peptid hilft nun, die glatte Muskulatur des Schwell-körpers zu entspannen („dilatieren“). Ähnliches spielt sich bei der Venenerwei-terung durch Nitroglycerin (Glycerintrinitrat) bei der Angina pectoris ab, wobeiebenfalls NO freigesetzt wird (Seite 264). Die entspannten Schwellkörpermus-keln saugen den Blutstrom aus den Hauptarterien in die Arterien des Penis,der füllt sich nach dem Eintreffen des Stickstoffmonoxids mit Blut. Bei denstark muskulösen Venen („Venenpolster“) des Penis hingegen bewirkt dercGMP-gesteuerte Calciumstrom eine Verengung, was zu einer starken Drosse-lung des Blutabflusses führt. So steigt der Arteriendruck im Penis lokal auf das10- bis 20fache des Ruhewerts an, drei schwammartige Schwellkörper werdeneinige Minuten lang mit Blut aus dem Becken vollgepumpt.

Der Prozess der Erektion ist ein kombiniert aktiv-passives Phänomen – das Herzpumpt das Blut unentwegt und gleichmäßig in den Penis, Arterien und Venen desSchwellkörpers öffnen und verengen sich. Die Muskeln des Schwellkörpers hin-gegen bleiben passiv und setzen dem lokal ansteigenden Blutstrom keinen Wider-stand entgegen. So steigt der Blutdruck im Schwellkörper von 16 auf 130 Torr. An-dererseits geht der Tonus des Muskels, der den Schwellkörper umgibt, steil nachoben, was den Blutdruck weiter auf 500 Torr hochtreibt – der Penis steht.

Makroskopische Ursachen der Erektion sind zuerst Reizungen des Gehirnsoder Berührungsreize. Das heißt, die existenzielle Erregung des Penis hatnatürlich nichts mit Muskeln und Arterien, sondern mit Nerven zu tun (Gott-fried Benn: „Existenz ist Nervenexistenz“), an der Oberfläche des Penis bzw. derVulva der Nervus perinealis superficialis und der Nervus dorsalis penis bzw. cli-toris („Kitzlernerv“). Auch die Erregung dieser „Wollustnerven“, insbesonderedes Nervus dorsalis, ist phosphatgesteuert. Keine tierische oder humane Re-gung ohne Phosphat (Abb. 5.33).

Eine Reihe von Purinen, unter anderem Neobromin, Sildenafil und Theophyl-lin, hemmen Diesterasen, die cGMP zu GMP hydrolysieren. Beim Theobrominund Theophyllin (siehe Legende zu Abb. 5.9, Seite 227), Komponenten des Tees,ist das stärker ausgeprägt als beim Coffein. Sie beschleunigen über cAMP denCalcium-Transport in die Zelle und Phosphorylierungen durch Kinasen in derZelle und regen damit unter anderem die Herztätigkeit an. Das wenig polare Cof-fein ist eher im zentralen Nervensystem wirksam, weil es erstens die Blut-Hirn-Schranke am schnellsten überwindet und zweitens weniger fester an Diesterasenbindet – ihm fehlt eben die Fähigkeit zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken.

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung252

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Kann man die Erektion chemisch begünstigen, gibt es ein wirksames Aphro-disiakum? Erektionshelfer sind seit etwa 1980 zuerst unter dem Namen Silde-nafil (Handelsname Viagra®) bekannt geworden. Das ist ein synthetisches, cof-feinartiges Molekül mit verstärktem Basencharakter (Pyrazin statt Imidazol) –natürlich ein Blockademolekül wie fast alle Pharmaka. Es blockiert einigerma-ßen spezifisch die Phosphodiesterase V, die im Penis den cyclischen Phosphor-ester cGMP in offenkettiges GMP verwandelt, nachdem die Erektion stattgefun-den hat. Als Folge dieser Desaktivierung ziehen sich die glatten Muskeln in denPenisarterien wieder zusammen, der Blutstrom dorthin wird schwächer, der Pe-nis erschlafft. Sildenafil verstärkt und verlängert also die Erektion einige Minu-ten lang, indem es eine Esterase blockiert.

Selektiv blockieren – das ist fast alles, was Pharmaka können. Eine andereMöglichkeit, den gleichen Effekt zu erreichen, wäre, NO-Lieferanten, zum Bei-

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 253

Abb. 5.33 Schema der zeitlichen Verlänge-rung einer Erektion durch Sildenafil. Nerven-zellen nehmen sexuelle Reize auf und setzenNO frei, das eine Häm-haltige Zyklase akti-viert, cGMP herzustellen und Calciumporenzu öffnen. Daraufhin relaxiert der glatte Pe-nismuskel, Arterien erweitern und Venen ver-engen sich, der Blutdruck im Penis steigt an.Erst nachdem der erregte Nerv und das NOgewirkt haben, wird eine Esterase V wirksam,die schließlich den cyclischen Ester wiederöffnet, was zum Abfluss des gestauten Blutsführt. Dieser letzte Prozess wird von Sildena-fil oder Viagra® blockiert. Sildenafil ist eineinfaches Molekül aus drei Standardbau-steinen: ein leicht modifiziertes Guanin, indem die 1,3-Stickstoffatome 1,2-ständig an-

einander gerückt wurden, um die Basizitätzu erhöhen; ein Phenolsulfonamid, wie manes von vielen Antibiotika als hydrophobenAnker in Enzymspalten kennt und ein cycli-sches Diamin als Salz der Citronensäure(Citrat, vgl. Coffein auf Seite 225). Das Pro-dukt enthält, von der billigen Citronensäureabgesehen, kein asymmetrisches Kohlen-stoffatom, ist also nicht chiral und leicht her-zustellen. Der ursprünglich horrende Preis,der im Zusammenhang mit Zuschüssen derKrankenkassen in allen deutschen Zeitungenund Magazinen diskutiert wurde (ohne dieStrukturformel abzubilden), ist mit demrelativ geringfügigen chemischen Entwick-lungs- und Syntheseaufwand nicht zu recht-fertigen.

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spiel Nitrate, in den Corpus cavernosum zu injizieren. Das aber verbietet sichbeim Geschlechtsverkehr von selbst. Man könnte das organische Nitrat auch in-halieren oder essen und so das NO im ganzen Körper verteilen. Aber das wäreäußerst riskant, weil NO nicht nur am Penis, sondern auch an den Herzarteri-en wirkt, wo es zu einem massiven Abfall des Blutdrucks führt und deshalb äu-ßerst sparsam gegeben werden muss. Penis- und Herzaktivität hängen häufigeng zusammen, weil sie beide vom Blutdruck, das heißt vom Spannungszu-stand von Blutgefäße abhängen (Abb. 5.34).

Neben den löslichen organischen Phosphaten spielen anorganische undunlösliche, aber fest in den Körper integrierte Calciumphosphate eine dominie-rende Rolle in der Architektur des Körpers. Körperwasser wird zum Beispielvon dem Hydroxylapatit der Knochen und Zähne sehr schnell übersättigt. Dannkristallisiert es an allen harten Oberflächen, die erreichbar sind, aus, nicht aberan den weichen biologischen Gelen. Die eignen sich nur für die Anlagerungvon Cholesterin und fettigen Aggregaten.

Nur zwischen den steifen Collagen- und Keratinfasern der Knorpel und denZellmembranen existieren turbulenzfreie Wasservolumen, in denen sich auchanorganische Nanokristallite bilden können. Mit Calciumphosphat funktioniertdas hervorragend: Die Kristallite reihen sich aneinander, wachsen zu Knochenund Zähnen heran. In solchen Wasserräumen mit negativ geladenen Protein-wänden reichern sich dabei zuerst Calcium-Ionen an, dann sammeln sich dortauch Phospholipide der Membranen als Kristallisationsinhibitoren, werdendurch Phosphatasen zersetzt und stellen langsam das zur Kristallbildung nötigePhosphat bereit. So wachsen die Zahnschmelzkristalle aus Apatit langsam he-ran. Das meiste Protein der Basis wird dann enzymatisch abgebaut, lediglich ei-nige hydrophobe Nanosphären bleiben als Abstandshalter zwischen den Apatit-plättchen stehen und bewahren die große Oberfläche.

Die raffinierte Multischichtstruktur des Zahnschmelzes macht ihn einerseitselastisch, glänzend und bruchfest, fixiert aber andererseits überall Zucker durchWasserstoffbrücken von OH zum Phosphat. Dieser Zuckerbelag wird von Bakte-rien in Essig- und Milchsäure verwandelt (Seite 76), die aus dem Calciumphos-phat lösliche Phosphorsäure machen und so Löcher in die Zähne bohren. Die

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung254

Abb. 5.34 Aufbau des Zahnschmelzes. Hy-droxylapatit wächst auf anionischen Protein-plättchen, die später zu viel kleineren hydro-phoben Nanosphären abgebaut werden undals Abstandshalter zwischen den Hydroxyl-

apatitplättchen stehen bleiben. Der Zahn-schmelz (Enamel) besteht aus vielen sehrdünnen Lamellen. In die Lücken dringenBakterien und ihre Säureausscheidungen einund lösen das Calciumphosphat auf.

Page 265: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Oberfläche einer Schicht Zahnschmelz beträgt ein bis zehn Quadratmeter proGramm Apatit. Deswegen sind Zähne immer in Gefahr.

Die fünf Calcium-Ionen des Hydroxylapatits Ca5(OH)(PO4)3 bringen zehn po-sitive Ladungen ein, die drei Phosphat-Ionen neun negative Ladungen, dasHydroxylion eine. Hydroxylapatit ist außerdem ein wirksamer Ionenaustauscherfür Fluorid. Wird das Hydroxylion OH– durch Fluorid F– ersetzt, wird derSchmelz härter und etwas stabiler gegenüber Säuren.

In den Skeletten der europäischen Friedhöfe erscheinen Löcher in den Zäh-nen erst vom 13. Jahrhundert an, was dem Zeitpunkt der Einführung des Zu-ckers als Nahrungsmittel entspricht (Seite 99). Bei Lebenden müssen dieseLöcher gestopft und verlorene Zähne durch künstliche ersetzt werden, weil Zäh-ne bei erwachsenen Menschen nicht nachwachsen wie bei den Ratten. AlsFüllmaterial dienen Keramik, Edelmetalle oder Metalloxide (Abb. 5.35).

Die Zuckerkrankheit wurde am Ende des vierten Kapitels mit der Bindungdes Insulin-Proteins an einen Membranrezeptor und der Phosphorylierung desTyrosins dieses Rezeptors in Verbindung gebracht. Sowohl die Freisetzung des

5.4 Phosphorsäureanhydride und cyclische Ester 255

Abb. 5.35 Modell der Freisetzung des Insu-lins aus den �-Zellen des Pankreas durchGlucose im Blut. Glucose wird durch einTransportprotein in die Zelle geschleust unddort zu Kohlendioxid verbrannt, wobei ATPfrei wird. Gleichzeitig werden Kaliumkanälegeschlossen und Calcium eingeschleust. Bei-

de sorgen für die Fusion von insulinhaltigenVesikeln, die, relativ hydrophob geworden,an der Zellmembran haften und Insulinfreisetzen. Dieses Insulin öffnet dann diekinaseaktiven Rezeptoren auf der Oberflächevon „hungrigen“ Fett- und Muskelzellen(Seite 209).

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Insulins aus den �-Zellen der Bauchspeicheldrüse in Folge steigender Glucose-konzentrationen im Blut als auch der Glucosetransport vom Blut in Fett- undMuskelzellen wird von ATP ausgelöst.

Wie funktioniert das, wie regulieren sich so unterschiedliche Moleküle wieATP, Glucose und Insulin gegenseitig? Das kann nur mit bio-logischen Techni-ken funktionieren, die an diesem Beispiel kurz geschildert werden sollen.

ATP, Kinasen und Phosphatasen wirken prinzipiell nur innerhalb der Zellen,also hier in den beiden jeweils beteiligten �-Zellen und Muskel- bzw. Fettzellen.Zunächst erscheint Glucose in den �-Zellen, wenn ihre Konzentration 1 g/LBlut wesentlich überschreitet. Transportproteine werden zu diesem Zweck nachjeder Mahlzeit aktiviert. In den �-Zellen wird die Glucose zu Kohlendioxid abge-baut und erzeugt dabei ATP aus ADP. ATP schließt dann Kaliumkanäle nachaußen und öffnet Calciumkanäle nach innen. Das ist alles normale Phosphat-chemie und hat mit Insulin noch nichts zu tun. Die Calcium-Ionen aber neut-ralisieren Phosphatladungen auf der Oberfläche von Vesikeln, die Insulin ent-halten, und bewirken so deren Fusion untereinander und mit der Zellmembrander �-Zellen. Die Vesikelmembranen lösen sich an diesen Fusionsstellen aufund Insulin wird auf der Außenseite der Plasmamembran ins Blut entlassen.Hier bindet es, wie früher beschrieben (Seite 210 f), an die Rezeptoren der Fett-und Muskelzellen, die gleichzeitig als Kinasen wirken. Wenn die Glucosekon-zentration im Blutplasma zu gering wird („Hypoglykämie“), greift das Protein-hormon Glucagon ein und induziert die Umwandlung von Fetten und Amino-säuren in Glucose. Doch damit entfernen wir uns viel zu weit von den siebenMolekülen und geraten in das Labyrinth des Stoffwechsels. Schließen wir dieBeschreibung des Diabetes mellitus damit ab (Abb. 5.36)!

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung256

Abb. 5.36 a) Die gekrümmte Konformationvon Glivec, die bei der Anlagerung an eineTyrosinkinase erzwungen wird. Die Namender Aminosäuren (Seite 165) der umhüllen-den Kinase sind angegeben, wichtig sind vorallem die hydrophoben Aminosäuren Leucinund Valin im Zentrum. b) Der starre, poly-cyclische Naturstoff Staurosporin wird an

das gleiche Leucin-Valin-Zentrum der Tyro-sinkinase gebunden. Die Lage der Stickstof-fatome N ist ähnlich wie im Glivec, die mo-lekularen Oberflächen sind etwa gleich groß.Bei der Anlagerung von Molekülen an Ober-flächen ist häufig die relative Lage der Bin-dungszentren wichtiger als die Gestalt derMoleküle.

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Die grundlegenden Aspekte der ATP-Chemie sind damit besprochen: Phospho-rylierung von Membranoberflächen und Poren, Aufbau und Reparatur der Zähneund Knochen, Teilung von Körper- und Krebszellen. Die Forschung der Gegen-wart kümmert sich darum und um Zukunftsträchtiges. Ein paar willkürlich aus-gesuchte Aktualitäten des Jahres 2007 sollen das ATP-Kapitel beschließen.

Assoziatives Lernen und die Speicherung des Gelernten im Gedächtnis funk-tionieren chemisch ähnlich wie die Erregung des Penis. Hier sind es Calcium-und GABA-Ströme, die das Signal zur Phosphorylierung von Proteinen an dieSynapsenwände geben. Sie locken Proteinkinasen vom Zellinnern an die Zello-berfläche, aktivieren sie da und bahnen das molekulare Gedächtnis.

Die ungebremste ATP-Aktivität, die dem Menschen die innere Welt des Den-kens und Fühlens erschließt und ihn mit der Außenwelt verbindet, kann auchseine Zerstörung durch Wucherung von Krebszellen bewirken. Das betrifft ins-besondere den Blutkrebs, denn auch Hämatopoese, die Bildung der Blutzellenin Knochenmark, Milz und Lymphknoten, wird von Kinasen gesteuert. OhnePhosphat gibt es keinen Krebs und keine Leukämie, die unkontrollierte Ver-mehrung weißer Blutkörperchen.

Als cancerostatischer (das Krebswachstum eindämmender) Kinasehemmer istGlivec im Versuchsstadium, ein leicht verformbares Molekül mit fünf Sechsrin-gen und fünf basischen Stickstoffatomen. Es inhibiert erstens die Synthese vonTyrosinkinasen und blockiert zweitens ihre ATP-Bindungsstellen in wucherndenweißen Blutkörperchen, ohne gesunde Zellen zu stören. Letztere werden überviele Signalwege mit den notwendigen Phosphatinformationen versorgt, fürKrebszellen aber ist die Blockade einzelner ATP-Bindungsstellen ebenso fatalwie jedwede Produktion nutzloser Proteine. Pathologische Chromosomen wer-den deshalb von Glivec unterdrückt, das Blutbild normalisiert sich. Es gibt aucheinen natürlichen Kinaseblocker namens Staurosporin. Dieses Molekül ist voll-kommen starr und weniger spezifisch. Kristallstrukturen der Komplexe von Ki-nasen mit Glivec und Staurosporin zeigen, dass Glivec von der Kinase in einegebogene Konformation gezwungen wird, was bei dem zu hemmenden Enzymetwa die gleiche Oberfläche von etwa 5 nm2 Größe unzugänglich macht.

Fragen zu ATP

1. Welche chemische Reaktion findet im 50–100-Kilo-Maßstab täglich in Ih-nen statt?

2. Wo nützt Kaffee?3. Wie lange wirkt Coffein?4. Wie wirken Barbital-Schlafmittel? Was muss beachtet werden?5. Wieso inhaliert man bei Angina-pectoris-Schmerzen Nitroglycerin? Wieso

explodieren die Flaschen nicht in der Jackentasche oder werden von Terro-risten aufgekauft?

6. Wonach stinkt Urin für einige Zeit?7. Wonach stinkt Kot für einige Zeit?

Fragen zu ATP 257

Page 268: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

8. Wonach stinken Leichen für einige Zeit?9. Was unterscheidet die Wirkung von Kaffee, Tee und Kakao?

10. Wieso zerstört Zucker die steinharten Zähne?11. Was machen wässrige Harnstofflösungen mit Dieselöl im Auto?12. Was macht Guanosinmonophosphat in Konserven?13. Wo binden die „Glücksbringer“ unter den Pharmaka?14. Welche Hoffnung weckt Glivec zur Zeit (Beginn des 21. Jahrhunderts)?

5 ATP: Phosphatchemie des Denkens und Fühlens, der Bewegung und der Zellteilung258

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Mir gefiel der Sauerstoff immer am besten.Im Wasser nur Masse und Abstandshalterfür Protonen und Elektronenpaaretut er selbst nichts, seit Milliarden Jahren.Im grünen Blatt aber setzt die Sonne ihn frei,wird er zur AtmoSphäre für Tier und Mensch.Beginnt den Atemzug als doppelt Radikaler,reist harmlos als Passagier in warmem Blut,schrumpft zum Atom, das in der Zelle brennt,zeugt Wasser, Pflanze dann und Mensch.

259

6Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren

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Überblick

6.1 Das Sauerstoffmolekül, O2, der Luft enthält zwei ungepaarte Elektronen inenergiereichen, antibindenden Orbitalen. Dieser Biradikalcharakter verhin-dert, dass das einzige natürliche Oxidationsmittel auf der Erde spontan mitreduzierenden biologischen Organismen reagiert. Sein Oxidationspotenzialist wie beim Chlor 1,3 V, aber Sauerstoff ernährt biologische Zellen, Chlorzerstört sie.

6.2 Pyrrol ist ein fünfgliedriger Heteroaromat, gibt leicht ein Elektron an denSauerstoff ab und wird dabei zum Kationradikal. Dihydronicotinamid(NADH) ist ein sechsgliedriger Heterocyclus dessen hydrierter Pyridinringleicht ein Elektronenpaar in Form eines Hydridanions, H–, abspaltet.

6.3 Chlorophyll absorbiert im Inneren einer Chloroplastenmembran Sonnen-licht, gibt danach ein Elektron an ein Chinon ab und nimmt ein Elektronenvon OH–-Ionen auf. Diese Ladungstrennung ist der Ausgangspunkt derPhotosynthese, in der Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt undKohlendioxid in Glucose verwandelt wird.

6.4 Das Oxyhäm des Hämoglobins in Erythrocyten transportiert molekularenSauerstoff im Blut, im Cytochrom P450 liefert es atomaren Sauerstoff. Beidesgeschieht bei einem Potenzial von null Volt, das typisch ist für lebende Zellen.

Wasser, Glucose, Lecithin, Tyrosin und ATP – Waglule Tyat – sind farblos undkümmern sich nicht um das Licht der Sonne, wenn man von der geringen Rot-absorption des Wassers, dem Polyphenolbraun des Waldbodens und ein paarschmückenden Haar-, Blüten- und Rotweinfarbstoffen absieht. Der BlutfarbstoffOxyhäm, die Gallenfarbstoffe der Algen, das Chlorophyll und Carotin der Blät-ter aber leuchten überall und das Rhodopsin sieht sie mit seinem Retinal.

Das folgende Kapitel über das Oxyhäm befasst sich zuerst mit den ElementenSchwefel und Eisen (S und Fe aus SCHÖPFeN), mit dem aus dem Wasser frei-gesetzten Sauerstoffmolekül, O2, sowie mit den biologisch relevanten Oxidendes Kohlenstoffs und Stickstoffs.

6.1 Sauerstoff, Sulfid und Eisen

Wasser wirkt nach außen über die Protonen und Elektronenpaare. Das zentraleSauerstoffatom bringt lediglich Masse ein; die Chemie des Sauerstoffs spielt imWasser eine untergeordnete Rolle (Kapitel 1). Mit den Alkoholgruppen der Koh-lenhydrate ist das genauso, aber der Raumanspruch der Sauerstoffatome undihre relative Lage in den Fünf- und Sechsringen aus Kohlenstoff bestimmt zu-mindest die räumliche Struktur der Zucker und ihrer Polymere. In den Alde-hyd- und Carbonylgruppen –C=O der Aldehyde, Ester und Amide schließlichwird der Sauerstoff auch chemisch aktiv, indem er das beteiligte Kohlenstoff-atom positiv auflädt und damit eine Reihe wichtiger Additionsreaktionen pro-voziert (Seite 120 f und 123).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren260

Page 271: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Der molekulare Sauerstoff O2 wird von Pflanzen aus Wasser freigesetzt (Seite276). O2 wurde vorerst nur auf der Erde gefunden; es ist das einzige natürlicheOxidationsmittel auf unserem Planeten und wohl auch im ganzen Universum,wenn man von den elektronenlosen Atomkernen in den Sternen absieht.

Die Oxidationskraft des Sauerstoffmoleküls kommt wegen des paramagneti-schen Grundzustands (siehe unten) nicht direkt zur Wirkung und kann je nachBedarf „an- und abgeschaltet“ werden. Das sind entscheidende Faktoren für dieLebensfähigkeit der Menschen und Tiere, die mit Sauerstoff ihre Nahrung „ver-brennen“, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen. Das Kunstwort SCHÖPFeN(Seite 6) schließt diese Eigenschaft ein, indem es das Elektronenpaar als Sym-bol für chemische Reaktionen gerade auf dem Sauerstoffsymbol platziert.

Die für den Menschen lebenswichtige chemische Reaktion ist die Wärmespendende Oxidation der Glucose zu Kohlendioxid, die in stark abgemilderterForm – als Glycolyse – das Monopol für die Energieversorgung des Gehirns hat.Wenn der Sauerstoff das Gehirn nicht mehr erreicht, endet dessen Tätigkeit in-nerhalb von Minuten. Mensch und Tier „ersticken“ schnell.

Das Sauerstoffatom hat sechs Außenelektronen in vier tetraedrischen Orbita-len; zwei davon sind paarweise besetzt und zwei einfach. Im Sauerstoffmolekül,O2, sollte demnach eine Doppelbindung mit zwei Elektronenpaaren vorliegen,die durch Paarung der vier in den Atomen ungepaarten Elektronen entstehen.Das ist beim Grundzustand des Sauerstoffmoleküls nicht der Fall. Er bildet viel-mehr eine Dreifachbindung wie der molekulare Stickstoff, N2, aus, wofür jedesSauerstoffatom eines seiner beiden Außenelektronenpaare in zwei Einzelelekt-ronen teilen muss. Das Resultat dieses Manövers ist ein „abgeschaltetes“, wenigreaktives Sauerstoffmolekül mit einer Dreifachbindung und zwei ungepaartenElektronen (ein Biradikal, Seite 15). Da die ungepaarten Spins in gleiche Rich-tungen zeigen (parallel sind), ist das Molekül paramagnetisch. MagnetischeWechselwirkungen zwischen diesen Spins finden nicht statt, weil die beideneinzelnen Elektronen sich in getrennten, antibindenden Orbitalen befinden. Indiesen energiereichen Positionen heben sie die Bindungsenergie einer der dreiBindungen zwischen beiden Sauerstoffatomen auf. Die Länge und die Stabilitätder Sauerstoff-Sauerstoff-Bindung entsprechen deswegen nicht der des „inerten“Stickstoffs, N2, sondern der einer Doppelbindung.

Flüssiger Sauerstoff (Siedepunkt: –170 �C) ist schwach blau. Das bedeutet, erabsorbiert sichtbares Licht mit einer Wellenlänge von 680 nm und wird dabei ineinen angeregten Zustand überführt, in dem die Spins der beiden ungepaartenElektronen antiparallel ausgerichtet sind. Dieser diamagnetische Sauerstoffheißt in der Fachsprache der Quantenmechanik Singlettsauerstoff und ist vielreaktiver als das Biradikal, das einem quantenmechanischen Triplettzustandentspricht, was hier nicht erklärt werden soll.

Beide Formen des Sauerstoffmoleküls wirken als Oxidationsmittel: Sie neh-men Elektronen auf, werden zu Anionen, neutralisieren die negativen Ladun-gen mit Protonen und werden so schließlich zum Wasser reduziert. Die Sauer-stoffmoleküle der Luft sind, wie schon gesagt, das einzige natürliche Oxidati-onsmittel auf der Erdoberfläche. Der biradikalische Sauerstoff reagiert aber nur

6.1 Sauerstoff, Sulfid und Eisen 261

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sehr langsam mit organischen Molekülen ohne ungepaarte Elektronen. Er neigteher zur Verbindung mit den beweglichen Elektronen von Metallen: Metalli-sches, elementares Eisen rostet, Eisen des Blutfarbstoffs Hämoglobin und desMuskelfarbstoffs Myoglobin binden O2 (Seite 281) und der Zellfarbstoff Cyto-chrom P450 verwandelt O2 mit der Hilfe von NADH in atomaren Sauerstoff Ound Wasser (Seite 283) (Abb. 6.1).

Kohlendioxid ist das gasförmige Endprodukt aller Kohlenstoffverbindungen, dieauf der Erde vom Sauerstoff der Luft oxidiert werden. Am schnellsten, bei Tem-peraturen oberhalb von 1000 �C, läuft diese „Verbrennung“ bei der Explosionvon Kohlenwasserstoffgasen in den Verbrennungsmotoren der Autos ab, aberauch das Endprodukt eines brennenden Streichholzes, von Kohle und Öl im bren-nenden Ofen oder eines Waldbrands ist Kohlendioxid. Die Verbrennung von Nah-rungsmitteln zu gasförmigem CO2 im Atemprozess ermöglicht es zudem, die beijeder Oxidation von Kohlenstoffverbindungen erzeugte Kohlensäure in Form desAnhydrids CO2 mit jedem Atemstoß aus dem Körper zu entfernen. So sammelnsich in unserem Körper nach dem Essen keine Säuren an und der pH-Wert desKörperwassers bleibt konstant bei 7,4. Das entspricht etwa 10–7 mol oder 10–7 gProtonen im Liter Wasser oder höchstens einem hundertstel Milligramm im gan-zen Körper außerhalb des Magens! Knochen und Zähne werden so nicht nach je-der Mahlzeit durch einen Säureschwall angeätzt, Proteine verlieren ihre Wasser-stoffbrücken und ihre Sekundärstruktur nicht. Der „normale“ pH ist 7,4. SchonpH= 6,8, weniger als ein Milligramm H+ zuviel, führt zum Säuretod.

Im Kohlendioxid werden die Elektronen der Doppelbindung nur geringfügigauf den Sauerstoff übertragen. Die beiden benachbarten, senkrecht aufeinanderstoßenden Orbitale begünstigen wegen ihrer Symmetrie die Polarisierung derC=O-Doppelbindung nicht in gleicher Weise wie beim schon besprochenen

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren262

Abb. 6.1 Die beiden Formen des Sauerstoff-Moleküls. Links: Der relativ stabile Biradikal-zustand des Luftsauerstoffs (Triplett-sauerstoff) mit drei bindenden und zweinichtbindenden Elektronenpaaren. Damit hatjedes Sauerstoffatom acht Elektronen in sei-nen vier energiearmen Orbitalen (siehe Abb.1.19). Die beiden übrig bleibenden Einzel-elektronen finden dort keinen Platz mehr undwerden in energiereicheren, antibindendenOrbitalen untergebracht. Ihre negative Bin-dungsenergie hebt die der dritten Bindung

zwischen den Atomkernen auf. Rechts: Derangeregte, nicht magnetische (Singulett-)Zu-stand mit zwei bindenden (Doppelbindung)und vier nicht bindenden Elektronenpaaren.Auch hier hat jedes Sauerstoffatom achtElektronen, wenn man die bindenden Elekt-ronen jedem Atom zuteilt und sechs, wennman die bindenden Elektronenpaare formalaufteilt. Singlettsauerstoff entsteht in geringerAusbeute bei der Einstrahlung von sicht-barem Licht auf den biradikalischen Sauer-stoff. Zum Sauerstoffatom siehe Seiten 7, 14.

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Formaldehyd. Andererseits lagert CO2 leicht Wasser an und bildet KohlensäureH2CO3, die in Wasser ein oder zwei Protonen abspaltet. Dabei bilden sich Hy-drogencarbonat- und Carbonat-Anionen. Allerdings entsteht Kohlensäure nurmit einer Ausbeute von 0,1%, während 99,9% des Kohlendioxids als Gas gelöstbleiben. Das aber kann sehr konzentriert vorliegen; im venösen Blut zum Bei-spiel finden sich etwa 50 Volumenprozent, das heißt 500 ml gasförmiges Koh-lendioxid oder etwa 1 g/L. Ein Erwachsener atmet etwa 700 g oder 350 L Koh-lendioxid am Tag über die Lungenbläschen ab (Abb. 6.2).

Isoliertes Kohlendioxid hat die interessante Eigenart, bei –79 �C direkt zu ver-

dampfen, ohne zu schmelzen. „Trockeneis“ ist deshalb ein nützliches Kühlmit-tel. Erst oberhalb eines Druckes von 5 atm schmilzt das feste Kohlendioxid. InForm einer „überkritischen Flüssigkeit“ verwendet man es als Lösungsmittel,zum Beispiel bei der Herstellung von entkoffeiniertem Kaffee unter Erhaltungder Aromasubstanzen (Seite 226 ff).

Polarität und Reaktivität sind ganz anders beim Kohlenmonoxid, CO, das beider unvollständigen Verbrennung von Kohlenstoffverbindungen oder durchWasserabspaltung aus Formaldehyd entsteht. Das Sauerstoffatom bildet hiermit dem Kohlenstoff eine feste Dreifachbindung und das Kohlenstoffatom trägtungewöhnlicherweise ein ungebundenes Elektronenpaar, was eine einzigartigenegative Aufladung des Kohlenstoffatoms bewirkt. Deshalb lagert sich Kohlen-monoxid mit seinem negativen Kohlenstoffende an viele positiv geladene Metal-lionen an und vergiftet auf diese Weise auch das Oxyhäm (siehe Seite 281). COist in Wasser etwas löslich, bildet aber kein Hydrat. Bei einer Hydratationmüsste der negativ geladene OH-Anteil des Wassers an den positiv geladenenSauerstoff des CO binden. O–O–Einfachbindungen (Peroxide) entstehen abernicht spontan, dazu sind sie zu energiereich (Abb. 6.3).

6.1 Sauerstoff, Sulfid und Eisen 263

Abb. 6.2 Von links nach rechts: Kohlendioxid, Kohlensäure,Hydrogencarbonat- und Carbonat-Anion.

Abb. 6.3 a) Im Kohlenmonoxid ist der Koh-lenstoff partiell negativ geladen, weil er inder oberen Formel vorherrscht. Er hat dortfünf Valenzelektronen (das ungebundenePaar und je ein Elektron aus den Elektronen-paaren der Bindungen), neutraler Kohlenstoffhat nur vier Valenzelektronen. Jedes neutraleSauerstoffatom trägt sechs Valenzelektronen,

im vorliegenden Fall aber nur fünf – es istalso positiv geladen. b) CO lagert sich mitdem Kohlenstoffatom an verschiedene Eisen-komplexe an (siehe Seite 281 ff), aber nichtan Wasser, weil die ungewöhnliche Vertei-lung der Ladung die Ausbildung einer ener-giereichen O–O-Einfachbindung (Peroxid) er-fordern würde.

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Auch das Element Stickstoff bildet Oxide mit Sauerstoff. Stickstoffmonoxid,NO�, ist wie der molekulare Sauerstoff ein außergewöhnlich stabiles Radikal,das erstaunlicherweise kaum zur Dimerisierung neigt, wodurch der Radikalcha-rakter verloren gehen würde. NO reagiert wie das Biradikal des Sauerstoff-moleküls mit dem Blutfarbstoff Häm (siehe Seite 281) und wirkt als Mittel zurVenenerweiterung bei Angina pectoris (Seite 286), sowie, indirekt, zur Venen-verengung bei der Penisversteifung (Seite 253).

Die Reaktion des NO-Radikals mit dem Sauerstoff-Biradikal, die schließlichzu Stickstoffdioxid NO2 führt, verläuft ebenfalls ungewöhnlich langsam, wenndas �NO nur in geringen Konzentrationen vorliegt, was in biologischen Orga-nismen immer der Fall ist. Schnell und gefährlich ist aber die spontane Bildungdes Nitrosyl-Radikals �OONO aus NO und O2, das im Körper schnell zum Per-oxynitrit-Anion weiterreagiert. Dieses Peroxynitrit nimmt in Wasser ein Protonauf und zerfällt dann in Gegenwart entsprechender Enzyme (Superoxid-Dis-mutase, SOD) zu Nitrit- und Hydroxylradikalen, �NO2

– und �OH (Abb. 6.4).

Energiereiche Strahlen, elektrische Entladungen und große Hitze verwandelndas Sauerstoffmolekül O2 in Ozon O3. Ozon ist die vorherrschende Form desSauerstoffs in der Stratosphäre in 17 km Höhe, wo der Sauerstoff als „Ozon-schild“ die energiereiche Weltraumstrahlung und das UV-Licht der Sonne ausfil-tert. Auch die elektrischen Entladungen eines Gewitters erzeugen Ozon. Trotz-dem ist es in tieferen Regionen der Atmosphäre selten, abgesehen von Spuren-mengen an heißen Sommertagen in Innenstädten oder in Auspuffgasen.

Ozon ist diamagnetisch und extrem aggressiv gegenüber Kohlenstoff- undStickstoffverbindungen, die schnell zu Oxiden aller Art abgebaut werden. Viele da-von bilden in Wasser Säuren. Ozon lagert sich auch nicht an das Eisen des Hämsan, sondern bleicht das Protoporphyrin aus und zerstört es vollkommen. Ebensodestruktiv wirkt es in der Schleimschicht der Lunge und im Lungengewebe, die esdurchlöchert. Die Lunge altert schnell in ozonhaltiger Luft (Abb. 6.5).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren264

Abb. 6.4 a) �NO ist ein Radikal, weil die Gesamtzahl der Au-ßenelektronen ungerade ist (11, und zwar 5 von N und 6 vonO). Die linke Form überwiegt. b) Das ungepaarte Elektronführt beim �NO nicht zur Dimerisierung. c) Das Sauerstoff-Bi-radikal �O2� bildet mit NO Peroxide, die zu reaktiven Radika-len zerfallen.

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Im Wasserstoffperoxid, H2O2, sind die Sauerstoffatome schließlich nur durcheine zerbrechliche Einfachbindung (Bindungsenergie 36 kcal/mol) vereint undtragen außerdem je ein Wasserstoffatom. H2O2 zersetzt sich leicht zu Hydroxyl-Radikalen OH oder zu Sauerstoff O2 und Wasser H2O. Auf der Erde kommtH2O2 nicht vor – es muss elektrochemisch hergestellt werden (Abb. 6.6).

Im Zusammenhang mit dem Oxyhäm spielen neben dem Sauerstoffmolekülauch Eisen und Schwefel lebenswichtige Rollen.

Vor sechs Milliarden Jahren ließen Gravitationskräfte zwischen einander begeg-nenden Meteoriten diese zur Masse der Erde heranwachsen: 6�1021 t in einemVolumen von 1012 km3. Frei werdende Energien erhitzten und schmolzen diesengroßen Brocken zu einem feurigen Ball aus Eisen, Nickel und einigen Oxiden.Die geschmolzene Erdmasse rundete sich zu einer Kugel, dem Körper minimalerOberfläche bei gegebenem Volumen. Das schwere Eisen setzte sich mit dem Ni-ckel im Zentrum der Kugel ab, leichtes Silicat und Kohle schwammen an dieOberfläche. Das Wasser verdampfte schon in frühen Stadien der Planetenbildung,konnte aber wegen seiner Neigung, im Weltraum Wolken aus Tropfen und Eis-kriställchen zu bilden, damals so wenig wie heute der Erdanziehung entkommen.

Heute kann nur die Oberfläche der Erde direkt analysiert werden, nur sie istzugänglich. Das Erdinnere wird indirekt erforscht, vornehmlich durch die seis-mographische Vermessung der Ausbreitung von Erdbebenwellen durch die Erdehindurch. Primärwellen (P-Wellen) breiten sich in der Luft, in Flüssigkeitenund in Festkörpern schnell aus, wobei die mit 3 g/cm3 locker gepackte Erdkrus-te mit etwa 10 000 km/h durchquert wird, der Erdmantel und äußere Kern mit4–12 g/cm3 schon eine Beschleunigung auf 20 000–40000 km/h, der innereKern mit 12–15 g/cm3 auf 43 000–54000 km/h ermöglichen. Die Erddurchque-rung (6378,4 km) einer P-Welle dauert etwa 10 min.

Die Sekundärwellen (S-Wellen) sind etwa halb so schnell und werden vonFlüssigkeiten geschluckt. S-Wellen werden also nur von Seismometern regis-triert, die ausschließlich durch feste Schichten der Erde mit dem Erdbebenherdverbunden sind.

Messungen der Laufzeitdifferenz von P- und S-Wellen an verschiedenen Punk-ten der Erdoberfläche, Beobachtungen des Verschwindes der S-Wellen und Com-

6.1 Sauerstoff, Sulfid und Eisen 265

Abb. 6.5 Bildung des diamagnetischen Ozonmoleküls aus pa-ramagnetischen, biradikalischen Sauerstoffmolekülen und-atomen.

Abb. 6.6 Wasserstoffperoxid, H2O2, zerfällt in der Hitze zuHydroxylradikalen, aber in Gegenwart vieler Metallionen wieMn2+ zu Wasser und Sauerstoff.

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putermodellierung erlauben dann Rückschlüsse auf das Material in der Erdmitte:Der äußere Kern ist wahrscheinlich flüssiges Eisen und Nickel mit etwas Oxid,der innere Kern festes Metall mit einer Temperatur von etwa 5000 �C, die wahr-scheinlich vom Zerfall radioaktiver Elemente und den Reibungskräften beweg-licher flüssiger und fester Metallschichten im rotierenden Erdkörper herrührt.

Unregelmäßige Strömungen des flüssigen Metalls auf dem festen Metallkernerzeugen das Magnetfeld der Erde. Ihre wenig vorhersehbaren Veränderungen ru-fen die bekannten Wanderung der Magnetpole mit der Zeit hervor. Der Südpolverschob sich zum Beispiel von 1831 bis heute um etwa 1000 km nordwestwärts.

Außer den Primär- und Sekundärwellen gibt es noch reine Oberflächenwel-len, die an fluidem Material reflektiert werden und in reproduzierbaren Zeit-abständen von ein und derselben Messstation erfasst werden.

Über dem geschmolzenen Eisen des Erdkerns liegt gemäß der seismometri-schen Messungen ein Mantel aus Schmelzen von Eisensulfiden und diversen Mi-schungen aus Eisensilicat und anderen leichteren Materialien, darauf folgt dannschließlich die durchschnittlich 17 km dicke Erdkruste, auf der wir leben. Im Yel-lowstone Park ist die Erdkruste nur 7 km dick und ihre Vulkanschlote und Geysirestellen eine direkte Verbindung zum Magma des äußeren Mantels her. Das dorteinsickernde und wieder verdampfende Wasser enthält vor allem Schwefelwasser-stoff, was belegt, dass Schwefel sich in der Umgebung von Schwermetallen in etwa10 km Tiefe anreichert, auch wenn dort hohe Temperaturen herrschen (Abb. 6.7).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren266

Abb. 6.7 Erdbeben erzeugen P- und S-Wel-len, die von seismographischen Messstellenleicht unterschieden und zeitlich aufgelöstwerden können. P-Wellen laufen durch dieErde, wobei ihre Geschwindigkeit in dichtemMaterial größer ist als in leichtem Material.Außerdem breiten sich sowohl P- als auchS-Wellen auf der Oberfläche der Erde mit un-

terschiedlicher, aber gleich bleibender Ge-schwindigkeit aus. Die Analyse der beidenWellen an den verschiedensten Punkten derErde erlaubt die Bestimmung der Dichte (inGrenzen auch des Materials) des Erdinne-ren, von dem es keine Proben gibt. DieDichten, die sich aus dieser Bebenanalyseergeben, sind im Bild eingetragen.

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Eisen, Fe, das häufigste Element und Metall im Erdinneren, tritt auf der Erd-kruste vorwiegend als Trikation Fe3+, häufig im Gemisch mit Fe2+ auf. Eisenerzist oft Magnetit, Fe3O4 (Fe2O3 · FeO). In biologischen Organismen dominiertOxyhäm (Kapitel 6.4). Seine reaktiven Außenelektronen bewegen sich in aus-gedehnten d-Orbitalen, die anders aussehen als die CNOPS-Tetraeder. Ein Ei-senatom kann man sich als zehnarmiges Monster vorstellen: Je fünf Arme stre-cken sich in alle Richtungen und greifen nach allem, was ihnen Elektronen lie-fert. Im Oxyhäm neutralisieren die Porphyrin-Liganden des Blutfarbstoffs diebeiden Ladungen des Fe2+, dazu kommt ein neutrales Sauerstoffatom oder -mo-lekül als Ligand auf der einen Seite und Imidazol oder Schwefel auf der ande-ren Seite. Das Eisen des Oxyhäms ist nun voll bepackt mit reaktiven Elektro-nen, aber Kohlenmonoxid, Stickstoffmonoxid und viele andere Molekülekönnen den Sauerstoff verdrängen und das Oxyhäm damit inaktivieren. Zu ler-nen ist: Bindungen zum Eisen erstrecken sich in alle Richtungen des Raums,außerdem bilden und lösen sie sich schnell und reversibel (Abb. 6.8).

Bäche, die aus Vulkanen und Geisern fließen, verbinden das Erdinnere mitdem Wasserkreislauf an der Oberfläche (Seite 31 ff). Sie sind leicht sauer undenthalten Schwefelwasserstoff H2S aus den Schwermetallsulfiden des Erdinne-ren. An der Luft wird H2S schnell zu elementarem Schwefel, (Schwefelblüte,(-S-S-)n) oder Schwefeldioxid SO2 oxidiert. Proteine nutzen außerdem die oxida-

6.1 Sauerstoff, Sulfid und Eisen 267

Abb. 6.8 Links: Modell der Kristallstrukturdes Eisen(II)-hexacyanoferrats, [Fe(CN)6]4–.Ein einziges Eisen-Ion bindet sechs Cyanid-Ionen (CN–) oder „Liganden“ zum volu-minösen Komplex-Anion. Der Abstand be-nachbarter Eisenzentren ist etwa 0,8 nm,das Volumen eines Komplex-Anions ist 0,5nm3, das eines Wassermoleküls 0,003 nm3.Das Anion ist also etwa so groß wie 170Wassermoleküle. Rechts: Ausgedehnte Ligan-

denfelder sind typisch für das Eisen; sieermöglichen schnelle Austauschreaktionenmit Reagenzien aus der Umwelt. Ein hervor-ragendes Beispiel für solche Austauschreak-tionen bietet das Oxyhäm: In der roten Ebe-ne liegen zwei Orbitale (x2–y2 und xy),schräg dazu zwei (yz, xz) und senkrecht ei-nes (z2) für axiale Liganden, z.B. O2, NOund CO.

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tive Dimerisierung von SH–Gruppen des Cysteins zu S–S–Gruppen (Disulfid)des Cystins durch den Luftsauerstoff dazu, wasserlösliche Proteine miteinanderzu vernetzen. So entsteht das wasserunlösliche, sogar unquellbare Gewebe derHaut, der Haare und der Fingernägel. Im reduzierenden Innern des Körpersaber findet diese S–S-Dimerisierung nur in der Magenwand statt (Seite 140),weil die stark saure Umgebung das Oxidationspotenzial anhebt. Anderswo sinddie SH–Gruppen der Proteine frei; Schwermetalle „vergiften“ das Protein, ma-chen es biologisch unbrauchbar. Vor allem Quecksilber und Cadmium wirkenkatastrophal, S–Hg- oder S–Cd-Bindungen sind unter physiologischen Bedin-gungen kaum wieder zu lösen (Abb. 6.9).

Auch Schwefel aktiviert das Eisenion, worauf die Bildung von Sauerstoffato-men am Cytochroms P450 beruht (siehe Seite 283). Eisensulfide treten an vie-len Stellen des menschlichen Körpers auf und sind auch in Mikroorganismenallgegenwärtig. Wahrscheinlich waren in der Evolution Eisen-Schwefel-Verbin-dungen die Vorläufer des Oxyhäms (Abb. 6.10).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren268

Abb. 6.9 Organische Sulfide heißen auchMercaptane, das „Quecksilber fällende Prin-zip“ (engl. mercury, „Quecksilber“). Das deu-tet auf die extrem feste Bindung zwischendem großen Sulfid-Ion S2– und dem ebensogroßen Quecksilber-Ion Hg2+ hin. Beidessind weiche Ionen, die zu kovalenten Bin-dungen neigen: Schwefel und Quecksilberwerden durch ausgedehnte, überlappende,mit vielen Elektronen gefüllte Orbitale festmiteinander verbunden. Außerdem istSchwefel leicht zu oxidieren. An der Haut-

oberfläche im Kontakt mit dem Sauerstoffder Luft bilden die SH-Gruppen der Proteine(Aminosäure Cystein) S–S-Dimere. Die Pro-teinketten werden durch viele solcheS–S-Brücken so oft miteinander vernetzt,dass sie vollkommen wasserunlöslich wer-den (Haut, Haare, Fingernägel). Im Innerndes Körpers, dessen Wasservolumen starkreduzierend wirken, ist das nicht der Fall. Dagibt es nur –SH (Ausnahme: Magenwand).Dementsprechend ist Hg2+ dort sehr störendund ein schweres Nervengift.

Abb. 6.10 Eine typische Eisensulfidstruktur, wie sie zur Elekt-ronenleitung in Bakterien und im menschlichen Körper be-nutzt wird (siehe Seite 282).

2RSHO2 H2O2 H2O2

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Wir wissen damit über Eisen und seine anorganischen Liganden Sauerstoff undSulfid alles, was wir brauchen, um Oxyhäm verstehen zu können. Um das Eisen,den Schwefel und den Sauerstoff herum wurden von der biologischen Evolutiongrüne und rote Tetrapyrrolfarbstoffe gewickelt; sie haben sich bis heute da gehalten.

6.2Pyrrol, Pyridin und ihre �-Elektronen

Pyrrol ist eine farblose, leicht nach Chloroform riechende Flüssigkeit, die beiZugabe eines Tropfens Säure das Pyrrolrot bildet, rote lineare Polymere (griech.pyrros, „feuerrot“; lat. oleum, „Öl“). Pyrrol ist ein typisch aromatisches Molekülwie das Benzol und enthält ebenso wie dieses sechs �-Elektronen – vier in denbeiden Doppelbindungen zwischen den Kohlenstoffatomen und ein Paar amprotonierten Stickstoffatom.

Auf fünf Ringatome kommen so sechs �-Elektronen. Das Pyrrol ist mit beweg-lichen �-Elektronen überladen, ein Aromat mit einem „Elektronenüberschuss“. Esgleicht darin dem Phenolat-Anion des Tyrosins mit sieben �-Elektronen in einemRing aus nur sechs Kohlenstoffatomen (siehe Seite 178). Die elektronenreichenKohlenstoffatome sind auch basischer als das Stickstoffatom: Die Protonierungdes Pyrrols durch Salzsäure erfolgt am Kohlenstoffatom, nicht am Stickstoff.Das durch ein Proton positiv aufgeladene Pyrrol reagiert spontan mit elektronen-reichen, nicht-protonierten Pyrrolmolekülen und es kommt zur Bildung der er-wähnten roten Polymere, die aber noch nicht dem roten Blutarbstoff entsprechen.

Das Elektronenpaar des Pyrrolstickstoffs ist optimal geeignet für die schritt-weise Reduktion des molekularen Sauerstoffs, weil deren Verteilung auf alleKohlenstoffatome des Rings dem Stickstoff seine Basizität nimmt. Die Redukti-on des Sauerstoffmoleküls kann bei neutralem pH-Wert und in reduzierendemMilieu stattfinden. Wenn das entstandene Pyrrolderivat die positive Ladung auf-nimmt und über den ganzen Ring verteilt, wird sie keinen Schaden an Protei-nen anrichten (Abb. 6.11).

Das Protoporphyrin des Häms hat vier solche Pyrrolringe und ist damit einextrem elektronenreicher Farbstoff, der leicht ein Elektron an das einzige Oxida-tionsmittel der Natur, den molekularen Sauerstoff, abgibt und dabei sehr stabileRadikale und Eisenkomplexe bildet. Der Elektronenreichtum der Pyrrole führtzusammen mit dem Polypensystem der Eisenelektronen (Seite 267) zum Oxy-häm der Atmung (siehe Kapitel 6.4), das Sauerstoff bindet und leicht reduziert.Die vielen Elektronen gefährden das Porphyrin aber auch: Innerhalb wenigerTage wird es im Blut vom Sauerstoff oxidativ abgebaut, es entsteht ein grünerFarbstoff aus vier Pyrrolringen mit drei Methinbrücken –CH= der nach seinerQuelle, der Galle (engl. bile), „Biliverdin“ heißt. Dieses Pigment fällt zuerst beiVerletzungen der Gefäße des Blutkreislaufs in Form der „blauen Flecke“ auf.Unter der Haut entsteht durch den langsamen Abbau des Oxyhäms in geplatz-ten Blutgefäßen zunächst Biliverdin, das dann langsam vom Körper zu gelbem„Bilirubin“, dem Farbstoff des Urins, reduziert wird. Spröde Blutgefäße geben

6.2 Pyrrol, Pyridin und ihre �-Elektronen 269

Page 280: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

große Flecken, elastische häufig gar keine. Andere Farbstoffe des Porphyrin-abbaus sind braun und lagern sich in den Fäkalien (Stercobilin; griech. sterco,„Kot“) ab.

Ab dem siebten Monat einer Schwangerschaft wird das „fötale Hämoglobin“eines Babys abgebaut und durch Erwachsenen-Hämoglobin ersetzt. Dabei ent-stehen massive Mengen Bilirubin in kurzer Zeit, die ausgeschieden werdenmüssen. Das setzt sich nach der Geburt fort: Das Bilirubin neugeborener Babysdurchläuft in sichtbarem Licht eine cis-trans-Isomerisierung, die es besser was-serlöslich macht. Zum gleichen Zweck wird außerdem enzymatisch ein Gluco-semolekül angehängt.

Wenn diese beiden Umwandlungen nicht funktionieren, reichert sich gelbes,hydrophobes Bilirubin im Fettgewebe des Babys an, insbesondere in den Neuro-nen des Gehirns. Es kommt zur „Neugeborenengelbsucht“ die oft katastrophaleFolgen hat und schnell beseitigt werden muss. Hier hilft die Beschleunigung ei-ner Photoisomerisierung des wasserunlöslichen all-cis-Isomers am meisten, weil

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren270

Abb. 6.11 a) Die mesomeren Grenzformen und die chemi-sche Verschiebung der CH-Protonen des Pyrrols im NMR-Spektrum entsprechen etwa denen des Benzols (6,3 und6,8 ppm). b) Säuren protonieren den �-Kohlenstoff, das gebil-dete Kation polymerisiert mit anderen Pyrrolmolekülen.

Page 281: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

nur dieses Isomer im Fettgewebe auskristallisiert und Synapsen blockiert. Dastrans-Isomer bricht die cis-Kristallite auf und ist wasserlöslich genug, um auchohne Glucose im Blutstrom herausgespült zu werden (Abb. 6.12).

Eine ähnliche cis-trans-Isomerisierung eines Biliverdins bringt Pflanzensamenim Frühjahr zum Keimen. Hier gibt es das Phytochrom (griech. „Pflanzenfarb-stoff“), das im „Fernroten“, bei 730 nm absorbiert, wenn es ruht. Durch730-nm-Licht wird der lineare Farbstoff in ein cyclisches cis-Stereoisomer umge-wandelt, das bei 660 nm absorbiert und sofort als Wachstumshormon aktivwird. Solch fernrotes Licht dominiert im Licht der untergehenden Sonne anFrühlingstagen und schaltet im Frühling die Proteinsynthese der Pflanzen an.Der Samen wird zum Spross, die lichtinduzierte cis-trans-Isomerisierung zumchemischen Signal des Frühlingserwachens (Abb. 6.13).

6.2 Pyrrol, Pyridin und ihre �-Elektronen 271

Abb. 6.12 Das Protoporphyrin des Hämoglo-bins im Blut und seine Abbauprodukte Bili-verdin (Galle) und Bilirubin (Niere und Harn).Die durchkonjugierten Systeme sind planarwie die Papierebene. Das in der Mitte hy-

drierte Bilirubin findet sich in verschiedenenKonformationen, was zu viel besserer Was-serlöslickeit führt, zum Beispiel im Urin, dervom Bilirubin gelb gefärbt ist.

Page 282: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Die sechs �-Elektronen überladen die vier Kohlenstoff- und das Stickstoffatomdes Pyrrolrings mit negativen Ladungen Pyrrol gibt deshalb leicht ein Elektronab und wird zum Radikal. Das genaue Gegenteil tritt ein, wenn die Zahl derDoppelbindungen in einem stickstoffhaltigen Sechsring von zwei auf dreierhöht wird. Der Sechsring heißt dann Pyridin und ist sofort an seinem fäkal-artigen Gestank zu erkennen, deutlich zu unterscheiden vom leicht chlorofor-mig riechenden Pyrrol. Ist der Pyrrolring allerdings mit einem Benzolring ver-bunden, entsteht Indol, einer der Geruchsstoffe des Kots. Der Gestank wirdvollends widerlich, wenn das Pyrrol zusätzlich methyliert ist. 3-Methylindolheißt direkt Skatol (greich. skatos, „Kot“) und entsteht beim Metabolismus derProteine aus Tryptophan. In Spuren mischt man beide Fäkalienstinker jasmin-artigen Parfums bei.

Geruch und Gestank wirken grundsätzlich psychologisch und haben nichtsmit der Giftigkeit von Molekülen zu tun. Fäkalien sind zwar grundsätzlich un-berechenbare Bakterienherde, also gefährlich, und Tiere und Menschen habendeshalb ein Warnsystem errichtet. Methylindol und viele andere Stickstoff- undSchwefelverbindungen, die aus dem bakteriellen Abbau toter Proteine stam-men, sind aber eigentlich harmlos. Man kann das ruhig einatmen und sich da-ran gewöhnen (Abb. 6.14).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren272

Abb. 6.13 Fernrotes (– – –) und rotes (______) Phytochrom;oben die Molekülstruktur des „schlafenden“ gestreckten Iso-mers.

Abb. 6.14 Drei fäkalartig riechende Heterocyclen.

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Das elektronegative Stickstoffatom des Pyridinrings zieht Elektronen von denKohlenstoffatomen ab, der aromatische Charakter ist beim Pyridin viel wenigerausgeprägt als beim Benzol oder Pyrrol. Im Nicotinamid, NAD+, werden demPyridinring außerdem durch eine Elektronen ziehende Amidgruppierung,–CONH2, und eine positive Ladung am Stickstoff weiter Elektronen entzogen.Danach kann der Ring nicht mehr wie das Pyrrol oxidiert, aber dafür leichtreduziert werden, indem zum Beispiel Hydrid an den Sechsring addiert undNADH gebildet wird. Das zerstört zwar das aromatische Konjugationssystem,aber das war wegen der positiven Ladung und des stark elektronenziehendenAmidsubstituenten sowieso nicht viel wert und hatte kaum noch Elektronen.Das leicht zu bildende NADH ist das wichtigste und wirksamste Reduktions-mittel der Biologie, insbesondere der atmenden Tiere und Menschen, aber auchder Pflanzen und unendlich vieler Mikroorganismen.

NAD+ und NADH lassen sich leicht durch eine UV-Bande des Letzteren bei350 nm und durch die Fluoreszenz des NADH unterscheiden. Nur diese redu-zierte Form leuchtet unter einer UV-Lampe blau. Diese Fluoreszenz ist der

6.2 Pyrrol, Pyridin und ihre �-Elektronen 273

Abb. 6.15 Oben: Strukturen und Konformationen desNicotinamids NAD+ und des Dihydronicotinamids NADH.Das ADP (Seite 239) wirkt als Träger- und Fixierungssys-tem, das die Eigenschaften des NAD je nach Umgebung(hydrophil oder hydrophob; siehe Abb. 6.23) modifiziert.Im Wasser liegen der Adenin- und der Nicotinamidringübereinander, in Lösungsmitteln und Membranen trennensie sich. Unten: NAD+ absorbiert nur bei 250 nm (linkerote Bande), NADH absorbiert bei 250 und 340 nm undfluoresziert außerdem im sichtbaren Blau (rechte roteBande, Pfeil). Zeigt eine biologische Zelle diese optischenErscheinungen, so lebt sie.

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sicherste und einfachste Nachweis für eine lebendige Zelle. Fluoresziert sie blauunter UV, dann kann sie noch reduzieren, ihr Metabolismus funktioniert. Fluo-resziert sie nicht, ist sie tot (Abb. 6.15).

6.3Chlorophyll und Protoporphyrin

Der Elektronenreichtum des Pyrrols bildet die chemische Basis der Nutzungdes Sonnenlichts in der Photosynthese der Pflanzen und der Erzeugung desatomaren Sauerstoffs im Atemprozess der Tiere. In der Natur ist in beiden Fäl-len nicht das farblose Pyrrol wirksam, sondern der grüne TetrapyrrolfarbstoffChlorophyll (griech. chloros, „grün“; phyllon, „Blatt“) und der rote Tetrapyrrol-farbstoff Häm (griech. haimos, „Blut“), in denen jeweils vier Pyrrolringe übervier Methinbrücken (=CH–) an den �-Positionen miteinander verbunden sind.Dieser tetrapyrrolische Grundkörper ist ein großer Ring, ein aromatischerMacrocyclus, und heißt wegen seiner roten Farbe „Porphyrin“ (griech. porphyra,„Purpur“) (Abb. 6.16).

Die Absorption eines Lichtquants befördert ein Elektron des energiereichstenElektronenpaars des Chlorophylls in ein Orbital auf einem noch höheren Ener-gieniveau. Dieses Elektron wirkt reduzierend. Das untere, nun auch nur nochhalbbesetzte Orbital möchte ein Elektron aufnehmen, es wirkt als starkes Oxida-tionsmittel. Dieser doppelte, scheinbar widersprüchliche Charakter ist typischfür alle vom Licht erzeugten angeregten Zustände von Farbstoffen: Sie sindgleichzeitig starke Oxidations- und Reduktionsmittel, denn sie geben das ange-regte Elektron leicht ab, nehmen aber in das „Elektronenloch“ leicht ein ande-res Elektron auf.

Pflanzen nutzen in ihrer Photosynthese die im angeregten Zustand des Chlo-rophylls (griech. chloros, „gelbgrün“ und phyllon, „Blatt“) vorhandene Energie,um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten. Dabei geben vier Chloro-phyllmoleküle vier Elektronen an die Protonen des Wassers ab, Wasserstoff-moleküle (2 H2) und Sauerstoffmoleküle (O2) werden freigesetzt. Danach ent-weicht der Sauerstoff als O2-Molekül in die Atmosphäre, während der Wasser-stoff mithilfe von NADH Kohlendioxid, CO2, zu Glucose (CH2O)6 und Wasserreduziert. Tiere und Menschen essen dann den Zucker und die Stärke, verwan-deln sie in Glucose, atmen Sauerstoff ein und verbrennen die Glucose wiederzu CO2, um Energie zu gewinnen. Die Ausgangsstoffe Wasser und Kohlen-dioxid werden dabei zurückgeliefert. Die Umwandlung von Licht in chemischeEnergie wird dadurch begünstigt, dass das Absorptionsspektrum des Chloro-phylls mit seinen intensiven Banden im roten Spektralbereich von 600–700 nmdem Maximum des Emissionsspektrums der Sonne auf der Erde nahe kommt(Abb. 6.17).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren274

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6.3 Chlorophyll und Protoporphyrin 275

Abb. 6.16 a) Fällt weißes Licht auf Häm, soabsorbiert dieses daraus den tiefblauen An-teil (nahe 400 nm) und grüne Anteile (nahe550 nm und 575 nm). Das rote Licht bleibtübrig. Das Hämspektrum ist ein Aromaten-spektrum mit intensiven (erlaubten) Bandenim kurzwelligen und schwachen (verbote-nen) Banden im längerwelligen Bereich (sie-he Benzol, Seite 174). Häm dient vor allemdazu, den Sauerstoff der Atmosphäre imBlut zu lösen und in den Mitochondrien zur

Atmung zu nutzen. b) Die Chlorophylle aund b absorbieren im Roten und erscheinendeshalb grün. Die kurz- und langwelligenBanden sind etwa gleich intensiv, was einemPolyen-Spektrum (ähnlich Retinal und �-Ca-rotin, siehe Kapitel 7) entspricht. Die Foto-chemie des Chlorophylls ist die wichtigsteEnergiequelle des Lebens (siehe auch Abb.6.17). Das rot gestrichelte Spektrum ent-spricht dem weißen Sonnenlicht, das dieErdoberfläche erreicht.

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Nach der Anregung des Chlorophylls im Zellinneren eines Chloroplasten er-folgt der Sprung des energiereichen Elektrons über eine 4 nm dicke Lipidmem-bran (Seite 136) zu einem dort fixierten Chinon. Ein positiv geladenes Chloro-phyll-Radikal und ein negativ geladenes Chinonradikal entstehen innerhalb eini-ger Nanosekunden nach Eintreffen des Lichtquants von der Sonne. Das negativgeladene Chinonradikal ist ein Elektronendonor und reduziert die Protonen desWassers zu elementarem Wasserstoff. Das positiv geladene Chlorophyll-Radikalwirkt als Elektronenakzeptor und oxidiert die vom Wasser übrig bleibenden OH–-Gruppen zu molekularem Sauerstoff. Die Photosynthese ist also primär die Was-serspaltung durch Sonnenlicht. Der Wasserstoff wird schließlich benutzt, umKohlendioxid zu Kohlenhydraten zu reduzieren, der molekulare Sauerstoff direktin die Atmosphäre entlassen. Damit ist die Photosynthese abgeschlossen.

Im photosynthetischen System der Pflanzen, den Chloroplasten, ist das Elekt-ronen gebende Chlorophyll an der inneren Oberfläche einer Zellmembran fi-xiert, das Elektronen aufnehmende Chinon steht ihm in 4 nm Entfernung ander äußeren Membranoberfläche gegenüber. Membranproteine stellen weitereElektronenakzeptoren zur Verfügung. So wird es möglich, das kurzzeitig ange-regte Elektron des Chlorophylls schnell zu „pflücken“, das heißt zum Chinonzu leiten, bevor es in den Grundzustand zurückfällt.

In einer einzigen Chloroplastenzelle gibt es hunderte solcher Molekülpaaremit passendem Abstand, in denen die energiereichen Elektronenlöcher (Chloro-

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren276

Abb. 6.17 Links: Im Grundzustand von Farb-stoffen liegen nur bindende Elektronenpaarevor. Nach der Anregung mit Licht springt einElektron unter Erhaltung seines Spins in einantibindendes Orbital und wird so zu einemDonorelektron, einem starken Reduktions-mittel. Das zurückbleibende Elektronenlochin einem bindenden Orbital aber ist ein Elek-tronenakzeptor, ein starkes Oxidationsmittel.Damit hat das Lichtquant ein Oxidations-und ein Reduktionsmittel geschaffen, Licht-energie ist in chemische Energie umgewan-delt worden. Rechts: Die Aromatenspektrendes Magnesiumporphyrins (–––) und des16-Annulen-Dianions (– – –). Beide habenwie das Benzol (Seite 174) intensive Absorp-

tionsbanden im Kurzwelligen und 10-mal we-niger intensive Banden im Langwelligen. Einabsorbiertes Lichtquant bewirkt die Ladungs-trennung: Das Elektronenloch im unterenOrbital des angeregten Zustands wirkt alsOxidationsmittel oder Elektronenakzeptor,das angehobene, energiereiche Elektron alsReduktionsmittel oder Elektronendonor.Chlorophyll und Licht sind deshalb im Stan-de, Wasser zu Sauerstoff zu oxidieren undgleichzeitig zu Wasserstoff zu reduzieren.Dieser Prozess heißt Photosynthese. DerSauerstoff baut die „Atmosphäre“ für dieTiere auf, der Wasserstoff reduziert Kohlen-dioxid zu Glucose.

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phyllradikal) und Anionen (Semichinone) erzeugt werden und auf beiden Sei-ten der Lipidmembran für einige Millisekunden stabil sind. Ein einfaches Mo-dell für so eine lichtinduzierte Ladungstrennung ist ein Yoctobrunnen auf festerUnterlage (Seite 139 f), dessen Boden von einem Elektronendonor-Porphyrin ge-bildet wird und an dessen oberen Rand, in einem Abstand von einem Nano-meter, ein Akzeptorchinon fixiert ist. Die Bestrahlung mit sichtbarem Lichtführt hier zur längerfristigen Oxidation des Porphyrins und Reduktion des Chi-nons (Abb. 6.18).

Von wirtschaftlichem Interesse ist eine photochemische Wasserspaltungkaum, weil die künstliche Sauerstoffentwicklung sehr aufwendig ist und außer-dem genug Sauerstoff für alle in der Atmosphäre vorhanden ist. Interessant istaber die Freisetzung molekularen Wasserstoffs aus Wasser mit Sonnenlicht undbilligen Reduktionsmitteln wie Glucose. Auch hier helfen, zumindest in erfolg-reichen Laborversuchen, Porphyrinsysteme in Lösung. Die leicht zugänglichenZinn4+-Komplexe der Porphyrine weisen zum Beispiel einen extrem elektronen-armen Porphyrinliganden auf, der sich ähnlich wie NAD+ (Seite 273) verhält. Erlässt sich mit Sonnenlicht und irgendeinem Amin oder Glucose zu einemHydrid reduzieren, das in Gegenwart von Platinkatalysatoren Wasserstoffgasentwickelt, mit dem man dann Auto fahren oder Elektrizität und Wärme erzeu-gen könnte (Abb. 6.19).

6.3 Chlorophyll und Protoporphyrin 277

Abb. 6.18 Oben: Modell eines Yoctobrun-nens mit einem „Long-Distance-Redoxpaar“,unten das elektronengebende Porphyrin,zum Beispiel ein Magnesiumporphyrin oderChlorophyll, darüber in einem 1 nm Abstandein elektronenaufnehmendes Chinon. Die er-

zwungene weite Entfernung verhindert diesofortige Rekombination des energiereichenElektrons mit dem energiereichen Elektro-nenloch. Unten: Ein Chinon nimmt ein Elekt-ron auf und wird zum Semichinon-Anionra-dikal.

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Einfach substituierte, symmetrische Porphyrine lassen sich leicht kiloweise,bei Bedarf auch tonnenweise herstellen, weil Pyrrol-Polymerisierungen sichbeim Tetramer durch intramolekulare Zyklisierung leicht abbrechen lassen. Por-phyrine entstehen dann mit 70% Ausbeute. Ähnliche „Vierermotive“, die sichspontan bilden, finden sich in der Stärkehelix der Stärke, wo vier Glucosemo-leküle den kleinstmöglichen Schraubengang bilden (Seite 89 f), in der �-Helixder Proteine mit vier Aminosäuren (Seite 194) und in der DNS mit vier Nu-cleinsäurepaaren (Seite 234).

6.4Oxyhäm

Elementares, metallisches Eisen spielt weder in der Biologie noch in der Geo-logie eine Rolle. Es ist ein ausschließlich technisches Produkt der Verhüttung,d. h. der Reduktion von Eisenoxiden mit Kohle. Im Zentrum des Protoporphy-rins des Bluts fügt sich Eisen als zweiwertiges Ion mit zwei positiven Ladun-gen, Fe(II) oder Fe2+, ein und ersetzt die beiden NH-Protonen. Der Eisenkom-plex des Protoporphyrins heißt Häm, „Blutfarbstoff“ (griech. haima, Blut). Dietatsächlich gemessene und berechnete Ladung des Eisenions im Häm ent-spricht aber nur Fe0,3+, also trägt das Protoporphyrin auch nur eine drittel nega-tive Ladung, [Protoporphyrin]0,3–. Das Eisenion des Häms entspricht demnachviel eher einem elektronenreichen Eisenatom ohne Ladung, Fe0, als einem Ei-sen(II)-Ion, Fe2+. Das Oxidationspotenzial des Fe(II)/Fe(III)–Paars im Häm liegt

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren278

Abb. 6.19 Die Oxidationspotenziale (x-Ach-se) und Reduktionspotenziale (y-Achse) derBildung von positiv und negativ geladenenRadikalen aus Metalloporphyrinen sind ext-rem variabel, wenn das Metall sich ändert:Magnesiumkomplexe (Mg) lassen sich mitIod oxidieren (0,5 Volt), aber mit keinem Re-

duktionsmittel in Wasser reduzieren (–1,7Volt). Zinn(IV)-porphyrine lassen sich leichtphotoreduzieren (–1,1 Volt), aber nicht oxi-dieren (+1,4 Volt). Magnesiumporphyrinesind deshalb besonders gut geeignet, Elekt-ronen abzugeben und Wasser mit Hilfe desSonnenlichts zu Wasserstoff zu reduzieren.

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nur etwa 170 mV höher als das biologischer Medien, die üblicherweise bei30 mV liegen und damit dem Wasserstoffpotenzial, H2/2H+, entsprechen. AuchHäm wirkt stark reduzierend.

Wenn das Zwerchfell sich senkt, ziehen sich die Alveolen zusammen und bla-sen das Kohlendioxid beim Ausatmen ab, das bei der Oxidation der Nahrungdurch Sauerstoff entsteht. So wird verhindert, dass sich Protonen der Kohlen-säure, H2CO3, im Blut anreichern, dessen pH wird bei 7,2–7,4 gehalten. Wenndas Zwerchfell beim Einatmen den Brustkorb hebt, erweitern sich die Lungen-bläschen (Seite 138) und der Sauerstoff der Luft wandert in die roten Blut-körperchen (Erythrocyten) und gleitet mit ihnen in das biologische Wasservolu-men Blut. Jetzt sollte eigentlich Katastrophenalarm herrschen, denn Sauerstoffist ein starkes Oxidationsmittel, hat das gleiche Oxidationspotenzial wie tödlichgiftiges Chlorgas, Blut aber ist mit einem Potenzial von dreißig Millivolt so re-duzierend wie Wasserstoff. Sauerstoff sollte eigentlich ein tödliches Gift fürLunge und Gehirn sein; schon die durchschnittlich vierzehn Atemzüge einerMinute sollten jeden Menschen töten. Chlor zerfrisst tatsächlich die Lungen-bläschen in Minuten, mit dem Biradikal Sauerstoff (Seite 14) aber gedeihenMensch und Tier viele Jahrzehnte (Abb. 6.20). Wie kann das sein?

Physikalisch in Wasser gelöster Sauerstoff ist relativ harmlos, weil nur weniggelöst wird und weil sein paramagnetischer Zustand nicht zu dem diamagneti-schen Zustand der Baustoffe des Körpers passt, zu denen auch die Erythrocytenund Alveolen gehören. Man erinnere sich daran, dass die Bildung neuer che-mischer Bindungen an die Paarung von Elektronen mit antiparallelem Spingeknüpft ist. Der riesige Potenzialunterschied zwischen den Lebewesen unddem eingeatmeten Sauerstoff kommt nur deshalb nicht zum Tragen, weil dieenergiearmen, schon gepaarten Elektronen des Körpermaterials nicht wissen,wie sie mit den ungepaarten Außenelektronen des Sauerstoffmoleküls reagierensollen. Kein Orbital passt, und so passiert chemisch zunächst gar nichts.

In dieser Phase der Unentschlossenheit greift das reduzierende Eisen desHäms mit seinen Polypenarmen (Seite 267) zu. Das elektronenreiche Fe0,3+

6.4 Oxyhäm 279

Abb. 6.20 Sauerstoff diffundiert über die Membra-nen der Alveolen in die Erythrocyten und wirddort vom Hämoglobin gebunden. Kohlendioxidverlässt das Blut auf dem entgegengesetzten Wegund landet in einem relativ großen Lungenreser-voir an gasförmigem CO2. Im Gleichgewicht istsehr wenig Kohlensäure H2CO3 im Blut, aber sehrviel Kohlendioxid im Gasraum der Lunge.

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nimmt das Sauerstoffmolekül O–O mit einem Oxidationspotenzial von 1,3 Vauf; man erwartet die vollständige Oxidation des Fe(II) zu Fe(III), wobei sichdie Farbe des Häms von Rot nach Braun verändern sollte. Diese Reaktion wirdin Lösung auch immer beobachtet, nicht aber im fließenden Blut des Körpersmit einem Reduktionspotenzial von 30 mV.

Eisen(II) bleibt im sauerstoffbeladenen Blut Eisen(II) und lagert den Sauer-stoff mit einem Trick an, ohne oxidiert zu werden: Das Häm-Eisen gibt zwarzuerst ein Elektron ab, holt es sich dann aber zum Aufbau einer Rückbindungwieder zurück – es entsteht das Oxyhäm mit einer Fe=O2-Doppelbindung untereinem 120�-Winkel zwischen der Porphyrinebene und dem Sauerstoffmolekül.Das rote Häm beseitigt im Oxyhäm damit erstens den Biradikalcharakter desSauerstoffs und zwingt ihm außerdem eine endständige negative Ladung auf.Ein elektronenreiches, nicht oxidierend wirkendes Sauerstoff-Molekül ist ent-standen, das im reduzierenden Blut gefahrlos durch den Körper reisen kann.Nach außen ist das Sauerstoffmolekül eher zu einem Reduktionsmittel gewor-den, nach innen ist es doppelt gebunden. Insgesamt hat es seine Oxidations-kraft verloren – es ist entschärft (Abb. 6.21).

Nun bleibt nur noch, das Oxyhäm in ein wasserlösliches Protein einzubauen,denn von allein löst es sich bei pH= 7 kaum. Um dem Abhilfe zu schaffen undaußerdem die Autoxidation des Häms zu Hämatin mit einem Fe(III)OH-Ionoder einem Fe(III)OFe(III)-Dimer in der Mitte zu vermeiden, wurde das Hämvon der Natur mit einem schützenden, kugelförmigen Protein (Globin) umge-ben, das kompakt ist, den gebundenen Sauerstoff als tetrameres Hämoglobin inden fließenden Blutkreislauf trägt und schließlich als fixiertes Myoglobin-Mono-mer (griech. myos, „Fleisch“) in den Muskeln endet.

Der Blutfarbstoff Häm ist hier eng von fünf gefalteten Proteinschrauben(„alpha-Helices“) umhüllt, die eine nach außen offene, hydrophobe Kammerbilden. Die beiden Säuregruppen am unteren Rand des Protoporphyrins ragenin das umgebende Wasservolumen des Bluts, eine der Proteinhelices drücktdem Eisenatom einen Imidazol-Liganden auf, der senkrecht zum Porphyrinringsteht und das Eisenatom weiter mit Elektronen belädt. Das Eisenatom steht

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren280

Abb. 6.21 Strukturformeln des Häms (Eisen(II)-protoporphy-rin) und des Oxyhäm-Eisens. Das Sauerstoffmolekül stehtüber der Porphyrin-Ebene unter einem Winkel von 121�.

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55 pm oder 0,055 nm über der Porphyrinebene und bewegt sich um 30 pm hinzum molekularen Sauerstoff, wenn dieser von den Alveolen in die Erythrocytendiffundiert. Das ist der molekulare Beginn der Atmung.

Auf der dem Imidazol gegenüberliegenden Seite des Häms beißt sich der Sau-erstoff unter einem Winkel von 121� zur Hämebene fest und verharrt in dieserStellung im Hämoglobin des Bluts ebenso wie im Myoglobin der Muskeln. Myo-globin ist ein monomeres Protein (Molmasse 15 000 Dalton), Hämoglobin einTetramer (60 000 Da). Beide liefern dem Sauerstoff eine hydrophobes Volumenvon ein paar Yoctolitern, beide verhindern, dass ein zweites Häm-Molekül dasSauerstoffmolekül zu Wasser reduziert und eine Fe(III)OFe(III)-Brücke bildet.Das mit Sauerstoff beladene Blut hat so ebenso wie der Muskel noch immerein Potenzial von null Volt, was dem reduzierenden Potenzial des Wasserstoffsgegenüber dem Proton entspricht. Alle biologischen Gewebe, wie die Bakterienzur Verdauung im Dickdarm, die Wände der Lungenbläschen oder die Schwell-körper des Penis, bleiben im engen Kontakt mit Oxyhämoglobin unverändert(Abb. 6.22).

Arterielles Blut mit Oxyhäm ist rot, venöses Häm-Blut mit viel weniger Sauer-stoff, aber einem halben Liter gasförmigem Kohlendioxid pro Liter ist blauvio-lett. Das sieht man den bläulich-violetten Venen und Krampfadern von außenunter roter Haut an.

Sauerstoff ist nicht das einzige Gas, das an das Eisen(II) des Hämoglobins bin-det, ohne es zu oxidieren. Viel fester binden zum Beispiel Kohlenmonoxid COund das radikalische Stickstoffmonoxid NO. Alle drei Moleküle liegen über demEisenion und der Porphyrinebene, alle drei verändern das sichtbare Spektrumdes Porphyrins. Das Hämoglobin mit seinem Imidazol-Liganden auf einer Seitedes Eisens (siehe unten) hat nur eine sichtbare Bande mit einem Absorptionsgip-

6.4 Oxyhäm 281

Abb. 6.22 Schema der vier hydrophoben Helices F, G, E, Bdes Myoglobins um den Häm-Sauerstoff-Komplex herum –ein typischer Yoctobrunnen (Abb. 6.18) der Natur. Die Wanddieses Brunnens ist weitgehend hydrophob und schiebt au-ßerdem einen Imidazolring (grün) auf das Eisen, wodurchdieses noch elektronenreicher wird.

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fel (engl. peak) bei 550 nm. CO und O2 spalten diese Bande auf, es erscheinenzwei Peaks bei 530 und 550 nm. Das Radikal NO verbreitert beide Peaks.

Kohlendioxid reagiert nicht mit dem Eisen, sondern bindet locker-kovalent anNH2-Gruppen des Globins. Es gibt im menschlichen Blut auch eine Hämoglo-binsorte (HbA10) mit der hydrophoben Aminosäure Valin am Aminoende derProteinkette. Deren Aminogruppe reagiert im Blut zwar kaum mit Kohlen-dioxid, wohl aber mit der Aldehyd-Gruppe der Glucose; das kurzlebige Aldiminergibt dann ein stabiles Hämoglobin-Ketimin mit endständiger Glucose. Die Po-larität der Glucose ermöglicht eine einfache Abtrennung vom anderen Hämo-globin ohne Glucose und die Farbe des Hämoglobins erlaubt genaue spektro-skopische Messungen des Glucosehäms. Hämoglobin/Glucose/Ketimin-Bestim-mungen ermöglichen eine schnelle Diagnose der Zuckerkrankheit (Seite 209).

Das Sauerstoffmolekül nimmt in der Atemkette von der Glucose über NADHund einen Komplex von Häm-Zellfarbstoffen (Cytochromoxidase) Elektronenauf und gibt Protonen zur ATP-Synthese ab. Dutzende von biochemischen Zwi-schenprodukten sind an metabolischen Kreisläufen (Citronensäure, Glycolyse,Fermentierung und andere) beteiligt und werden durch Hunderte von Enzymenkontrolliert. Als Ergebnis liefert ein Glucosemolekül (180 g/mol) 36 ATP-Moleküle(18 252 g/mol), also die hundertfache Masse. Für die maximal etwa 100 kg ATP,die ein Mensch täglich verbraucht, benötigt er also 1 kg Glucose oder 700 g Fett.

Wir kümmern uns nicht weiter um das biochemische Geschehen im Netz derAtemkette und ihrer angeschlossenen Kreisläufe und Verzweigungen, sondernversuchen nun zu klären, wie die Oxidation von Nahrungsstoffen im wässrigenund reduktiven biologischen Milieu prinzipiell funktioniert. Besonders klar wirddas im Cytochrom P450 der Mitochondrien. Hier sorgt das Häm-Molekül, das imBlut den Sauerstoff entschärft, nach Modifikation des Eisenliganden und der nä-heren Umgebung des Porphyrins für eine extreme Aktivierung des Sauerstoffs:Das O2-Molekül wird an einem einzigen Häm-Molekül mit NADH zu Wasser re-duziert und gleichzeitig ein aggressives O-Atom an Fe(IV) erzeugt.

Zuerst erfolgt die geregelte Übergabe der Sauerstoffmoleküle vom Hämoglo-bin an den Kollegen Cytochrom P450 innerhalb der Zellen der Organe, die mitBlut versorgt werden. Jede von ihnen enthält Tausende von Verbrennungsöfennamens Mitochondrien (griech. mitos, „Faden“; chondros, „Korn“), die das P450enthalten. P steht für „Porphyrin“, 450 weist auf die intensive kurzwellige Ab-sorptionsande hin, die für alle Porphyrine typisch ist. Der Gipfel dieser Bandeliegt fast immer nahe 400 nm, ist aber im Kohlenmonoxidkomplex des P450durch einen elektronenreichen Sulfid-Liganden am Eisen(II) langwellig nach450 nm verschoben. Kohlenmonoxid wird in geringer Menge beim Abbau desOxyhäms zu Biliverdin frei und entsteht bei jeder unvollständigen Verbren-nung, zum Beispiel in den Abgasen der Autos und in Feuern jeder Art.

Das Sulfid-Anion ist groß und polarisierbar (Seite 268) und stülpt seine Elekt-ronenwolke über das Eisen-Ion hinweg zum Kohlenmonoxid-Molekül, das mitseinem elektronegativen Kohlenstoffatom am Eisen ankert. Die Reduktionskraftdieses Eisen(II)-Schwefel-Systems reicht auch aus, um ein Sauerstoff-Molekülmit Hilfe eines Elektronenpaars vom NADH in ein OH–-Anion und ein extrem

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren282

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reaktives Sauerstoffatom zu spalten. OH– greift sich ein Proton und verschwin-det als Wasser, das Sauerstoffatom bleibt zunächst an das Hämeisen gebunden.Mit nur noch sechs Elektronen zieht es die Elektronen des Fe(II) zu sichherüber. Aus Eisen(II) wird vierfach positiv geladenes Eisen(IV) und das gebun-dene Sauerstoffatom verbrennt alles, was ihm zugeführt wird. Das betrifft vorallem die gängigen Nahrungsmittel, Zucker, Fette, Proteine – allgemein als RHaufzufassen. RH wird mit O zu ROH; diese wasserlöslichen Produkte ver-schwinden schnell aus den Mitochondrien und stören weder das Reduktions-potenzial der Zelle, noch lösen sie radikalische Kettenreaktionen aus. Die kon-stant niedrige Körpertemperatur von 37 �C wird eingehalten (Abb. 6.23).

6.4 Oxyhäm 283

Abb. 6.23 Reaktionszyklus von Cytochrom P450 mit einem orga-nischen Nahrungsmittel RH, einem Sauerstoffmolekül und derSH-Gruppe eines Cysteins (Cys-S). Letzteres wird mit NADH(e–) zu einem Atom reduziert und schiebt sich dann unter redu-zierenden biologischen Bedingungen in eine C–H- Bindung ein.

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Das war das wichtigste über Sauerstoff, Gallenfarbstoffe, Chlorophyll undHäm. Ein paar Bemerkungen zum Atemkreislauf führen uns in das tägliche Le-ben mit diesen Molekülen, also ihre Bio-logie.

Das Zentrum der biologischen Verbrennung im Menschen ist das Herz. DieEnergiequellen des Herzens sind im Gegensatz zu denen des Gehirns, das nurGlucose verwertet, vielfältig. Glucose ist im Herzmuskel nur zu 10–30% an derEnergiezufuhr beteiligt, 35–60% der Energie stammen aus Fetten, die in denMitochondrien des Myokardmuskels zu Essigsäure abgebaut und dann zu Koh-lendioxid verbrannt werden.

Das Herz ist ein Hohlmuskel mit zwei Vorhöfen als Zuflussreservoirs undzwei Ventrikeln, Pumpen für Körper- und Lungenkreisläufe, deren Wände sichrhythmisch zusammenziehen („kontrahieren“) oder erschlaffen („dilatieren“).Vier Klappen verhindern als Ventile das Rückströmen des Bluts aus den Ventri-keln in die Vorhöfe und aus den Arterien in die Ventrikel. Die Herzklappensind taschenförmig (Aortenklappe und Pulmonalklappe) oder segelförmig (Mit-ralklappe und Tricuspidalklappe). Wenn sich die Segelklappen zwischen Vorhofund Herzkammern öffnen, schließen sich die Taschenklappen und umgekehrt.Die Mitralklappe regelt den Blutfluss zwischen Vorhof und linker Herzkammer,die Aortenklappe den zwischen linker Herzkammer und Aorta, die Tricuspidal-klappe trennt den Vorhof von der rechten Herzkammer und die Pulmonalklap-pe liegt zwischen rechter Herzkammer und Lungenarterie.

Hormone, Nerven und Gehirn steuern die Automatik des Herzschlags. DieSystole entspricht der aktiven Anspannungs- und Austreibungszeit beider Ven-trikel. Während der Anspannungszeit sind alle vier Klappen geschlossen. Dannöffnen sich Aorta und Pulmonalklappen. Es folgt die passive Diastole. Die Ven-trikel erschlaffen, die Vorhofklappen öffnen sich und Blut füllt beide Ventrikelwieder. Dabei hilft eine Kontraktion der Vorhöfe. Der Druck in den Ventrikelnsteigt wieder und die nächste Systole folgt. Ein typischer Herzschlag dauert eineSekunde – wenn die Muskeln viel Blut brauchen, nur eine halbe oder gar drittelSekunde. Das bei einem Herzschlag ausströmende Blutvolumen liegt bei60–70 mL, ebenso viel bleibt in den Ventrikeln zurück.

Ein höherer Blutdruck zieht ein geringeres Schlagvolumen nach sich. Dermit Manschetten gemessene Blutdruck am linken Oberarm in Höhe des Her-zens entspricht der roten Aortakurve in Abbildung 6.24. Sie zeigt, dass Arteriennie vollkommen erschlaffen; der systolische Druck ist kaum höher als der dias-tolische. In der systolischen Phase hört man das Blut pulsen, wenn es sich trotzManschettendrucks turbulent durch die verengten Gefäße drängt. Beim Errei-chen des diastolischen Drucks setzt der normale, ruhige Fluss ein, das hörbarePulsieren erlischt (Abb. 6.24).

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren284

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Das Einatmen, die Ausdehnung der Lunge, besorgt eine sich periodisch an-spannende dünne Muskelplatte zwischen Brust und Bauch, das Zwerchfell. Aufihm ruht die Lunge, getrennt durch ein Wasserpolster und einen Luftspalt. DerBrustraum dehnt sich, die Lunge weitet sich und saugt Luft über Luftröhre undBronchien an. Die Regulierung des Rhythmus und der Tiefe der Atemzüge er-folgt durch das Atemzentrum im Gehirn, das zuerst den Kohlendioxid-Gehaltim Blut misst und dann die Atmung steuert. Eine Verletzung des Atemzen-trums oder fünf Minuten Sauerstoffmangel im Hirn führen zum Tod.

Erschöpfung beruht immer auf Sauerstoffmangel. Das Herz kann bei andau-ernder Anstrengung nicht mehr heftiger und rascher schlagen, um mehr Sauer-stoff in den Körper zu pumpen. Es ermüdet. Bei geistiger Arbeit laufen im Ge-hirn Hunderttausende von Reaktionen in einer Sekunde ab. Sie verbrauchenmindestens ebenso viel Energie wie körperliche Arbeit, Erschöpfung tritt beibeiden gleichermaßen ein. Menschen mit großem Kopf sind im Alter (statis-tisch gesehen) geistig leistungsfähiger als solche mit einem kleinen Kopf: Dasvoluminöse Gehirn verschafft dem Gedächtnis und den miteinander verbunde-nen Wasserwegen eine Reserve.

Willentliches Luftanhalten führt bald zu Schwindelgefühlen. Diese schaltendann über das Atemzentrum den Nach-Luft-Schnappen-Reflex ein, ob wir wol-len oder nicht.

6.4 Oxyhäm 285

Abb. 6.24 Phasen des Herzzyklus im linkenVentrikel (blau, oben) und in der Aorta, diedas Blut in den Körper führt (rot, oben). Imrechten Ventrikel für den Lungenkreislauf(unten) ist der Zeitverlauf der gleiche, aberder Druck wesentlich kleiner. Die blau-rotenZeitintervalle ganz unten geben den Rhyth-mus der Öffnung (blau) und Schließung(rot) der vier Herzklappen wieder. Wenn derDruck in den Ventrikeln eben den Druck in

den Arterien übersteigt, öffnen sich dieHerzklappen und das Blut strömt heraus.Nach knapp 300 ms sinkt der Ventrikeldruckund die Klappen schließen sich für 700 msdurch einen kurzzeitigen Rückstrom. DieKlappen auf der anderen Seite, der Vorhof-seite, schließen sich gegenläufig: Sie lassenBlut aus Körper oder Lunge einlaufen, wennes gebraucht wird, und schließen sich, wennherausgepumpt wird.

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In großen Höhen wird die Luft sehr trocken, dünn und kalt. Der Körper gibtmit jedem Atemzug Wasser ab und erhält keines zurück. Das bedeutet in extre-men Höhen über 6000 m bis zu 6 L Wasserverlust am Tag. Der Bergsteigermuss zu trinken bekommen, sonst dickt das Blut ein, das Herz pumpt nichtmehr richtig. Zunächst erfrieren Hände und Füße, dann geht es zu Ende.

Der Luftraum unserer Lunge wird durch allergische Reaktionen oder bakte-rielle Infektionen kleiner: Die Bronchien verengen sich, die Schleimhautschwillt und sondert viskoses Sekret ab. Asthmatiker atmen dann schwer.

Das Herz muss ein Leben lang gegen Bronchialasthma, exzessives Lauftrai-ning und Bodybuilding anarbeiten. Im Alter ist der Herzmuskel geschwächt,die Muskelfasern sind dick. Der Sauerstoff im Blut wird weniger und das Aus-atmen, bei dem die Atemröhren von Muskeln zusammengezogen werden, wirdzur Qual. Gewitterböen und jeder Frühlingssturm mit heftigem Pollenflug ver-schlimmern die Lage. Bei jedem schnellen Gehen meldet sich die Herzgegendmit einem warnenden Schmerzgefühl der Überlastung – Angina pectorismahnt. Wir gehen nun langsamer, die Warnung hat gewirkt, wir sind älter ge-worden. Oder wir waren schon immer faul und sind korpulent, um es höflichzu sagen. Die Angina pectoris ist in beiden Fällen dieselbe.

Bemerkenswerterweise lässt sich Sauerstoffmangel am Herzen auch durchStickstoffmonoxid „beheben.“ Bei Angina-pectoris-Patienten meldet sich das Herzim Schmerzzentrum des Gehirns, sobald es Sauerstoffmangel spürt. DieserSchmerz verschwindet sofort wieder, wenn eine kleine Dosis Nitroglycerin-Lösung in die Mundschleimhäute gesprüht wird. Das reduzierende Mediumdes Körpers setzt daraus Stickstoffmonoxid frei, das wohl nicht an das massenhaftvorhandene Hämoglobin oder Myoglobin bindet, wo es verloren ginge, sondernzielsicher das Häm der GMP-Cyclasen ansteuert, die offenbar nur milligramm-weise vorkommen und deshalb massiv von jeder Spur NO gestört werden.

Erst wird dort vermutlich das Histidin des Eisens verdrängt, woraufhin dasEnzym als Katalysator für Kondensationen wirksam wird und aus GMP dascGMP erzeugt. Die Venen erweitern sich. Schließlich muss das NO aber des-aktiviert werden, um nicht dauerhaft zu wirken. Das könnte durch SH-Gruppenvon Proteinen an der Oberfläche der Blutplättchen erfolgen, wo dann zweiSNOH-Gruppen zwei miteinander verklebte Erythrocyten auseinander treibenkönnten. Die würde tatsächlich und wunderbarerweise die Zahl der zugäng-lichen Sauerstoffmoleküle vergrößern. Egal – das Herz reagiert dankbar, ob esnun weiß, weshalb, oder nicht.

Auch der „steife Hals“ ist die Folge einer Durchblutungsstörung. Es zieht –der Körper ist warm, der Hals wird kalt. Das Blut fließt dort zu langsam, dieGewebe verändern sich. Abkühlung schwächt die Abwehrkräfte. Viren und Bak-terien, die man sonst beherrscht, bekommen die Oberhand zuerst in den obe-ren Luftwegen. Schnupfen und Husten folgen. – Nach dem Essen folgt die Ver-dauung. Dazu strömt Blut in Magen, Darm, Leber und Niere. Baden in kaltemWasser ist jetzt verboten. Das Zittern der Muskeln, das die Zähne klappern lässtund Wärme erzeugt, verbraucht noch mehr Sauerstoff und lässt das Gehirn ver-

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hungern. Es wird nicht mehr ausreichend durchblutet, Schwindelgefühle,schlimmstenfalls Ohnmachtsanfälle, folgen.

Die Pfortader ist ein mächtiges Blutgefäß, das Nährstoffe vom Darm zur Le-ber führt, der chemischen Fabrik des Körpers. Eine vernarbte Leber wird derBlutfülle nicht mehr Herr, Blut staut sich zurück, tropft zurück in die Bauch-höhle und treibt den Bauch auf.

Die dunklen Ringe unter den Augen zeigen uns am Ende unserer Kräfte. Diedünne Haut der unteren Augenhöhle spannt sich im lang gezogenen Gesichtdes Ermüdeten und das dunkle Blut scheint blauschwarz hindurch.

Ein harter Boxschlag auf das Sonnengeflecht (Solarplexus) unterhalb desBrustbeins, im Dreieck zwischen den Rippen, erzeugt reflexartig hohen Blut-druck und schnellen Herzschlag. Atemnot und Bewusstlosigkeit folgen, der Ge-troffene bricht ohnmächtig zusammen.

Wundliegen im Bett beruht auf dem Absterben von Zellen, auf denen wirlange gelegen haben und die nun nicht mehr mit Blut und Sauerstoff versorgtwerden. Proteinreiche Kost und Entzündungshemmer lassen Zellen unterDruck länger am Leben.

Schnelles Atmen nützt nicht bei Sauerstoffmangel, die Luft erreicht die Lungedann nur zum Teil. Tiefe Atemzüge sind auch kein Mittel, um das Blut zu versor-gen. Sie lassen nur das CO2 länger im Blut und jedem tiefen Atemzug folgt Atem-not. Bläst man aufgeregt und intensiv das Kohlendioxid ab, wird das Blut irgend-wann alkalisch, der Calciumspiegel sinkt, Nerven und Muskeln verkrampfen.Man hält dann am bestens seine hohle Hand vor Mund und Nase, atmet so daseigene Kohlendioxid wieder ein und der pH des Blutes fällt. Innerhalb einer Nachtatmen wir etwa 130 L Kohlendioxid aus, die in einem kleinen geschlossenenRaum wie ein mildes Narkosemittel wirken. Wenn man beim Singen zu tief ein-atmet, führt auch das schnell zur Atemnot. Besser ist Abatmen so schnell es geht.Unbewusst zu atmen oder bewusst locker und schnell abzuatmen wird von Chi-nesen empfohlen,

Krämpfe in der Wadenmuskulatur entstehen durch zu wenig Sauerstoff undzuviel Kohlendioxid im Blut. Der angenehme Schlaf bei offenem Fenster beruhtnicht auf der Sauerstoffzufuhr, sondern auf dem Kohlendioxid-Abtransport.Eine offene Tür zur Wohnung tut es also auch und die deutsche Winterkältebleibt draußen.

In erster Linie versorgt der Blutkreislauf die Körperzellen mit Sauerstoff undNährstoffen. In der Aorta strömt das Blut mit einer Geschwindigkeit von etwa25 cm/s oder 9 km/h. In den Kapillaren ist es 100- bis 500-mal langsamer. Auchdie Beschreibung des Blutkreislaufs führt zu einigen auf den ersten Blick absur-den Behauptungen. Eine davon ist: 150% des Bluts zirkulieren in Kapillaren.Diese Zahl kommt dadurch zustande, dass sämtliches Blut (100%) am kapillä-ren Blutstrom der Lunge beteiligt sein muss, denn nur dort wird es mit Sauer-stoff beladen. Außerdem fließen aber 40% des Blutvolumens durch Niere undGehirn und mindestens 10% durch kapilläre Bereiche der Leber, Milz und desMagen-Darm-Trakts. 150% bedeutet hier also einfach, dass jedes Blutvolumen

6.4 Oxyhäm 287

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nacheinander mehrere Aufgaben zu erfüllen hat und nicht einfach „nur“ fließt.Fast alle „Arbeit“ des Blutstroms fällt in Kapillaren, im Kontakt mit Zellen, an.

Die Kapillarwände sind typischerweise etwa 500 nm dick und für Proteineund Zellen mehr oder weniger undurchlässig, für die selektive Aufnahme undAbgabe kleiner Moleküle aber gut ausgerüstet. Die Absorption aus den Zellendominiert an venösen Enden, die Abgabe in die Zellen am arteriellen Ende derKapillaren. Der Blutkreislauf ist eine äußerst effiziente Einheit und übernimmtviele Reparatur- und Abwasserdienste (Seite 43 ff).

Erschrecken wir, so verengen sich die Blutgefäße und wir werden blass. BeiScham und Wut erweitern sich die Arterien und die Haut wird feuerrot.

Blut wird fest, wenn es aus einer Wunde strömt. Es bildet einen Schorf. Ander „Blutgerinnung“, der Bildung eines harten Netzes aus dem Protein namensFibrin, sind zehn Faktoren beteiligt. Fehlt nur einer, findet die Fibrinbildungnicht statt. Das komplizierte Kontrollsystem, mit jeder Komponente in strengerräumlicher Abtrennung, erlaubt nicht, dass das Blut innerhalb der Gefäße ge-rinnt, also eine Thrombose erzeugt. ADP ist ein aktivierender Faktor derThrombocyten-Aggregation bei der Blutgerinnung. Die CyclisierungsproduktecAMP und cGMP wirken dem entgegen.

In einer ruhenden Blutprobe sedimentieren die Zellen und Zellaggregate ent-sprechend dem Hämatokrit-Wert, das ist die Masse der in einem Volumen ent-haltenen Zellen. Die „Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG)“ ist bei anämischenPersonen hoch, das heißt, die festen Bestandteile setzen sich umso schnellerunten ab, je mehr große Aggregate vorliegen, die auf Entzündungen hinweisen,und je weniger Erythrozyten vorhanden sind (Erythrocytenmangel = Anämie).Die Viskosität des Bluts hängt von der Konzentration der Erythrocyten ab, diesehr viel höher ist als die der etwa gleich großen weißen Blutkörperchen (Leu-kocyten). Beim Erwachsenen liegt ihre Anzahl etwa bei 25 Milliarden, in jedemKubikmillimeter Blut sind etwa fünf bis sechs Millionen. Etwa 95% des Tro-ckengewichts der roten Blutkörperchen sind Hämoglobin. Die mittlere Lebens-zeit liegt bei 120 Tagen. Sie müssen bis zum Tode täglich in riesiger Anzahlproduziert werden, was ein Hauptproblem für die Krebstherapie darstellt, dieeine Vermehrung von Zellen behindern soll.

Auch bei Erwachsenen und Alten kann man nicht einfach jede Zellteilungfür längere Zeit unterbinden; dann ginge der Sauerstoff bald zur Neige. DieErythropoese, die Geburt der Erythrocyten, findet im Knochenmark statt, wosich normale „Stammzellen“ teilen und erst ihren Kern, dann ihre Mitochon-drien und Ribosomen abgeben, bis nur noch ein leicht verformbarer, elastischerHämoglobinsack übrig bleibt. Ohne Zellteilung gibt es keine Stammzellen undbald keine Erythrocyten mehr. Auch für diese Biosynthese liefert Glucose dienötige Energie durch Glycolyse.

Die Elastizität der Erythrocyten in den Kapillaren des Blutkreislaufs ist ebensowichtig wie die Elastizität der Blutgefäße und ihrer Muskeln. Solange die trei-bende Kraft des Herzens die Starrheit der Erythrocyten überwiegt, drängeln sichdie Blutzellen in enge Kapillaren und verformen sich dabei, wenn nötig. StarreErythrocyten aber, die die Mikrozirkulation in Milz, Niere, Knochen und Augen

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren288

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nicht schaffen, verstopfen die Kapillaren und müssen schnell eliminiert wer-den.

Die Erhöhung der Blutviskosität ist eine der wesentlichen Komplikationen beiDiabetes. Sie wird vor allem durch Erythrozytenaggregate und steife Erythrozy-tenmembranen hervorgerufen. Im Laborversuch wurde gefunden, dass Glucosedie Steifheit der Erythrocytenmembran erhöht; Membranproteine bilden wahr-scheinlich in ähnlicher Weise Glucoside wie Hämoglobin und werden dabei hy-drophil, die Fluidität der Membran schwindet. Besonders kritisch sind die en-gen Kapillaren und ihre Eingänge – die Strömung der Erythrozyten ist hierlangsam, Glucose klebt an den Nanoporen und die Verweilzeit wird lang, wenndie Konzentration im Blut hoch ist und die Zellen Lipide absondern (Abb.6.25).

Wollte man die Körperzellen eines einzigen Erwachsenen künstlich in einemFermenter züchten, so brauchte man 200000 L Nährflüssigkeit und 1000000 LLuft. Der menschliche Körper mit seinen 50 L Wasser ist offenbar besser geeignet.

Zum Schluss ein paar zusammenfassende Worte zu den Oxidationen mitSauerstoff, die für den zivilisierten Menschen so wichtig sind. Sie heißen At-mung, wenn sie bei Temperaturen unterhalb von 40 �C ablaufen, Feuer, wennWälder, Gasherde, Streichhölzer, Zigaretten oder Kerzen bei 400–800 �C brennenund dabei elementaren Kohlenstoff abrußen und Explosionen, wenn sie in tech-nischem Gerät bei 1000 �C in den Verbrennungsöfen der Motoren und Elektrizi-tätswerke ablaufen. In jedem Fall geht Kohlendioxid in die Atmosphäre über,treibt die Photosynthese der Pflanzen an, erzeugt wieder Glucose (vor allem alsHolz) und damit neues Verbrennungsmaterial. Der Mensch lebt seit vielen Jahr-tausenden vom warmen Feuer seiner Atmung und genießt den Luxus des Ko-chens, der Wärme, des künstlichen Lichts und des Reisens. Auch das Papier,

6.4 Oxyhäm 289

Abb. 6.25 Erythrocyten sind eingedellte Scheiben ohne Zell-kern mit einem Durchmesser von 7,5 �m. In Kapillaren verfor-men sie sich.

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auf das er seine Bücher und Zeitungen druckt, ist ihm wichtig und er ver-brennt dafür riesige Mengen Lignin.

Die Zivilisation des Menschen ist, in materieller Sicht, nicht als eine giganti-sche Verbrennungsmaschine. Es wird Zeit, diese reversibel zu gestalten: Wasverbrannt wird, muss auch wieder erzeugt werden.

Fragen zu Oxyhäm

1. Was bedeutet Erschöpfung?2. Warum wirkt das NO aus Glycerinnitrat auf Herzschmerzen und Peniser-

ektion?3. Mit reaktiven Quervernetzern kann man jede Zellteilung und Vermehrung

unterbinden. Warum muss man das bei der Krebsbekämpfung (Cytostatika)in Erwachsenen, die doch nicht mehr wachsen, nach ein paar Wochen ab-brechen?

4. Was kommt alles im Blut vor?5. Welches Protein sorgt für die Treue der Präriemäuse?6. Was macht Insulin, wie muss man es spritzen?7. Woraus bestehen Knorpel zu 75%? Diskutieren Sie den Befund.8. Warum lindert das Abatmen Atemnot mehr als tiefes Einatmen?9. Wo stört Ozon, wo nützt es?

10. Gibt es noch andere Oxidationsmittel auf der Erde außer Sauerstoff?11. Warum zittern Muskeln in der Kälte?12. Woher kommen Schwindelgefühle, Erschöpfung, ein steifer Hals und

dunkle Ringe unter den Augen?

6 Oxyhäm: Sauerstoff transportieren und aktivieren290

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(CHOR DER ENGEL) Und der Geist Gottes schwebte auf derFläche des Wassers; und Gott sprach: es werde Licht, und esward Licht.(URIEL, Tenor) Und Gott sah das Licht, dass es gut war. . .Verwirrung weicht, und Ordnung keimt hervor.(Joseph Haydn, Die Schöpfung)

Überblick

�-Carotin ist der orangegelbe Farbstoff der Mohrrüben, Orangen undHerbstblätter, ein Kohlenwasserstoff mit zwölf konjugierten C=C-Doppel-bindungen. Tier und Mensch spalten die mittlere 15,15�-Doppelbindungmit Sauerstoff und erhalten so zwei Retinalmoleküle mit je fünf kon-jugierten C=C-Doppelbindungen und einer endständigen Formylgruppe,–CHO. Danach wird die trans-konfigurierte 11,12-Doppelbindung enzy-matisch in das 11-cis-Stereoisomere verwandelt. 11-cis-Retinal steht am

291

7Retinal: . . . und sah, dass es gut war

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Anfang des Sehprozesses. Sein Absorptionsmaximum für Licht liegt imUV-Bereich bei 320 nm, wird aber durch Einlagerung in das Protein Op-sin ins Sichtbare verschoben, weil dieses einer hydrophoben Matrix mitPunktladungen entspricht, die den polaren, angeregten Zustand stabilisie-ren. Bei der lichtinduzierten cis-trans-Isomerisierung bewegt sich das pro-teingebundene Retinalende um 0,7 nm. Das Protein öffnet dabei eineIonenpore und verwandelt so Lichtimpulse in Ionenströme, aus denendas Synapsensystem des Gehirns bewegte und farbige Bilder zaubert.

Pflanzen leben vom Licht. Sie erkennen die Signale der Frühlingssonne mitPhytochrom (Seite 271), sehen aber die eigenen Blätter und Nachbarpflanzennicht. Jede grüne Pflanze beherrscht die Glucose- und Chlorophyllchemie, Son-ne, Kohlendioxid und Wasser reichen ihr als Unterstützung ihres Lebens. Es istfür keine Pflanze nötig, sich anderen Pflanzen ungebührlich zu nähern, ihr dasLicht zu nehmen, sie zu erkennen oder gar zu jagen, zu fressen und zu verdau-en. Das Leben der Pflanzen ist Jahrmillionen währende Einsamkeit, Sammelnvon Wasser und Licht, Reaktion auf Umweltbedingungen. Sinne, Muskeln undGehirn wurden von pflanzlichen Wasserwegen in Milliarden Jahren nicht ent-wickelt.

Augen und Gehirn zur Verarbeitung wechselnder Schall- und Lichtreize sindoffensichtlich nur für Tiere in der Paarung, auf der Jagd und auf der Flucht le-bensnotwendig. Gräser, Blätter und Zweige dürfen den Zufallsregeln des Win-des folgen, die Bewegung der Tiere aber muss zielgerichtet sein, muss Hinder-nissen ausweichen können, Ziele finden. Von zentraler Bedeutung für die Evo-lution der Tiere und Menschen wurde deshalb das schnelle, zeit- und farbauf-gelöste Sehen im Hellen und im Halbdunkel auf der Basis eines Farbstoffs, dereinfallendes Licht in Ionenströme verwandelt. Hören, Muskeln, Herz und Blut-kreislauf der Tiere und Menschen wären in der Evolution fast bedeutungslos ge-blieben, wenn der Augenschein fehlte. Man wäre nie als „the fittest“ ausgewähltgeworden, sondern der Umwelt gegenüber ratlos geblieben; niemand hätte sie„erklärt“.

Licht ist die einzige schnelle Quelle für Informationen aus der Umwelt, fürdessen Empfang und Primärverarbeitung es ein Molekül gibt, unser siebtesMolekül, das Retinal. Es ist nach dem Wasser das kleinste der sieben Moleküle,ein Aldehyd im Netz der Blutgefäße und Nerven am Grunde des Auges (griech.retina, „Netz“). Das chemische Signal für eintreffende Lichtquanten, der Schal-ter, der die physikalisch-chemisch-biologische Kettenreaktion des Sehprozessesauslöst, ist wie beim Phytochrom (Seite 271) eine cis-trans-Isomerisierung. Nursind die Folgeprozesse beim Sehen milliardenfach schneller und komplexer, alses die Einleitung des Keimprozesses durch Phytochrom ist – es geht nichtmehr um die vorsichtige, langsame Abschätzung der nahen Infrarotstrahlungder untergehenden Sonne, sondern um die millisekundengenaue Koordinie-rung des Gehirns mit Bewegungen, Farb- und Gestaltänderungen.

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war292

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Dafür reichen die fünf C=C- und die eine C=O-Doppelbindung des Retinalsaus. Alle Lichtstrahlen mit Wellenlängen zwischen 400 (blau-violett) und700 nm (rot) werden zu Gehirnströmen verarbeitet, nachdem das Retinal „ge-winkt“ hat. Im Dunkeln ist Retinal ein starres Polyen (griech. poly, „viele“; -ensteht für Doppelbindung), das erst im Licht extrem beweglich wird. In unseremAuge und in dem der Tiere liegt es als 11-cis-Stereoisomer vor, im Licht strecktes sich innerhalb von Pikosekunden zum all-trans-Isomer (Abb. 7.1).

Im Rhodpsin ist die Einfachbindung des 11-cis-Retinals verdrillt, weil die bei-den Methylgruppen an C-10 und C-13 die Protonen an C-11 und C-10 berüh-ren. Diese Verdrillung bleibt im trans-Isomer erhalten; sie steht fast senkrechtauf der ersten Dien-Kette. Bei der Aufnahme eines Lichtquants und der nachfol-genden cis-trans-Isomerisierung bewegt sich das proteingebundene Imin um 0,7nm, was eine Calciumpore im Protein öffnet.

Isoliertes Retinal ist farblos. Sowohl das 11-cis-Retinal als auch das all-trans-Isomer absorbieren nur ultraviolettes Licht (300 nm), während sich der sicht-bare Bereich von 400 bis 700 nm erstreckt. Sonnenstrahlung, die auf der Erd-oberfläche ankommt, hat kaum 300-nm-Anteile. Um das Licht der Sonne„sehen“ zu können, verbindet sich das Retinal mit einem wandlungsfähigenProtein namens Opsin zum Rhodopsin (Opsin plus Retinal gleich Rhodopsin).Die endständige Aldehydgruppe –CHO des Retinals bildet zu diesem Zweckmit der Aminogruppe einer Lysin-Seitenkette des Membranproteins Opsin einImin, –CH=NH, das vom Wasser ein Proton und damit eine positive Ladungaufnehmen kann, –CH=NH2

+. Jetzt hat das elektronenreiche Retinal nicht nursechs Doppelbindungen mit zwölf beweglichen �-Elektronen, sondern auch ei-

Überblick 293

Abb. 7.1 Molekülstrukturen a) des all-trans-Retinals und b) des11-cis-Diastereomers. Rechts: UV-Spektren verschiedener Reti-nal-Imin-Diastereomere. Sie unterscheiden sich nur durch dieIntensität der Banden, aber kaum durch die Wellenlänge oderFarbe.

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nen sehr aktiven endständigen Elektronenakzeptor. Es absorbiert jetzt bereitsblaues Licht mit einer Wellenlänge von 390 nm (also knapp an der Grenze zurSichtbarkeit) und sieht deshalb gelb aus (Abb. 7.2).

Der Opsin-Partner des Retinals aber ist weiter wandlungsfähig: Je nach Be-darf bringt er elektronenabstoßende negative Ladungen (Glutamat) am linkenEnde und elektronenanziehende positive Ladungen (Ammoniumgruppen desLysins und Arginins) am rechten Ende des Retinals an. Die �-Elektronen wer-den so von der Donor- zur Akzeptorseite hinübergezogen und die zur Anre-gung des Polyens nötige Energie so weit herabgesetzt, dass sichtbares Licht zurAnregung der Außenelektronen des kleinen Chromophors ausreicht. Es gibt al-so Rhodopsine für blaues, grünes oder rotes Licht; sie sind in den Zapfen derSehzellen so nebeneinander angeordnet, dass die Kombination einfarbiger Bil-der ein farbiges Bild erzeugt. Das Farbsehen übernehmen im Tageslicht die120 Millionen Zapfen, die im gelb-grünen Bereich besonders empfindlich sind;die sechs Millionen Stäbchen sehen im Dunkeln nur schwarz-weiß und zwar

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war294

Abb. 7.2 Die 0,7-nm-Bewegung des 11,12-cis-Retinals bei derUmwandlung in das all-trans-Retinal (hier gedreht um die Ein-fachbindung 10,11). Diese molekulare Bewegung des Proteinsöffnet Ca2+-Poren und leitet den Sehvorgang ein, die Um-wandlung von Lichtquanten in Ionenströme im Gehirn.

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eher im Langwelligen. So erscheint die rote Blume im Dämmerlicht schwarz,die blaue silbrig-hell (Abb. 7.3).

Das Retinal wird von Tieren und Menschen aus dem massenhaft vorkommen-den Pflanzenfarbstoff �-Carotin hergestellt. Blätter, Gräser und die Mohrrübe(„Karotte“) sind voll davon, Letztere enthält sogar Carotinkristalle. Auch Gold-fische, Apfelsinenschalen und Eidotter sind �-Carotin-gelb. Der reine Kohlenwas-serstoff, ein symmetrisches all-trans-Polyen mit 12 C=C-Doppelbindungen ohneausgeprägte Donor- oder Akzeptorgruppe, absorbiert blaues Licht. Seine Farbeist gelborange, seine Absorptionsmaxima liegen zwischen 450 und 500 nm.

Blätter und Gräser benutzen das Carotin, um Chlorophyll während der Photo-synthese im Sonnenlicht zu schützen (Abb. 7.4). Das gelbe Polyen entschärft va-gabundierende Elektronen und Sauerstoffatome, die das grüne Blattpigment

Überblick 295

Abb. 7.3 Verwandlung des farblosen Retinals in ein Chromo-phor, der in allen sichtbaren Bereichen des Sonnenlichts ab-sorbiert, durch Aufladung des Retinalendes mit Protonen undlokale Polarisierung.

Abb. 7.4 Molekülstrukturund natürliches Vorkommendes �-Carotins. Im Lycopinder Tomaten (etwa 20 mg/kg) sind die Einfachbindun-gen des Sechsrings zur Ket-te neben den beiden Methyl-gruppen gebrochen unddurch eine zusätzliche Dop-pelbindung ersetzt.

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ausbleichen würden. Am Tag nimmt das �-Carotin Sauerstoff auf, wird fastquantitativ zu Canthaxanthin oxidiert und in der Nacht von der Pflanze wiederzurückreduziert. Ein paar hundert �-Carotinmoleküle sorgen so für den Schutzjedes einzelnen Chlorophyllmoleküls im aktiven Photosynthesezentrum (Seite275 f).

Im Herbst stellen die Laubbäume die Photosynthese ein und lassen ihr Chlo-rophyll und ihr Carotin verrotten: Der Luftsauerstoff baut beide ohne Gegen-wehr der Blätter und Gräser zu braunen Farbstoffen ab. Zuerst aber verschwin-det nur das Chlorophyll; �-Carotin und seine Zersetzungsprodukte lassen diefallenden Blätter leuchten wie Goldfische in den Zierteichen und Chicken Nug-gets. Das Eigelb der Legehennen wird mit synthetischem Carotinen vom Can-thaxanthintyp optisch aufgebessert. Auch das Lycopin der Tomaten ist carotin-ähnlich. Beide Farbstoffe kürzen die Reaktionsketten von Radikalen ab undschützen deshalb vor Sonnenbrand, wenn sie mit Olivenöl gemischt auf dieHaut gegeben werden (Abb. 7.5).

Die gleiche Farbe, die die Melancholie der letzten Sonnentage des Herbstesbegleitet, bewirkt ansonsten erstaunlicherweise freundlich-optimistische Emotio-nen. Auge und Ohr des Menschen reagieren nicht logisch auf die Umwelt, son-dern psycho-logisch. Deswegen wirkt das Gelborange des Herbstes optimistisch,obwohl die Tage kürzer werden und der Winter naht.

Die Mohrrübe ist eine rätselhafte �-Carotin-Quelle. Sie gedeiht im dunklenErdreich, denkt kaum an Photosynthese und enthält kein schutzbedürftigesChlorophyll. Die Rübe besteht zu 88% aus Wasser, zu 5% aus oxidierten Glu-cose-Polymeren, den Pektinen (griech. pektos, „geronnen“) mit vielen Säuregrup-pen und einer unlöslichen Blattstruktur und höchstens zu 0,3% aus Fetten, diesich zum Lösen des Kohlenwasserstoffs �-Carotin eignen würden. So fallen die120 mg �-Carotin pro Mohrrübe (0,012 Gewichtsprozent) in den Wasservolumender gesunden Mohrrübe oft als kristallines, totes Material aus, das der Rübenichts nützt.

Warum also stellt die Karotte orangefarbene Kristalle mühsam her und sam-melt sie in Vakuolen, wo doch die in der Nachbarschaft wachsenden Kartoffel-

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war296

Abb. 7.5 Die Oxidation des �-Carotins durch molekularen Sau-erstoff während der Photosynthese. Nachts wird das Cantha-xanthin von der Pflanze zurück zu �-Carotin reduziert.

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knollen oder andere Rüben auch farblos überleben? Nun, die Mohrrübe enthältkaum Kalorien; Pektin ist wegen seiner Blattstruktur unverdaulich. Niemandwürde die Mohrrübe essen, wenn die 12 mg �-Carotin nicht den Retinalbedarfder Hasen und Menschen decken würden. So aßen beide die Möhre schon im-mer, auch ohne verwertbare Stärke, spalteten das �-Carotin-Molekül in der Mittemit molekularem Sauerstoff, machen zwei Retinalmoleküle daraus und lerntendamit das Sehen. Die Natur plante groß mit den sieben Molekülen und die Evo-lution ließ wachsen, was gebraucht wurde (Abb. 7.6).

Im Blut wird das Retinal nicht transportiert – es ist viel zu reaktiv. Dazumuss es zu Retinol mit einer –CH2OH-Endgruppe reduziert werden, erst inden Sehzellen, den Zapfen und Stäbchen, wird wieder Retinal daraus gebildet.Retinol heißt auch Vitamin A. Ein Vitamin ist generell ein Stoff, der in Mil-ligramm-Mengen lebenswichtig ist, aber nicht vom menschlichen Körper pro-duziert werden kann. Retinol wird in der Leber als Fettsäureester gelagert undist ein zehnmal effektiverer Vorläufer für das Retinal als das nur zu 10% spalt-fähige �-Carotin. Zu wenig Retinol führt erst zu Nachtblindheit, dann zu irre-versiblen Schäden der Hornhaut des Auges und zu Blindheit. Eine hohe Dosis�-Carotin ist harmlos und führt schlimmstenfalls zu orange gefärbtem Hautfett,ohne Schaden anzurichten. Es schützt sogar vor Hautkrebs durch UV-Strah-lung. Eine zu hohe Dosis Retinol aber tut nicht Gutes, sondern zerstört Gehirn,Nerven und Augen von Babys.

Wieso landet das Retinol ausgerechnet im Gehirn? Das Gehirngewebe ist,obwohl es zu 80% aus Wasser besteht, der mit Abstand membran- und damitlipidreichste Teil des Körpers, also ein ideales Lösungsmittel für Retinal.

Überblick 297

Abb. 7.6 Der kluge Hase frisst das �-Carotin und spaltet esoxidativ in zwei Moleküle all-trans-Retinal. Dann isomerisierter die 11,12-trans-Doppelbindung nach cis und bindet dasAldehyd über ein Lysin-Imin an ein Protein namens Opsin,das er vorher schon hergestellt hat. Dann sieht er alles besser– noch besser kann es der Mensch auch nicht.

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In frischen Gewebsschnitten des Gehirns unterscheidet sich eine graue Regi-on der Nervenzellen deutlich von einer weißen Region der Nervenzellenfortsät-ze (Axonen) mit Gliazellen (griech. glia, „Klebstoff“). Gliazellen sorgen einer-seits für die Isolierung der Axone vom Wasservolumen, andererseits für denKontakt mit Blutgefäßen und für die Beseitigung von Zelltrümmern in derUmgebung der großen und empfindlichen Nervenfortsätze.

Die graue Hirnsubstanz besteht aus 83% Wasser, 5% Membranlipiden, 7,5%Protein und 1% Phosphat. Die weiße Substanz der Axonen hat 13% wenigerWasser, dafür 15% Membranlipide. Ihre Fettsäuren sind zu 50% mehrfach un-gesättigt. Diese beweglichen Fettsäuren sowohl in den isolierenden Mänteln dergroßen Axone (Myelinscheiden) als auch in den Membranen der Stäbchen undZapfen sorgen für einen schnellen Transport des Retinals. So wird das Retinalaus dem Blutstrom erst von den fettsäurereichen Membranregionen des Ge-hirns und der Sehzellen extrahiert, dann von den Aminogruppen des Lysins fi-xiert und so in den Sehapparat integriert.

Für die Absorption von Lichtsignalen braucht das Rhodopsin eine klare Optik.Rote Blutgefäße zwischen Linse und Rhodopsin sind nicht erlaubt. Deshalbwird das Auge von seinem Boden aus, von der Retina, ernährt, die hinter derLinse und dem Glaskörper (Seite 49) liegt. Die Retina selbst ist rot gefärbt vonBlut, das Retinal aber, das Pigment für das Sehen, liegt vor der Retina und istkaum sichtbar. Das mikroskopische Bild des Netzes, das der sehenden Hautden Namen gab, ergibt sich aus der regelmäßigen Anordnung von Stäbchenund Zapfen.

Das Licht passiert zuerst eine 0,3 mm dicke Gewebeschicht mit Neuronen-schaltungen und trifft dann auf die Rezeptorzellen. In der Sehachse des Auges(Fovea) bildet die Gewebeschicht einen Tunnel, sodass das Licht unter einemWinkel von weniger als 3� die Rezeptoren direkt trifft. Im Bereich des Austrittsder Sehnerven aus der Retina befinden sich keine Rezeptorzellen – hier liegtein blinder Fleck. Der zentrale, foveale Bereich der Retina sieht besondersscharf, periphere Zonen registrieren vor allem Bewegungen.

Einerseits ist das Auge ein extrem aktives Organ. Es verbraucht ein Drittelder Energie unseres Körpers im Ruhezustand, muss also gut mit Blut versorgtwerden, um cis-Retinal, ATP, Kinasen und andere Hilfsstoffe erzeugen zukönnen. Andererseits müssen die Innenbereiche des Auges frei von Blut sein.Deshalb erfolgt die Ernährung des Auges indirekt über das sich innerhalb vonzwei bis drei Stunden vollständig erneuernde Kammerwasser zwischen derHornhaut und der Linse.

Das große Wasservolumen des Glaskörpers ist hingegen weitgehend ruhen-des Wasser. Nur das engmaschige Netzwerk der Retina-Blutgefäße, das indivi-duelle Muster am Grunde des Auges formt, ist direkt im Kontakt mit dem Blut-kreislauf. Die Ernährung der klaren Häute der Pupille, des Glaskörpers und derLinse aber werden über das Kammerwasser vor der Linse und aus farblosenLösungen aus der Retina ernährt. Dabei ist die Linse besonders hungrig; sieverliert ihre Kraft zum Nahsehen, wenn sie ungenügend versorgt wird. Der Äl-tere kann deshalb oft nicht mehr fokussieren und wird weitsichtig.

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war298

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Die molekulare Bewegung des Rhodopsins bei der cis-trans-Iomerisierung desRetinals nach dem Einfangen von ein paar Lichtquanten beträgt etwa einen Na-nometer, entspricht also ungefähr der Retinalbewegung in Abbildung 7.3. Dasfolgt aus Kernresonanz- und Röntgenstrahlmessungen. Die Positronen-Emis-sions-Tomographie (PET) der 18Fluor-Glucose aber zeigt, dass dieser primärenLichtreaktion in 15 cm (150 000000 nm!) Entfernung, in der hinteren Cortex, in-nerhalb weniger Millisekunden ein massiver Glucoseverbrauch folgt. Dort hin-ten werden die Bilder geschaffen, die wir sehen.

Vergrößert man in Gedanken das Ein-Nanometer-Winken des Rhodopsins aufdas Ein-Zentimeter-Winken eines Fingers, dann würde das Rühren mit demFinger in der Seine in Paris eine riesige Turbine in einem Elektrizitätswerk imtausend Kilometer entfernten Berlin in Rotation versetzen: Das Winken des Fin-gers wäre als Signal durch ein Netz von Tausenden von Seen, Flüssen und Tal-sperren übertragen worden. Geologische Systeme können so verschwindend ge-ringe Energien über so große Entfernungen nicht übermitteln, die Biologie un-seres Gehirns schafft das mühelos und milliardenfach in der Sekunde.

Stäbchen sind zylindrische Zellen mit einer Einschnürung zwischen dem Seh-pigment-Teil (1�10 �m) mit Hunderten von 0,2 nm dicken, membranumhülltenPigmentsäckchen und dem inneren Segment mit Mitochondrien, Zellkern undSynapse. In jedem Stäbchen gibt es ungefähr 107 Rhodopsinmoleküle in einer Le-cithinmembran. Die Retinalstapel liegen etwa senkrecht zur Fortpflanzungsrich-tung des einfallenden Lichts; 10–50% des Lichts werden von ihnen absorbiert.

Bei den Zapfen liegen die Rhodopsinmoleküle auf einer gefalteten Membran.Nach einer vollkommenen Dunkeladaption (nach 30 min) dominiert das emp-findlichere Stäbchensehen den Schwellenwert. Die Sehzellmembran eines Pfeil-schwanzes (Linulus) zeigt im Dunkeln Potenzialsprünge (engl. bumps), die wahr-

Überblick 299

Abb. 7.7 Ein Modell des Auges (ca. 3 cmbreit) mit Linse, Glaskörper (blau) und derSehgrube (grau). Daneben befindet sich einModell der Retina (ca. 0,3 mm breit) mitZapfen und Stäbchen, die das Rhodopsinenthalten, und deren Schaltzellen: Ganglien-und bipolare Zellen (verbinden die Lichtzellenmit den ableitenden Nervenzellen), Horizon-talzellen (kombinieren die Lichtzellen mit-einander) und anakrine Zellen (koordinieren

die Ganglienzellen am Sehnerv auf dem Wegdes Lichtimpulses zum Gehirn). Scharf gese-hen wird nur mit einem etwa 3 mm breiten,von Lutein gelb gefärbten Fleck der Netz-haut. Das Bild, das Sie jetzt sehen, entstehtalso auf sehr kleinem Areal in einer dünnenSchicht und wird erst im Gehirn aufgearbei-tet. Hinter der Retina liegen die Blutgefäßedes Auges, die durch eine dunkelbraune Zell-schicht vor dem Licht geschützt sind.

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scheinlich durch die Absorption einzelner Lichtquanten ausgelöst werden. DieseBumps gelten als das elementare Ereignis des Sehprozesses, sind etwa 30 mVhoch und erscheinen nur, nachdem die Sehzelle an die Dunkelheit gewöhnt wur-de. Im Hellen dominieren die Zapfen den Sehprozess. Die Empfindlichkeit sinkthundertfach, aber Farben werden nun getrennt gesehen (Abb. 7.7).

Fünf Neuronentypen bestimmen das Geschehen in der Retina: erstens licht-empfindliche Sehzellen (Rezeptorzellen) mit Retinal, zweitens Ganglienzellen(griech. ganglia, „Geschwür unter der Haut“), die die Retinalsignale ins Gehirnleiten; ein dazwischen liegendes Netzwerk aus drei weiteren verschieden orien-tierten und spezialisierten Nervenzellen ermöglicht den Ganglienzellen, die Rei-zungen der verschiedenen Sehzellen und Neuronen zu unterscheiden, zu kom-binieren und zu koordinieren.

Nach einem Sehprozess überführt der Zapfen oder das Stäbchen in einer en-zymatischen Dunkelreaktion das trans-Isomer des Retinals wieder in 11-cis,meist durch Anlagerungs eines Sulfids an die 11,12-Doppelbindung, gesteuerteRotation um die entstehende Einfachbindung und anschließende stereoselektiveAbspaltung des Sulfids. Der konjugierte Aldehyd dient als willkommene Elekt-ronensenke für die 11,12-Doppelbindung als Reaktionszentrum (Abb. 7.8).

Für jedes registrierte Bild werden Millionen von Lichtquanten absorbiert, eben-so viele cis-Retinal-Moleküle verbraucht und regeneriert. Das ist energetisch auf-wendig: Etwa 30% des menschlichen Energieverbrauchs gehen im Ruhezustandfür das Erzeugen von Bildern drauf, aber Material braucht das kaum. Nehmenwir an, dass für die Erzeugung eines einzigen Bildes eine Million Retinalmoleküle

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war300

Abb. 7.8 Chemische Umwandlung des 11-trans-Retinals in11-cis-Retinal durch eine reversible Addition von Sulfid.

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isomerisieren müssen, so entspricht das 6�10–17 mol oder, bei einem Molekular-gewicht des Retinals von 284 Dalton, etwa 1,8�10–14 g. Ein Milligramm Retinalkann also 1,8�1011 Bilder ins Gehirn werfen. Bei hundert Bildern pro Sekundedauert das Ganze 1,8�109 s oder etwa drei Jahre. Der Materialverbrauch ist mini-mal, die über das Retinal zugängliche Bilderflut unermesslich.

Es ist also materiell kein Problem, das inaktive trans-Retinal kontinuierlichdurch das aktive cis-Retinal zu ersetzen. Logistisch ist es eine gewaltige Leis-tung, denn es muss alles sehr schnell gehen und die neu gebildeten Molekülemüssen genau da hin, wo die alten fehlen.

Auch die Entstehung eines Bildes in einer Entfernung von über hundert Mil-lionen Moleküllängen des Retinals ist reine Magie. Man kann das heute mitPET in den Gehirnzentren sehen (Seite 51), man kann mit dem ComputerNetzwerke entwerfen, die denen des Gehirns ähnlich sind, man kann errech-nen, dass die Energie des Lichtreizes bis zu einer Million mal geringer ist alsder von diesem Reiz ausgelöste Energieverbrauch der Zelle.

Negativ geladene, das heißt phosphorylierte Zentren kontrollieren das Öffnenund Schließen der Membran nach Überschreiten der Reizschwelle (siehe Seite246). Calcium, Ca2+, diffundiert langsam und schließt solche Kanäle, Natrium,Na+, bewegt sich schnell und öffnet sie. Im Dunkeln bindet das Phosphat festan Calcium, ein Lichtreiz löst das Calcium heraus und lässt Natrium in diegeöffnete Pore einfließen. Das geschieht, wie fast alles in den dynamischen Ab-läufen des Lebens, nicht direkt.

Die Calciumphosphatbildung ist nicht licht-, sondern phosphatabhängig.Trotzdem werden Kinasen und Phosphatasen durch das vom Rhodopsin absor-bierte Licht aktiviert und deaktiviert, weil sie durch molekulare Bewegungen inden Calciumporen zu eigenen Strukturumwandlungen veranlasst werden unddanach entweder phosphorylierend und dephosphorylierend wirken.

Strukturumwandlungen und Phosphorylierungen der Proteine laufen in gro-ßem Ausmaß und in kurzer Zeit ab. Die Außensegmente jedes Stäbchens fürsDunkelsehen lagern etwa tausend Moleküle cGMP an, die bei Belichtung durchein einziges Phosphodiesterase-Molekül wieder abgebaut werden und Phosphatfreisetzen. Calciumfreisetzung und cGMP-Abnahme wirken dabei kooperativzusammen. Je mehr cGMP-Moleküle vorhanden sind, umso lichtempfindlicherregistrieren die Stäbchen – je dunkler es ist, umso stärker wird die Außenwandphosphoryliert.

Deshalb kann man im Dunkeln nicht richtig denken oder fühlen: Das Gehirnverbraucht sein Phosphat für die Verarbeitung weniger Lichtquanten. Ein ein-zelnes Lichtquant, das von einem der zehn Millionen (107) Rhodopsinmoleküleabsorbiert wird, erzeugt ein Signal, das anderen Zellen mitgeteilt wird. Völligdunkeladaptierte Versuchspersonen wurden schwachen Lichtblitzen von einerMillisekunde Dauer ausgesetzt und der Schwellenwert der Erkennung des Blit-zes wurde ermittelt. Etwa zehn Quanten reichten aus, eine Region mit 2000Stäbchen so anzuregen, dass mit 60% Wahrscheinlichkeit ein sichtbares Signalerzeugt wurde. Statistische Analysen ergaben, dass eine Gruppe von 100 Stäb-chen innerhalb von 20 ms von etwa fünf Lichtquanten getroffen werden muss,

Überblick 301

Page 312: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

damit ein Signal über dem Grundrauschen des Nervensystems entsteht. Men-schen werden zu Messinstrumenten, wenn sie sich auf die Dunkelheit konzen-trieren. Das Gehirn denkt dann nicht mehr, aber es hört und riecht noch, auchwenn gar kein Lichtquant mehr eintrifft.

Die Übertragung der Signale erfolgt wie üblich in Synapsen. Zwischen engzusammenliegenden Zellen gibt es gap junctions oder Wasserkanäle, entlang de-ren die Zellen ihre Ionenströme direkt koppeln und synchronisieren. Die be-nutzten Ionenkanäle, die chemische Signale in elektrische Ströme umwandeln,werden dabei entweder direkt durch Spannung, durch organische Neurotrans-mitter und ihre Rezeptoren oder durch Phosphorylierungen von Membranpro-teinen und die Änderung der Calcium-Natrium-Kalium-Ionenkonzentrationenkontrolliert (Abb. 7.9).

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war302

Abb. 7.9 Schema der Übertragung einesNeuronensignals in einer adrenergen Synap-se, die auf Noradrenalin anspricht. NA wirdin der Nervenzelle aus Tyrosin durch zweifa-che Oxidation und Decarboxylierung (–CO2)gemacht, in den synaptischen Spalt trans-portiert und reagiert dort am Rezeptor des

nächsten Nerven. cAMP (Seite 239) induziertdann die Phosphorylierung der postsynapti-schen Membran; diese wird für Ionen durch-lässig, der Reiz wird weitergeleitet und dasNoradrenalin abgebaut. Für die Verarbeitungvon ein paar Lichtquanten laufen mehreresolcher Reaktionsketten millionenfach ab.

Page 313: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Ströme fließen und erzeugen Millionen Aktionspotenziale in den Ganglien,die komplexen Aggregaten solcher Nervenzellen entsprechen. Schließlich ent-stehen farbige und bewegte Bilder im Bewusstsein. Im Bezug auf das Sehensind das Kontrastdetektoren für Einzelheiten und Bewegungsdetektoren fürMuster in Bewegung. Diese sind nur phänomenologisch charakterisiert. DieKontrastdetektoren reagieren auf Licht mit „an“ oder „aus“ und die Reaktion istim inneren Bereich des Detektors stimulierend, im äußeren hemmend. Wäh-rend einer Dunkeladaption wächst die innere stimulierende Region, im gleißen-den Licht die äußere hemmende Region.

Bewegungsdetektoren reagieren nur auf Bewegungen in eine bestimmteRichtung. Jedes Licht-Schatten-Muster, das sich über das Sehfeld bewegt, löst ei-ne Salve von Aktionspotenzialen aus, die der dem Detektor angemessenen Rich-tung folgt. Bewegungen in andere Richtungen folgen anderen Detektoren. Wei-tere Detektoren sind auf Formen spezialisiert: Es gibt solche für geschlosseneFiguren (Kreis, Dreieck) und solche für Geraden (Kanten, Linien).

Wir bewegen uns längst im molekularen Schattenreich: Das Retinal ist vieleMillionen Moleküllängen entfernt, das Lichtsignal, erst vor Millisekunden ein-getroffen, ist schon Teil eines Bildes im Gehirn geworden, das auftaucht undwieder verschwindet.

Viele Gehirne haben die Erzeugung und Verarbeitung der vielen Anregungs-muster, die aus der Retina strömen, im Laufe der Generationen optimiert. Ge-lernte Muster werden vererbt – und doch muss jedes neugeborene Individuum,ob Elefant, Eule oder Mensch, die Bilderzeugung selbst wieder lernen. Erwach-sene, die wegen einer Hornhauttrübung als Blinde aufgewachsen sind, lernennach dem inzwischen möglichen Ersatz durch eine klare Hornhaut das Sehenmeist nicht mehr und finden sich entmutigt mit lebenslanger Blindheit ab. Kat-zen, die die ersten Wochen des Sehens in engen Käfigen verbracht haben, ler-nen die Koordination des Sehens mit den Muskelreaktionen nicht. Sie tappenals Blinde durch das ungewohnte Leben in Freiheit. Jedes differenzierte Lebewe-sen durchläuft die Evolution. Es lernt und lernt und weiß so wenig wie Mamaund Papa, wie es das schafft (Abb. 7.10).

Wenn die letzten Absätze nichts als Ratlosigkeit über das Geschehen im Ge-hirn bei Ihnen hinterlassen, dann ist das gewollt. Genauso ratlos fühlen sichChemiker, nachdem sie „alles“ über Moleküle wissen. Sie können nun zwar dasmolekulare Geschehen deuten und tun das mit viel Liebe zum Detail. Auch ler-nen sie, mit Stop-and-go-Versuchen und Trial-and-error-Methodik den Verkehrauf den Wasserwegen der Menschen mit Molekülen zu regulieren, Proteine zublockieren und wieder freizugeben. Das ist die Grundlage der Wirkung derPharmaka. Biologische Wasserwege zu stören und wieder funktionsfähig zumachen, fällt Chemikern leicht. Sie aber selbst aus Molekülen aufzubauen liegtweit außerhalb der Möglichkeiten der molekularen Chemie.

Überblick 303

Page 314: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Nur Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und sah, dass es gut war.

7 Retinal: . . . und sah, dass es gut war304

Abb. 7.10 Eine fiktive, typische Straßenkreuzung phosphory-lierter Wasserwege mit ATP.

Page 315: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Fragen zu Retinal

1. Aus welchen Nahrungsmitteln beziehen Sie Retinal oder dessen Vorläufer?2. Warum werden Sie schnell schläfrig, wenn Sie die Augen schließen?3. Unter welchen Umständen ist es gut, von einem Ei nur das Protein zu es-

sen und das Eigelb zu verwerfen und wann sollte man beides essen?4. Spekulieren Sie marktstrategisch über die appetitanregende Wirkung der

Farbe des Orangensafts und des Hähnchenschnitzels und vergleichen Sieden Anreiz mit jenem durch Aromen und Aromaverstärker.

5. Welche Nahrungsmittel kennen Sie, die Sie in kristalliner Form aufneh-men? Vergleichen Sie.

6. Welche Farbstoffe gefährden das Gehirn und warum?7. Warum sind Mohrrüben kalorienarm?8. Wie viele Autolängen (4 m) trennen Berlin und Paris (1000 km) und wie

viele Retinallängen (12 nm) das Auge vom Sehzentrum (15 cm)? Verglei-chen Sie.

9. Wieso ist im tiefem Meerwasser alles blau, aber im Scheinwerferlicht far-big?

10. Was wird aus dem Farbensehen im Dunkeln?

Fragen zu Retinal 305

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Ziel dieses Buches ist es, die tägliche Arbeit der eigenen Moleküle, des Materi-als des eigenen Körpers, kennen und nutzen zu lernen.

Unsere Existenz ist Nervenexistenz. Natrium- und Kalium-Ionen laufen,gelöst in Wasser, durch fettige Poren und erzeugen elektrische Potenziale. Io-nenströme entlang der Nervenbahnen verbinden die Sinne mit dem Denken,den Gefühlen und der sexuellen Lust. Das Stromnetz des schlagenden Herzen,des strömenden Bluts und der Muskeln ist dem Nervennetz angeschlssen, be-nutzen die gleiche Stromart.

Wir können aus Sauerstoffmolekülen Atome machen, die bei null Volt und37 �C Glucose, Fette und Proteine verbrennen.

Wir öffnen die Augen und bilden die farbige und bewegte Welt mit ein paarMilligramm Retinal ab.

Menschen versorgen sich selbst mit Hilfe der Bauern und Wassertechniker.Entweder essen wir die Moleküle, die wir brauchen, mit den Pflanzen, die manuns verkauft, oder unser Körper erzeugt sie selber. Wichtigste Voraussetzungfür das Leben der Pflanzen, Tiere und Menschen sind Wasser und Sonne.

Das materielle Hauptproblem der Menschheit ist erstens reines Wasser. OhneTrinkwasser läuft nichts. Wo immer wir uns auch aufhalten, wir sollten wir unszuerst um reines Wasser kümmern. Im Notfall legen wir Schmutzwasser in ei-ner transparenten Plasikflasche ins Sonnenlicht und warten zwei Tage, bevorwir es trinken. Wir sollten keinen müden Cent für unsinnige Kriege und Kli-maschutz ausgeben, wohl aber für Trinkwasser und die daraus resultierendePflanzennahrung. Für ein bequemes Leben im Luxus brauchen wir außerdemsehr viel Energie. Wenn wir unser Geld und unseren Verstand benutzen unddie Sahara bewässern, läßt sich auch dieses Problem weltweit lösen.

Wir lassen uns auch den Zucker und die Glucose nicht verteufeln, denn un-ser Gehirn lebt davon. Völlerei und Faulheit aber sind die molekularen Tod-sünden, wobei Todsünde vor allem bedeutet, dass man daran stirbt. Dieser Tod-sünden Tod kostet unsere Kinder viel Geld und ist unnötig schmerzhaft.

Unsere Fette seien Lein- und Fischöl. Unser Gehirn, unser Blut, unsere Ner-ven und Sinne brauchen �-3-Linolensäure. Alles andere Fett kommt von alleinaus dem Rest der Nahrung.

307

Epilog: Mit unseren sieben Molekülen erreichen wir viel

Page 318: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Die Völlerei und die Faulheit aber sind die molekularen Todsünden, wobeiTodsünde bedeutet, man stirbt daran. Dieser Tod kostet unsere Kinder viel Geldund ist unnötig schmerzhaft.

Das beste am Fleisch ist das Phosphat. Es ist dort für unser ATP, schmack-haft und wohl verteilt.

Das Gehirn will arbeiten, lesen und neue Musik hören. Unser Körper will se-xuell empfinden und Kinder zeugen.

Das alles klingt danach, als ob wir unsere Moleküle beschäftigen. Sie werdenuns das danken.

Das ist es, was wir von den sieben Molekülen gelernt haben.

Epilog: Mit unseren sieben Molekülen erreichen wir viel308

Page 319: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Kapitel 1

1. In den Wolken in 10 km Höhe gibt es keine schweren Festkörper – die fal-len runter, bevor sie sich bilden. Hagel bildet sich kurz über der Erdoberflä-che. Wenn es hagelt, startet ein Flugzeug nicht.

2. Der rote Anteil des Sonnenlichts wird vom Wasser absorbiert, der blaue vielweniger. Das Scheinwerferlicht reicht nur ein paar Meter weit.

3. Die Algen und Blätter sterben und sinken zum Boden herab, neuesGrünzeug kommt erst im Frühling.

4. Eine Tonne.5. Durch intelligenten Kanalbau und Frieden.6. Kurze und tiefe Schifffahrtswege, Überschwemmungen, instabile Besiede-

lung.7. Brunnen.8. Nicht mit gesättigten Fetten belasten, Bewegung!9. Fette.

10. Kunstdünger, vor allem Phosphate und Nitrate.11. Hart und bewachsen an der engen Innenkurve, weich und kahl an der wei-

ten Außenkurve.12. Die Alchemie war voller Phantasien und Zaubersprüche und die Alchemis-

ten waren streitsüchtige Sonderlinge – das alles ist publikumswirksam. DieSprache der molekularen Chemie ist nüchtern, ihre Forschung benutzt inallen Ländern die gleichen Methoden, es gibt keine Kämpfe zwischen Che-mikern, nur unterschiedliche Meinungen. Moleküle sind nur dann ein The-ma für Dichter, Musiker, Maler und Philosophen, wenn sie das Entstehenneuer Materie und Verfahren als Ursachen der Veränderungen mensch-licher Lebensart und Schicksale im zwanzigsten Jahrhundert begreifen undletztere nicht einfach beschreiben. Krieg, Armut, Reichtum, Leistungssport,Fernsehen, Büroarbeit, Industrie, Verlust der Wälder, Energiekosten – dasgesamte moderne Leben folgt dem Erscheinen neuer Materie, leistungsfähi-ger Materialien, die das Thema unseres nächsten Buchs sein werden. Dieneuen Stoffe sind die Triebfedern, die Motive menschlichen Handelns inder Moderne. Das betrifft erstens die Entdeckung und Entwicklung durch

309

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben

Page 320: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Chemiker und Techniker, zweitens die Anwendung durch den wohlhaben-den oder armen, friedvollen oder kriegerischen Verbraucher und drittensdie Wirkungen auf Alle. Moderne Künstler sollten das erkennen und dar-stellen.

13. Nur neue Produkte bringen Geld. Diese Tatsache fördert erstens die Syn-theseforschung und zweitens die Einsicht in die Chemie der Proteine desKörpers, das Phänomen der „Nebenwirkungen“. Für die Politik ist vor al-lem die Vielfältigkeit der Anwendung der Chemie interessant, die nicht vor-hergesagt werden kann. Wenn man das trotzdem versucht, landet manbeim unproduktiven Sozialismus.

Kapitel 2

1. Traubenzucker, also Glucose.2. Der bewegliche Fünfring (Pseudorotation) behindert die Kristallisation.3. Glucose und Sauerstoff.4. Ab 1300. Madeira, Kolumbus. Mittelamerika. 300 Jahre Sklavenhandel aus

Afrika. Englands Seeblockade durch Napoleon. Kein Zucker aus Mittelame-rika/England. Zuckerrübe. Erste Armutsquartiere in Europa. Gegensatz Lu-xusgegenstand-schwieriger Anbau. Erste Landwirtschaftsindustrie. Heute inEuropa künstlich aufrecht erhalten.

5. Wenig essen, viel Sport treiben, denken, hören und sehen.6. Die Protonen verdrängen das Calcium. Phosphorsäure ist wasserlöslich. Be-

sonders kritisch der Lamellenaufbau der Zähne und das Kleben des Zu-ckers auf dem Phosphat (H-Brücken).

7. Sie saugen den Zucker raus.8. Gras hat mehrfach ungesättigte Fettsäuren, auch �-3. Es muss mit der

Nachtkälte fertig werden und seine Membranen auch bei Frost fluide hal-ten. Die Kuh ist ein Warmblütler und hat das nicht nötig; sie hydriert alleC=C-Doppelbindungen (Milch, Butter, Fleisch).

9. Lignin klumpt in Wasser.10. Wasserstoffbrücken zur Cellulose fixieren die Druckerfarbe schlagartig.

Kein Auslaufen.11. Bruch der Fasern durch deren seitliche Quervernetzungen, eine andere Art

des normalen Alterns. Papier wird nicht hart und steif, sondern zerbröselt.12. Trockenheit, Wind, sauer, Erosion, kleines Porenvolumen des Bodens, UV,

wenig Humus, wenig Nährstoffe.13. Einschließen in Cyclodextrine.14. Nein, er muss sich auch schnell wieder ablösen. Sonst schlägt der süße Ge-

schmack sofort in bitter um. Ein beliebter Trick sind Methylester, dieschnell enzymatisch hydrolysiert werden und dann nicht mehr binden (As-partam).

15. 17F-Glucose in PET. Sich schnell vermehrende Zellen brauchen besondersviel Energie

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben310

Page 321: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Kapitel 3

1. Sie sondert wasserlösliche Substanzen im Blutstrom aus. Glucose wird ge-zielt transportiert und tritt im Alter zögerlicher über die starrer werdendeSchranke.

2. Die BLM macht die kleinstmögliche Oberfläche, die Kugel. In Zellaggrega-ten flachen die Kugeln ab, ohne echte Ecken zu bekommen.

3. Linolensäure in Leinöl.4. Leinöl. Olivenöl polymerisiert nicht, das mono-allylische CH2 ist mit Sauer-

stoff nicht reaktiv genug. Ohne Radikale kein Firnis.5. Die Oberflächenspannung fehlt, die das Zerreißen der hohen Wellen ver-

hindert.6. Die Kohlenwasserstoffketten der Seife lösen sich im Fett, die Carboxylat-

gruppen laden es negativ auf. Die negativ geladenen Gruppen stoßen sichab, zwingen den Fettfleck, sich zu krümmen. Ein wasserlöslicher Fetttrop-fen bildet sich, löst sich vom Pullover ab und geht ins Volumenwasser.

7. Bilden hydrophobe, ölige Monoschicht, die keine Salz- oder Wasserstoff-brücken zwischen den Haarsträhnen baut. Das Haar wird glänzend undklebt nicht.

8. Zellmembranen in Pflanzen heißer Länder oder im Blutstrom vonWarmblütlern sind auch ohne ungesättigte Fettsäuren fluide, Gras und Fi-sche aber müssen Kälte überstehen, was sie nur mit mehrfach ungesättig-ten Fettsäuren in der Zellmembran können.

9. Die hydrolytischen Enzyme kommen an die räumlich dicht gepackten Es-terbindungen auf der Zuckeroberfläche nicht heran.

10. Ein warm-fettiger Zungenbelag, der Aromen hervorragend löst.11. Glühbirne: 100· 3600 · 24 J/Tag = 8600 kJ/Tag. Der Mann braucht 15% mehr,

die Frau 8% weniger. Das Paar gemeinsam entspricht ziemlich genau zwei100-Watt- Glühbirnen.

12. Osmose treibt das Körperwasser in den Magen und leert ihn mittels„Durchfall“. Zweifach negativ geladenes Sulfat ist besser als einfach gelade-nes Chlorid, weil es Magen und Darmwände überhaupt nicht überwindenkann.

13. Beim Essen von Obst und Gemüse, das noch lebende Mikroorganismenenthalten kann. Diese werden durch verdünnte Magensäure unter Umstän-den nicht getötet. Gärung oder Übelkeit kann dann auftreten.

14. Lunge, Niere, Herz.15. Reflexion und Interferenz an Helixebenen. Zerstört man diese durch elekt-

rische Felder, verschwindet die Farbe reversibel. Kein Ausbleichen.16. Dehydroepiandrosteron, DHEA.17. Addition von Phytosterolen (Pflanzensteroiden) und trans-Isomerisierung

der Fettsäuren. Man fügt so biologisch wertloses Zeug hinzu, überdies miteiner undurchsichtigen Chemie. Nützen tun beide Stoffe auf keinen Fall,schaden tun sie wahrscheinlich. Was passiert mit dem verdrängten Choles-terin? Wieso sollten die Phytosterine keine Ablagerungen in den Herzkranz-

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben 311

Page 322: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

arterien bilden? Wiese belastet man den Kreislauf mit wertlosen allylischenKohlenstoffen?

Kapitel 4

1. Proteinmangel, Wasser hat nichts zum Hydratisieren.2. Proteine blockieren (Enzyme, Membranporen).3. Werden zu Aminosäuren hydrolysiert (Proteinasen) und dann zum Aufbau

eigener Proteine verwendet, vor allem Erythrocyten, auch Muskeln undHautzellen.

4. Vorwiegend aus abgestorbenen Hautzellen.5. Proteine (Keratin).6. Lysin, Phenylalanin, Leucin, Quellen: Eiweiß, Fisch, Quark, Linsen.7. Gehirn und Magen.8. Serotonin kaschiert Erschöpfungszustände (Sauerstoffmangel), Melatonin

reguliert den Schlaf, macht ihn unabhängig von Gehirnströmen.9. Hydrohob, flach, Elektronenwolke, OH-Wasserstoffbrücke am hydrophoben

Ende.10. Huminsäuren, die vielfach quervernetzten Oxidationsprodukte der Cellulo-

se, des Lignins und des �-Carotins.11. Helical: Gelatine; Blatt: Seide12. Quervernetzt und blattartig; nicht löslich genug für enzymatischen Abbau.

Viele Gerbstoffe wirken auch als Zellgifte (z. B. Chrom).13. Oft nicht kettenartig, exotische Aminosäuren, ungewöhnliche Quervernet-

zungen.14. Sie dürfen keine Medikamente verschreiben, weil sie nicht Medizin studiert

haben.15. Kleben an hydrophoben Proteinoberflächen fest und bilden reversibel Radi-

kale.

Kapitel 5

1. Knüpfung und Zersetzung des Triphosphats im ATP.2. Geistige Routinearbeiten.3. Sechs Stunden4. Zerstören Protein Sekundärstrukturen reversibel. Pillen nicht neben das

Bett stellen, Gefahr der unbewussten Überdosierung in der Nacht.5. Bildet NO zur raschen Venenerweiterung. Nitroglycerin explodiert nur in

reinem Zustand. Das 50-mg-Tröpfchen in einer Flasche würde kaum hörbarverpuffen.

6. Ammoniak.7. Unreines Indol und Methylindol (Skatol). Reines Indol riecht blumig,

verdünntes Skatol angenehm.

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben312

Page 323: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

8. Amine, Sulfid. Bakterielle Zersetzung der Körperproteine.9. Kaffee enthält viel mehr Feststoffe, die vom Wasser extrahiert werden, als

Tee oder Kakao. Kakao enthält Fett, das in heiße Milch übergeht. Im Teesind auch stärker polare, nicht methylierte Anteile des Coffeins vorhanden.Geringere Membrangängigkeit und Wirksamkeit.

10. Zucker klebt mit H-Brücken an der Phosphatoberfläche, Bakterien bauenden Zucker zu Säuren ab, deren Protonen verdrängen das Calcium und er-zeugen wasserlösliche Phosphorsäure. Wegen der Lamellenstruktur derZähne werden die Löcher schnell sehr tief.

11. Setzt Ammoniak frei, der in der Hitze mit N-Oxiden elementaren Stick-stoff, N2, bildet. Die Säurebildner (saurer Regen) verschwinden aus den Ab-gasen von Dieselfahrzeugen.

12. Geschmacksverstärker. Sensibilisiert Rezeptoren für Restmengen von Aro-men.

13. Neutralisieren Signalsysteme für Erschöpfungszustände.14. Stört Kinasen schnell wachsender Zellen. Möglicherweise selektiv für

Krebszellen.

Kapitel 6

1. Sauerstoffmangel.2. NO lagert sich an das Häm einer Phosphodiestercyclase an.3. Man blockiert die Erythropoese, die Bildung neuer Erythrocyten (Lebens-

zeit: 120 Tage) und damit den Sauerstofftransport.4. Erythrocyten mit Hämoglobin, Sauerstoff, Kohlendioxid und einer fluiden

BLM-Membran; Blutplättchen (Thrombocyten); Neurotransmitter; Immun-system, mit Prostaglandin, Thromboxin, Leukotrien.

5. Oxytocin, ein Protein.6. Insulin öffnet Poren in verschiedenen Zellmembranen und ermöglicht so

den Transport von Glucose in Zellen, die Glycogen, Fett und anderes ausihr machen. Man spritzt Insulinlösungen in die Fettzellen unter der Hautschräg ein und richtet die Nadel auf, bevor man sie herauszieht. Das ver-hindert ein Rückfließen der Lösung aus dem Fett in die Spritze.

7. Keratin. Das quervernetzte Protein ist stark hydratisiert, was Verformungendes Knorpels ohne Zerstörungen begünstigt („reversibles Aufquellen“).

8. Es ist fast immer genug Sauerstoff im Blut, aber das Kohlendioxid wird oftnur langsam entfernt.

9. Auf der Erde zerstört es Lunge, Herz und Gehirn; in der Stratosphäre filtertes die zerstörerische UV-Strahlung der Sonne heraus.

10. Nein.11. Muskelzittern erzeugt Wärme, die Warmblütler brauchen.12. Sauerstoffmangel im Gehirn, im Nacken, in den Adern unter der Haut.

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben 313

Page 324: Sieben Molekule: Die chemischen Elemente und das Leben

Kapitel 7

1. Aus Vitaminpillen oder Gemüse, insbesondere Mohrrüben (b-Carotin).2. Dunkelheit schaltet die Hauptaktivität des Gehirns, das Sehen, ab. Inaktives

legt sich leicht zur Ruhe. Die Evolution hat berücksichtigt, dass nachts anLand nicht gejagt wird.

3. Das hängt von Ihren Essgewohnheiten ab. Essen Sie zu viel, dann störendie gesättigten Fettsäuren und das Cholesterin des Eigelbs nur. Essen Sieeher zu wenig, dann sind das billige Kalorien und das Cholesterin brau-chen Sie, um vernünftig dichte Zellmembranen aufzubauen – sozusagen„für die Nerven“.

4. Die orange Farbe könnte mit der Anmutung „Sonnenlicht und Wärme“ po-sitiv besetzt sein, außerdem kann man mit dem Radikalfänger Reklamemachen. Aromen gehen über die Nase, Geschmacksrezeptoren und dasMundgefühl. Das hat fast immer mit Fett oder Alkohol zu tun, kann alsoverteufelt werden.

5. Salz und Zucker. Beide sehr gut wasserlöslich. Salz ist immer ein Gemisch,Zucker analysenrein. NaCl kristallisiert so gut, weil Na+ und Cl– sehr vielhäufiger im Meerwasser vorkommen als andere Verbindungen, Zucker des-halb, weil er viele Wasserstoffbrücken stereoselektiv ausbildet und keine an-deren Stereoisomeren stören.

6. Bilirubin und Protoporphyrin (Gelbsucht und Porphyrie). Beide bilden imLicht sehr reaktive angeregte Zustände und reichern sich in den Nervenzel-len an.

7. Ihre Stärke ist quervernetzt und schwer verdaulich (Pektin), der Rest istWasser.

8. 2,5�105 Autolängen und 1,25�107 Retinallängen. Der Strom im Gehirnhat es also 50-mal weiter, aber das Retinal bewegt sich zunächst nur um ei-ne knappe Moleküllänge (cis-trans-Umlagerung) und dann ein paar Nano-meter zur Rekonstitution. Der wesentliche Unterschied aber liegt in derZahl. Um ein Bild zu erzeugen, werden Millionen Retinalmoleküle aktiv,verlassen ihr Rhodopsin und besetzen es neu. Das kommt für jedes Bild ei-ner Entvölkerung von Paris gleich.

9. Nur das blaue Licht dringt in die Tiefe, Rot erscheint als schwarze Schattie-rung von Blau. Der Scheinwerfer bringt weißes Licht.

10. In der Dunkelheit: Aus Rot wird Schwarz (falls überhaupt noch sichtbar),aus Grün wird Silberhell.

Anhang: Stichworte zur Lösung der Aufgaben314

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315

Register

aAbwasser 43 ff, 46, 288Acetal 68 f, 230Acetessigsäure 209fAceton 64, 105, 209 ffAdenin 225Adenosin 227, 229 fAdenosintriphosphat, siehe ATPAdipocyten (Fettkörperchen) 130, 114Adrenalin 185fAdstringenzien 184AGE 77Aktualismus 6Alchemie 31Aldehyd 64 ffAlkan = gesättigter Kohlenwasserstoff 110Alkanketten Fluidität 110 ffAlken = C= C Kohlenwasserstoff 112, 118Alkylanzien 237fAllylradikale 108, 118 ff, 120 fAltern 77, 87Alveolen 108, 138Amid Wasserstoffbrücken 194Amidasen 169, 183, 201Amide 169fAminosäuren, Molekülstrukturen 165Ammoniak 162fAmmonium 162fAnabolika 103Angina pectoris 286Anilinschwarz 191fanti 111Aralsee 47Arbeit, geistig und körperlich 285Arterielles Blut 281Arzneimittel Bestseller 202Aspartam 98Aspirin 180Atemquotient 131 f

Atmen 285ffATP 217ff, 238 ff, 241 ff.ATP-Glucose 282ATP Strukturformel 217Aufrechter Gang und Cholesterin 150fAuge 296ffAugenlinse 298

bBabygelbsucht 270 fBakelit 191 fBarbital 224Barbitursäure 223fBaumblatt, Wasserrohrsystem 81, 94Baumwolle 86 fBenzol Kristallstruktur 176Benzol Spektrum 174Benzol 71 ff, 159, 173 ffbeta-Carotin 134, 295 fbeta-Sitosterol 150Bibergeil 180Bilayer lipid membrane, siehe BLMBilirubin 270fBiliverdin 269fBindungswinkel 169biologische Zelle 143Biomaschine 108Biradikal 15Bismarck 39Blasenstein 223, 225Blausäure 167BLM 108, 116, 302Blut-Hirn Schranke 103, 147, 223Blut, Oxidationspotenzial 76, 279Blut, arteriell 281Blutdruck 253Blutfarbstoff 278Blutgruppen 103Blutkreislauf, Glucose 104

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Register316

Blutkreislauf 53Blutversorgung der Organe 145Blutzucker 104fBody Mass Index 108, 132Borsäure 63Brandblasen 29Brenztraubensäure (Pyruvat) 76Butter 125 ff, 128 f

cCalcium Ionen 114, 294, 300 fCalciumphosphat 254 f, 300cAMP 239, 302Canthaxanthin 296Casein 160fCatechol 182 f, 226Cellobiose 103Cellobiose in Yoctobrunnen 140Cellulose 79 ff, 187ffCellulosestruktur 60 fChemie in der Schule 2Chemie und direkte Beobachtung 31ff,

90 fChemie undfranzösische Revolution 90chiraler Doppelschichteffekt 73, 198Chiralität 71ffChlor 15chlorierte Kohlenstoffverbindungen 204Chlorophyll 260, 274 ffCholesterin 108, 134, 148 f, 150Cholesterin Flüssigkristalle 149Cholesterin Strukturformel 149fCholesterin und aufrechter Gang 150fCholesterin und Proteinintegration 151Cholesterin, hohe Werte 151fCholesterinhemmer 153Chromgerbung 200Chylomikronen 151cis-trans Isomerisierung 112, 270 f, 292ff,

300Cluster 18, 24 ffCNO Fusionszyklus 7fCoffein 225ff, 253Collagen 195f, 81Contergan 223fCorilagin 184Cortison 154fCumarine 181fCyanid 167, 267Cyclodextrin 93Cyclohexan-Cyclopentan 71, 95f, 148, 229,

234, 237Cystein 141

Cystin 141, 164Cytochrom P450 282f

dDavidstern 31fDesoxyribonucleinsäure, siehe DNSDesoxyribose 230, 232 ffDeuteron 7, 12DHEA 154Diabetes 105, 209 ffDiamant 68Diasteromer 71Diätmargarine 122DNS 231ff, 234 ffDNS Replikation 236fDNS, Aufwindung 236ffDopamin 185f, 302Doppelbindungen 112, 173Dreifachbindung 178Druckverfahren 84ff

eEicosansäure Strukturformel 123Eidotter 107Eigelb 150Einatmen 285Eis 26Eisen 8, 266 ff, 269, 278 fEisen(III)-gluconat 74Elaidinsäure Strukturformel 113Elektronen 9ffElemententstehung 7 ffEnamel 254Enantiomer 71Energiebarrieren Rotation 110Energiequellen 36Enkephalin 203Enzyme 169, 201Erdbeben 27, 266Erdbebenwellen 265fErdgas, Erdöl 62Erdgeschichte 29ff, 167Erdkern 265fErschöpfung 289Erythrocyten 120, 122, 123, 288 ffessenzielle Aminosäuren 166essenzielle Nahrungskomponenten 166Ester 125Estradiol 153 f

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Register 317

fFäkaliengeruch 164, 272FDG 102Femtometer 7Fett Strukturformel (Beispiel) 126Fettkörperchen, siehe AdipocytenFettproblem 129Fettsäuren 109ffFieber 25Firnis 121, 200Flachs 88Fluidität Alkanketten 110Fluoreszenz lebendiger Zellen 273Fluoreszenz 175Flüssigkristalle 149Flussverlauf 39fFormaldehyd 63 ff, 77 fFriedrich, C.D. 34 fFructose 98

gGeigensaite 81Gelber Fluss 47Gelbsucht 270Glaskörper Auge 49, 73, 298 fGlivec 256fGlückshormone 185Gluconamid Helix 73, 75Glucose-ATP 282Glucose-18F PET 102Glucose Dehydratisierung 178Glucose im Blut 104Glucose Oxidationszahlen 75 fGlucose, hydrophobe Kante 139, 171 fGlucose, offenkettig 74Glucosechiralität 71 fGlucosehelices 72fGlucosestruktur 59f, 62 fGlutaminsäure-Arginin Paar 197Glycämischer Index 105Glycogenspeicher 88fGlycolyse 76, 244Glycoproteine 103Goethe, J. W. 34 fGott 168Graphit 86, 173Gräser 82Gravitationskräfte der Erde 265fGrundwasser 42 ff, 46Guanin 225Guanosinmonophosphat 251

hHaare glätten 117Haarvolumen vergrößern 117Halbacetal 60, 69Häm 253, 274 f, 280Hämoglobin 281Händigkeit 71 fHarnsäure 222f, 225Harnstoff 221 fHausstaub 199Hautpickel 132Helices 160Hepararnsulfat 146Herz 284Herzinfarkt 52 f, 153Herzmuskel 250Herzschlag 284fHigh density lipoprotein (HDL) 151Hindustan 47Hirnhautentzündung 204Hitzepickel 29Hormone Oxytocin-Vasopressin 205fHoward, L. 32ff

iImidazol 201Indol 272Infrarotspektren 15Insulin 210ffInsulin-Glucose 255Insulin Strukturformel 212Insulinspritzen 133Interferenzfarben 149Invertseife 117Ionenströme 246

kKaffee 226ff, 263Kakao 227Kalium Ionen 55f , 109, 111, 218, 245 fKalium-Natrium ATPase 247Kaliumpore 248Kältezittern 29Kapillarwasser 25, 48 ffKartoffeln-Fett 131Kernresonanz 69ffKinasehemmer 257Kinasen 242Knorpelgel des Knies 147fKochsalz 53Kohle 173Kohlendioxid 65, 78, 226, 262 f, 274Kohlendioxid-Sauerstoff Austausch 279

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Register318

Kohlenmonoxid 66, 78, 263 ff, 281 ffKohlensäure 65, 263Kohlenstoff 168Kohlenstofforbitale 61 fKompressibilität Wasser 27ffKonformationen Alkane 110ffkonformere Cyclohexansessel 67konjugierte Doppelbindungen 173Körpertemperatur 24fKörperwasser Volumen 114Kuhmagen 127ffKuhmilch 127

lLactame 169fLadungstrennung 277fLaserdruck 84 fLecithin 107ff, 134 ffLecithinmembranen 134ffLecithinmonoschichten 135, 138Lecithinvesikel 137Ledergerbung 200fLeinöl 84, 119 ffLernen, neuronal 243Lernprotein 214Leuchtgas 175ffLignin 82, 187 ffLinolensäure 118, 120 fLinolsäure 118Lipidmembran 136Lungenbläschen 138

mMäander 40, 214Magensäure 140ffMagenschleimhaut 140ffmagnetisches Moment 11Maltose 92Massenspektren 12 ffMelanin 190Melatonin 185fMeningitis 204Mercerisieren 87Mesomerie 175Methan 62Methanol 63Micellen 114Milch – Fetttröpfchen 129, 152Mitochondrien 282mobiles Wassermolekül 25, 38Mohrrübe 296fMolekülabmessungen 19ffmolekulare Bürste 115

Monoaminooxidase (MAO) 181Monogamie 205Monoschicht 115Morphin 203Muschel-Stahl Verbindung 197Muskelbewegung 249fMuskelfasern 163Muttermilch 127Myoglobin 280fMyos= Fleisch 280Myosin 249f

nNAD+ 273NADH 273, 282 fNatrium Ionen 53ff, 109, 111, 218, 245Natrium selektive Elektrode 245Natriumporen 246Nervenexistenz 252Nervenströme 246Netz der Nephronen 146Neuronale Verbindungen 243Neuronen 163, 305Neurotransmitter 163Neutron 7 ffNicotinamid 273Niere 146Nitrat 162Nitrogen 162fNMR Spektren 69 ffNoradrenalin 302Nucleinbasen 217, 231 ff

oOberflächenspannung Wasser 25ff, 28Ökosystem eines Feldes 93Olestra 130fOleuropein 182fÖlgemälde „trocknen“ 121Olivenöl 118Ölsäure Strukturformel 118omega-6 Säuren 122ffomega-3 Säuren 119, 122ffOrbitale 22fOrdnungszahl 7 f, 10Osmose 56, 137 fÖstradiol 153 fÖstradiol Strukturformel 154Oxidation beta-Carotin 296fOxidation von Aldehyden 74Oxidationsmittel 15 fOxidationspotenzial Magen 141Oxidationspotenzial, biolog. Zellen 76, 279

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Register 319

Oxidationspotenzial, FeII/FeIII 278 ffOxidationszahl 75fOxyhäm 259ff, 278 ffOxyhäm Strukturformel 259Ozon 264f

pPapier 82 ff, 188ffPaprika 183Paramagnetismus 15Penicillin 169fPeniserektion 251ffPET, siehe Positronen Emissions Tomo-

graphiePflanzenmaterial 60Pflanzensteroide 150Phenol 170 f, 178, 269Phenolreaktionen 179Phenylalanin 171Phloem 94, 188Phosphat 163, 217 ff, 240Phosphatasen 242Phosphatester, cyclische 251ffPhosphor 218fPhosphorsäureanhydride 238ffPhosphorsäurediester 232Phosporylierung, oxidativ 208Photosynthese beta-Carotin 296Photosynthese Chlorophyll 275 fPhotosynthese Tyrosin–Mangan 206Phytochrom 271fPlaques 96Polyacetal 79fPolyamide 160Polyen 293polymere Aromaten 160Polyphenole 186ff, 193polyunsaturated fatty acid, PUFA 107f,

118 ffPositronen 7, 51 f, 102, 301Positronen Emission Tomographie (PET)

51 f, 102, 301präbiotische Synthese 78 fPreise von Nahrungsstoffen 166Lysin 164, 166Prolin 164Prostaglandin 123, 167 ff, 181Protein Raumbedarf 199Proteine 160, 193Proteinhelix 194Proteinintegration und Cholesterin 151Proton 7ff, 243, 262Protoporphyrin 274f, 278

Pseudorotation eines Cyclopentans 96PUFA, siehe polyunsaturated fatty acidPyrazin 253Pyridin 163fPyrrol 186 f, 260, 269 ff

qQuecksilber 268Quervernetzung 77, 183, 190, 193, 195,

198, 200, 237 fquintenreine Geigensaite 198 f

rRacemat 72racemische Doppelschichten 73, 198Radikale 160Regenwasser 35 f, 41 fReizschwelle 246Retina 298fRetinal 291 ffRetinal Spektren 293Retinal Strukturformel 291Rhodopsin 293ff

sSaharabewässerung 41Salicylsäure 180fSalzsäure im Magen 140ffSättigungsgefühl 125fSauerstoff 7, 14 f, 260 ff, 274Säure 15, 57 fSchizophrenie 214Schlafzustand 223fSchmutzwasser 47SCHÖPFeN 1, 6 ff, 261Schwefel 267 fSchwellkörper 252fschweres Wasser 12Sehen 292ff, 295, 298 ff, 301 ffSeife 114Seifenblase 116Sepia 190Serotonin 185fSigmasterol 150Sinn der hohen Zahlen 21Skatol 272skin peeling 181Sonne 8, 36Sonnenlicht im Wasser 37 fS-S-Brücken 141Stärke und Jod-Jodidketten 91 fStärke 89 ffStearinsäure 113

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Register320

Sterne 6 ffSteroid 108Steroidhormone 153ffStickstoff 162f, 261Stickstoffmonoxid 251, 253, 264, 281 f, 286Styrol 187süßer Geschmack 96ffSynapsen 218, 302 ff

tTee 226fTestosteron 154Thromboxan 123, 147Tomographie 49 ff, 51 f, 102Toner 86Tonerde 17, 42Toroid DNS 236trans-Fette 122Trinkwasser 36, 41 fTripelhelix 195 fTryptophan 184fTsunami 27ffTyrosin 159ff, 302Tyrosin-Mangan in der Photo-

synthese 206fTyrosinphosphat 206 ff

uUrin 221, 269UV-Spektren 174

vVancomycin 204Vanillin 93, 182 fVerbrennung 289fVesikel 137Viagra® 253Vierfarbdruck 84

wWaglule Tyatohre 1Wasser im Knorpelgel des Knies 147

Wasser 5 ffWasserentsalzung 56fWasserklärwerke 45ffWasserkraftwerke 40 fWasserkreislauf 16 f, 22 ff., 31 ff., 36 ff,

41 ff, 45 f, 49 ff, 267Wassermäander 39 fWassermenge der Erde 37Wasserpumpen 42ffWasserrohrnetz 43 ffWasserrohrsystem Baumblatt 94Wasserstoffbrücken 24ff, 162, 177 f, 222Wasserstoffperoxid 265Wasserstruktur 14Wasserverbrauch 46Wasserzirkulation 38fWeinbukett 191Wertigkeit 162Wetterschicht 31Wolken 31ffWolle 201

xXylit 97Xylophon 81

yYin-Yang 9, 11, 15, 31, 167 f, 201, 220Yoctobrunnen 139f, 277

zZahnschmelz 254Zellmembran 108Zellstoff 82Zucker-Phosphat Wechselwirkung 96fZucker (Sucrose, Saccharose) 94 ffZucker Strukturformel 95Zucker und Sklavenhandel 99fZucker, löcherige Zähne 96 fZuckerhandel in Europa 100fZuckerkrankheit 105, 209 ffZustandsdiagramm Wasser 25 f