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Sicherheit durch Beziehung und Milieu in
der psychiatrischen Versorgung
Prof. Dr. Michael Schulz
Fachhochschule der Diakonie
Thesen
1. Beziehungsgestaltung ist Kern psychiatrischer Pflege
2. Pflegerische Beziehungsgestaltung erfolgt mit einem Ziel
3. Qualitative hochwertige Beziehungsqualität fällt nicht vom Himmel
4. Das Milieu hat maßgeblichen Einfluss auf professionelle Beziehungsgestaltung
5. Beziehungsgestaltung ist maßgeblich von impliziten und expliziten Konzepten abhängig
6. Forschung und Standardisierte Assessmentverfahren und manualisierte Interventionen können professionelle Beziehungsgestaltung positiv beeinflussen
1. BEZIEHUNGSGESTALTUNG
IST KERN PSYCHIATRISCHER
PFLEGE
- Gute therapeutische Beziehungen beeinflussen das Therapieergebnis positiv - Gute Beziehungen von Pflegenden zu Patienten sind Therapie - Professionelle erhalten zu wenig spezifisches Training und Supervision zur Entwicklung und Verstetigung kommunikativer Kompetenzen - Es gibt zu wenig Forschung, methodische Probleme aber mutmachende Ergebnisse
MI muss als Standard vorhanden sein
LI CBT gilt als größte internationale Anstrengung, um den Zugang zur Psychotherapie für psychische
Störungen zu verbessern.
störungsübergreifend als auch störungsspezifisch
Der Zugang für Menschen mit häufig auftretenden psychischen Problemen zu psychotherapeutischen Interventionen ist generell sehr begrenzt
Bennett-Levy, J., Richards, D., Farrand, P., Christensen, H., Griffiths, K., Kavanagh, D., & Klein, B. (Eds.). (2010). Oxford guide to low intensity CBT interventions. OUP Oxford.
Pflegerische Beziehung aus Sicht
der Betroffenen
„Von Pflegemitarbeitern wird mir häufig gesagt, dass die Beziehung zum Patienten, das Ringen um eine tragfähige Beziehung, den wesentlichsten Teil der Arbeit ausmacht…. Viele Psychiatrie-Erfahrene nehmen die Pflegenden anders wahr. Im Vordergrund stehen eher ihre ordnenden und kontrollierenden, weniger ihre Verhandlungs- und Unterstützungsfunktion“.
Sibylle Prins, Psychiatrie- erfahrene, Buchautorin
Pflegerische Beziehung hat Überschneidungen Beziehung anderer Berufsgruppen, hat aber auch sehr spezielle Bereiche
Sprache hilft, ist aber nicht vorauszusetzen
Beziehung erfolgt, wenn wir uns treffen (in echt oder digital)
2. PFLEGERISCHE
BEZIEHUNGSGESTALTUNG
ERFOLGT MIT EINEM ZIEL
Professionelle Beziehungsgestaltung: Welches Oberziel soll erreicht werden?
• Wohlbefinden / Symptome
• Kognition / Emotion
• Verhalten
• Physische Gesundheit
• Einfluss auf soziale Determinanten
• Ergebnisse im Hinblick auf das Erfüllen sozialer Rollen
• Gesellschaftliche Ziele
Thornicroft, G., & Slade, M. (2014). New trends in assessing the outcomes of mental health interventions. World Psychiatry, 13(2), 118-124..
Was ist das Problem?
Nutzen der psychiatrischen Angebote für die einzelnen Menschen sehr unterschiedlich!
Angebote nützlich und unterstützen
d
Angebote teilweise nützlich,
entsprechen aber nicht
gänzlich den Erwartungen
Angebote schaden, soziale
Exklusion
Slade, M. (2009). Personal recovery and mental illness: a guide for mental health professionals. Cambridge ; New York: Cambridge University Press.
Qualität und Quantität
Lancet, 2014
Aiken et al. 2014 Ergebnisse
Die Wahrscheinlichkeit 30 Tage nach KH-Aufnahme zu streben erhöht sich bei der Steigerung des Pat./Pflegepersonenverhältnis um eins um 7%
Mit jeder Steigerung des BA Qualifikationsniveau von 10%, reduziert sich das Risiko um 7%
Patienten in Kliniken, in den 60% der Pflegenden über einen BA Abschluss verfügen und 6 Pat./Pflegeperson versorgen, haben ein 30%ig geringeres Mortalitätsrisiko als Kliniken die mit 30% BA Absolventen arbeiten und 8 Patienten im Workload haben
Merkmale einer erweiterten und
vertieften Pflegepraxis
Hamric, Ann B. "A definition of advanced nursing practice." Advanced nursing practice: An integrative approach (2000): 53-73.
3. QUALITATIVE
HOCHWERTIGE
BEZIEHUNGSQUALITÄT
FÄLLT NICHT VOM HIMMEL
„The approach to keep the ward ordered and safe may include the risk of Nurses acting in a way that leaves the patient with feelings of mistrust and a sense of beeing broken down“.
Björkdahl, A., Palmstierna, T., & Hansebo, G. (2010). The bulldozer and the ballet dancer: aspects of nurses' caring approaches in acute psychiatric
intensive care. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 17(6), 510-518.
Methodik
Beobachtung dyadischer Interaktionen von 7-20 Uhr
152 Stunden, 113 Patienten, 40 Pflegende
Nachbesprechung der Interaktion
Wesentliche Erkenntnis der Studie
41,6% aller Patienten, und vornehmlich depressive Menschen hatten u berhaupt keinen individuellen Kontakt mit Pflegenden
Schon ein kurzer Krankenhausaufenthalt genügte und die Interaktionen der Patienten nahmen ab
Warum kann es schwer fallen, in
Beziehung zu treten, wenn es doch so
wichtig ist?
keine Zeit
Angst vor zu großer emotionaler Nähe
Distanzierung von den aus Ihrer Sicht stigmatisierten Patienten (Goffman, 1961)
Bernburg an der Saale
In welchen Situationen man sich auf Grund der Erkrankung missverstanden oder ausgeschlossen fühlte
Schulze, B. (2007). Stigma and mental health professionals: a review of the evidence on an intricate relationship.
Int Rev Psychiatry, 19(2), 137-155.
4. DAS MILIEU HAT
MAßGEBLICHEN EINFLUSS
AUF PROFESSIONELLE
BEZIEHUNGSGESTALTUNG
Badische Heilanstalt Illenau, 1842
https://de.wikipedia.org/wiki/Illenau#/media/File:Illenau_Gesamtansicht_Repro.jpg
Anforderungsprofil an Psychiatrisch
Pflegende
Liebe, Teilnahme, völlige Selbstverleugnung, Furchtlosigkeit, Engelsgeduld, Sanftmut, Selbstbeherrschung, Gehorsam gegen Vorgesetzte, Fleiß, Eifer, gesunden Verstand, männlich festen Charakter und Gewissenhaftigkeit. Eintrittsalter: 24 - 36 Jahre, in diesem Alter sind sie noch gelehrig und gefügig. Später werden sie eigensinnig und rechthaberisch und wollen sich selbst ein Wort erlauben. (Scholz, 1914)
Aus dem Gefängnis
Untersuchung an über 11.000 Häftlingen in Deutschland:
Gefangene, die die Beziehung der Häftlinge zum Wachpersonal als positive bezeichneten, waren deutlich seltener gewalttätigen Angriffen unter Patienten ausgesetzt.
Faktoren, die die Gewalt unter
Häftlingen beeinflussen
48 Gefängnisse in Deutschland, 11884 Gefangene
in %
Gewalterlebnisse in der Kindheit Negativ *
Erfahrung mit Drogen Negativ *
In der Vergangenheit Opfer von Gewalt Negativ *
Positive Beziehung zum Personal Positiv*
„I feel, that the staff treats me with respect“ „The relationship between staff and prisoners are good“
Bieneck S, Baier D.: Victimisation and perpetration among Prison Inmates. In: Baier, D.; Pfeiffer, C. (Ed.) Representative Studies of Victimisation. Nomos Verlag, 2016, S.185-202
Das Gezeitenmodell -
Pflegekontinuum
Direkte Pflege Übergangs- Pflege
Wachstums- Pflege
Kurzfristige, zeitlich
Begrenzte
Unterstützung
Fokus: unmittelbare
„Lösungen“ oder
Wege für den Umgang
mit Lebensproblemen
Fokus: „glatter
Übergang“
Fokus: Entwickeln
des Verständnisses
für die Quellen von
Problemen oder
deren zentrale
Einflusse
Längerfristige
oder intensivere
Unterstützung
BEZIEHUNGSGESTALTUNG
IST MAßGEBLICH VON
IMPLIZITEN UND EXPLIZITEN
KONZEPTEN ABHÄNGIG
Dorothea Buck
Dorothea Buck
„1936 machte ich mit gerade 19 Jahren die menschenverachtendste Erfahrung meines Lebens in der Psychiatrie, hinter der eine schwere Verschüttung im Zweiten Weltkrieg verblasste. Ich erlebte die Psychiatrie deshalb als so unmenschlich, weil nicht mit uns gesprochen wurde. Tiefer kann ein Mensch nicht entwertet werden, als ihn keines Gesprächs für wert oder fähig zu halten“.
Aufgabe der Pflegepersonen in der „wilden Euthanasie“
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• Auswahl der zu Tötenden
• Gabe von Luminallösung
• Tötung durch Injektion von
Luminal, Morphin-
Skopolamin, Luft
• Hungerdiäten:
Nahrungsentzug und
systematische
Unterernährung
7
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• Meldebogen
(Pretsch 1996, S. 39)
Dekontextualisierte Psychiatrie und die Familie in der
herrschenden Meinung der Psychiatrie im 20. Jahrhundert
1911-1945 Familie als Hort von Degeneration und Träger minderwertiger Erbanlagen - Verknüpfung von Degenerationstheorie und Vererbung („lebensunwert“)
1940-1970 Als schuldige Verursacherin der Krankheiten durch das Verhalten (double bind) - Ursachen nicht mehr in der Biologie sondern in der Erziehung - Die „schizophrenogene“ Mutter (Fromm-Reichmann) - statt Sterilisierung Sanierung: Sanierung des psychosozialen Milieus - Doublebind-Theorie (Bateson) brachte viel Leid, Genesene sollten
nicht in die Familien zurückkehren
1965-1980 Als zentrale Partnerin der Kranken, die durch die Gestaltung ihres Binnenmilieus und ihres Sozialverhaltens positiven – oder negativen Einfluss auf Verlauf und Prognose der Psychose nimmt - John Wing und George Brown: Familie bleibt der Mittelpunkt, Milieu soll positiv beeinflusst werden („Expressed Emotions“)
1980-2000 Im Zeichen der systemischen Therapie als „Bürgerkriegspartei“, die destruktiven Anteil am psychotischen Chaos hat - Interaktionsstrukturen bei Psychosen wie bei einem totalitären Staat
Ab 1990 Im Gefolge der Psychiatrie-Reform ungefragt als kostenlose Nachsorge-Institution
Personal
Recovery
Verbundenheit
Connectedness
Hoffnung und Optimismus
Hope and optimism
Identität
Identity
Bedeutung und Sinn
Meaning in Life
Empowerment
Empowerment
CHIME - „Das wichtige messbar machen, nicht das
messbare wichtig machen“
Leamy, M., Bird, V., Le Boutillier, C., Williams, J., & Slade, M. (2011). Conceptual framework for personal recovery in mental health: systematic review and narrative synthesis. The British Journal of Psychiatry, 199(6), 445-452.
Prof. Dr. rer. medic. Michael Schulz
WE TRANSFORM A SYSTEM BY
CHANGING THE PARADIGM WITH
WHICH SERVICES ARE
CONDUCTED
Marriane Farkas
Recoveryorientierte Beziehungsgestaltung berücksichtigt folgende Faktoren
Vier Schlüsselelemente:
• Personenorientiert (individuelle Person mit Stärken, Talenten und Grenzen, nicht als „Fall“, Überwindung von „us and them“)
• Einbezug von Betroffenen (Peer-Support, partnerschaftliche Arbeitsbeziehung, Mitbestimmung in allen Bereichen, Anstellungen von Betroffenen)
• Selbstbestimmung / Wahlfreiheit (u.a. Wohnsituation, Wahl der Therapien, Kontakt zu Einrichtungen)
• Wachstumpotential (Potential der Genesung, Hoffnung, Veränderung, Recovery als Prozess)
Farkas, M., et al., Implementing Recovery Oriented Evidence Based Programs: Identifying the Critical Dimensions. Community Mental Health Journal, 2005. 41(2): p. 18.
6. FORSCHUNG, STANDARDISIERTE
ASSESSMENTVERFAHREN UND MANUALISIERTE
INTERVENTIONEN KÖNNEN PROFESSIONELLE
BEZIEHUNGSGESTALTUNG POSITIV BEEINFLUSSEN
Leitprinzipien für gute Beziehung
und Kommunikation
Gute Kommunikation
Auf die Sorgen und Ängste der Patienten
eingehen
Wertschätzung und Echtheit in der Kommunikation
Einbeziehung in die Entscheidungsfindung
Positive Ausstrahlung und persönliche Wertschätzung
Verwendung eines psychologischer
Modelle und Ansätze
Priebe, S., Dimic, S., Wildgrube, C., Jankovic, J., Cushing, A., & McCabe, R. (2011). Good communication in psychiatry–a conceptual review. European Psychiatry, 26(7), 403-407.
Pro
zess F
äh
igkeite
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Evidence based - wissenschaftliches Fundament In
terp
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äh
igkeit
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Einbeziehung der Patienten & Widerstand gering halten Austausch von Informationen & Diskrepanzen herausarbeiten
Assessment
Das Konzept der Adherence
Therapie
Problem- lösung Rückblick
Ambivalenz Heraus- und bearbeiten
Annahmen + Einstellungen besprechen
Nach vorne blicken
Drei Monate nach Entlassung: - Drop Out Rate 10% - Interventionsgruppe mit besserem
psychopathologischem Befund - Therapeutisches Drug Monitoring: keine
Verbesserung in der Interventionsgruppe
Schulz, M., Gray, R., Spiekermann, A., Abderhalden, C., Behrens, J., & Driessen, M. (2013). Adherence therapy following an acute episode of schizophrenia: a multi-centre randomised controlled trial. Schizophrenia research, 146(1), 59-63.
Adherence Therapeut zu Nähe
und Distanz
„In der Umsetzung war für mich die größte Überraschung, wie nah man so am Patienten sein kann. Hier in der Forensik ist es ja üblich, eher Distanz zu wahren. Ich empfand mich da sehr nah am Patienten, konnte vieles nachvollziehen, was er so gedacht hat und wieso er was getan hat.“ (C. 1:47)
Beziehung führt zu Empowerment
und Wachstum
„Im Rahmen der Adherence Therapie habe ich den Patienten ganz anders kennengelernt - lernfähig kennengelernt. Mir wurde auch von anderen Teammitgliedern, z.B. auch vom Arzt, rückgemeldet, dass der Patient erwachsender geworden ist. Er geht in Gespräche rein und weiß dann genau, was er will. Ich habe ihn von Anfang an ehrlich und offen erlebt. [...] Ich habe ein komplett anderes Bild von diesem Menschen bekommen, aber ich glaube, er hat sich auch verändert [...]. (C: 15)
„People (Patients) do not care about how much you know until they know how much you care.“
Theodore Roosevelt
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit