roemer scheich safi von ardabil

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg HANS ROBERT ROEMER Scheich ÑafÐ von ArdabÐl Die Abstammung eines ÑÙfÐ-Meisters der Zeit zwischen Sa’dÐ und ÍÁfiÛ Originalbeitrag erschienen in: Wilhelm Eilers (Hrsg.): Festgabe deutscher Iranisten zur 2500 Jahrfeier Irans. Stuttgart: Hochwacht Dr. 1971, S. 106-116

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Page 1: Roemer Scheich Safi Von Ardabil

Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

HANS ROBERT ROEMER Scheich ÑafÐ von ArdabÐl Die Abstammung eines ÑÙfÐ-Meisters der Zeit zwischen Sa’dÐ und ÍÁfiÛ Originalbeitrag erschienen in: Wilhelm Eilers (Hrsg.): Festgabe deutscher Iranisten zur 2500 Jahrfeier Irans. Stuttgart: Hochwacht Dr. 1971, S. 106-116

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Scheich Saft von ArdabilDie Abstammung eines Süfi-Meisters der Zeit zwischen Saccli und kläfiz

Von Hans Robert Roemer, Freiburg

Die Lebenszeit Scheich Safis von Ardabil, des Eponymus der safawidischenHerrscher Persiens, für die gewöhnlich die Jahre 1252 bis 1334 angegeben werden 1,überschneidet sich am Anfang mit derjenigen Saedis und reicht am Ende in dieKindheit des 1-jea Häfiz hinein. Saedi stand bei der Geburt Safis schon in vorge-rückten Jahren und lebte in Schiras, als der Ahnherr der Safawiya 1279 oder kurzeZeit später dort auf der Suche nach einem geistigen Lehrmeister eintraf 2 . Da kläfiz1390 3 im Alter von 65 Mondjahren verstorben ist, dürfte er um 1327 geborenund beim Tode des Scheichs erst sieben Jahre alt gewesen sein.

Über ein Zusammentreffen Safis mit Saedi gibt es verschiedene Berichte. In spä-teren Aufzeichnungen heißt es 4 , er habe bei seinem Besuch in Schiras den Dichtergetroffen und „manche glückliche Stunde im Gespräch mit ihm verbracht". EinAutor, der Scheich Safi noch persönlich gekannt hat, Ibn Bazzä z 5 , spricht eben-falls von dieser Begegnung, berichtet aber, der Jüngling aus Ardabil habe ein Auto-graph eines seiner Werke, das Saedi ihm als Geschenk zugedacht hatte, zurück-

1 Mahmud B ina-Motla gh, Scheich Safi von Ardabil, Diss. phil. Göttingen 1969,S. 29 und 139 ff., hält das von Br o wne, LHP IV, S. 42 f. ermittelte Geburtsjahr nichtfür stichhaltig und plädiert für „das Jahr 1260, oder zwei bis drei Jahre davor".2 Er wollte den Scheich Narb ad-din 'Ali b. Buzrig ag-Siräzi aufsuchen, einen SchülerSihäb ad-din Suhrawardis. Doch war Ibn Bu4rig, als dessen Todesjahr 1279 bekannt ist,kurz vor seiner Ankunft gestorben.3 Argumente, die für dieses (und nicht für das vorhergehende) Jahr sprechen, findet manzusammengestellt bei Abdülbaki Gölpinar 11, Hafiz Divani, Vorwort, wo auch eineReihe weiterer Angaben zur Biographie des Dichters mitgeteilt wird; vgl. unsere Abhand-lung, Probleme der Hafizforschung und der Stand ihrer Lösung, Abh. AWL (Mainz) 1951,S. 9. Auch Muhammad Q az w int hat sich in Revue de la Faculte des Lettres deTabriz 11 (1328/1949-50), S. 30-40, für das Todesjahr 1390 ausgesprochen.4 So etwa der 1591 schreibende Qäii Ahmad bei Erika Glassen, Die frühen Safawidennach Qäii Ahmad Qumi, Freiburg 1970, S. 120.5 Nach Bina -Mo tl a g h, op. cit. 19 f., war Ibn Bazzäz beim Tode Scheich Safts fünf-undzwanzig Jahre alt oder älter, jedenfalls einer seiner Schüler.

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gewiesen, weil „man mit diesem Diwän nicht zu Gott gelangen könne". Von wel-chem seiner Bücher hier auch die Rede sein mag 8, Saedi war damals ein anerkann-ter Dichter, dessen Werke großes Ansehen genossen. Es läßt sich leicht ermessen,wieviel Wahrscheinlichkeit eine derartige Erzählung für sich hat.

Bei dem Alter, in dem Häfiz zu Lebzeiten Safis stand, sind persönliche Bezie-hungen auszuschließen. Ob er später mit dem Ardabiler Orden in Berührung kam,mag dahingestellt bleiben. In unserem Zusammenhang ist nur von Bedeutung,daß die geistige Welt, in der er lebte und wirkte, derjenigen des safawidischenOrdensmeisters noch recht nahe stand. Wir haben im übrigen nicht die Absicht,Scheich Safis Verhältnis zu den beiden Dichtern oder zu ihren Werken zu klären,vielmehr möchten wir einige Erwägungen über sein Leben und seine Zeit vor-tragen, die letzthin Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen gewesen sind, abernoch nicht allgemein bekannt geworden sein dürften 7 .

Seit Henri Masse und eAbd ar-Rasül bi ayyämpür über Saedi, Qäsima n 1 und Roger Les co t über 1-. 1äfiz geschrieben haben 8, wissen wir, wie wichtig

es wäre, genauere Kenntnis von den Zeitverhältnissen dieser Dichter zu haben.Zwar sind wir über die damalige politische Geschichte ziemlich gut orientiert, undauch die Schleier über den wirtschaftlichen Verhältnissen beginnen sich zu lichten 9 .Viel weniger wissen wir dagegen über den Alltag, die sozialen Verhältnisse unddie geistige Situation, die den Hintergrund für die Werke der Dichter bildeten.Von Fortschritten unserer Kenntnisse auf diesem Gebiet wird aber ein besseresVerständnis mancher Schwierigkeiten abhängen, die die Interpretation ihrer Dich-tungen einstweilen noch bereiten. Infolge der Bedeutung, die der Ardabiler Ordenschon in früher Zeit hatte und erst recht durch die politischen Unternehmungenseiner späteren Angehörigen erlangte, sind uns über Scheich Safr mancherlei An-gaben erhalten, die auf seine Lebenszeit neues Licht fallen lassen. Hieraus könntesich auch der eine oder andere Hinweis auf historische Zusammenhänge ergeben,die hinter den Dichtungen stehen, deren Autoren der gegenwärtige Kongreß ge-widmet ist".

6 Nach Glassen, op. cit. 120, Anm. 5, wäre es der Bustän (diwän-i arär) gewesen, nachder für „Freiburger Islamstudien" im Druck befindlichen Untersuchung The Origins of theSafawids: Sieism, Süfism, and the Gulät (Index) von Michel M. Mazzaoui dagegender Gulistän.7 Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die bereits genannten Arbeitenvon Bina-Motlagh, Glassen und Mazzaoui sowie des letzteren Disser-tation Shieism and the Rise of the Safavids, Princeton 1966 (nicht gedruckt).8 M asse, Essai sur le poete Saadi, Paris 1919. tl ayy ämpür, Farhang-i subanwarän,Tabriz 1340, besonders S. 269 ff. G a n i, Bahs dar äsär wa-ahwäl-i Häfiz, Bd. I und 11,1(alles Erschienene), Teheran 1321-22. Le sc ot, „Essai d'une chronologie de l'oeuvre de1-.Iäfiz", Bulletin d'ttudes Orientales, Bd. X, Beyrouth 1944, S. 57-100.9 I. P. Petrushevsky, Zemledelie i agrarnie otnogeniya w Trane XIII—XIV ww.,Moskau-Leningrad 1960, sowie desselben Beitrag zu The Cambridge History of Iran,Bd. V, S. 483-537, „The Socio-economic Condition of Iran under the Il-Khäns".10 Den Text dieses Beitrages habe ich bei dem von der Universität Schiras veranstalteten

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II

Zunächst empfiehlt sich ein Blick auf die Quellen, die uns für die BiographieScheich Safis zur Verfügung stehen. Es handelt sich dabei, wenn wir von späterenBerichten oder dubiosen Werken absehen, um nur wenige Zeugnisse, allerdingsverschiedenen Umfangs.

Zwei davon gehen auf Hamdalläh Mustaufi Qaz wini zurück, der in seiner1330 geschriebenen Chronik Tärib-i guzida 11 den Scheich Safi mit Namenals eine noch lebende Persönlichkeit bezeichnet, der das Verdienst zukomme, durchgroßen Einfluß bei den Mongolen viele Menschen vor den von diesen ausgehendenUnbilden bewahrt zu haben. Derselbe Autor erwähnt in seinem geographischenWerk Nuzhat al-qulü b 12 , das auf das Jahr 1340 zurückgeht, bei der Be-schreibung von Ardabil, die Einwohner dieser Stadt huldigten in der Mehrzahldem iäfiitischen Madhab und seien Anhänger des (inzwischen) verstorbenenScheich Safi.

Nicht ganz so unanfechtbare Belege wie diese beiden sind zwei Briefe Raidad-din Fadlallähs (hingerichtet 1318), des berühmten Staatsmannes und Historikersder Mongolenzeit, die als Nr. 45 und 49 in dessen Briefsammlung 13 enthalten sind.Der erste ist an den Scheich selbst gerichtet und bezieht sich auf eine Schenkungan seinen Konventikel, woraus das Ansehen zu erkennen ist, das der Briefschreiberdem Süfi zollt. Doch auch der zweite, der sich an Raid ad-dins Sohn Mir Ahmadrichtet, den damaligen Statthalter von Ardabil, beweist die Wertschätzung desMinisters für den Ordensmann. Reuben Levy hat gegen die Echtheit der Samm-lung, in der die Briefe enthalten sind, Zweifel von einigem Gewicht angemeldet 14 .

In einer Auseinandersetzung mit Levy s Argumenten, von denen übrigens keinessich auf die uns hier interessierenden Briefe bezieht, hat kürzlich Bina-Mot-1 a g h 15 Erwägungen vorgetragen, die zwar nicht alle Zweifel Levys zerstreuen,die hier zitierten Stücke aber als wahrscheinlich echt erweisen.

Scheich Safi kommt auch in der Biographie des Scheichs 'Ali Hamadäni (1314 bis1385) vor, die einer von dessen Schülern, Maulänä Nür ad-din Bada tO i, unter

Sa`cli- und 171äfiz-Kongreß am 29. April 1971 im Asia Institute zu Schiras in englischerSprache vorgetragen.11 Hamdalläh al-Mustaufi al-Qazwini, Tärib-i guzida, Faksimile-Ausgabe vonBrowne und Nicholson, 2 Bde, London und Leiden 1911-14 (GMS XIV,1 und 2).12 Qazw in i, Nuzhat al-qulüb, ed. Muljammad Dabir-i Siyäqi, Teheran 1336.13 Mukätabät-i Ra's'idi, ed. Muhammad Safie, Lahore 1945.14 „The Letters of Rashid al-Din Fadl-Alläh", JRAS 1946, S. 74-8.15 Scheich Safi von Ardabil, S. 140-45. Wie aus dem in Anmerkung 9 an erster Stellegenannten Werk, S. 19, hervorgeht, ist Petrushevsky von der Echtheit der Briefeüberzeugt. Näheres darüber dürfte sich finden in seiner mir nicht zugänglichen Arbeit„K woprosu o podlinnosti perepiski Ran-d ad-dina po powodu R. Levy", Westnik Lenin-gradskogo Universiteta 1948, No. 9.

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dem Titel IGI uläsat al-manäqib geschrieben hat 16 • Darin wird der Traumeines Süfi mitgeteilt, der auf den Ardabiler Ordensmeister an und für sich nichtgut zu sprechen war. In diesem Traum erscheint Safi im Paradies als einer vonzwei Türhütern des Propheten Muhammad.

Die Hauptquelle für Scheich Safi ist indessen ein Werk mit dem Titel Saf watae-safä oder Mawähib as-saniya fi 1-manäqib as-safawiya,das um 1358 von Tawakkuli b. Ismäll b. 1714g al-Ardabili, bekannt unter demNamen Ibn Bazzäz, den wir soeben schon erwähnten, geschrieben wordenist. Der Verfasser war ein Angehöriger des safawidischen Ordens, der bei demTode Scheich Safis „zu dem engen Kreis um den Meister gehört haben" muß 17 ,

weil er nämlich über dessen Todesstunde und sein Begräbnis allem Anschein nachals Augenzeuge berichtet. Ihm kam es vor allem darauf an, in seinem Buch Wun-dertaten seines Meisters festzuhalten, für die er jeweils Gewährsleute nennt, häufigScheich Sadr ad-din, den Sohn und Nachfolger Salis, aber auch einfache Ordens-angehörige (muridän) und Emissäre (bulafä'), sowie Pförtner, Bäcker und Köche,also Vertreter schlichter Berufsgruppen. Es handelt sich also um ein hagiographi-sches Werk, keineswegs um eine historisch konzipierte Biographie.

Trotzdem sind darin, wie jüngst Erika Glassen festgestellt hat 18, vielehistorische Angaben oder Hinweise enthalten, die zum besseren Verständnis derFrühgeschichte des safawidischen Ordens dienen können.

Da das Buch vielen späteren Autoren als Quelle gedient hat, sei es, daß sie sichausdrücklich darauf beziehen, sei es, daß sie ihm identifizierbare Entlehnungenentnehmen, ohne deren Herkunft zu nennen, muß es ziemlich bekannt gewesensein. Es sind uns auch eine Reihe von Handschriften erhalten, die verschiedeneRezensionen des Werkes bieten, wovon sogleich zu sprechen sein wird.

Im Jahre 1329/1911 hat Ahmad Karim Tabrizi in Bombay einen Stein-druck des Saf wat as-safä besorgt, oder genauer: Das Werk in einen Sam-melband erbaulicher und belehrender Schriften aufgenommen. Über das Zustande-kommen seines Textes berichtet er eingehend in einem Vorwort 19 . Daraus erfahrenwir, daß er fünf verschiedene Handschriften, bzw. Handschriftenfragmente benutzthat. Soweit ersichtlich, ist aber der Rückgriff auf seine Editionsgrundlagen nichtmöglich, so daß man bei aller lauteren Absicht, die Tabrizi zuzugestehen ist,von einer kritischen Edition nicht sprechen kann. Im übrigen ist aber auch derBombayer Steindruck heute nicht mehr leicht zugänglich. Obwohl nicht wenige

16 Johann Karl Teufel, Eine Lebensbeschreibung des Scheichs 'Ali Hamadäni (gestor-ben 1385). Die Xuläsat ul-manäqib des Maulänä Nür ud-clin Caefar-i Badaxn, Leiden1962, S. 75.17 Bina-Motlagh, S. 19. — Nach Zeki Velidi Togan, „Sur l'origine des Safavi-des", Melanges Louis Massignon, Tome III, Damas 1957, S. 345, wäre zu erwägen, obstatt „Tawakkuli" nicht „Tükli" zu lesen sei.18 Die frühen Safawiden, S. 19.19 Ein Resümee dieses Vorwortes und Angaben aus einer in Teheran 1959 anonym unterdem Titel W ahid-näma herausgegebenen Biographie Tabrizis bei Bina-Motlagh,S. 15-18 b.

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Gelehrte das Saf wat as-safä für ihre Arbeiten herangezogen haben", fehltes bis heute an einer kritischen Ausgabe. Es ist aber zu hoffen, daß sich diese Lückein absehbarer Zeit schließen wird, da Michel M. Mazzaoui seit längerer Zeiteine Edition vorbereitet.

III

Daß die Safawiden Persien zu einem schieitischen Land gemacht haben, ist unbe-stritten. Kein Zweifel ist aber auch daran möglich, daß ihr Ahnherr, Scheich Safi,keineswegs Schilt war, sondern Sunnit, und zwar, wie man dem einen der soebenmitgeteilten Zitate aus den Schriften Hamdalläh Mustaufis implicite entnehmenkann, Angehöriger des gäfieitischen Madhab, ebenso wie die Mehrzahl der Arda-biler Bevölkerung, die zu seinen Anhängern gehörte. über seine Abstammung istdamit natürlich noch nichts gesagt, und diese Frage ist für die Beurteilung seinerPersönlichkeit auch nicht von ausschlaggebender Bedeutung.

Sie erschien allerdings in einem ganz anderen Lichte, als die Nachkommen desScheichs Vorkämpfer einer schieitischen Bewegung wurden. Wann das geschehen ist,soll hier nicht untersucht werden. Sicher ist aber, daß Schah Ismäeil I. im Sommer1501 unmittelbar nach seiner Thronbesteigung in Tabriz die Schi% zur Religionseines Staates hat ausrufen lassen. Weiter ist bekannt, daß er und auch sein Sohn,Schah Tahmäsp I., den Anspruch erhoben, von 'Ali b. Abi Tälib, dem viertenChalifen der Sunniten und dem ersten Imäm der Schilten, abzustammen. Wirhaben keinen Grund zu der Annahme, daß sie von der Richtigkeit dieser Ab-stammung nicht auch wirklich überzeugt gewesen wären. Jedenfalls ist es bisherauch noch so kritischen Geistern nicht gelungen, stichhaltige Argumente zum Be-weise des Gegenteils, das nicht selten behauptet wird, beizubringen. Die Tatsache,daß in uns erhaltenen Urkunden ihrer Todfeinde, der Czbeken im Osten und derOsmanen im Westen, diese ealidische Abstammung als gegeben hingenommen wird,sollte trotz kritischer Stimmen, die auch damals schon laut wurden, nicht unter-schätzt werden.

Wenn an dem guten Glauben der beiden Herrscher auch kaum Zweifel möglichsind, so ist damit doch noch nichts über die objektive Sachlage ausgesagt. Viel-mehr bleibt die Frage bestehen: Geht Ismäeils Stammbaum wirklich auf 'Alt zu-rück? Ist die Genealogie, die Scheich Safi mit der Familie des Propheten verbindet,wirklich echt? Die Antwort angesehener Gelehrter ist negativ: Sie sprechen vonLüge oder Erfindung. Ob sie damit recht haben oder nicht, derartige Formulierun-gen legen die Vermutung inneren Engagements nahe, die es empfehlen, auch aufGegenstimmen einzugehen, die sich in der letzten Zeit erhoben haben mit Argu-menten, denen Gewicht zukommt.

20 Neben modernen Autoren wie Browne, Nikitine und Togan ist vor allemeine hernach noch zu besprechende, 1567/68 von Husain Tabrizi (t 1589) verfaßte Bio-graphie Scheich Safis von besonderem Interesse, die sich ganz auf das afwat as-safästützt.

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IV

Wenn man einmal von der zeitgenössischen polemischen Literatur absieht 21 , SC)

war Ahmad K asrawi (1888-1945) der erste Gelehrte, der die ealidische Ab-stammung der Safawiden angefochten hat und zwar mit wissenschaftlichen Argu-menten. Vor 45 Jahren hat er sich mit dem Problem in einer Aufsatzreihe befaßt,die in der Zeitschrift liyanda erschienen ist, achtzehn Jahre später in sprachlichüberarbeiteter Form als Broschüre und 1963 in einer neuen Auflage herausgegebenwurde 22 . K asr a wis Ausführungen scheint zunächst, wenigstens außerhalb Per-siens, keine besondere Verbreitung beschieden gewesen zu sein. Wie anders wärees zu erklären, daß 1957 ein so belesener Gelehrter wie Ahmed Zeki VelidiTog an ohne deren Kenntnis dieselbe Frage aufgegriffen und mit ähnlichen Ar-gumenten wie Kasr a wi behandelt hat 23 ?

Ausgangspunkt beider Gelehrter ist das Safwat as--.safä, von dem es, wie gesagt,nicht nur verschiedene Handschriften, sondern auch voneinander abweichende Fas-sungen gibt. Zwar wissen wir, daß Schah Tahmäsp I. eine, übrigens noch heuteexistierende, „kastigierte" Ausgabe hat anfertigen lassen, doch haben Eingriffe inden Text schon vorher, angeblich unter Schah Ismäll, stattgefunden 24 . Zwei Hand--schriften liegen vor aus der Zeit vor der Thronbesteigung Schah Ismälls, alle an-deren Handschriften, türkische Übersetzungen nicht ausgenommen, sind unter dersafawidischen Herrschaft entstanden, also nach 1501 25 .

Die aus safawidischer Zeit stammenden Handschriften — und mit ihnen auch dieBombayer Ausgabe — führen Scheich Safis Geschlecht auf Müsä al-Käzim (t 799),

21 Darüber liegt neuerdings eine aufschlußreiche Monographie vor von Elke Eberhar d,Osmanische Polemik gegen die Safawiden im 16. Jahrhundert nach arabischen Handschrif-ten, Freiburg 1970. — Die Urheber der in diesem Buch behandelten polemischen Schriftenwaren zum Teil persische Emigranten und insoweit mit den Verhältnissen in Persien wohlvertraut.22 Die Aufsatzfolge ist unter dem Titel „Niiäd wa-tabär-i Safawiya" in der TeheranerZeitschrift Ayanda 11 (1305-06/1926-27), S. 357-65, 489-97 und 801-12 erschienen, dieBroschüre unter dem Titel ‘gaib Safi wa-tabärdi (Teheran, Kitäbbäna-yi Päydär).23 Es handelt sich um den oben, Anmerkung 17, genannten Aufsatz, S. 345-57. Togansagt in einem Korrekturzusatz, er habe Kasrawis Untersuchung erst zu Gesicht be-kommen, als sein Beitrag zur Festschrift Massignon schon im Druck gewesen sei.24 Die verschiedenen Handschriften sind aufgeführt bei Storey, Persian Literature I,S. 939 f. Die dort genannte Handschrift des India Office, die E the nach dem Kolophonfür ein Autograph hält, ist nach Togan, op. cit. S. 353 f., nicht vor dem 17. Jahrhun-dert entstanden. Die auf das Jahr 759/1358 zurückgehenden Angaben im Kolophon, hättedann der Abschreiber, wie das ja nicht selten vorkommt, von seiner Vorlage stillschwei-gend übernommen.25 Es geht um die persischen Handschriften Leiden Nr. 2639 von 1485 und Aya SofyaNr. 3099 von 1491. Allerdings weiß Hanna Sohr weide, „Der Sieg der Safavidenund seine Rückwirkungen auf die Schiiten Anatoliens im 16. Jahrhundert", Der Islam 41(1965), S. 117, worauf mich Frau Erika Glassen aufmerksam macht, auch von einerrümtürkischen übersetzung des Safwat as-safä vom Februar 1457 zu berichten.

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den siebenten Imäm, zurück 26, während die Ahnenreihe in den beiden älterenHandschriften mit dem Kurden Firüz Säh Zarrinkuläh, dem siebenten VorfahrenScheich Safis, abbricht. Dieser Ahn fehlt zwar nicht in den Handschriften jüngererFassung, angeblich aber der Hinweis auf seine kurdische Abstammung 27• Fernerstehen in den jüngeren Handschriften zu Anfang jeweils drei Geschichten, ausdenen sich ergibt, Scheich Safi habe sich als Nachkomme 'Ans oder doch als Ver-wandter von eAliden und mithin auch selbst als Sayyid bezeichnet. Zwei dieserGeschichten sucht man in den älteren Handschriften vergeblich, eine dagegen habenalle Handschriften, die jüngeren und die älteren, miteinander gemein, nämlich denBericht Scheich Sadr ad-dins, sein Vater habe ihm gesagt: „Dar nasab-i mä siyädathast", also etwa „in unserem Stammbaum gibt es eine Beziehung zur Propheten-familie".

Das ist in aller Kürze der Sachverhalt, wie er sich aus den verschiedenen Hand-schriftengruppen und der Bombayer Ausgabe zusammenfassen läßt. WelcheSchlüsse darf man daraus ziehen?

Wenn es auch so aussieht, als seien die nach der Thronbesteigung Ismäeils ent-standenen Handschriften mit der Tendenz, der herrschenden Dynastie einen auf'All zurückgehenden Stammbaum zu sichern, späte, vielleicht sogar erst unterSchah Ismäeil vorgenommene Abwandlungen des älteren Textes, so ist diese Ver-mutung doch nicht einwandfrei zu beweisen 28 . Ein Emigrant in Damaskus, klusainTabrizi, genannt Ibn Karbal ä'i, der seine persische Heimat wegen seinersunnitischen Gesinnung hatte verlassen müssen und daher über den Verdachtprosafawidischer Sympathien erhaben ist, bietet nämlich in seinem 1567/68 ver-faßten Buch Rauciät a1-kinän, worauf Bina-Motlagh aufmerksam macht 29 ,

ebenfalls, und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das safwat as-safä,die ergänzte Ahnenreihe, wie wir sie in den nach 1501 entstandenen Handschriftenfinden. Wie kommt es, daß Ibn Karbalä'i daran keine Kritik geübt hat?

26 Die auf Müsä al-Käzim zurückführenden zwanzig Vorväter Scheich Safis sind nament-lich aufgeführt bei Bina -Mo tla gh, S.27.27 T o g an , op. cit. S. 347 ff., stellt den Text der Handschrift Aya Sofya 3099 (mit dernach einer ihm von Karl J ahn erteilten Auskunft die Leidener Handschrift Nr. 2639übereinstimmt) demjenigen gegenüber, den die 1508 entstandene Handschrift Aya Sofya2123 bietet Aya Sofya 3099 hat eindeutig „Birüz al-Kurdi as-Sangäni" (wobei „as-Sadgäni"laut K asr a wi, Saib, Safi, S. 48 Anm. 2, nur eine Variante zu as-Sankäri bzw. as-Sinkäyi ist — sofern nicht mit To ga n, S. 351, Sank<äbi zu lesen wäre).28 In diesem Zusammenhang ist auf eine Bemerkung Hanna Sohr w eides, op. cit.Anm. 183, zu verweisen, in der unter Bezugnahme auf Gölpin arli, Kaygusuz Ab-da! — Hatayi — Kul Hirnmet, Istanbul 1953, S. 15, daran erinnert wird, daß die FamilieKeväkibizäde, Nachkommen eines Sohnes von Scheich Ibrähim, also eines Bruders vonScheich Gunaid, als Sunniten im Osmanischen Reich lebten, wo sie mehrfach das Amt desNaqib el-elräf innegehabt hätten, daß also bei ihnen die Osmanen die ealidische Abstam-mung der Safawiden akzeptiert hätten.29 Scheich Safi von Ardabil, S. 138 f. — Das Buch Raucjät a1-,einän ist gedruckt in Teheran1965, vgl. auch oben, Anmerkung 20.

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Oder aber — warum hat er den Stammbaum nicht einfach weggelassen, wenn eretwa Rücksichten zu nehmen hatte?

Es ist also nicht von der Hand zu weisen, daß Ibn Karbalä'i auch alteHandschriften, also solche aus der Zeit vor der Safawiden-Herrschaft, benutzt hat,in denen der Stammbaum Scheich Safis schon für die Zeit von Firüz Säh bis Müsäal-Käzim ergänzt war. Dazu paßt die Vermutung Kasrawis, die Ergänzungdes Stammbaums gehe auf Scheich Sadr ad-din zurück, der sie bei Gelegenheiteiner Wallfahrt nach den Heiligen Stätten von dem Scherifen in Medina erhaltenhabe. Zeki Velidi Togan hat hervorgehoben, daß Sadr ad-din seine Wallfahrterst 1368 gemacht hat, also zehn Jahre nach der Niederschrift des Safwat as-safä 30 .Mithin wäre eine Veränderung dieses Buches also irgendwann zwischen dieserPilgerreise und 1567/68, dem Jahr der Abfassung des Raudät al-,einän, anzusetzen,nicht unbedingt unter Ismäeil oder Schah Tahmäsp. In diesem Falle bliebe freilichzu klären, wieso es vorsafawidische Handschriften gibt, die die Ergänzung desStammbaumes nicht aufweisen. Kasrawi konnte sich diese Frage nicht stellen,weil er solche Handschriften nicht kannte 31 . Eine Erklärung liegt nahe: Zu I b nKar b alä'is Zeiten gab es zwei verschiedene Handschriften-Überlieferungen,eine mit ergänztem Stammbaum, die andere ohne diese Ergänzung, und aus dieserletzteren Überlieferung stammen eben diejenigen, die aus der Zeit vor Ismäeil aufuns gekommen sind.

Togans Behauptung, die Ahnenreihe Scheich Safis sei unter Schah Ismällergänzt worden 32, ist damit freilich noch nicht völlig widerlegt, hat aber viel vonihrer Beweiskraft verloren. Etwas anders verhält es sich mit seiner Vermutung,Schah Ismäll und Schah Tahmäsp hätten sich alle erdenkliche Mühe gegeben 33 ,ihre kurdische Abstammung zu vertuschen, weil sie starken Zulauf von turkme-nischen Stämmen sowohl Azarbäigäns als auch Anatoliens hatten. Dabei ist still-schweigend vorausgesetzt, daß gewisse Spannungen zwischen Türken und Kur-den, wie sie in späteren Zeiten zu beobachten sind, auch schon im 16. Jahrhundertbestanden hätten. Ob es an dem ist, bleibt eine offene Frage. Immerhin ist die inden späteren Handschriften zu beobachtende Verballhornung des auf die kurdischeAbstammung Safis hinweisenden Satzes auffällig 34 .

3° „Sur l'origine des Safavides", S. 352.31 Den Nachweis dafür führt Bina-Motlagh, S. 133.32 „Sur l'origine des Safavides", S. 347. Dieselbe Behauptung findet sich allerdings auchschon in einem um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Istanbul von dem RechtsgelehrtenAbü s-Sufüd erlassenen Fatwä, wo es heißt, Schah Ismäeil I. habe die Sayyids von Maffiadgezwungen, seinen Stammbaum in das „Adelsregister" (bahr al-ansäb) einzutragen, vgl.Eber har d, Osmanische Polemik, S. 165.33 Togan, op. cit. S. 356.34 Beiläufig sei nur erwähnt, daß es sich hierbei um recht plumpe Textveränderungen han-delt: So ist etwa aus al-Kurdi as-Sankäni geworden al-Karawi as-Sankiäni, aus wa-Zrunnisbat-i Firüz bä kurd raft die sinnlose Formulierung wa-jun nisbat-i Firüz Säh-rä dardikr-i nasab raft. Ein Schreiber mit besonnener Fälschungsabsicht wäre doch wohl andersvorgegangen.

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Nicht minder auffällig ist im übrigen, daß Scheich Sadr ad-din, dem nach derAuffassung Kasrawis daran lag, seine Abstammung von dem Geschlecht desPropheten nachzuweisen, den Titel „Sayyid", auf den ihm die Mitteilung desScherifen von Medina Anspruch gegeben hätte, nicht auch tatsächlich geführt hat.Keiner von den Ardabiler Ordensmeistern hat sich Sayyid genannt, und aus dersafawidischen Familie soll der erste, der diesen Titel überhaupt führte, Qäsim Ijän,der Sohn Scheich öaefars und Schwiegersohn des berühmten Qara Qoyunlu-Für-sten Cahängäh (t 1467) gewesen sein 35 .

V

Wenn man Kasrawi und Tog an auch nicht in allen Punkten widerlegenkann, so ist doch manches an ihren Thesen nicht stichhaltig. Die von ihnen vertre-tenen Deutungen der Fakten und der Indizien sind weder zwingend noch die ein-zig möglichen, zumal wenn man die von Scheich Safi überlieferte Bemerkung „darnasab-i mä siyädat hast" ernst nimmt, die ja nicht nur in den Handschriften mitoffensichtlich geändertem Text steht, sondern in allen, die wir kennen. Frau ErikaGlassen stützt auf diesen Satz ihre Auffassung, man könne sogar den Nach-fahren des Ordensgründers auch dann noch guten Glauben an ihre talidische Ab-stammung zubilligen, wenn sie der in dieser Äußerung enthaltenen Spur nachge-gangen seien und versucht hätten, ihren Stammbaum zu „vervollständigen" 36 •

Noch einen Schritt weiter geht Bina-Mutlagh. Er hält Scheich Safis Ab-stammung vom Propheten sogar für wahrscheinlich und kommt nach sorgfältigerAbwägung der verschiedenen Argumente zu dem Erbegnis, diese Abstammung seibisher nicht widerlegt 37 . Er bestreitet weder die Manipulation der von uns so ge-nannten späteren Handschriften noch die kurdische Abstammung Firüz Sähs, ver-tritt indessen die Meinung, man könne unterstellen, Scheich Safi sei wirklich Sayyidgewesen, habe davon aber kein Aufhebens gemacht und sich aus Bescheidenheitnicht Sayyid genannt 38. Sein Sohn, der an der Herkunft seiner Familie eingrößeres Interesse gehabt habe, sei bei der Suche nach seiner Ahnenreihe erfolgreichgewesen. Wenn das Ergebnis seiner Erkundigungen nachträglich in das safwat as-safä eingefügt worden sei, so bestehe deshalb noch kein Anlaß, wie Togan von„Erfindung" oder wie Kasrawi von „Lüge" zu sprechen.

VI

Einerlei, ob Scheich Safi Prophetenabkömmling gewesen ist oder nicht, ob ersich zu Recht oder zu Unrecht dafür gehalten hat, auf seine Zugehörigkeit zur

35 Vgl. mein Safawiden-Kapitel in CHI VI. — Dafür, daß Scheich Safi nicht sayyid ge-nannt wurde, gibt es außer den Urkundenabschriften des oben, Anm. 13, genannten Wer-kes auch noch Originalurkunden.36 Glassen, Die frühen Safawiden, S. 22 f.37 Die Argumentation ist enthalten in dem Anhang („Zur Frage der Abstammung vonScheich Safi") zu Scheich Safi von Ardabil, S. 130-37.

38 Bina-Motlagh, S. 198, kann sich auf die ausdrückliche Feststellung Ibn Kar-

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Sunna oder zur Schi% können aus keinem dieser Umstände Schlüsse gezogen wer-den: Es gab und gibt ja sowohl sunnitische als auch schiitische Sayyids. Wir habenbereits erwähnt, daß er ohne Zweifel Sunnit und nicht Schilt gewesen sei. Mithinstehen wir vor der scheinbar widerspruchsvollen Tatsache, daß der Stammvaterderjenigen Dynastie, die Persien zu einem schiltischen Land gemacht hat, selbstgerade nicht Schilt gewesen ist. Diesen Widerspruch wollen wir nicht mit Still-schweigen übergehen, wenn wir auch daran festhalten wollen, den Zeitpunkt desObergangs der Safawiden von der Sunna zur Schi% hier nicht zu erörtern. Immer-hin sind aber auch schon bei Scheich Safi gewisse Erscheinungen zu beobachten,die der Auflösung dieses Widerspruchs dienlich sein können. Sie lassen sich zu-sammenfassen unter dem Begriff des Volksislams, den wir in aller Kürze hier nochskizzieren wollen 39 .

Mit der Vernichtung des Chalifats durch die Mongolen und dem Untergangnahezu aller vorherigen Machtzentren des islamischen Ostens war der Islam nichtnur als politischer Faktor, sondern auch als Religion in eine ernste Krise geraten,wenn nicht sogar vor die Existenzfrage gestellt. Nach den vielen theologischenStreitigkeiten und dem endlosen Zwist häretischer Strömungen in den vorher-gehenden Jahrhunderten hätte in dieser Not wohl auch die Chance der Versöh-nung unter den sich befehdenden Richtungen und der Rückbesinnung auf die we-sentlichen Elemente des Glaubens gelegen. Man kann nicht sagen, daß sie genutztworden wäre: Der Islam hat auch in dieser Zeit weder eine echte Renaissancenoch eine Reformation erlebt 40 . Doch traten immerhin manche Divergenzen in denHintergrund; so der Zwiespalt zwischen den vier Rechtsschulen 41 und der heftigeGegensatz zwischen Sunna und Schiea, dessen Ausgangspunkt, die Frage nach demlegitimen Herrn der islamischen Welt, durch die mongolische Machtergreifung jaseine praktische Bedeutung verloren hatte.

Mit dem Fortfall des staatlichen Hintergrunds hatte die offizielle Theologie,die wegen ihres Rationalismus niemals populär gewesen war, viel von ihrer Be-deutung und ihrem Einfluß eingebüßt. Eine volkstümliche Religiösität breitete sichaus, in der manche Erscheinungen stärker hervortraten, die zwar früher auch schonbestanden haben mochten, sich aber wegen der Mißbilligung durch die Orthodoxienicht hatten durchsetzen können. Dazu gehört ein ausgeprägter Wunderglaube, einHeiligenkult mit der Herausbildung stark besuchter Wallfahrtszentren, ja sogardie Verehrung 'Alls, des Vetters und Schwiegersohns des Propheten Muhammad,die eigentlich als Wesensmerkmal schiitischer Haltung gilt, im Volksislam aber

balä'is, Raucjät S. 225, stützen.39 Den derzeitigen Stand der Erforschung des Volksislams bietet das im Druck befindlicheBuch Michel Mazzaouis, vgl. oben Anmerkung 6.40 Allerdings liegen in der Missionstätigkeit Scheich Safis gewisse Ansätze, deren einge-hende Untersuchung sich lohnen dürfte, vgl. Glassen, Die frühen Safawiden, S. 52.41 Das gilt nur für den Bereich der Mongolenherrschaft. Anderswo, etwa in Syrien oderÄgypten, waren zu derselben Zeit die Konflikte besonders heftig und zahlreich, wofürallein der Lebenslauf des berühmten Ibn Taimiya (t 1328) beredte Beispiele aufweist.

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durchaus nicht dieselbe Bedeutung zu haben braucht 42• Dazu gehört auch dieislamische Mystik. Sie hatte zwar schon lange vor dem Mongolensturm Blütezeitenerlebt, doch nahm sie nun wieder einen gewaltigen Aufschwung. Gleichzeitig ent-falteten sich die Süfi-Orden, die sie pflegten, in einem bis dahin ungekannten Aus-maß. Ihre Scheiche waren bei den breiten Massen der Bevölkerung bekannt undbeliebt, und das hohe Ansehen mancher Kapitelvorsteher erweckte Neid und Miß-gunst unter den gelehrten Theologen. Insoweit war Scheich Safi der typischeOrdensmeister: Eine Gestalt des Volksislams, abseits der offiziellen Theologie,deren Vertreter sein Tun und Lassen argwöhnisch verfolgten.Das ist der Hintergrund, auf dem Scheich Safi zu sehen ist, die religiöse Welt, inder sich allmählich, im Laufe von Generationen, die Voraussetzungen für den Um-schwung des ursprünglich sunnitischen Ordens von Ardabil zur Schi% herausbil-deten.

42 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang freilich, daß auch strenggläubige Sunniten'Ali durchaus als Amir al-mu'minin ehren, wie denn eine gewisse eAli-Verehrung in sun-nitischen Kreisen sowohl unter den Umaijaden als auch unter den Abbäsiden erwiesen ist,vgl. Nöl dek e, „Zur Ausbreitung des Schiitismus", Der Islam XIII, S. 70. Hier ist auchein Preisgedicht auf die zwölf Imäme zu erwähnen, das ein so extremer Schiltenfeind wieFailalläh b. Rüzbihän blue verfaßt hat (veröffentlicht von einem seiner Nachfahren,Muhammad Amin Ij u n ri" , in Farhang-i lrän-zamin 4 [1335], S. 178 f.).

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