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Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002, Stanford University Press, pp. 115-130 Gerhild Krebs, M.A., Assess‘dL Leiterin Saarländisches Filmarchiv, Saarbrücken PhD candidate University of Warwick, Coventry Kontakt: [email protected]

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Page 1: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Reinhart KoselleckConcepts of Historical Time and Social History

in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing ConceptsStanford 2002, Stanford University Press, pp. 115-130

Gerhild Krebs, M.A., Assess‘dL Leiterin Saarländisches Filmarchiv, SaarbrückenPhD candidate University of Warwick, Coventry

Kontakt: [email protected]

International PhD Workshop Warwick-Konstanz

Konstanz, 14-05-2014

Page 2: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Frage nach der

Historischen Zeit

fundamentale Herausforderung an

Geschichtsforschung

speziell für Teilfach

Sozialgeschichte

Kosellecks Thema

Page 3: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Struktur Aufsatz

Beschreibung Herausforderung (115-117)

methodologische Warnungen (117-118)

Ausführung These: drei Denkschritte

historiographisch (118-123)theoretisch (123-126)methodisch-empirisch (126-129)

Zusammenfassung (129-130)

Page 4: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Die Herausforderung der Historischen Zeit (1)

Geschichtsforschung 1945 ff: Vielfältige Veränderungen

1 Sozialgeschichte neues Teilfach

Sozialgeschichte ist problematischer Gummibegriff - schließt bloß polemisch, daher fälschlich aus:

soziale Phänomenen wie Klasse / Schicht

Ereignisgeschichte

Politische Geschichte

Solch ein Ausschluß ist weder epistemologisch noch empirisch sinnvollwegen fließender Grenzen zwischen nicht-politischer und politischer Geschichte von Gruppen, Gemeinden, Gesellschaften

Page 5: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

2 Theoriedebatten: signifikanter, steigender Einfluss

epistemologische Debatten nach Popper und Hempel

Wirkung stark im anglophonem Raum, da Sozialgeschichte vorrangigWirkung geringer in D, da Ereignisgeschichte vorrangig

zu einfach, um Einfluss auf Praktiker zu haben

3 Forschungspraxis: enorme Zunahme der Gegenstände

induziert durch

Theoriedebatten

fließende Grenze zur Archäologie

Die Herausforderung der Historischen Zeit (2)

Page 6: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Die Herausforderung der Historischen Zeit (3)

Notwendige Verarbeitungsprozesse

Abgrenzung und Herstellung von Vergleichbarkeit

Einbeziehung komplementärer Fakten und Phänomene

Ergebnisse

Zunahme Theoriebedürfnis

Diskussion über Begriffe der Sozialgeschichte: vorrangig Braudel, Hobsbawm, Kocka

Neues Teilfach Sozialgeschichte + Theoriedebatten + Vielzahl neuer Gegenstände

Page 7: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Zwei methodologische Vorbehalte S. 117-118

gegen...

… naive Idee „totale Geschichte“Versuch wird immer wieder unternommen, muß aber scheitern: 1) Theorie totaler Geschichte unmöglich, da das Ganze (totale Geschichte) nicht identisch ist mit der Summe seiner Teile (viele Geschichten) 2) Forschung bleibt immer prinzipiell und graduell subjektiv, da immer abhängig von der Perspektive der einzelnen Forschenden

… unkritische Anwendung von Begriff “soziale“ Geschichte Sozialgeschichte: Diskurs erst seit 19./20. Jh. Erst 1789 ff ist Ökonomie separates Feld (infolge Welthandel / nationale ökonomische Systeme).

Nur post 1789 kann historische Untersuchung empirisch differenzieren zwischen politischer Herrschaft, sozialen Konstitutionen und ökonomischer Struktur. Diese sind anwendbar auf frühere Jh. nur bei Reflexion, daß sie begrifflich nicht zur Vorstellungswelt früherer Zeiten gehören

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These / Denkschritt 1, historiographisch, S. 117-123:

Verzeitlichung als Wesen der Moderne (1)

Verzeitlichung / Begriff Historische Zeit definierendes Phänomen am Beginn der ModerneKern ihres Selbstverständnisses als neue historische Epoche

Vermutlich erstmals während Aufklärung entstand ein Bewußtsein spezifischer Historischer Zeit “Moderne“

Abgrenzung gegen Antike u MAAlltagszeit nach Sonne / Mond; Zählung zunächst zirkulär nach Jahreszeiten und Riten, später bedingt linear nach Herrscherhäusern / Herrschern

inhärente Begriffe von Zeit & Geschichte – diese transportierten jeweils teleologische Vorstellungen, zugleich identisch mit der eigenen Deutung, also eine mythisch-theologische Basis für Geschichtsdeutung: vorherbestimmter metaphysischer Sinn der Geschichte, da göttlicher Wille die Welt in Gang setzt, sie lenkt und schließlich beendet

MA baut mangels eigener Geschichtstheorie spätere historische Ereignisse in tradierte antike Weltalter-Lehre ein

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Verzeitlichung als Wesen der Moderne (2)

Solche Zeitordnungen machen keinen Versuch zu geschichtsimmanenter Zeitrechnung und entsprechender Periodisierung mittels Geschichtsepochen

EpochenbegriffeMittelalter - erster Definitionsversuch ohne Bezug auf Natur, Mythen oder Personen, als Epochenbegriff erst seit 18. Jh. durchgesetztRenaissance - seit 19. Jh. durchgesetzt Moderne - seit 20. Jh. durchgesetzt

= jeweils wurde erst um mehrere Jahrhunderte verzögert

Geschichte als Prozeß definiert

der exklusiv nur ex post analysierbar ist

ebenso auch die Vorstellung von der Moderne

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Verzeitlichung als Wesen der Moderne (3)

These: Nur der Begriff Moderne hat genuin historische Bedeutung erlangt, da unabhängig von natürlichen und mythisch-theologischen chronologischen Ursprünge

Aufklärung: Paradigma für Beurteilung HistZeit: ist nur geschichtsimmanenten Kriterien zu unterwerfen, d.h. aus dem Gang der Geschichte heraus. Entstehung Geschichtsphilosophie erst seither, wiewohl Gegenstände schon vorher beschrieben. Neu: gesch.-phil. Reflexion über eigene Zeit, die charakteristisch für Begriff der Moderne wird. Moderne und Fortschritt als neue Geschichtstheorie nicht ex post nur retrospektiv erfahren, sondern zeitgenössisch erlebt. Begriff Moderne: prospektiv, offen und grenzenlos, da in der Gegenwart entstanden und offen für die Zukunft. Moderne und Fortschritt untrennbar in einer Vorstellung verbunden. Fortschritt als Kategorie verbindet Vergangenheit und Zukunft. Zeit gewinnt durch Kategorie Fortschritt neue historische Qualität. Fortschritt ist die erste genuin historische Zeitdefinition, da nicht wie vorherige Zeit- und Geschichtsbilder auf mythisch-theologischem Vorauswissen fußend

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Verzeitlichung als Wesen der Moderne (4)

Begriff Fortschritt - reflexiver Begriff, erst erkennbar, weil Menschen über Historische Zeit nachdachten- kann nur stattfinden, wenn Menschen ihn wollen- auch progressiv: macht Zukunft zum Planungshorizont== Entdeckung von HistZeit und Fortschritt haben gemeinsamen Ursprung

Wenn Zukunft immer Neues zu bieten hat, ist das strukturell das Gleiche wie die Fremdheit der Vergangenheit, die parallel zur zeitlichen Distanz zu ihr zunimmt

Geschichte wurde moderne Wissenschaft zu dem Zeitpunkt, als der Bruch der Tradition qualitativ Vergangenheit von Zukunft trennte

Seither…

Page 12: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

…notwendig, spezielle Methoden zu entwickeln, um uns den spezifisch andersartigen Charakter der Vergangenheit zu lehren

...kann historische Wahrheit veralten

...muß Forschungsstandpunkt definiert werden, um Schlüsse zu ziehen

...ist Augenzeuge nicht mehr automatisch ein authentischer, vorrangiger Zeuge eines Ereignisses, sondern wird im Licht wechselnder, voranschreitender Perspektiven auf die Vergangenheit hinterfragt

…entstand Axiom der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit von Geschichte als geistige Gegenbewegung gegen die vorherige historische Erfahrung - sowohl Antike wie auch Christentum hatten im Ablauf der Zeit nichts Neues erwartet, sondern sahen in der Zukunft stets nur Ähnliches bzw. Analoges

= all diese Prozesse kann man mit Lovejoy als ex post facto-Begriff „Verzeitlichung von Geschichte“ fassen (S. 121)

Verzeitlichung als Wesen der Moderne (5)

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Konsequenzen für Sozialgeschichte

Wenn Historiker für die Sozialgeschichte eine valide eigene Theorie entwickeln wollen - im Ggs. zu allgemeinen Theorien der Sozialwissenschaften -, muß diese Theorie die Wechsel zeitlicher Erfahrung mit einbeziehen (S. 121) Verzeitlichung von Geschichte war Idee der intellektuellen Elite vor 1789, ging aber mit neuen Verhaltensmustern einher, die über diese Welt hinausreichten

Industrialisierung und Technologie haben Beschleunigung bewirkt, die wiederum zusätzliche, spezifische Zeiterfahrung bewirkte.

Daher: heute alle Raum-Zeit-Beziehungen fundamental verändert

Dadurch wiederum: Arbeitswelt, soziale Mobilität, Kriegstechnik oder globale Kommunikationsnetzwerke fundamental verändert

= alles dies sind Faktoren, welche die planetare Geschichte beeinflussen

Verzeitlichung als Wesen der Moderne (6)

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Verzeitlichung als Wesen der Moderne (7)

Temporalisation und Beschleunigung

konstituieren einen zeitlichen Rahmen

dieser

- ist wahrscheinlich an alle Begriffe der modernen Sozialgeschichte anzulegen

- erlaubt diachrone und synchrone Vergleiche

- provoziert die zentrale Frage, was sich im Sinne Historischer Zeit geändert hat, wenn Zeit im chronologischen Sinne gleich geblieben ist (S. 121)

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Aufgrund der Verzeitlichung von Geschichte

ist die Frage

nach den temporalen Strukturen historischer Prozesse

eine conditio sine qua non

für alles sozialgeschichtliche Wissen

und entsprechende Forschung

Schluß aus historischem Denkschritt S. 123

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These / Denkschritt 2, theoretisch, S. 123-126: Sozialgeschichtsforschung abhängig von Differenzierung verschiedener Zeitebenen (1)

Verschiedene Zeit-Dimensionen sind jeweils Teil von Ereignissen und Strukturen

Ereignisse & Strukturen unterliegen inhärent interdependenten Bedingungen

Die falsche Simplifizierung, Historische Zeit als entweder nur zirkulär oder nur linear zu betrachten, dominierte das historische Denken bis 1949.

Fernand Braudels Vorschlag: Zeit auf verschiedenen Ebenen untersuchenAntonympaar Ereignis / Struktur kann diese verschiedenen Ebenen beleuchten

Begriffe Fortschritt und Moderne enthalten Simplifizierungen des 18. Jh., damals verständlich, weil neue Epoche Moderne zugleich moderne Erfahrung konzeptualisierte / begrifflich kodifizierteFortschritt: rein linear definiert, was alle fortlebenden Strukturen verschleiert

Für Forschung funktioniert die Kategorie ewig moderner Zeit nicht

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Ereignisse und Strukturen in historischer Realität untrennbar verbunden Historiker nehmen sie nur zwangsweise methodologisch analysierend auseinander, basierend auf der theoretischen wie pragmatischen Annahme, daß man nicht beide zugleich diskutieren kann

EreignisTemporaler Charakter: kohärente Sinnabfolge innerlich verbundener Vorfälle in der natürlichen Chronologie, signifikante Einheit mit innerer Bedeutung. Nur ein Minimum von Vorher/Nachher konstituiert ein Ereignis; das Minimum kann ausgedehnter sein, aber Ereignis-Konsistenz bleibt chronologisch geordnet. Für die beteiligten Zeitgenossen stellen sich Ereignisse immer so dar, daher behandelte die historische Forschung bis 18. Jh. Augenzeugenberichte methodologisch prioritär wegen besonderer Verläßlichkeit, gleiches galt für tradierte Berichte von Ereignissen.

Diachronischer Charakter: Sequenzen von Ereignissen sind nicht zufällig, sondern haben auch diachronischen Charakter, insofern es z.B. ein Zu-früh oder ein Zu-spät geben kann.

Semantische BeschreibungJedes Ereignis wird wegen seiner temporalen Charakteristik als chronologische Sinnabfolge mit nur geringfügigem Vorher/Nachher in gleicher semantischer Form in Forschung transponiert, dito ist sein diachronischer Charakter zu reflektieren. Komparative Methodik: nur auf spezifischem Abstraktionsniveau oder mittels bestimmter Typologie sind diachronische Charaktere von Revolutionen, Kriegen oder Verfassungen miteinander vergleichbar.

Sozialgeschichtsforschung abhängig von Differenzierung Zeitebenen (2)

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StrukturTemporaler CharakterWiederholung bestimmter Abläufe und bekannter Regeln, zudem verstetigende, strukturschaffende bzw. -erhaltende Faktoren: - (denk-)räumliche- geographische- bestimmtes Verhalten, bewußt / unbewußt, aktiv / passiv, das jeweils über ein einzelnes Leben hinaus anhält, z.B. menschliche Fortpflanzung, oder auch Verhalten, das durch Institutionen bestimmt wird

Strukturen per se langlebig, somit den Phänomenen der longue durée zuzuordnen

Diachronischer CharakterFormen und Inhalte und somit auch die Struktur selbst können sich während des gesamten Bestehens der Struktur verändern

Semantische BeschreibungBetonung liegt naturgemäß auf strukturschaffenden bzw. -erhaltenden Faktorendito ist der diachronische Charakter mit zu reflektieren

Sozialgeschichtsforschung abhängig von Differenzierung Zeitebenen (3)

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Interdependenz von Ereignis und Struktur 1

unauflösliche epistemologische Aporie aufgrund des gegensätzlichen temporalen Charakters von Ereignis und Struktur

Ereignis und Struktur niemals 1:1 deckungsgleichdaher existiert keine gegenseitige Reduktionsfähigkeit

- Ereignisse nie auf Strukturen reduzierbar- Strukturen nie auf Ereignisse reduzierbar

Alle Ereignisse basieren auf zeitlich wie kausal vorhergehenden Strukturen, insofern werden auch Strukturen zu Gegenständen von Ereignissen.

BeispieleBräuche, Normen, Rechtssysteme, VerfassungenMachtformen, Herrschaftsformen, StaatsformenProduktivkräfte, Produktionsbeziehungen

Sozialgeschichtsforschung abhängig von Differenzierung Zeitebenen (4)

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Interdependenz von Ereignis und Struktur 2

Konsequenz für Praxis und Semantik historischer Forschung

temporale Charakteristika von Ereignissen und Strukturen sind jeweils getrennt zu untersuchen und entsprechend semantisch zu fassen

Ereignisse: Untersuchung eines Ereignis wird eher erzählendnie beschreibbar nur durch ihm zeitlich wie kausal vorhergehende Strukturen

Strukturen: Untersuchung einer Struktur wird eher beschreibend nie beschreibbar nur durch Ereignisse, denen nur Einmaliges / Neues innewohnt

Aporie schlägt auf Beschreibungscharakter durch: Grenzen sind fließend

Forschungsfrage entscheidet über SemantikEin und derselbe chronologische Ablauf kann je nach Perspektive ein Ereignis oder Teil einer Struktur sein, z. B. Gerichtsprozeß – wahlweise als dramatischer Ereignisverlauf oder als typischer Teil eines jahrhundertealten Justizapparates

= mehrfache inhärente Interdependenz von Ereignis und Struktur

Sozialgeschichtsforschung abhängig von Differenzierung Zeitebenen (5)

Page 21: Reinhart Koselleck Concepts of Historical Time and Social History in: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts Stanford 2002,

Daraus folgend: zwei empirische Schlüsse für Sozialgeschichte

1 Trennung der temporalen Dimensionen modelliert Bedingungen und Grenzen möglicher Prognosen schärfer. Einzelne Ereignisse sind infolge Einzigartigkeit sehr schwer zu prognostizieren, aber immer können strukturelle Rahmenbedingungen benannt werden, die das Auftreten bestimmter Art von Ereignissen begünstigen

2 Charakteristikum moderner Sozialgeschichte: bestimmte Strukturen seit der Frz. Revolution bzw. seit der Industrialisierung deutlich weniger langlebig als zuvor, ihre temporale Dimension nähert sich also trajektorisch der von Ereignissen an; sie bleiben aber Strukturen, sind weiterhin als solche zu untersuchen und zu beschreiben

Geschichte kann nur untersucht werdenwenn

anwendbare temporale Dimensionen getrennt bleiben

Sozialgeschichtsforschung abhängig von Differenzierung Zeitebenen (6)

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Schluß aus theoretischem Denkschritt S. 126

Sozialgeschichtsforschung

ist abhängig

von der stets notwendigen Differenzierung

verschiedener Zeitdimensionen

bezüglich der interdependenten Rahmenbedingungen

von Ereignissen und Strukturen

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Vorschlag (S. 126 / S. 130), wie man Historische Zeit im Feld der politischen und sozialen Semantik innerhalb der Lebenszyklen verschiedener Generationen untersuchen kann

Historische Zeit- basiert auf räumlichen Hintergrund-Konnotationen- ist semantisch nur in metaphorischer Form darstellbar

Geschichte, d.h. das Ganze aller historischen Handlungen, beruht auf zwei interdependenten anthropologischen Kategorien- Raum der Erfahrung- Horizont der Erwartung

These / Denkschritt 3, methodisch-empirisch, S. 126-128: Erfahrung und Erwartung als Rahmen aller Geschichte (1)

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Erfahrung und Erwartung als Rahmen aller Geschichte (2)

Metahistorischen Kategorien Erfahrung und Erwartung

bilden den ontologischen Rahmen aller möglichen / wirklichen Geschichte

sind

- stets in der Gegenwart präsent- untrennbar miteinander verschränkt

ermöglichen deshalb

- Quellenanalyse- empirische Erforschung temporaler Dimensionen

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Erfahrung und Erwartung als Rahmen aller Geschichte (3)

Asymmetrische Relation und ständige verbundene Präsenz von Erfahrung und Erwartung schaffen im Hier und Jetzt eine fundamentale, da per se ontologische temporale Differenz: Gegenwart immanent durchsetzt mit Erfahrung / Erwartung

These: Moderne/Fortschritt sind Differenzerfahrungen und -begriffe

- Moderne gekennzeichnet von ständiger Zunahme der fundamentalen Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung

- Begriffe korrespondieren dem Wesen der Moderne: weil Erwartungen sich von Erfahrungen entfernten, wurde Begriff Moderne genau so konzipiert, und die zunehmende Differenz mit Begriff Fortschritt benannt

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Erfahrung und Erwartung als Rahmen aller Geschichte (4)

Verhältnis von Erwartung zu Erfahrung ist interdependent

vielschichtigvieldimensional

mobilasymmetrisch

irreversibel = Charakteristikum der Historischen Zeit, zugleich Beleg ihrer Variabilität

1 Erfahrung stellt historisches Wissen bereit, das nicht bruchlos in Erwartung transformierbar ist - sonst würde sich Geschichte immer nur wiederholen

2 Erwartung hat – wie Erinnerung und Hoffnung – grundsätzlich anderen ontologischen Status als Erfahrung: Erwartung ist / bleibt imaginierter, unerreichbarer Horizont, weicht aufgrund realer Entwicklungen ständig zurück

3 Erfahrungen sind temporal sedimentiert, während sich Erwartungen ständig inhaltlich verändern bzw. durch andere ersetzt werden, d. h. die Grenzen möglicher Erwartungen sind nie identisch mit den Erfahrungen.

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Erfahrung und Erwartung als Rahmen aller Geschichte (5)

Temporale Struktur und Vokabular politischer und sozialer Konzepte

4. Jh. v. Chr. bis 18. Jh. Aristoteles‘ Herrschaftsformen-Systematik: eine aus der anderen herleitbar = Erfahrung hatte primäre theoretische Bedeutung; mit ihrer Hilfe beurteilte man Gegenwart / Zukunft und gestaltete sie entsprechend

deshalb gleichbleibende temporale Struktur und Vokabular, stets an endlichen Möglichkeiten politischer Organisation orientiert, trotz aller realen sozialen Veränderungen

Aufklärung Kant hat temporale Konzeptionsrichtung zugunsten der Erwartung umgekehrt

dadurchradikal veränderte temporale Struktur und Vokabular

Er nahm in der Theorie eine erst entstehende historische Bewegung vorweg und beeinflußte daher die tatsächliche politischen Bewegung in der Praxis: leitete Staatsform Republik als historisches Ziel aus der praktischen Vernunft her - moralisch-politischer Imperativ zu ihrer Errichtung , und entwickelte neuen Begriff Republikanismus zur Beschreibung der politischen Bewegung

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Erfahrung und Erwartung als Rahmen aller Geschichte (6)

Kants Begriff Republikanismus beschreibt temporale Differenz zwischen erfahrenen Herrschaftsformen und erwarteter Verfassung

Seit Kant = 19./20. Jh.bestimmen Erwartungen politisches / soziales Denken und Handeln: Auf Republikanismus basierend entstanden mehrere politische und soziale Erwartungshorizonte = Projektionen = Zukunftsvisionen

temporal konzipierte, temporal strukturierte –ismen: Demokratismus, Liberalismus, Sozialismus, Faschismus

je niedriger die Erfahrungswerte, desto höher die Erwartungen, die sie hervorriefen

diese -ismen haben einander zeitlich überlagert, teilweise einander im politischen Machtkampf gegenseitig ausgestochen

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Schlußaus methodisch-empirischem Denkschritt

S. 128

Die metahistorischen Kategorien Erfahrung und Erwartung

eignen sich dazu,

den inhärenten Wandel des Begriffs Historische Zeit

empirisch transparent und damit anwendbar zu machen

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Kosellecks These auf einen Blick

Ziele Theoretisch-kategoriale und methodisch-empirische Voraussetzungen für Erforschung der Historischen Zeit zwecks Fundament für Teilfach Sozialgeschichte

Historisches ArgumentAufgrund der Verzeitlichung von Geschichte ist die Frage nach den temporalen Strukturen historischer Prozesse eine conditio sine qua non für sozialgeschichtliches Wissen und entsprechende Forschung

Theoretisches ArgumentSozialgeschichtsforschung ist abhängig von der notwendigen Differenzierung verschiedener Zeitdimensionen bezüglich der interdependenten Rahmenbedingungen von Ereignissen und Strukturen

Methodisch-empirisches ArgumentDie metahistorischen Kategorien Erfahrung und Erwartung eignen sich dazu, den inhärenten Wandel des Begriffs Historische Zeit empirisch transparent und damit anwendbar zu machen

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Kommentar zu Kosellecks Theorie

Koselleck irrt sich bezüglich des historischen Beginns der Verzeitlichung, denn er ignoriert einen entscheidenden historischen und theoretischen DenkschrittDie epistemologische Verlegenheitslösung des MA, die antike Weltalterlehre einer längst vergangenen Welt beizubehalten und mehr schlecht als recht die Ereignisse der eigenen Zeit in dieses obsolete Theoriemodell einzupassen, wurde bereits im Laufe des MA zunehmend problematischer, denn es erfolgten immer mehr massive soziale und religiöse Umwälzungen (u.v.a. Kreuzzüge, Häretiker, Reformation), dito wissenschaftliche und wirtschaftliche (u.v.a. Bacon, Morus, Frühkapitalismus ab SpätMA). Dadurch erwies sich die Verlegenheitslösung bereits zu Beginn der Frühen Neuzeit eindeutig als unhaltbar. Epistemologisches Problem: Es fehlte ein Theoriemodell jenseits der Bibel, die weiterhin exklusive geistige Meßlatte aller Erkenntnis blieb. Offenkundig wurde das Problem im späten 16. Jh., als um 1580 mit rund 100 Jahren Verzögerung die Entdeckung neuer Kontinente und anderer Kulturkreise eine ungeheure, zudem ständig weiter wachsende Masse völlig neuer Daten ergab. Die enorme Zunahme aller Wissenschaftsgegenstände stellte die europäische Wissenschaft vor ein zweites, seinem Wesen nach ungeheuerliches epistemologisches Problem: Die neuen Daten waren weder vereinbar mit der Bibel noch mit dem ohnehin veralten Geschichtstheoriemodell der antiken Weltalterlehre. Viele trauten sich zunächst nicht, dieses ganz Neue zu denken, denn es hatte „gotteslästerliche“ Qualität; taten einzelne das doch, bekamen sie massiv den weltanschaulichen Herrschaftsdruck zu spüren - cf. Fälle wie Bruno und Galilei. Daher konnte erst im Verlauf des 16.-18. Jhs., als die christliche Orientierung zentrales geistiges Terrain verlor, die implizite und explizite Erkenntnis reifen, daß die bisherige christliche Geschichtsdeutung und damit zugleich das bisherige Wissenschaftsmodell obsolet geworden waren. Die longue-durée-Verzögerung von rund 200 Jahren führte dazu, daß erst die „Neuheit“ der Moderne auch sofort als solche bezeichnet werden durfte. Deshalb – und nur deshalb – ist der Begriff Moderne so vollkommen anders definiert als vorherige Zeitbegriffe.

Ergo ist die Verzeitlichung von Geschichte gerade kein Produkt der Sattelzeit, sondern mindestens bereits ein Produkt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.

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Diskutables antonymes Kategorienpaar Ereignis und StrukturAngesichts des chronologisch unabdingbaren Oszillierens von Struktur und Ereignis, das weniger ein Problem der Moderne als ein Zeittheorieproblem ist, drängt sich die Frage auf, ob Kosellecks theoretische Opposition pragmatisch überhaupt funktioniert, bzw. ob zusätzlich oder gar anstatt des von ihm gewählten Kategorienpaars ganz andere Kategorien möglich bzw. nötig sind.

Koselleck spricht zunächst von „sogenannten Strukturen“. Worin sein Vorbehalt gegen den Begriff Struktur besteht, erläutert er gegen Ende des zweiten Denkschritts: Für ihn unterliegen in der Moderne alle Strukturen einem beschleunigten Verzeitlichungsprozess, der ihnen teilweise den ontologisch gegensätzlichen Charakter von Ereignissen verleiht. Da es seiner Definition nach aber keine Deckungsgleichheit von Ereignis und Struktur geben kann, ist der Vorbehalt irrelevant.

Was Koselleck erstaunlicherweise nicht erwähnt, ist das gegenläufige Phänomen, daß epochemachende Ereignisse wie 1918 oder 1989 immer strukturelle Züge aufweisen, da sie von den Zeitgenossen noch im Verlauf des Ereignisses als epochemachend wahrgenommen werden und allein dadurch bereits longue-durée-Eigenschaften annehmen. Folglich sind epochemachende Ereignisse per se als strukturbildend, zumindest aber als in sich strukturhaft anzusprechen.

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Übersetzung des Koselleck-Textes ins Amerikanische Englisch (AE)GK - langjährige Praxis in Dolmetschen/Übersetzen DE-EN-DE, FR-DE, IT-DE

Deutsche Fachbegriffe vs. AE-Begriffe Koselleck lebte noch, als dieser Sammelband mit Aufsätzen von ihm in den USA herauskam - mit deutlicher chronologischer Verzögerung gegenüber der je unterschiedlichen Abfassung und Publikation der einzelnen Aufsätze. Der Herausgeber hätte dem deutschen Kollegen den epistemologischen Respekt erweisen können, die jeweiligen deutschen Fachbegriffe für jeden einzelnen Aufsatz in Fußnoten einzuführen - das hätte gerade betreffs Koselleck, der als Theoretiker globalen Einfluß gewann, seine sich chronologisch wandelnde Begriffsentwicklung für monoglott anglophone Sprechergruppen nachvollziehbar gemacht.

Historische Zeit / Begriff Moderne Die zwei deutschen Fachbegriffe sind zentral für diesen Aufsatz. Als feststehender Epochenbegriff ist Moderne mit „Modernity“ wiederzugeben und via Großschreibung eindeutig als Epochenbegriff zu kennzeichnen. Die US-Übersetzer haben ihn jedoch mit „modern time“ in Kleinschreibung übertragen, ebenso den korrespondierenden Begriff „Historische Zeit“ als „historical time“. In Kleinschreibung sind beides bloß noch Alltagsbegriffe mit verschwommener Bedeutung. Somit haben die US-Übersetzer für zwei zentrale Fachbegriffe Kosellecks ursprüngliche sprachliche Begriffsschärfe - typisches Kennzeichen seiner Wissenschaftssprache – gänzlich aufgelöst. Monoglott anglophone Sprechergruppen können dies nicht erkennen, denn der Herausgeber des Bandes hat in beiden Fällen versäumt, wenigstens je eine erläuternde Fußnote zu fertigen.

Stilschwächen und orthografische Fehler Es ist anzunehmen, daß die US-Übersetzer weder Historiker noch Fachübersetzer sind, denn das AE dieser Übertragung wirkt im Vergleich mit dem deutschen Original plump und umständlich, zudem gibt es im AE-Text orthografische Fehler, z. B. wird Kosellecks deutscher Begriff „sozio-politisch“ in der falschen Form „social-political“ wiedergegeben.