reichenbach empiricism
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Der physikalische WahrheitsbegriffAuthor(s): Hans ReichenbachSource: Erkenntnis, 2. Bd. (1931), pp. 156-171Published by: SpringerStable URL: http://www.jstor.org/stable/20011635Accessed: 27/04/2009 04:21
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Der physikalische Wahrheitsbegriff Von
Hans Reichenbach (Berlin)
Es ist zweierlei, einen philosophischen Begriff im praktischen Den?
ken anwenden, und ihn in reiner, sinnhafter Bedeutung zu formu? lieren. Vor der Notwendigkeit, S?tze als wahr zu behaupten, steht
jeder, und das t?gliche Leben wie die Wissenschaft haben Methoden
entwickelt, nach denen man mehr oder weniger bewu?t den Wahr?
heitsentscheid trifft. Was aber Wahrheit ist, das ist mit der Anwen?
dung der Begriffe noch nicht gegeben, das bedarf einer philoso?
phischen Besinnung ?ber Sinn und Bedeutung erkenntnism??iger
Operationen. Ihnen einen Einblick in solche erkenntnistheoretische
Forschung zu geben, ist das Ziel meiner heutigen Ausf?hrungen. Eine Bemerkung sei hier noch vorausgeschickt, die sich insbeson?
dere an die Physiker wendet. Wenn ich hier von Erkenntnistheorie
spreche, so verstehe ich darunter etwas anderes als weite Kreise in
der Schulphilosophie unserer Tage; ich verstehe darunter n?mlich
nicht eine Disziplin, die aus reiner Vernunft Erkenntnisse sch?pft und dann den Fachwissenschaftlern Vorschriften machen will. F?r
mich ist vielmehr Erkenntnistheorie mit exakter Naturwissenschaft
untrennbar verbunden. Denn nur in der Analyse wissenschaftlichen
Denkens kann die Methode der Erkenntnistheorie bestehen; die
Fachwissenschaft mu? unter Zuhilfenahme logisch axiomatischer
Methoden analysiert werden, wenn die Frage nach Sinn und Vor?
aussetzung der Erkenntnis beantwortet werden soll. Diese Wendung von einer Analyse der erkennenden Vernunft zur Analyse des
kristallisierten Produktes der Erkenntnis ist der charakteristische
Grundzug moderner Naturphilosophie; diese junge philosophische
Arbeitsrichtung konnte deshalb nur in einer philosophischen Periode
der Physik geboren werden, wie wir sie in unserer Gegenwart er?
leben. So sind denn auch die Vertreter dieser Richtung, die Sie zu
dieser Tagung f?r Erkenntnislehre eingeladen haben, aus der Physik und Mathematik hervorgegangen. Trotz dieser engen Verkn?pfung
Der physikalische Wahrheitsbegriff ?57
ist jedoch heute eine Differenzierung der Arbeitsgebiete unvermeid?
lich geworden. Die Physiker selbst sind zu sehr mit physikalischer Arbeit belastet, als da? sie die Durchf?hrung der erkenntnistheore?
tischen Analyse noch geben k?nnten; andererseits kann erkenntnis?
theoretische Einstellung f?r den Physiker geradezu hinderlich sein, weil sie ihn unter Umst?nden von der konkreten (und ?brigens im
Anfangsstadium nicht immer erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen?
den) Arbeit zur?ckhalten k?nnte. Freilich gilt dies nicht allgemein, denn da? gelegentlich, und gerade an entscheidenden Stellen, der
Physiker erkenntnistheoretischer Einsichten bedarf, um in der Physik
weiterzukommen, ist ja durch die Entwicklung der Relativit?ts?
theorie und der Quantentheorie hinreichend bekannt geworden. Von
dieser Tatsache wird auch der nachfolgende Vortrag von Herrn
Heisenberg, dem wir ganz besonders um die erkenntnistheore?
tische Durcharbeitung der Quantenmechanik zu Dank verpflichtet
sind, Zeugnis ablegen, und es wird sieh herausstellen, da? die Frage nach der Charakterisierung der Wahrheit, ?ber die ich Ihnen heute
vortragen m?chte, in einem sehr engen Zusammenhang steht mit den
Untersuchungen, um die man in der Quantenmechanik gegenw?rtig bem?ht ist.
Es gibt eine sehr einfache und zun?chst ?berzeugende Charakte?
risierung der Wahrheit: danach ist Wahrheit die ?bereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand. Eine Formulierung dieser Art fin?
det sich schon bei P 1 a t o, und man findet sie auch noch bei K a n t.
Seitdem hat die erkenntnistheoretische Kritik an dieser Formulie?
rung eingesetzt; ich nenne vor allem die Namen Helmholtz, Heinrich Hertz und in neuerer Zeit Schlick. In dieser
Kritik ist klargestellt worden, da? das Wort ?bereinstimmung in
der gegebenen Wahrheitscharakterisierung nicht sinnvoll ist, da es
sich in der Vorstellung auf der einen Seite und in dem Gegenstand auf der anderen Seite um unvergleichbare Dinge handelt; sinnvoll
kann hier nur von einem Abbilden in mathematischem Sinne ge?
sprochen werden, von einer eindeutigen Zuordnung zwischen Gegen? stand und Vorstellungsbildern, ohne da? ?ber eine ?hnlichkeit dieser beiden g?nzlich verschiedenen Elemente eine Aussage gemacht wird.
Am bekanntesten ist die Formulierung geworden, welche Hein?
rich Hertz1) diesem Gedanken gegeben hat: ?Wir machen uns
innere Scheinbilder oder Symbole der ?u?eren Gegenst?nde, und
*) Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, Barth, Leipzig 1894, S. 1 u. 2.
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zwar machen wir sie von solcher Art, da? die denknotwendigen
Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnot?
wendigen Folgen der abgebildeten Gegenst?nde ... Die Bilder, von
welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie
haben mit den Dingen die eine wesentliche ?bereinstimmung, welche
in der Erf?llung der genannten Forderung liegt, aber es ist f?r ihren
Zweck nicht n?tig, da? sie irgendeine weitere ?bereinstimmung mit
den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht, und haben auch
kein Mittel, zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem ?bereinstimmen, als allein in eben
jener einen fundamentalen Beziehung." Durch das Hinzutreten des mathematischen Abbildungsbegriffs ist
die gegebene Wahrheitscharakterisierung in eine Form gebracht wor?
den, in der man sie mit den logischen Mitteln moderner Erkenntnis?
kritik erfassen kann. Dabei stellt sich allerdings nach einiger Unter?
suchung heraus, da? die genannte Wahrheitscharakterisierung schwere M?ngel besitzt; wir wollen diese jetzt zusammenstellen.
Der erste Mangel ist die Koppelung des Wahrheitsbegriffs mit
dem Determinismus. Denn die Eindeutigkeit der Zuordnung zwi?
schen Bildern und Dingen setzt voraus, da? tats?chlich ein derartiges
eindeutiges Entsprechen zwischen Bildern und Dingen stattfindet. Das tritt besonders in der Hertz sehen Formulierung zutage, welche
verlangt, da? nicht nur die gerade beobachteten Bilder den gegen?
w?rtig vorliegenden Dingen, sondern auch die denknotwendigen
Folgen der Bilder den naturnotwendigen Folgen der Dinge zuge? ordnet sein sollen; dies ist nichts anderes als Determinismus. Da
aber der Determinismus eine Theorie ist, die selbst durchaus der
philosophischen Kritik bedarf, so ist es h?chst bedenklich, einen so
fundamentalen Begriff wie den Wahrheitsbegriff von der Frage des
Determinismus abh?ngig zu machen.
Zweitens ist es ein Fehler der gegebenen Wahrheitscharakterisie?
rung, da? sie keine Mittel angibt, wie man vor der Beobachtung entscheiden kann, ob ein Satz wahr ist. Wenn der Astronom den
Satz ausspricht, da? an dem und dem Tage eine Sonnenfinsternis
stattfinden wird, so wollen wir heute schon wissen, ob dieser Satz
wahr ist; aber die gegebene Wahrheitscharakterisierung erlaubt die? sen Entscheid erst, nachdem die Sonnenfinsternis beobachtet worden
ist. Denn erst dann l??t sich feststellen, ob die denknotwendigen
Folgen mit den naturnotwendigen Folgen ?bereinstimmen. Damit
aber wird die gegebene Wahrheitscharakterisierung praktisch unzu
Der physikalische Wahrheitsbegriff *59
reichend, denn der Wissenschaftler will durchweg gerade vor der
Best?tigung durch die Beobachtung wissen, ob er seinen S?tzen glau? ben darf.
Drittens mu? festgestellt werden, da? es mit der Unentscheidbar
keit noch um eine Stufe schlimmer steht bei allgemeinen S?tzen.
Denn allgemeine S?tze sprechen eine Behauptung f?r alle F?lle aus;
da aber stets nur endlich viele F?lle beobachtet werden k?nnen, so
sind allgemeine S?tze niemals als wahr entscheidbar. Die allgemei? nen S?tze der Naturwissenschaft verlieren damit jede Berechtigung.
Worauf beruhen die genannten Einw?nde? Man erkennt leicht,
da? die in ihnen auftretenden Schwierigkeiten ihren Grund darin
haben, da? die Aussagen der Physik Prophezeiungss?tzesind; denn nur weil diese Aussagen auf die Zukunft gehen, entstehen die
genannten drei Schwierigkeiten. Soweit es sich dagegen nur um
Berichts?tze handelt, fallen die genannten Schwierigkeiten fort.
Beridits?tze enth?lt die Physik auch, so enth?lt das Protokoll des
Experimentalphysikers Berichts?tze. Ihre Wahrheit ist einfach zu
entscheiden: sie besagt nichts anderes als das Zutreffen von Wahr?
nehmungserlebnissen. Aber die Wissenschaft begn?gt sich nicht mit Be
richts?tzen, sondern geht stets zu Prophezeiungss?tzen ?ber. Wie soll
aber die Wahrheit der Prophezeiungss?tze entschieden werden? Das
Protokoll des Experimentalphysikers kann wahr sein, obgleich die
darauf gest?tzte Prophezeiung falsch ist. Die Wahrheit der Prophe?
zeiungss?tze ist also von anderer Natur als die Wahrheit der Be?
richts?tze; hier liegt das gro?e erkenntnistheoretische Problem der
naturwissenschaftlichen Wahrheit. Man hat dieses Problem bisher
verschleiert, indem man die Prophezeiungss?tze dadurch in Bericht?
s?tze verwandelt, da? man sich einen sp?teren Beobachter denkt, der erst nach dem Zutreffen oder Nieht-Zutreffen des Wahrneh?
mungserlebnisses seine Entscheidung trifft. Aber das ist eine Verf?l?
schung des Problems, denn was wir brauchen, ist gerade der Wahr?
heitsentscheid vor der Best?tigung; wir m?ssen wissen, wie Prophe?
zeiungss?tze als Prophezeiungen zu beurteilen sind, und darauf gibt uns die Verwandlung von Prophezeiungss?tzen in Berichts?tze eines
sp?teren Zeitpunktes keine Antwort.
Die Situation verschlimmert sich noch, weil sich bei genauerer Be?
trachtung herausstellt, da? auch die sogenannten Berichts?tze der
Physik in Wahrheit stets Prophezeiungen enthalten. Die Angaben im Protokoll des Experimentalphysikers umschlie?en n?mlich durch?
aus Prophezeiungen. Wenn dort etwa von einer beobachteten elek
16o Hans Reichenbach
trischen Stromst?rke von 2,4 Ampere die Rede ist, so ist dabei im
stillen z. B. stets der Gedanke mitgedacht: wenn man an Stelle eines
Drehspulamperemeters ein Hitzdrahtinstrument genommen h?tte, so
h?tte sich derselbe Wert 2,4 Ampere ergeben. Das wird zwar mei?
stens nicht ausgesprochen, aber doch stets stillschweigend voraus?
gesetzt; wenn der Experimentalphysiker das nicht glauben w?rde,
dann w?rde er aus seinen Versuchen niemals die Schl?sse ziehen
d?rfen, die er tats?chlich zieht. Ein anderes Beispiel: Wenn der Geo?
loge berichtet, da? die n?rdliche Alpenkette aus Kalkstein besteht, dann enth?lt dieser ?Bericht" stets auch Prophezeiungen, z. B. die
Prophezeiung, da? man beim Bohren durch die Humusschicht einer
Alpenwiese auf Kalkstein sto?en wird. Will man diesen Prophe?
zeiungsbestandteil der naturwissenschaftlichen S?tze abstreifen, so
mu? man sehr weit zur?ckgehen, und es bleiben dann nur noch Be?
richte im erkenntnistheoretischen Sinne ?brig; derartige S?tze haben
die Form ?hier jetzt gr?n mit wei?", ?hier jetzt tick-tack und hell".
Wenn es auch wahr ist, da? alle Berichts?tze letzten Endes auf der?
artige Berichte in erkenntnistheoretischem Sinne zur?ckgehen, so
kann sich doch der Naturwissenschaftler niemals auf diesen reinen
Bericht beschr?nken. Er behauptet stets mehr, und er mu? das, weil
er neue Prophezeiungen in seine Berichte einschlie?en will.
Es gibt in dieser Situation eine Radikall?sung, die auch von eini?
gen durchzuf?hren versucht wird. Nach dieser Auffassung ist der
erkenntnistheoretische Bericht der eigentliche Inhalt aller natur?
wissenschaftlichen S?tze; alles andere daneben sei Zutat der Phan?
tasie, sei Begleitvorstellung. Prophezeiungss?tze gibt es dann in der
Naturwissenschaft nicht. Wenn wir gewissen S?tzen sprachlich die
Form von Prophezeiungen geben, so ist dies nur eine eigenartige
Verkleidung von Berichts?tzen; der Satz ?morgen wird die Sonne
aufgehen" hei?t danach soviel wie ?gestern, vorgestern usw. ist die
Sonne aufgegangen". (Seine Bedeutung umschlie?t f?r diese Auf?
fassung auch noch einiges mehr, jedoch auch nur Vergangenes und
keine Zukunftsaussage.) Es ist richtig, da? man mit dieser Auffassung zu einer strengen L?sung des Wahrheitsproblems kommt; nur leider
um den Preis einer gewaltsamen Verdrehung physikalischen Den?
kens. Man hat zwar das Problem der Prophezeiungss?tze eliminiert,
aber man hat auch die ganze Physik eliminiert, denn die Physik
begn?gt sich nun einmal nicht mit der Konstatierung vergangener
Erlebnisse. Ich kann deshalb in dieser Wendung des Problems keine
L?sung sehen; es geht nicht an, einem Problem die Sinnhaftigkeit
Der physikalische Wahrheitsbegriff 161
zu bestreiten, weil man mit den bisherigen begrifflichen Mitteln
keine befriedigende L?sung findet. F?r mich ist deshalb das Wahrheitsproblem stets ein Problem der
Prophezeiungss?tze. Der Wahrheitsbegriff der Berichts?tze wird zwar
in der Naturerkenntnis ebenfalls benutzt, weil sie letzten Endes
auf erkenntnistheoretischen Berichten fu?t; aber dieser Wahrheits?
begriff ist nicht hinreichend f?r die Naturwissenschaft. Das brennende Problem ist vielmehr gerade die Wahrheit der Prophezeiungss?tze.
Wie hat man sieh bisher mit der geschilderten Schwierigkeit in der Wahrheit der Prophezeiungss?tze abgefunden?
Man hat sich eine Hilfskonstruktion gemacht. Danach ist der
Prophezeiungssatz ?an sich" wahr oder falsch, nur unser Wissen
darum ist unvollkommen. Wir k?nnen uns in unserem Wissen dieser
idealen Wahrheit wohl n?hern, sie aber niemals erreichen. Das ist
die bisher ?bliche Wendung des Problems; die Unentseheidbarkeit wird auf die Unvollkommenheit des Menschen abgeschoben, das
Ideal strenger Wahrheit dagegen wird f?r die S?tze an sich fest?
gehalten. So verbreitet die geschilderte Auffassung auch ist, sie kann nicht
festgehalten werden; denn sie macht den Wahrheitsbegriff zu einem
ganz leeren Begriff, weil sie keine Mittel angibt, wie man sieh
der idealen Wahrheit ann?hern kann. Wenn ein Satz in allen F?llen
wahr sein soll, so ist es keine Ann?herung, wenn er in tausend
F?llen zugetroffen ist; denn von tausend bis Unendlich ist es genau so weit wie von Null bis Unendlich. Solange der Wahrheitsbegriff nicht vom Ann?herungsbegriff her erfa?t wird, bleibt er notwendig leer. Denn nur der Ann?herungsproze? ist f?r uns erlebbar, niemals
das Ideal selbst; man kann deshalb den Wahrheitsbegriff nur dann
erfassen, wenn der Ann?herungsproze? einen selbst?ndigen Sinn in
sieh tr?gt, wenn der Ann?herungsproze? den Wahrheitsbegriff defi?
niert. Das Ideal hat nur die Bedeutung eines limes, und wie der
limes nichts f?r sich Bestehendes ist, sondern nur denjenigen Sinn
?bernimmt, den der N?herungsproze? in sich tr?gt, so kann auch der
Wahrheitsbegriff der Naturerkenntnis nur durch die Formulierung des in der Naturerkenntnis tats?chlich vorliegenden N?herungs?
prozesses seinen Sinn erhalten.
Dies bedeutet aber nichts anderes, als da? wir dem Wahrschein?
lichkeitsbegriff in der Erkenntnistheorie eine gegen?ber dem Wahr?
heitsbegriff prim?re Stellung zuweisen m?ssen. Denn der Ann?he?
rungsvorgang der wissenschaftlichen Erkenntnis benutzt den Wahr
I?2 Hans Reichenbach
scheinlichkeitsbegriff; der Physiker bezeichnet seine S?tze stets als
mehr oder weniger wahrscheinlich, und hinzutretende Erfahrungen machen einen Prophezeiungssatz wahrscheinlicher, niemals aber wahr.
Die Wahrheit wird deshalb nur als Grenzfall der Wahrscheinlich?
keit zu definieren sein. Wenn man bisher in der Theorie der Wahr?
scheinlichkeit zun?chst versucht hat, den Wahrscheinlichkeitsbegriff auf den Wahrheitsbegriff zur?ckzuf?hren, so wird die Aussichtslosig? keit dieses Weges jetzt unverkennbar: es liegt umgekehrt, eine Theorie
der Wahrheit kann nur gegeben werden durch eine Theorie der
Wahrscheinlichkeit.
Wenn man dies bisher ?bersehen hat, so liegt dies darin begr?n? det, da? wir es bei sehr vielen physikalischen S?tzen mit au?er?
ordentlich gro?en Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Man hat diese
gro?en Wahrscheinlichkeiten dann mit der Gewi?heit identifiziert und vergessen, da? diese f?r praktische Zwecke berechtigte Gleich?
setzung von der Erkenntnistheorie niemals ?bersehen werden darf.
Dieser Fehler f?hrt in Auswirkungen von allergr??ter Tragweite. Man hat sich auf diese Weise ein Modell physikalischer Forschung
konstruiert, aus dem man die Theorie der Erkenntnis entnehmen
wollte; aber man hat vergessen, da? dieses Modell nicht mit der
wirklich vorliegenden Erkenntnis identisch ist, und hat aus dem
Modell gewisse ideale Z?ge des Erkenntnisverfahrens abgelesen, die
f?r das wirklich vorliegende Erkenntnisverfahren keinen Sinn be?
sitzen. Es ist eine Hypostasierung des Modells, der die Erkennt?
nistheorie in ihrer bisherigen Wahrheitstheorie zum Opfer gefallen ist; nur der R?ckgang auf das urspr?ngliche Erkenntnisverfahren
selbst kann noch Rettung bringen. Wir stehen hier vor einer allgemeinen Gefahr wissenschaftlichen
Denkens; denn ebenso wie die Erkenntnistheorie sich ein Modell
physikalischer Erkenntnis konstruiert hat, hat man auch innerhalb
der Physik Modelle konstruiert, deren ?berspannung zu falschen
Vorstellungen ?ber Grundz?ge des Naturgeschehens gef?hrt hat.
Newtons Vorstellung einer Anziehungskraft zwischen den Pla?
neten hat man lange f?r die Urform aller Wirkungs?bertragung an?
gesehen; heute wissen wir, da? zwar die mathematische Formel
Newtons ihren Wert als N?herungsgesetz beh?lt, da? dagegen die hinzutretenden Vorstellungen einer anziehenden Kraft nur Be?
gleitvorstellungen sind, denen kein Erkenntniswert zukommt. Erst
wenn das formulierte Gesetz von dem Modell getrennt wird, erlangt es wissenschaftlichen Bestand, und so sehr auch das Modell als sub
Der physikalische Wahrheitsbegriff 163
jektives Hilfsmittel bei der ersten Aufstellung der Gesetze gen?tzt
hat, seine Festhaltung ?ber diesen Zweck hinaus bedeutet nur eine
Gefahr, weil sie in irrige Konsequenzen f?hren kann. ?hnlich hat
Boltzmann sein gro?artiges Theorem aus der Vorstellung ab?
geleitet, da? die Molek?le wie elastische Kugeln zusammensto?en; heute wissen wir, da? der allgemeine Gedanke einer statistischen
Aufl?sung des zweiten W?rmesatzes seinen Wert beh?lt, nicht aber
das mechanische Modell, mit dem er urspr?nglich gekoppelt war.
Auch die gegenw?rtigen Theorien beruhen noch neben ihrem begriff? lichen Gehalt auf der Scheinbegr?ndung durch ein Modell. So liegt der Einstein sehen Theorie das Modell zugrunde, da? alles Welt?
geschehen aus Koinzidenzen besteht, deren Netzwerk das eigentlich
Objektive sei, w?hrend die metrischen Abmessungen des Netzwerks
beliebig gedehnt werden k?nnen ? ein Bild von grandioser Richtig? keit f?r die Welt im Gro?en, w?hrend im Kleinen der Begriff der Koinzidenz und der raumzeitlichen Ordnung h?chst problematisch
geworden ist. Jedes Modell hat immer nur beschr?nkte G?ltigkeit, und nichts ist so gef?hrlich wie die Verkennung dieser Grenzen; denn die Z?ge des Modells erfassen die Natur immer nur in einem
gewissen Ann?herungsgrad, niemals aber in ihrer v?lligen Allge? meinheit. So m?ssen wir bereit sein, heute auch den letzten Zug
aufzugeben, der allen bisherigen physikalischen Modellen gemeinsam war: den Gedanken des Determinismus. Nicht einmal die blo?e Be?
stimmtheit eines Geschehens durch das andere, seien es nun r?um?
liche Kugeln oder raumzeitliche Koinzidenzen, l??t sich heute noch
aufrechterhalten. Auch diese Bestimmtheit war nur eine Idealisie?
rung, die f?r viele Zwecke brauchbar war; aber sie als letzte erkennt?
nistheoretische Wahrheit postulieren zu wollen, w?re nichts als eine
v?llig ungerechtfertigte ?berspannung des Modells.
Die Entwicklung geht dabei gew?hnlich schrittweise vor sich.
Zun?chst bemerkt man die Idealisierung gar nicht, die man durch
Konstruktion des Modells vollzogen hat. Nach einiger Zeit aber
tauchen merkw?rdige Schwierigkeiten auf; das System zeigt Wider?
spr?che und unl?sbare R?tsel. In seiner Not greift der Physiker dann zu dem Werkzeug erkenntnistheoretischer ?berlegungen, und es zeigt sich, da? die physikalische Schwierigkeit aus einer erkennt?
nistheoretischen Befangenheit entsprang. Einsteins ber?hmte
Kritik des Gleichzeitigkeitsbegriffs ist eins der sch?nsten Beispiele f?r diese Entwicklung, und die Versuche, welche gegenw?rtig in der
Quantenmechanikzur Kritik des Kausalit?tsgedankens'gemacht werden,
J?4 Hans Reichenbach
entspringen dem Zwang einer ?hnlichen Situation. In letzterem
Fall freilich war die erkenntnistheoretische Kritik der physikalischen
Entwicklung bereits vorausgelaufen; denn die philosophische Analyse der bisherigen Physik hatte bereits herausgestellt, da? der Kausal?
gedanke eine zu enge Fassung sei, da? ein allgemeinerer Gesetzes?
zusammenhang der Natur, ein Wahrscheinlichkeitszusammenhang,
angenommen werden mu?, f?r den die Quantenmechanik nur eine
spezielle, nat?rlich h?chst interessante Form bedeutet1). Mit dieser
Vorwegnahme einer sp?teren physikalischen Entwicklung hat die
neuere Naturphilosophie bereits zeigen k?nnen, da? sie auf dem
richtigen Wege ist, wenn sie physikalische Erkenntnisse zu philoso?
phischen Entdeckungen auswertet und weiterf?hrt.
Aber wir m?ssen nun etwas genauer darauf eingehen, aus' welchem
Grunde der Gedanke der strengen Kausalit?t eine ?berspannung des
Modells bedeutet. Man erkennt dies, wenn man bedenkt, da? die
physikalischen Gesetze ideale Zusammenh?nge beschreiben, die in
der Natur niemals streng realisiert sind. Wir haben es stets mit Be?
schreibungen der Natur zu tun, in denen wir einen gewissen Ideal?
fall des Geschehens voraussetzen, und schlie?en von ihnen auf das
Zutreffen anderer Beschreibungen; aber die Kausalit?t kann uns
diesen Schlu? nur garantieren, wenn die idealen Voraussetzungen des
Schlusses wirklich erf?llt sind ? und das ist eben niemals der Fall.
Man mu? sieh einmal ganz klar dar?ber werden, da? das Kausal?
prinzip in seiner strengen Form eine g?nzliche leere, weil unanwend?
bare Aussage bedeuten w?rde, wenn man es nicht anders fassen
k?nnte als in der aus dem Modell entnommenen Form. F?r das
Modell ist es sinnvoll, aus dem Vorhandensein des Zustandes A
auf das Eintreten des Zustandes B zu schlie?en. F?r die Wirklich?
keit aber ist mit der Behauptung eines derartigen Implikations?
zusammenhangs nichts, aber auch gar nichts ausgesagt, weil uns kein
einziger Fall bekannt ist, in dem der Zustand A streng realisiert ist.
Es hilft hier auch nichts, die Kausalforderung durch eine Stetigkeits?
forderung zu erg?nzen von der Art, da? der angen?herte Zustand A
wenigstens den angen?herten Zustand B bestimmen soll ? denn
wir wissen nicht einmal, ob der Zustand A auch nur angen?hert realisiert ist. Wir wissen n?mlich nur, da? der Zustand A mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit realisiert ist; und wenn wir auch den
*) Vgl. hierzu H. Reichenbach, Die Kausalstruktur der Welt und der
Unterschied von Vergangenheit und Zukunft, Ber. d. bayer. Akad. math. Klasse,
1925, S. 133.
Der physikalische Wahrheitsbegriff x6S
Zustand A nur innerhalb eines gewissen Genauigkeitsspielraums e
festlegen, so k?nnen wir doch die vorliegende Behauptung stets nur
mit Hilfe des Wahrscheinliehkeitsbegriffs formulieren: mit gro?er Wahrscheinlichkeit liegt Zustand A innerhalb des Genauigkeitsspiel?
raums e ? das ist alles, was wir wissen. Wenn wir trotzdem auf
das Eintreten des Zustandes B mit Wahrscheinlichkeit sehlie?en, so
ist eben hierin der Gebrauch des Wahrscheinlichkeitsbegriffs ent?
halten. Man merkt dies im allgemeinen deshalb nicht, weil man
den Spielraum e gew?hnlich so w?hlt, da? die zugeh?rige Wahr?
scheinlichkeit sehr gro? wird; man kann deshalb praktisch die vor?
kommenden Wahrscheinlichkeitsaussagen von Gewi?heitsaussagen nicht mehr unterscheiden. Aber wenn man deshalb den Kausalbegriff in der ?blichen strengen Form der physikalischen Erkenntnis zu?
grunde legt, so liegt eben hierin jene ?berspannung des Modells, von
der wir sprechen. F?r viele physikalische Zwecke darf man aller?
dings den Wahrscheinlichkeitscharakter der Naturgesetze vergessen und sich mit dem Modell des strengen Naturgesetzes begn?gen; wenn
man aber die damit vollzogene Idealisierung bei erkenntnistheore?
tischen ?berlegungen vergi?t, so begeht man damit einen entschei?
denden Fehler, durch den sich die Theorie der physikalischen Er?
kenntnis vollst?ndig verzerrt. ?brigens enth?lt die praktische
Physik bei n?herem Zusehen den Wahrscheinlichkeitsbegriff doch
noch; er hat sich dort nur in den schmalen Bereich der Fehlerregu? lation versteckt. Aber gerade aus der Form der G a u ? sehen Expo? nentialkurve mit ihrem asymptotischen Verlauf nach beiden Seiten
sollte gen?gend deutlieh werden, da? das Zutreffen des Resultats
innerhalb des Genauigkeitsintervalls e stets nur mit gro?er Wahr?
scheinlichkeit, niemals mit Gewi?heit behauptet werden darf.
Man k?nnte gegen den geschilderten Gedankengang einwenden, da? der Wahrscheinlichkeitsbegriff stets an das Auftreten bestimmter
zahlenm??iger Beschreibungen gekn?pft ist, wie sie etwa die Astro?
nomie oder Geod?sie durchzuf?hren hat, da? er aber noch nicht
auftritt in der Formulierung der physikalischen Gesetze, weil diese
noch keinerlei Annahmen ?ber die Anfangsbedingungen des Ge?
schehens enthalten. So sei es zwar richtig, da? die Annahme ?ber
den Verlauf einer bestimmten Planetenbahn nur mit Wahrschein?
lichkeit gemacht werden kann; dagegen k?nne mit Sicherheit be?
hauptet werden, da? die Planetenbahn etwa die Poisson sehe
Differentialgleichung erf?llt, denn diese gilt f?r jede Form der An?
fangsbedingungen und umsehlie?t zugleich die st?renden Einwir
i66 Hans Reichenbach
kungen der anderen Planeten. Es l??t sich jedoch leicht zeigen, da?
auch dieser Ausweg versagt. Denn der Physiker wird niemals ernst?
lich behaupten k?nnen, da? seine Differentialgleichungen in v?llig strenger Genauigkeit gelten. Auch das Zutreffen der Differential?
gleichungen ist n?mlich an die Erf?llung besonderer ?u?erer Um?
st?nde gebunden, welche niemals streng vorliegen. So wissen wir
heute, nach der Gravitationstheorie Einsteins, da? auch die
Poisson sehe Differentialgleichung keineswegs f?r jede Form von
Massenanziehung g?ltig ist; da? sie vielmehr nur f?r sehr spezielle Gravitationsfelder zutrifft, wie sie streng niemals verwirklicht sind.
Wir besitzen nun allerdings in der Einstein sehen Gravitations?
gleichung ein umfassenderes Instrument, welches f?r Gravitations?
felder von sehr viel allgemeinerem Typ zutrifft; dennoch wird kein
Physiker behaupten, da? diese Gleichung nun letzte, unumst??liche
Wahrheit sei. Vor solcher ?berspannung der Einstein sehen Glei?
chung warnt uns schon der Gedanke, da? die Einstein sehe Gra?
vitationstheorie eine ph?nomenologische Theorie der Materie ist,
deren Zutreffen einstweilen nur f?r die grobe Materie gew?hrleistet
ist, w?hrend ihre Geltung im Bereich der Quantengesetze noch h?chst
problematisch erscheint. Wir m?ssen deshalb dabei stehenbleiben,
da? auch die funktioneile Form des Gesetzes stets eine Schemati?
sierung bedeutet, ebenso wie schon in der Wahl der Parameter
und der Bestimmung ihres Betrages eine Schematisierung enthalten
ist; auch das Zutreffen des Naturgesetzes in der von Integrations? konstanten freien Form der Differentialgleichung kann nur mit
Wahrscheinlichkeit behauptet werden, weil dieses Zutreffen an die
Erf?llung gewisser Bedingungen gekn?pft ist, ?ber deren Vorliegen wir nur mit Wahrscheinlichkeit etwas aussagen k?nnen.
Es gibt deshalb keine M?glichkeit, dem Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Naturerkenntnis zu entrinnen. Jede physikalische Aussage, sei sie die Aussage ?ber ein einzeln vorliegendes physikalisches
System oder ?ber die Geltung eines physikalischen Gesetzes im
allgemeinen, ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage, und nur eine Theorie
der Wahrscheinlichkeit kann deshalb f?r das logische Problem der
physikalischen Aussage eine Antwort geben. Wenn manche hier?
gegen eingewandt haben, da? die Wahrscheinlichkeit physikalischer Aussagen im allgemeinen etwas anderes sei als die Wahrscheinlichkeit
statistischer Aussagen, da? man zwischen einer philosophischen Wahrscheinlichkeit und einer mathematischen Wahrscheinlichkeit
unterscheiden m?sse, so bedeutet dies einen folgenschweren Irrtum.
Der physikalische Wahrheitsbegriff 167
Ich habe die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes in einer Reihe fr?herer Arbeiten1) dargelegt und dort auch den genauen Nachweis
gegeben, da? es sieh hier um einen und denselben Wahrscheinlich?
keitsbegriff handelt. An dieser Stelle sei zur Verdeutlichung nur kurz darauf hingewiesen, da? das Auftreten einer Wahrscheinlichkeits?
funktion in der Fehlertheorie ebensowohl wie in der Theorie der
Gl?cksspiele die Identit?t dieser irrt?mlich geschiedenen Wahrschein?
lichkeitsbegriffe beweist. Im Gegenteil scheint es mir eine der wich?
tigsten Tatsachen der Naturerkenntnis zu sein, da? ein und derselbe
Wahrscheinlichkeitsbegriff in den sogenannten statistischen Gesetzen
der Physik ebenso wie in jeder physikalischen Aussage anderer Art
auftritt; erst die Aufdeckung dieser Tatsache macht eine befriedi?
gende Theorie der physikalischen Erkenntnis m?glieh. Denn mit ihr
ist das Problem der physikalischen Aussage auf das Problem der
Wahrscheinlichkeitsaussage reduziert; das Geltungsproblem der phy? sikalischen Aussage ist in die Philosophie des Wahrscheinlichkeits?
begriffs ?bertragen worden, und mit den hier inzwischen schon weit
vorgeschrittenen Methoden k?nnen wir das Wahrscheinlichkeitspro? blem der Physik seiner L?sung zuf?hren.
Die Bedeutung dieser Wendung des Problems der physikalischen Wahrheit wird deutlich, wenn wir jetzt den entwickelten Gedanken
benutzen und untersuchen, in welcher Weise in der Physik Wahr?
scheinlichkeitsaussagen behandelt werden. Denn es wird dabei her?
austreten, welches die speziellen Bedingungen sind, die zu dem
Schema der strengen Kausalit?t und damit der strengen Wahrheit
gef?hrt haben, von deren Geltung also die Berechtigung dieses ?lte?
ren Modells allein abh?ngt. Es stellt sich n?mlich heraus, da? das Auftreten der Wahrschein?
lichkeitsaussagen dem Physiker stets unbequem ist und da? er ein
Hilfsmittel ersonnen hat, der allgemeinen Wahrscheinlichkeitsaus?
sage zu entgehen. Dieses Hilfsmittel besteht darin, da? er durch
gewisse Kunstgriffe die Wahrscheinlichkeit einer vorliegenden Aus?
sage in einen nahe bei 1 gelegenen Wahrscheinlichkeitsgrad einer
anderen Aussage verwandelt; die damit entstehende spezielle Wahr?
scheinlichkeitsaussage von hohem Wahrscheinlichkeitsgrad aber kann
er dann wie eine Gewi?heitsaussage behandeln. F?r diese Verwand?
lung bieten sich nun zwei Wege dar; der Wahrscheinlichkeitsgrad wird der 1 nahegebracht
*) Vgl. die Literaturzusammenstellung am Schlu? des Heftes.
12 Erkenntnis II
i68 Hans Reichenbach
i) durch genaue Analyse des Einzel Vorgangs, d. h. Vermehrung der bestimmenden Parameter und Verfeinerung der funktio?
neilen Form (kausale Methode); 2) durch ?bergang zu gro?en Anzahlen (statistische Methode).
In diesen beiden Methoden liegt die Quelle f?r jene Doppelheit physikalischer Gesetze, wie sie in den beiden Typen der kausalen
und statistischen Gesetze formuliert worden ist. Aber was man
f?lschlich als zwei ganz verschiedene Formen physikalischer Gesetze
aufgefa?t hat, stellt sich bei n?herer Betrachtung als Doppelheit der
Methoden dar, mit welchen eine Wahrscheinlichkeitsaussage in eine
andere Wahrscheinlichkeitsaussage von hohem Wahrscheinlichkeits?
grad ?bersetzt werden kann. Die Verschiedenheit der physikalischen
Sachgebiete bringt es mit sich, da? man bald die eine, bald die andere Methode bevorzugt; so w?hlt man in der Gastheorie die
zweite Methode, weil die erste Methode praktisch undurchf?hrbar
ist, w?hrend man etwa in der Himmelsmechanik die erste Methode
benutzt, weil hier diese Methode recht gut durchf?hrbar ist, anderer?
seits der ?bergang zu gro?en Zahlen hier vielfach gar nicht m?glich ist. Aber man mu? sieh dar?ber klar sein, da? jede physikalische
Aussage, gleichg?ltig in welchem Sachgebiet, stets nach beiden Me?
thoden behandelt werden kann, und da? die Behauptung zweier
prinzipiell verschiedener Gesetzestypen unhaltbar ist, weil diese
beiden Formen der Gesetzlichkeit in dem einen Begriff des Wahr?
scheinlichkeitsgesetzes zusammenfallen.
Und hier entsteht nun die M?glichkeit, denjenigen Weg der Ver?
allgemeinerung aufzuzeigen, den die heutige Quantenmechanik ein?
geschlagen hat. Denn was in der Hei s enber g sehen Ungenauig keitsrelation behauptet wird, ist nichts anderes, als da? der erste
Weg, der der kausalen Methode, nicht beliebig weit durchgef?hrt werden kann1). Das ist f?r den Erkenntnistheoretiker nicht weiter
?berraschend, denn es gibt keinerlei prinzipiellen Grund, der die
M?glichkeit des genannten ersten Weges gew?hrleisten k?nnte. Ich
habe aus solchen ?berlegungen heraus schon ein Jahr vor dem Ent
*) Neuerdings hat die Ungenauigkeitsrelation eine etwas engere Form ange?
nommen: Man kann stets Experimente derart machen, da? ein bestimmter, belie?
big vorgebbarer Parameter des Geschehens auch beliebig genau vorausberechnet
werden kann. Aber dies geschieht stets auf Kosten anderer Parameter; f?r die
Kombination aller Parameter l??t sich die Wahrscheinlichkeit der Vorausberech?
nung nicht beliebig nahe an i steigern. Infolgedessen bleibt der oben dargelegte
Gedanke einer prinzipiellen Begrenzung der Vorausberechnung durch diese Fas?
sung der Ungenauigkeitsrelation unber?hrt.
Der physikalische Wahrheitsbegriff 169
stehen der Quantenmechanik auf die M?glichkeit hingewiesen, da?
die zuk?nftige Entwicklung der Quantentheorie zu der Behauptung einer prinzipiellen Grenze f?r die Steigerung der Wahrscheinlichkeit auf dem Wege der Analyse des Einzel Vorgangs f?hren k?nne1); und es
erscheint in der Tat f?r die hier dargelegte Auffassung physikalischer Erkenntnis eine ganz nat?rliche Entwicklung, wenn sich jetzt in der
quantenmechanischen Begrenzung des Kausalit?tsgedankens diese
Wendung vollzogen hat.
Von manchen Seiten ist gegen die hier geschilderte Entwicklung der Einwand vorgebracht worden, da? die geschilderte Begrenzung des Kausalit?tsgedankens nur eine Begrenzung f?r unsere Kenntnis
der Natur sei, da? dagegen die Idee eines an sich streng kausalen
Geschehens nicht beeintr?chtigt sei. Ich glaube jedoch durch die im
vorangehenden dargelegte Behandlung der Kausalaussage zur Gen?ge
dargelegt zu haben, da? eine solche Rettung der Kausalit?t nur eine
Scheinl?sung darstellt. Jene Idee des streng kausalen Geschehens hat
ja nur Sinn als Aussage ?ber einen Grenzproze?; wenn dieser Grenz?
proze? jetzt aber nicht mehr m?glich ist, so hat damit die strenge
Kausalaussage jeden angebbaren Sinn verloren. Es ist die vorhin ge?
schilderte Verwechslung des Modells mit der Realit?t, die sich in sol?
cher Auffassung ausspricht. Sie vergi?t, da? Aussagen ?ber das
Modell nur soweit f?r die tats?chlich vorliegende Erkenntnis Sinn
besitzen, als sie in Aussagen ?ber die Zuordnung des Modells zur
Wirklichkeit ?bersetzt werden k?nnen. Dies sei f?r diejenigen be?
merkt, welche den Kausalgedanken durch sogenannte philosophische
?berlegungen vor der Quantenmechanik retten m?chten. Die Philo?
sophen lieben es, sich vor der exakten Forschung in das Gebiet der
Leeraussagen zu fl?chten. ?hnlich wie neuerdings C a r n a p in
?u?erster Konsequenz positivistischer Gedanken den Kampf gegen dieses philosophische Schattenreich auf anderm Gebiete aufgenommen
hat, m?ssen wir ihn hier auf dem Gebiet der Kausalit?t durchf?hren.
Er bedeutet hier, auf dem Gebiet der Prophezeiungsaussagen, die Er?
kenntnis, da? lediglich der Wahrscheinlichkeitsaussage, nicht aber der
strengen Wahrheitsaussage ein Sinn zukommt.
Manche haben in der geschilderten Begrenzung der kausalen
Methode eine Krisis der physikalischen Erkenntnis sehen wollen;
aber es d?rfte aus den dargelegten ?berlegungen zur Gen?ge klar
werden, da? hier eine Krisis nur f?r den vorliegt, der die klassische
*) Die Kausalstruktur u. s. w. S. 138; vgl. oben Fu?note S. 164.
1?*
170 Hans Reichenbach
Physik nicht erkenntnistheoretisch zu durchschauen vermochte. Es
handelt sieh vielmehr um eine durchaus stetige Verallgemeinerung des bisherigen Erkenntnis Verfahrens; nicht etwa wird Verzieht auf
physikalische Gesetzlichkeit ?berhaupt geleistet, sondern es wird
lediglich der ?bergang zu einer Gesetzlichkeit von allgemeinerem
Typus vollzogen. Wer diesen erkenntnistheoretischen Zusammenhang
eingesehen hat, der wird die neue Entwicklung durchaus als einen
Gesundungsproze? empfinden, in dem die Struktur der Erkenntnis
viel klarer heraustritt als in der fr?heren naiven Erkenntnistheorie.
Ich darf zur Verdeutlichung an die Relativit?tstheorie erinnern, deren
physikalische und psychologische Auswirkung ja heute schon histo? risch geworden ist, nachdem die Theorie Allgemeingut der wissen?
schaftlichen Forschung wurde. Nur die Unverst?ndigen ? heute darf
man das ja wohl sagen ? konnten in der Relativit?tstheorie einen
Zusammenbruch der Physik sehen, konnten von ?Wegsinken des
festen Bodens unter den F??en" und ?Verzicht auf objektive Er?
kenntnis" sprechen. Wer sieh dagegen hineingearbeitet hat in die
Theorie, wer ihre Grundbegriffe durchdacht, die Notwendigkeit ihrer
Fragestellungen begriffen hat, der hat erkannt, da? durch sie die
physikalische Erkenntnis nur klarer und sicherer geworden ist, weil
sie scharfe Begriffe und Antworten an Stellen gegeben hat, wo die
alte Theorie die Probleme ?bersah. Genau so liegt es mit der
Quantenmechanik und der Aufdeckung des Wahrscheinlichkeits?
charakters aller Erkenntnis. Nur wer das Erkenntnisproblem nicht zu Ende denkt, wer das konstruierte Modell mit der Realit?t ver?
wechselt und darum an dem Dogma eines ?an sieh" bestehenden, nach
strengem Determinismus verlaufenden Geschehens festh?lt, kann in
dem Wahrscheinlichkeitscharakter der Quantenmechanik einen Ver?
zieht auf Erkenntnis sehen. Wer aber erkannt hat, da? die Realit?t zwar durch Modelle beschrieben, nicht aber selbst vom Charakter
des Modells gedacht werden darf, der begreift, da? Aussagen ?ber
das Reale nur in der Form von Beziehungen zwischen den besehrei?
benden Begriffen gemacht werden k?nnen. Diese Erkenntnis aber
f?hrt zu einer Einsicht in die Natur des Erkenntnisproblems, mit der
sieh die ?ltere Theorie der physikalischen Erkenntnis an Tiefe nicht messen kann.
Denn diese Erkenntnis bedeutet nichts geringeres als den ?ber?
gang von dem Wahrheitsbegriff der Modellphysik zu dem Wahr?
scheinlichkeitsbegriff einer erkenntniskritischen Physik, f?r welche
limes-Aussagen nur den Sinn von Konvergenzprozessen besitzen und
Der physikalische Wahrheitsbegriff *7*
eben darum nur mit Hilfe des Wahrscheinlichkeitsbegriffs formuliert
werden k?nnen. Es gibt ja keine Wahrheit f?r physikalische Aus?
sagen, sondern erreichbar ist stets nur Wahrscheinlichkeit; will man
trotzdem den Wahrheitsbegriff benutzen, so kann er f?r die Physik nur den Grenzfall bedeuten, wo die Wahrscheinlichkeit gleich 1 ist.
Wahrheit ist also ein Spezialfall des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Darum kann der Wahrheitsbegriff nur durch den Wahrscheinlichkeits?
begriff, nicht aber der Wahrscheinlichkeitsbegriff durch den Wahr?
heitsbegriff definiert werden. Die genauere Durchdenkung dieser
Fragen f?hrt aus der strengen Logik in eine allgemeinere Wahr?
scheinlichkeitslogik hinein, ein ?bergang, den man dem Verh?ltnis
von euklidischer Geometrie zu R i e m a n n scher Geometrie verglei? chen kann. Wie ich mir diese Wahrscheinlichkeitslogik vorstelle, das
habe ich vor einem Jahr, auf unserer ersten Tagung f?r Erkenntnis?
lehre, formuliert und darf daf?r auf den in der Zeitschrift ?Erkennt?
nis"1) herausgekommenen Bericht jener Tagung verweisen. Heute war
es mir darum zu tun, Ihnen den Zusammenhang dieser philoso?
phischen Gedanken mit der modernen Quantenmechanik aufzuzeigen. St?rker als je sind heute physikalische Probleme mit erkenntnis?
theoretischen Problemen verflochten; und ich glaube sagen zu d?rfen, zum Nutzen beider.
*) ?Erkenntnis" I, 1930, Heft 2?5, S. 158.