psychatrische notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfpsychatrische...

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Page 1: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Psychatrische Notfaumllle

Erregungszustand S 300

Bewusstseinsstoumlrung S 302

Akute Verwirrtheit S 303

Panikattacke Angstanfall S 305

Suizidalitaumlt S 306

Praumldelir Delir S 307

Intoxikation Drogennotfall S 309

Katatonie Stupor S 310

Malignes neuroleptisches Syndrom S 311

Plasmakonzentration bei Drug-Monitoring haumlufig verwendeter Psychopharmaka

Substanzklasse Empfohlene Serumkonzentration

Substanzklasse Empfohlene Serumkonzentration

Antidepressiva Antipsychotika

Agomelatin 7ndash300 ngml Amisulprid 100ndash320 ngml

Amitriptylin 80ndash200 ngml Aripiprazol 150ndash500 ngml

Bupropion 225ndash1500 ngml Asenapin 2ndash5 ngml

Citalopram 50ndash110 ngml Benperidol 1ndash10 ngml

Clomipramin 100ndash300 ngml Chlorprothixen 20ndash300 ngml

Desipramin 100ndash300 ngml Clozapin 350ndash600 ngml

Doxepin 50ndash100 ngml Flupentixol 05ndash5 ngml

Duloxetin 30ndash120 ngml Fluphenazin 1ndash10 ngml

Escitalopram 15ndash80 ngml Haloperidol 1ndash10 ngml

Fluoxetin 300ndash400 ngml Levomepromazin 30ndash160 ngml

Fluvoxamin 60ndash230 ngml Melperon 30ndash100 ngml

Impramin 175ndash300 ngml Olanzapin 20ndash80 ngml

Maprotilin 75ndash130 ngml Paliperidon 20ndash60 ngml

Mirtazapin 30ndash80 ngml Perazin 100ndash230 ngml

Moclobemid 300ndash1000 ngml Perphenazin 06ndash24 ngml

Paroxetin 30ndash60 ngml Pimozid 15ndash20 ngml

Sertralin 10ndash150 ngml Pipamperon 100ndash400 ngml

Tranylcypromin lt 50 ngml Quetiapin 100ndash500 ngml

Trazodon 700ndash1000 ngml Risperidon 20ndash60 ngml

Trimipramin 150ndash300 ngml Sertindol 50ndash100 ngml

Venlafaxin 100ndash400 ngml Sulpirid 200ndash1000 ngml

Thioridazin 100ndash200 ngml

Ziprasidon 50ndash200 ngml

Zuclopentixol 4ndash50 ngml

Phasenprophylaktika

Carbamazepin 4ndash10 mgl (μgml)

Lamotrigin 3ndash14 mgl (μgml)

Lithium 05ndash08 mmoll

Valproat 50ndash100 mgl (μgml)

Inhaltsuumlbersicht

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 152 Psychometrie 47

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 82

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 1155 Organische einschlieszliglich symptomatischer psychischer Stoumlrungen 1166 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch psychotrope Substanzen 1597 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 1848 Affektive Stoumlrungen 2039 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21710 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichen Stoumlrungen und Faktoren 24511 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 26812 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungen mit Beginn in der Kindheit

und Jugend 29813 Psychiatrische Notfaumllle 300

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 31315 Psychologische Verfahren 34516 Verhaltenstherapie 36517 Gruppentherapien 38018 Sozialbezogene Therapie 39219 Forensische Psychiatrie 405

Anhang Anhang

20 Anhang I Medikamente 42321 Anhang II Adressen 43122 Psychiatrisches Glossar 435

h

Checklistender aktuellen Medizin Begruumlndet von F Largiadegraver A Sturm O Wicki

Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie Theo R Payk Martin Bruumlne

7 uumlberarbeitete Auflage

18 Abbildungen

Georg Thieme VerlagStuttgart New York

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

1 Auflage 19882 Auflage 19923 Auflage 19984 Auflage 20035 Auflage 20076 Auflage 2013

copy 2018 Georg Thieme Verlag KG Ruumldigerstraszlige 14 D - 70469 StuttgartUnsere Homepage httpwwwthiemede

Umschlaggestaltung Thieme GruppeUmschlagfoto copy DeStagge ndash Adobe StockZeichnungen Angelika Kramer Stuttgart Angelika Brauner HohenpeiszligenheimSatz L42 AG Berlingesetzt in 3B2Druck LEGO spA in Lavis (TN)

DOI 101055b-005-143666

ISBN 978-3-13-240668-1 1 2 3 4 5 6Auch erhaumlltlich als E-BookeISBN (PDF) 978-3-13-240669-8eISBN (epub) 978-3-13-240670-4

Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin staumlndigen Entwicklungen unter-worfen Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse insbesondere was Behandlung und medikamentoumlse Therapie anbelangt Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwaumlhnt wird darf der Leser zwar darauf vertrauen dass Autoren Her-ausgeber und Verlag groszlige Sorgfalt darauf verwandt haben dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht

Fuumlr Angaben uumlber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewaumlhr uumlbernommen werden Jeder Benutzer ist angehalten durch sorgfaumlltige Pruumlfung der Beipackzettel der verwendeten Praumlparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spe-zialisten festzustellen ob die dort gegebene Empfehlung fuumlr Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenuumlber der Angabe in diesem Buch abweicht Eine solche Pruumlfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Praumlparaten oder solchen die neu auf den Markt gebracht worden sind Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benut-zers Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen

Geschuumltzte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden dass es sich um einen frei-en Warennamen handelt

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insbesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikrover-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Vorwort

5

VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

6

AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

7

5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

9

10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

10

1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

11

154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

13

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

1

15

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

1

26

Page 2: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Inhaltsuumlbersicht

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 152 Psychometrie 47

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 82

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 1155 Organische einschlieszliglich symptomatischer psychischer Stoumlrungen 1166 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch psychotrope Substanzen 1597 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 1848 Affektive Stoumlrungen 2039 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21710 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichen Stoumlrungen und Faktoren 24511 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 26812 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungen mit Beginn in der Kindheit

und Jugend 29813 Psychiatrische Notfaumllle 300

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 31315 Psychologische Verfahren 34516 Verhaltenstherapie 36517 Gruppentherapien 38018 Sozialbezogene Therapie 39219 Forensische Psychiatrie 405

Anhang Anhang

20 Anhang I Medikamente 42321 Anhang II Adressen 43122 Psychiatrisches Glossar 435

h

Checklistender aktuellen Medizin Begruumlndet von F Largiadegraver A Sturm O Wicki

Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie Theo R Payk Martin Bruumlne

7 uumlberarbeitete Auflage

18 Abbildungen

Georg Thieme VerlagStuttgart New York

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

1 Auflage 19882 Auflage 19923 Auflage 19984 Auflage 20035 Auflage 20076 Auflage 2013

copy 2018 Georg Thieme Verlag KG Ruumldigerstraszlige 14 D - 70469 StuttgartUnsere Homepage httpwwwthiemede

Umschlaggestaltung Thieme GruppeUmschlagfoto copy DeStagge ndash Adobe StockZeichnungen Angelika Kramer Stuttgart Angelika Brauner HohenpeiszligenheimSatz L42 AG Berlingesetzt in 3B2Druck LEGO spA in Lavis (TN)

DOI 101055b-005-143666

ISBN 978-3-13-240668-1 1 2 3 4 5 6Auch erhaumlltlich als E-BookeISBN (PDF) 978-3-13-240669-8eISBN (epub) 978-3-13-240670-4

Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin staumlndigen Entwicklungen unter-worfen Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse insbesondere was Behandlung und medikamentoumlse Therapie anbelangt Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwaumlhnt wird darf der Leser zwar darauf vertrauen dass Autoren Her-ausgeber und Verlag groszlige Sorgfalt darauf verwandt haben dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht

Fuumlr Angaben uumlber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewaumlhr uumlbernommen werden Jeder Benutzer ist angehalten durch sorgfaumlltige Pruumlfung der Beipackzettel der verwendeten Praumlparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spe-zialisten festzustellen ob die dort gegebene Empfehlung fuumlr Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenuumlber der Angabe in diesem Buch abweicht Eine solche Pruumlfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Praumlparaten oder solchen die neu auf den Markt gebracht worden sind Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benut-zers Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen

Geschuumltzte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden dass es sich um einen frei-en Warennamen handelt

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insbesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikrover-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Vorwort

5

VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

6

AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

7

5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

9

10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

10

1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

11

154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

13

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

1

15

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 3: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

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Checklistender aktuellen Medizin Begruumlndet von F Largiadegraver A Sturm O Wicki

Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie Theo R Payk Martin Bruumlne

7 uumlberarbeitete Auflage

18 Abbildungen

Georg Thieme VerlagStuttgart New York

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

1 Auflage 19882 Auflage 19923 Auflage 19984 Auflage 20035 Auflage 20076 Auflage 2013

copy 2018 Georg Thieme Verlag KG Ruumldigerstraszlige 14 D - 70469 StuttgartUnsere Homepage httpwwwthiemede

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DOI 101055b-005-143666

ISBN 978-3-13-240668-1 1 2 3 4 5 6Auch erhaumlltlich als E-BookeISBN (PDF) 978-3-13-240669-8eISBN (epub) 978-3-13-240670-4

Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin staumlndigen Entwicklungen unter-worfen Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse insbesondere was Behandlung und medikamentoumlse Therapie anbelangt Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwaumlhnt wird darf der Leser zwar darauf vertrauen dass Autoren Her-ausgeber und Verlag groszlige Sorgfalt darauf verwandt haben dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht

Fuumlr Angaben uumlber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewaumlhr uumlbernommen werden Jeder Benutzer ist angehalten durch sorgfaumlltige Pruumlfung der Beipackzettel der verwendeten Praumlparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spe-zialisten festzustellen ob die dort gegebene Empfehlung fuumlr Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenuumlber der Angabe in diesem Buch abweicht Eine solche Pruumlfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Praumlparaten oder solchen die neu auf den Markt gebracht worden sind Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benut-zers Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen

Geschuumltzte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden dass es sich um einen frei-en Warennamen handelt

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insbesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikrover-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Vorwort

5

VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

6

AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

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5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

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613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 4: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Checklistender aktuellen Medizin Begruumlndet von F Largiadegraver A Sturm O Wicki

Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie Theo R Payk Martin Bruumlne

7 uumlberarbeitete Auflage

18 Abbildungen

Georg Thieme VerlagStuttgart New York

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

1 Auflage 19882 Auflage 19923 Auflage 19984 Auflage 20035 Auflage 20076 Auflage 2013

copy 2018 Georg Thieme Verlag KG Ruumldigerstraszlige 14 D - 70469 StuttgartUnsere Homepage httpwwwthiemede

Umschlaggestaltung Thieme GruppeUmschlagfoto copy DeStagge ndash Adobe StockZeichnungen Angelika Kramer Stuttgart Angelika Brauner HohenpeiszligenheimSatz L42 AG Berlingesetzt in 3B2Druck LEGO spA in Lavis (TN)

DOI 101055b-005-143666

ISBN 978-3-13-240668-1 1 2 3 4 5 6Auch erhaumlltlich als E-BookeISBN (PDF) 978-3-13-240669-8eISBN (epub) 978-3-13-240670-4

Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin staumlndigen Entwicklungen unter-worfen Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse insbesondere was Behandlung und medikamentoumlse Therapie anbelangt Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwaumlhnt wird darf der Leser zwar darauf vertrauen dass Autoren Her-ausgeber und Verlag groszlige Sorgfalt darauf verwandt haben dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht

Fuumlr Angaben uumlber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewaumlhr uumlbernommen werden Jeder Benutzer ist angehalten durch sorgfaumlltige Pruumlfung der Beipackzettel der verwendeten Praumlparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spe-zialisten festzustellen ob die dort gegebene Empfehlung fuumlr Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenuumlber der Angabe in diesem Buch abweicht Eine solche Pruumlfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Praumlparaten oder solchen die neu auf den Markt gebracht worden sind Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benut-zers Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen

Geschuumltzte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden dass es sich um einen frei-en Warennamen handelt

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insbesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikrover-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Vorwort

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VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

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AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

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5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

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8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 5: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie Theo R Payk Martin Bruumlne

7 uumlberarbeitete Auflage

18 Abbildungen

Georg Thieme VerlagStuttgart New York

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

1 Auflage 19882 Auflage 19923 Auflage 19984 Auflage 20035 Auflage 20076 Auflage 2013

copy 2018 Georg Thieme Verlag KG Ruumldigerstraszlige 14 D - 70469 StuttgartUnsere Homepage httpwwwthiemede

Umschlaggestaltung Thieme GruppeUmschlagfoto copy DeStagge ndash Adobe StockZeichnungen Angelika Kramer Stuttgart Angelika Brauner HohenpeiszligenheimSatz L42 AG Berlingesetzt in 3B2Druck LEGO spA in Lavis (TN)

DOI 101055b-005-143666

ISBN 978-3-13-240668-1 1 2 3 4 5 6Auch erhaumlltlich als E-BookeISBN (PDF) 978-3-13-240669-8eISBN (epub) 978-3-13-240670-4

Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin staumlndigen Entwicklungen unter-worfen Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse insbesondere was Behandlung und medikamentoumlse Therapie anbelangt Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwaumlhnt wird darf der Leser zwar darauf vertrauen dass Autoren Her-ausgeber und Verlag groszlige Sorgfalt darauf verwandt haben dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht

Fuumlr Angaben uumlber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewaumlhr uumlbernommen werden Jeder Benutzer ist angehalten durch sorgfaumlltige Pruumlfung der Beipackzettel der verwendeten Praumlparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spe-zialisten festzustellen ob die dort gegebene Empfehlung fuumlr Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenuumlber der Angabe in diesem Buch abweicht Eine solche Pruumlfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Praumlparaten oder solchen die neu auf den Markt gebracht worden sind Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benut-zers Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen

Geschuumltzte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden dass es sich um einen frei-en Warennamen handelt

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insbesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikrover-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Vorwort

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VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

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AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

Inha

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5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

22

bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

23

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 6: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uumlber httpdnbd-nbde abrufbar

1 Auflage 19882 Auflage 19923 Auflage 19984 Auflage 20035 Auflage 20076 Auflage 2013

copy 2018 Georg Thieme Verlag KG Ruumldigerstraszlige 14 D - 70469 StuttgartUnsere Homepage httpwwwthiemede

Umschlaggestaltung Thieme GruppeUmschlagfoto copy DeStagge ndash Adobe StockZeichnungen Angelika Kramer Stuttgart Angelika Brauner HohenpeiszligenheimSatz L42 AG Berlingesetzt in 3B2Druck LEGO spA in Lavis (TN)

DOI 101055b-005-143666

ISBN 978-3-13-240668-1 1 2 3 4 5 6Auch erhaumlltlich als E-BookeISBN (PDF) 978-3-13-240669-8eISBN (epub) 978-3-13-240670-4

Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin staumlndigen Entwicklungen unter-worfen Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse insbesondere was Behandlung und medikamentoumlse Therapie anbelangt Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwaumlhnt wird darf der Leser zwar darauf vertrauen dass Autoren Her-ausgeber und Verlag groszlige Sorgfalt darauf verwandt haben dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht

Fuumlr Angaben uumlber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewaumlhr uumlbernommen werden Jeder Benutzer ist angehalten durch sorgfaumlltige Pruumlfung der Beipackzettel der verwendeten Praumlparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spe-zialisten festzustellen ob die dort gegebene Empfehlung fuumlr Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenuumlber der Angabe in diesem Buch abweicht Eine solche Pruumlfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Praumlparaten oder solchen die neu auf den Markt gebracht worden sind Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benut-zers Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen

Geschuumltzte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden dass es sich um einen frei-en Warennamen handelt

Das Werk einschlieszliglich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschuumltzt Jede Verwertung auszligerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulaumlssig und strafbar Das gilt insbesondere fuumlr Vervielfaumlltigungen Uumlbersetzungen Mikrover-filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Vorwort

5

VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

6

AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

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5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

9

10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

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12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 7: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Vorwort

5

VorwortAngesichts kontinuierlicher Akzeptanz der Checkliste Psychiatrie und Psychothe-rapie in Aus- und Weiterbildung Klinik und Praxis wurde inzwischen das Vor-haben einer erneuten inzwischen 7 Herausgabe des Lehrbuchs realisiert Unter engagiertem Einsatz der Fachredaktion des Thieme Verlags konnte so ein weitge-hend uumlberarbeiteter Text erstellt werden der ndash unter Einbeziehung wertvoller An-regungen und Hinweise ndash sowohl aus einem reichen klinischen Erfahrungsschatz schoumlpft als auch die aktuellen Erkenntnisse der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Forschung einbeziehtWeitergefuumlhrt wird das bewaumlhrte Prinzip einer Aufgliederung der Krankheitsleh-re nach Diagnostik und Therapie saumlmtlicher relevanter psychischer Stoumlrungen im Erwachsenenalter adaptiert an die ICD-10 GM (Version 2017)-Klassifikation Die detaillierten teilweise erweiterten Beschreibungen und Erlaumluterungen der einzel-nen Krankheitsbilder samt deren Behandlung werden ergaumlnzt durch ausfuumlhrliche ebenfalls aktualisierte Informationen zur allgemeinen Psychopathologie Psycho-metrie Notfall- und forensischen Psychiatrie sowie durch tabellarische Medikati-onshinweise Adressenverzeichnis und Glossar Telemetrische diagnostische Methoden und therapeutische Maszlignahmen via In-ternet oder Videotelefonie haben sich bislang in der psychologischen Heilkunde nicht etabliertErgaumlnzende bzw kritische fachliche Hinweise seitens der aufmerksamen Leser-schaft sind willkommen

Theo R Payk und Martin Bruumlne

Anschriften

6

AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

Inha

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5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

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613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

13

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

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15

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

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18

bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

24

bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

1

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Page 8: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Anschriften

6

AnschriftenProf Dr med Dr phil Theo R PaykProf Dr med Martin BruumlneRuhr-Universtaumlt Alexandrinenstr 1ndash344791 Bochum

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

Inha

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7

5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

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is

8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

Inha

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9

10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

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10

1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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1

15

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

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17

Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 9: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Inhaltsverzeichnis

Grauer Teil Diagnostik

1 Diagnostik 1511 Untersuchungsmethoden 1512 Explorationsmethoden 1613 Verhaltensbeobachtung 1914 Anamneseerhebung 2215 Psychiatrische Untersuchung 2616 Koumlrperliche Untersuchung 3217 Labordiagnostik 3418 Apparative Diagnostik 39

2 Psychometrie 4721 Psychologische Testverfahren 4722 Leistungstests 4823 Inventare zur vertiefenden Schweregraddiagnostik

Persoumlnlichkeitsinventare 5924 Projektive Verfahren 80

Gruumlner Teil Leitsymptome

3 Psychopathologie 8231 Symptomatik Leitsymptome Syndromalogie 8232 Stoumlrungen des Bewusstseins und der Orientierung 8433 Wahrnehmungsstoumlrungen 8834 Stoumlrungen von Volition Antrieb und Psychomotorik 9135 Formale Denkstoumlrungen 9436 Inhaltliche Denkstoumlrungen 9637 Gedaumlchtnisstoumlrungen 9938 Stoumlrungen komplexer kognitiver Leistungen 10039 Affektive Stoumlrungen 102310 Erschoumlpfungssyndrom (Burnout) 109311 Indoktrinationssyndrom 109312 Ich-Stoumlrungen 110313 Organische psychische Stoumlrungen Psychosyndrome 111314 Schlafstoumlrungen 113315 Psychische Behinderung Seelische Behinderung 114

Blauer Teil Krankheitsbilder (mit Notfaumlllen)

4 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 11541 Klassifikation der Krankheitsbilder nach ICD-10 Uumlbersicht 115

Inhaltsverzeichnis

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5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

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8

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

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Page 10: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

5 Organische einschlieszliglich symptomatischerpsychischer Stoumlrungen 116

51 Vorbemerkungen 11652 Demenz bei Alzheimer-Krankheit 11653 Demenz mit Lewy-Koumlrperchen 12154 Vaskulaumlre Demenz Multiinfarktdemenz (MID) 12255 Morbus Pick 12456 Frontotemporale Demenz 12657 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD) 12758 Demenz bei Huntington-Krankheit 12859 Demenz bei Parkinson-Erkrankung 130510 Demenz bei HIV-Krankheit 133511 Demenz bei normotensivem Hydrozephalus 134512 Progressive Paralyse (Dementia paralytica) 135513 Demenz bei Epilepsie 137514 Delir ohne Demenz 138515 Delir bei Demenz 139516 Organisch halluzinatorische Stoumlrung z B Dermatozoenwahn 140517 Organisch katatone Stoumlrung 141518 Organisch wahnhafte (schizophreniforme) Stoumlrung 141519 Organisch manisches Syndrom 142520 Organische Depression 144521 Sonderform Pharmakogene Depression 147522 Organische Angststoumlrung 148523 Leichte kognitive Stoumlrung 150524 Medikamenteninduzierte psychische Stoumlrung 150525 Psychotische Stoumlrung durch Vitamin-B12-Mangel 151526 Psychische Stoumlrungen in der Schwangerschaft 153527 Commotio cerebri (Gehirnerschuumltterung) 154528 Contusio cerebri Kontusionspsychose 155529 Weitere neurologische Differenzialdiagnosen 157

6 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durchpsychotrope Substanzen 159

61 Vorbemerkungen 15962 Psychische und Verhaltensstoumlrungen durch Alkohol 16263 Abhaumlngigkeit von Cannabis 16764 Opiatabhaumlngigkeit 16965 Kokainabhaumlngigkeit ICD-10 F 14 17166 Abhaumlngigkeit von Halluzinogenen 17267 Abhaumlngigkeit von Stimulanzien 17368 Abhaumlngigkeit von Sedativa (Tranquilizer) 17569 Abhaumlngigkeit von Hypnotika (Barbiturat-Typ) 176610 Abhaumlngigkeit von Analgetika 177611 Nikotinabhaumlngigkeit 178612 Missbrauch von Inhalanzien und anderen kommerziell

erwerblichen Substanzen 179

InhaltsverzeichnisInha

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613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

Inha

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11

154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 11: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

613 Intoxikationspsychose 180614 Drogeninduzierte psychische Stoumlrung 181615 Amnestisches Syndrom (Korsakow) 183

7 Schizophrenie schizotype und wahnhafte Stoumlrung 18471 Vorbemerkungen 18472 Paranoide Schizophrenie 18773 Hebephrene Schizophrenie 18974 Katatone Schizophrenie 19075 Schizophrenes Residuum (Defektsyndrom) 19276 Schizophrenia simplex 19477 Schizotype Stoumlrung 19678 Anhaltende wahnhafte Stoumlrung Paranoia 19779 Voruumlbergehende akute psychotische Stoumlrung 199710 Schizoaffektive Stoumlrung 201

8 Affektive Stoumlrungen 20381 Vorbemerkungen 20382 Manische Episode 20483 Bipolare (affektive) Stoumlrung 20784 Depressive Episode Rezidivierende depressive Stoumlrung 20885 Involutionsdepression Spaumltdepression 21186 Involutionsmanie Spaumltmanie 21387 Zyklothymia 21488 Dysthymia 214

9 Neurotische Belastungs- und somatoforme Stoumlrungen 21791 Vorbemerkungen 21792 Phobische Stoumlrung Phobie 22093 Panikstoumlrung 22294 Generalisierte Angststoumlrung 22395 Zwangsstoumlrung Zwangsneurose 22596 Akute Belastungsreaktion 22797 Psychogener Erregungszustand 22898 Posttraumatische Belastungsstoumlrung (PTBS) 22999 Anpassungsstoumlrung Depressive Reaktion Reaktive Depression 231910 Dissoziative Stoumlrungen (Konversionsstoumlrungen) 232911 Dissoziative Fugue 234912 Dissoziative Krampfanfaumllle 235913 Ganser-Syndrom 236914 Hypochondrische Stoumlrung 237915 Somatoforme autonome Funktionsstoumlrung Kardiophobie 239916 Anhaltende somatoforme Schmerzstoumlrung 240917 Spannungskopfschmerz 242

Inhaltsverzeichnis

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10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

InhaltsverzeichnisInha

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

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1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 12: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

10 Verhaltensauffaumllligkeiten mit koumlrperlichenStoumlrungen und Faktoren 245

101 Vorbemerkungen 245102 Anorexia nervosa 246103 Bulimia nervosa 248104 Nicht-organische Schlafstoumlrungen 250105 Insomnie 251106 Hypersomnie 254107 Stoumlrung der Schlaf-Wach-Rhythmik 255108 Parasomnie 256109 Erektionsstoumlrung 2581010 Frigiditaumlt Anorgasmie 2581011 Ejaculatio praecox 2591012 Vaginismus 2601013 Dyspareunie 2611014 Psychische und Verhaltensstoumlrungen im Wochenbett 2621015 Asthma bronchiale 2631016 Essenzielle Hypertonie 2641017 Colitis ulcerosa 2641018 Endogenes Ekzem 266

11 Persoumlnlichkeits- und Verhaltensstoumlrungen 268111 Vorbemerkungen 268112 Paranoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 271113 Schizoide Persoumlnlichkeitsstoumlrung 272114 Dissoziale Persoumlnlichkeitsstoumlrung 273115 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung vom impulsiven Typ 274116 Emotional instabile Persoumlnlichkeitsstoumlrung

vom Borderline-Typ (BPS) 275117 Histrionische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 276118 Anankastische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 277119 Aumlngstlich (vermeidende) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2781110 Abhaumlngige (asthenische) Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2791111 Hypochondrische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2801112 Narzisstische Persoumlnlichkeitsstoumlrung 2811113 Andauernde Persoumlnlichkeitsaumlnderung nach Extrembelastung 2821114 Pathologisches Spielen 2831115 Pathologisches Brandstiften 2841116 Pathologisches Stehlen 2851117 Arbeitswut Arbeitssuumlchtigkeit 2861118 Transsexualitaumlt 2871119 Transvestismus (Tranvestitismus) 2891120 Fetischismus 2891121 Exhibitionismus 2901122 Paumldophilie 2911123 Sadomasochismus 2921124 Rentenneurose 293

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1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

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154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

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1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

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21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

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1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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21

Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

22

bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

23

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 13: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

1125 Artifizielle Stoumlrung 2941126 Intelligenzminderung Fruumlhkindliche Hirnschaumldigung 2951127 Asperger-Syndrom 296

12 Verhaltens- und emotionale Stoumlrungenmit Beginn in der Kindheit und Jugend 298

121 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitaumltsstoumlrung (ADHS) 298

13 Psychiatrische Notfaumllle 300131 Allgemeines zur Krisenintervention 300132 Erregungszustand 300133 Bewusstseinsstoumlrung 302134 Akute Verwirrtheit 303135 Panikattacke Angstanfall Massenpanik 305136 Suizidalitaumlt Selbstbeschaumldigung 306137 Praumldelir Delir 307138 Intoxikation Drogennotfall 309139 Katatonie Stupor 3101310 Malignes neuroleptisches Syndrom 311

Roter Teil Therapieverfahren Forensik

14 Therapieverfahren 313141 Biologische Therapie (Somatotherapie) 313142 Therapie mit Antidementiva (Nootropika) 313143 Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) 314144 Therapie mit Antidepressiva (Thymoleptika) 320145 Phasenprophylaxe affektiver Stoumlrungen 325146 Therapie mit Tranquilizern und Anxiolytika 328147 Therapie mit Hypnotika 331148 Substitutionsbehandlung 334149 Medikamentoumlse Entwoumlhnungsbehandlung und Rezidivprophylaxe 3351410 Antiandrogenbehandlung 3371411 Medikamentoumlse Behandlung erektiler Dysfunktion 3381412 Schlafentzugstherapie 3391413 Lichttherapie 3401414 Elektrokrampftherapie (EKT) 3401415 (Repetitive) transkranielle Magnetstimulation (rTMS) 3421416 Bioenergetik 3431417 Physiotherapie 3431418 Bewegungstherapie 344

15 Psychologische Verfahren 345151 Psychotherapie 345152 Therapeutisches (problemorientiertes) Gespraumlch

Krisenintervention 349153 Stuumltzende (supportive) Psychotherapie 350

Inhaltsverzeichnis

Inha

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11

154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

13

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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18

bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 14: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

154 Analytische Psychotherapie Psychoanalyse 351155 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 352156 Fokaltherapie Kurztherapie 353157 Katathymes Bilderleben 354158 Analytische Psychologie nach Jung 355159 Individualpsychologie nach Adler 3551510 Mentalisierungsbasierte Therapie 3561511 Logotherapie 3571512 Personenzentrierte (klientenzentrierte) Gespraumlchstherapie (GT) 3581513 Gestalttherapie 3591514 Psychosomatische Grundversorgung 3601515 Autogenes Training (AT) 3601516 Progressive Relaxation (PME) 3621517 Hypnose Hypnoanalyse 3621518 Psychoedukation 363

16 Verhaltenstherapie 365161 Vorbemerkungen 365162 Systematische Desensibilisierung 367163 Reizuumlberflutung Reizkonfrontation 368164 Klinische Neuropsychologie 369165 Kognitive Therapie 369166 Gedankenstopp 370167 Rational-emotive Therapie (RET) 371168 Interpersonale Psychotherapie (IPT) 372169 Symptomverschreibung 3731610 Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) 3741611 Schematherapie 3741612 Augenbewegungsdesensibilisierung und -verarbeitung 3751613 Biofeedback 3761614 Aversionstherapie 3771615 Aktivitaumltsplanung Aktivitaumltsaufbau 3781616 Muumlnzverstaumlrkung 378

17 Gruppentherapien 380171 Vorbemerkungen 380172 Psychiatrische Gruppenarbeit 382173 Rollenspiel 382174 Selbstsicherheitstraining Selbstbehauptungstraining 383175 Training sozialer Kompetenz 384176 Sozial-kognitivesmetakognitives Training 385177 Psychodrama 385178 Tiefenpsychologische Gruppentherapie 386179 Dialektisch-Behaviorale Gruppentherapie (DBG) 3871710 Familientherapie systemische Therapie 3881711 Themenzentrierte Interaktion (TZI) 389

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

12

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

Inha

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13

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

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14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

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15

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

23

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

24

bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

25

Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

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Page 15: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

1712 Balint-Gruppe Interaktionelle Fallarbeit (IFA) 3901713 Transaktionsanalyse 390

18 Sozialbezogene Therapie Soziotherapie 392181 Vorbemerkungen 392182 Ergotherapie Arbeitstherapie Arbeitstraining 392183 Ergotherapie Werk- und Beschaumlftigungstherapie

Kreative Therapien Kunsttherapie 394184 Musiktherapie 395185 Konzentrative Bewegungstherapie Tanztherapie 396186 Tagesklinik Tagesstaumltte 397187 Nachtklinik 398188 Familienpflege 398189 Therapeutische Gemeinschaft 3991810 Ambulant betreutes Wohnen Wohnheim 4001811 Beschuumltztes Arbeiten 4011812 Sozialpsychiatrische Dienste Auszligenfuumlrsorge 4011813 Psychiatrische Pflege 4021814 Selbsthilfegruppe Genesungsbegleitung 403

19 Forensische Psychiatrie 405191 Forensische Psychiatrie 405192 Schweigepflicht 405193 Einsichtsrecht 406194 Gutachtenerstattung 407195 Rentenverfahren Sozialrecht 408196 Fahrtuumlchtigkeit Fahrtauglichkeit 410197 Vernehmungs- Verhandlungs- und Prozessfaumlhigkeit 414198 Zwangseinweisung Unterbringung 414199 Rechtliche Betreuung 4161910 Geschaumlftsfaumlhigkeit Testierfaumlhigkeit 4181911 Schuldfaumlhigkeit 4191912 Maszligregel Psychiatrische Unterbringung 4201913 Maszligregel Unterbringung in Entziehungsanstalt 4211914 Maszligregel Sicherheitsverwahrung 4211915 Sexualdelinquenz 422

Grauer Teil Anhang

20 Anhang I Medikamente 423201 Antidementiva (Nootropika) Handelsnamen und Dosierungen 423202 Antipsychotika (Neuroleptika) Handelsnamen und Dosierungen 423203 Antidepressiva (Thymoleptika) Handelsnamen und Dosierungen 426204 Tranquilizer und Anxiolytika Handelsnamen und Dosierungen 428205 Hypnotika Handelsnamen und Dosierungen 429

Inhaltsverzeichnis

Inha

ltsverzeichn

is

13

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

1

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

1

17

Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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1

20

oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

1

21

Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

22

bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

23

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

24

bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

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Page 16: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

21 Anhang II Adressen 431211 Kontakt- und Informationsstellen 431212 Selbsthilfegruppen 431213 Berufsverbaumlnde 433

22 Psychiatrisches Glossar 435

Sachverzeichnis 0456

InhaltsverzeichnisInha

ltsverzeichn

is

14

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

ostik

1

15

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

1

16

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

1

17

Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

ostik

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 17: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

1 Diagnostik

11 UntersuchungsmethodenVorbemerkungen

Eine gruumlndliche diagnostische Abklaumlrung psychischer Erkrankungen ist die unerlaumlss-liche Voraussetzung fuumlr eine gleichermaszligen wirksame wie rationelle Behandlung ImGegensatz zur Organmedizin stuumltzt sich das Erkennen psychischer Stoumlrungen allerdingsweniger auf koumlrperliche Untersuchungen undoder apparative Techniken als auf Metho-den der Kommunikation und Interaktion Zu diesen gehoumlren hauptsaumlchlich die Sprache(Exploration) und die Beobachtung des Verhaltens Die sprachliche Verstaumlndigung be-zieht sich dabei auf die inhaltlich-begriffliche Seite der mitgeteilten Beschwerden (di-gitale Kommunikation) Die nonverbale Verhaltensbeobachtung umfasst hingegen diendash mehr oder weniger intuitive ndash Wahrnehmung von Gestik Mimik und Sprechweise(Prosodie) des Patienten samt Gesamteindruck (analoge Kommunikation s Abb 11)Eine telemetrische (z B webbasierte) psychiatische Diagnostik greift zu kurz

Die zusaumltzliche koumlrperliche Untersuchung ist dennoch unersetzlich Je nach Bedarfwird das Untersuchungsprogramm durch labortechnische Maszlignahmen und bildge-bende Verfahren sowie psychometrische Methoden ergaumlnzt Soweit moumlglich solltenfremdanamnestische Angaben herangezogen werden Die gewonnenen Informatio-nen koumlnnen divergieren sie muumlssen dann uumlberpruumlft werdenKernstuumlck der Diagnostik ist die Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befun-des (Psychostatus) Dabei werden einzelne psychische Elementarfunktionen wie Be-wusstseinslage Orientiertheit und Wahrnehmung Antriebsverhalten und MotorikDenken und kognitive Leistungen sowie affektive Besonderheiten beschrieben diesesind allerdings nicht als isolierte Geschehnisse aufzufassen (s Lehrbuumlcher der Psycho-pathologie bzw Pathopsychologie) Der Gesamtbefund stellt ohnehin mehr dar als dieSumme der einzelnen Erlebens- und Verhaltensdimensionen von Interesse ist viel-mehr der integrative Globaleindruck von der Persoumlnlichkeit mit gestalthaften undganzheitlichen Qualitaumlten einschlieszliglich Menschenbild Grundeinstellungen Gesin-

Abb 11 bull DiagnostischesVorgehen Erleben soziales Umfeld Verhalten

Symptome

PsychometrieapparativeDiagnostik

koumlrperlicheUntersuchung

BeobachtungAnamnese

Therapie

Diagnose

Exploration +

+++

+

Syndrom

11 Untersuchungsmethoden

Diagn

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nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 18: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

nung Sichtweisen Motivationen Strebungen und Zielsetzungen als Merkmale der in-dividuellen CharakterstrukturDie oft nur annaumlherungsweise beschreibbaren auf vorbewusster Ebene ablaufendenAnmutungen und Eindruumlcke die dem individuellen psychischen Befund seine beson-dere Toumlnung verleihen koumlnnen durch Gegenuumlbertragungsprozesse oder anderweitigeBesonderheiten der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers verzerrt werdenVor allem der bdquoerste Eindruckldquo kann taumluschen Diese Problematik die einen Verlust andiagnostischer Objektivitaumlt (und therapeutischer Distanz) bedeuten kann laumlsst sichanhand von Vergleichen interindividueller Untersuchungsergebnisse belegen Sie soll-te erkannt reflektiert und gegebenenfalls durch Nachuntersuchungen oder Supervisi-on (z B als Fallbesprechung in der Balint-Gruppe) kontrolliert werdenVorgeschichte Fremdangaben aktueller psychopathologischer Befund Therapiepla-nung und weiterer Verlauf sind in verstaumlndlicher Sprache nachvollziehbar abzufassenund uumlbersichtlich gegliedert zu dokumentieren insbesondere vor dem Hintergrunddes Patientenrechtegesetzes (PRG) von 2013 (Behandlungs- und Arzthaftungsrechtlaut BGB) Bei Verdacht auf groben Behandlungsfehler Umkehr der Beweislast durchNachweis korrekt erfolgter Aufklaumlrung und fachgerechten BehandlungsmanagementsHinweis Die Verwendung von Bild- oder Tontraumlgern bedarf stets der Einwilligung desPatienten oder dessen gesetzlichen Vertreters ebenso die Hinzuziehung Dritter Gliederung der Krankengeschichte

bull aktuelle Beschwerdenbull spezielle Anamnesebull weitere Anamnesebull Familienanamnesebull Sozialanamnese Biografie

psychopathologischer Befund (Psychostatus) koumlrperlich-neurologischer Befund (Somatostatus) (neurosenpsychologischer Befund) (verhaltensdiagnostischer Befund) (neuropsychologischer Befund) Laborbefunde apparative Diagnostik (Elektroenzephalografie bildgebende Verfahren) Konsiliarbefunde (Vorlaumlufige) Diagnose Differenzialdiagnose evtl Prognose Therapiekonzept Behandlungsplan Konkrete therapeutische Maszlignahmen Verlauf Therapiekontrolle Epikrise

12 ExplorationsmethodenDiagnostisches Gespraumlch Unstrukturierte Befragung

Definition Psychopathologische Standarduntersuchungsmethode beim Erstkontaktin Form eines ausfuumlhrlichen Gespraumlchs mit dem Patienten Ziele sind eine Bestands-aufnahme der subjektiven Beschwerden und die Ermittlung des aktuellen psycho-pathologischen Befundes

Prinzip Routineuntersuchung zur ersten ndash oft auch nur vorlaumlufigen ndash diagnostischenund differenzialdiagnostischen Orientierung (insbesondere bei akuteren psychiatri-schen Stoumlrungen) Die Informationssammlung sollte entsprechend der aktuellenklinischen Situation mehr global oder detaillierter gestaltet werden

Durchfuumlhrung Anzustreben ist ein zunaumlchst nur wenig gelenktes Gespraumlch in ent-spannter ungestoumlrter und vertrauensbildender Atmosphaumlre Der hinreichend ori-entierte und kommunikationsfaumlhige Patient sollte sich frei und ohne Zeitdruck aumlu-szligern koumlnnen Verschlossene oder gar mutistische Patienten sollten nicht hartnaumlckig

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bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 19: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

bedraumlngt werden Besser sind hier (vorlaufende) haumlufigere kurze Aufwaumlrmkontak-te Die vertrauliche meist entlastende Aussprache kann bereits therapeutische Aus-wirkungen haben (Dauer etwa 30ndash50 Minuten)

Aussagebull Mit gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen und beruflicher Erfahrung kann eine ausrei-

chende diagnostische Valenz erreicht werden Bei praumlgnanter Symptomatik (undtypischer Anamnese) gelingt eine verlaumlssliche Arbeitsdiagnose bereits nach kur-zer Kontaktaufnahme

bull Wahrnehmungs- und Interpretationsverfaumllschungen koumlnnen durch eine hohesubjektive Evidenz des ersten Eindrucks sowie durch Gegenuumlbertragungsprozesseund Kommunikationsprobleme entstehen Nachuntersuchung und Supervisionsind daher bei weniger Geuumlbten dringend erforderlich Empfehlenswert ist eineAbsicherung durch fremdanamnestische Angaben Stets exakte Dokumentation

Hinweis Keine Suggestivfragen stellen Evtl Widerspruumlchlichkeiten bzw Pseudoer-innerungen nachgehen Naumlheres s dissoziative Identitaumltsstoumlrung (S232)

Strukturierte Befragung

Definition Untersuchungsmethode in Form gezielter Befragung des Patienten diesich an einer bestimmten diagnostischen Intention des Untersuchers orientiert

Prinzip Hinsichtlich der Thematik bzw Inhalte mehr oder weniger gelenktes Ge-spraumlch mit vorgegebener Zielrichtung auch im Rahmen strafferer zeitlicher Begren-zung Es gibt dabei zwar keinen festgelegten Fragenkatalog einzelne Themen wer-den aber besonders beachtet

Durchfuumlhrungbull (Wiederholte) psychopathologische (Nach-)Untersuchungen einer Erkrankung

mit dem Ziel Umfang Auspraumlgung und Intensitaumlt spezieller Symptome oder Syn-drome gezielter zu verfolgen und in ihrem Verlauf zu vergleichen

bull Die Patienten muumlssen ausreichend reflexions- und kommunikationsfaumlhig seinund sich verstaumlndlich aumluszligern koumlnnen (Dauer nicht gt 40ndash50 Minuten)

Aussage Ausreichend zuverlaumlssig bei bereits stabiler Diagnose bzw zur Uumlberpruuml-fung der Differenzialdiagnose (Die Validitaumltsproblematik liegt in einer moumlglichenVerfestigung einer vorgefassten diagnostischen Meinung oder therapeutischenStrategie weniger in der Gefahr von Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen Ge-genkontrollen und Supervision durch Fachkollegen sind daher auch hier empfeh-lenswert Dokumentation stets obligatorisch)

Erstinterview

Definition Frei flottierendes inhaltlich und zeitlich eher breit angelegtes Gespraumlchdas als Standarduntersuchungsmethode der Indikationsstellung fuumlr eine psycho-dynamische bzw tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie dient (OPD) Wei-tere Informationen s neurosenpsychologische Untersuchung (S31)

Prinzipbull Weiter ausholende Abklaumlrung von Entstehungsbedingungen und Entwicklung

psychischer Beeintraumlchtigungen insbesondere von neurotischen bzw Anpas-sungs- und Persoumlnlichkeitsstoumlrungen

bull Der tiefere Einstieg in die Psychodynamik beruumlhrt immer auch schon therapeuti-sche Aspekte auf der Basis sich entwickelnder kathartischer und Uumlbertragungs-einwirkungen z B bei Traumatisierung

Durchfuumlhrungbull Ziel ist ein umfassender Eindruck uumlber die Persoumlnlichkeit deren Entwicklung

und Sozialisation wie auch uumlber die aktuelle Symptomatik des Patientenbull Volle Kommunikationsfaumlhigkeit und -bereitschaft des Patienten sind wesentliche

Voraussetzungen der Interviewgestaltungbull Die Atmosphaumlre sollte weitgehend entspannt ungestoumlrt und von gegenseitigem

Vertrauen gepraumlgt sein (Dauer bis zu 90 Minuten)

12 Explorationsmethoden

Diagn

ostik

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Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

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bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

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26

Page 20: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Aussagebull Als Bestandteil der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)

werden die wesentlichen Basisinformationen zu Lebensgeschichte Persoumlnlich-keitsstruktur sowie pathogenetischen und -plastischen Faktoren gewonnen

bull Informationsdefizite koumlnnen entstehen wenn der Gespraumlchsverlauf weitgehendvom Patienten bestimmt wird oder Sprachprobleme vorliegen Sie sollten in wei-teren Sitzungen ausgeglichen werden Eventuell sind fremdanamnestische Anga-ben heranzuziehen Ausfuumlhrliche Dokumentation

Semistandardisiertes Interview

Definition Deutlich strukturierte Befragung des Patienten als vorherrschend einsei-tige Erhebungsmethode bei der Art Inhalt und Umfang der Fragen vom Unter-sucher bestimmt werden und der Ablauf weitgehend festgelegt ist

Prinzip Wegen der zweckgebundenen Zielsetzung wird der Kommunikationspro-zess zwischen Untersucher und Patienten asymmetrisch laumlsst aber noch Spielraumfuumlr eine Gespraumlchsgestaltung Der Fragenkatalog liegt mehr oder weniger fest DieAntworten dienen meist groumlszligeren Datenerhebungen etwa zu Forschungszweckenund zur Verlaufskontrolle

Durchfuumlhrungbull Im Gegensatz zur Standardexploration oumlkonomischerer lnformationsgewinn der

sich in der strafferen Gespraumlchsfuumlhrung mit thematischer Leitlinie widerspiegeltDie atmosphaumlrischen Bedingungen treten eher in den Hintergrund

bull Die Patienten muumlssen voll orientiert kommunikationsfaumlhig und kooperativ seinDie Antworten werden nur stichwortartig festgehalten (Dauer um 30ndash40 Minu-ten)

Aussagebull Objektiver und houmlher operationalisierbar im Vergleich zu den vorgenannten Un-

tersuchungsverfahrenbull Die Einbeziehung statistischer Methoden zur Auswertung ist moumlglich und wird

meist angestrebt Nicht abgefragte Symptome werden dagegen kaum erfasst dader Antwortspielraum des Patienten deutlich eingeengt ist Auch hier stets exak-te Dokumentation

Standardisiertes Interview

Definition Fest strukturierte zielgerichtete Befragung des Patienten mittels nachAnzahl und Inhalt vorgegebener Items meist in Form sogenannter Persoumlnlichkeits-inventare (S59)

Prinzipbull Ziel dieser vergleichsweise am houmlchsten standardisierten Explorationsform ist

die Erfassung bestimmter vorformulierter psychopathologischer Datenbull Durch Uumlbernahme der entsprechenden Reliabilitaumlts- und Validitaumltskriterien be-

steht groszlige Aumlhnlichkeit mit psychometrischen Testverfahren im engeren Sinnbull Die hohe Objektivitaumlt und Vergleichbarkeit kann zu Forschungszwecken (etwa

bei multizentrischen Studien oder zur Aufstellung systematisierter Therapie- undTrainingsprogramme) genutzt werden

Durchfuumlhrungbull Vorgegebener Fragenkatalog meist mit binaumlrer oder abgestufter Antwortmoumlg-

lichkeit (z B JaNein-Antworten)bull Der Patient muss voll orientiert und kommunikationsfaumlhig sowie hinsichtlich sei-

ner Antworten korrekt und motiviert sein (Dauer um 30ndash40 Minuten) Aussage

bull Standardisierte einfache Auswertungsmoumlglichkeiten deren Resultate statistischgut bearbeitet werden koumlnnen

12 ExplorationsmethodenDiagn

ostik

1

18

bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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19

men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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1

20

oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

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Page 21: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

bull Weitgehende Unabhaumlngigkeit vom Untersucher und von anderen Variablen An-dererseits Informationsverlust durch das einseitige Abfragen bezuumlglich weiterge-hender Befunde Dokumentation

13 VerhaltensbeobachtungPhysiognomie

Definition Uumlberdauernder Gesichtsausdruck und Koumlrperhaltung die im Laufe desLebens allmaumlhlich gepraumlgt wurden bzw bdquogewachsenldquo sind unabhaumlngig von derFluktuation der Gesichtszuumlge im Mienenspiel

Hinweis Historischer Vorlaumlufer war die populaumlre Phrenologie des 19 Jahrhunderts Prinzip

bull Kontinuierlich einwirkende habituelle Gestimmtheiten und Befindlichkeitenkoumlnnen Einfluss auf die Physiognomie nehmen wenn sich dominierende mimi-sche Attituumlden allmaumlhlich verfestigen

bull Ruumlckwirkend koumlnnen daraus Vermutungen hinsichtlich der zugrundeliegendenpraumlgenden Faktoren angestellt werden

Anwendung Ziel der Beobachtung ist der hinter der aktuellen Mimik liegende Aus-druckskern der vom Untersucher wahrgenommen und bdquoentschluumlsseltldquo werden soll

Aussage Irrtuumlmer sind haumlufig die diagnostische Valenz ist spekulativ und daherkritisch zu bewerten Sowohl angeborene als auch erworbene Knochen- Muskel-und Hautveraumlnderungen koumlnnen mit physiognomischen Besonderheiten einher-gehen denen keine der vermuteten besonderen seelischen Eigenschaften zugrundeliegt (Pseudoexpressivitaumlt) Die vermeintliche bdquoDenkerstirnldquo oder das bdquobrutale Kinnldquostellen keineswegs psychopathologisch verwertbare Kriterien dar

Mimik

Definition Im Gegensatz zur Physiognomie (meist unbewusste) dynamische Fluk-tuation des Mienenspiels als Ausdruck staumlndig wechselnder Innervation von Mus-kulatur und Hautdurchblutung des Gesichts

Prinzipbull Phylogenetisch verankerte Widerspiegelung seelischer Qualitaumlten im mimischen

Ausdrucksverhalten das teilweise kulturell uumlberformt ist und als unreflektiertesvorbewusstes Anmutungserlebnis vom Untersucher registriert eingeschaumltzt undeingeordnet wird Hauptausdruckstraumlger der Mimik sind die Stirn- Augen- undMundregion (Theory of mind)

bull Enge Verknuumlpfungen von lust- und unlustbetonten Gefuumlhlen mit zentralnervoumlsenund hormonellen Vorgaumlngen uumlber entsprechende Schaltstellen in Hypothalamuslimbischem System und Hirnrinde und dem individuellen Nachempfinden bzwEinfuumlhlungsvermoumlgen u a uumlber das zerebrale Netzwerk von Spiegelneuronen

Anwendungbull Im Bereich der nonverbalen Untersuchungsmethoden nimmt die Beurteilung der

Mimik eine zentrale oft unterschaumltzte Rolle einbull Betrachtung und Deutung der mimischen Aumluszligerungen lassen Ruumlckschluumlsse auch

auf Gemuumltszustaumlnde und Gestimmtheiten zu die nicht verbal geaumluszligert werdenwollen oder koumlnnen (insbesondere koumlnnen sich depressive aumlngstliche aggressivewie auch wahnhafte Inhalte in der Mimik widerspiegeln)

Aussage Bei geschulter Wahrnehmung und gutem Einfuumlhlungsvermoumlgen kann einebelastbare diagnostische Validitaumlt erzielt werden die allerdings explorativ abzuglei-chen ist Verfaumllschte bzw irritierende Ruumlckschluumlsse koumlnnen aus einer Entkoppelungvon mimischem Ausdruck und vermuteten Affekten resultieren die bei zentralner-voumlsen und Muskelerkrankungen zu beobachten ist (z B Zwangslachen oderZwangsweinen Paramimie Bewegungsstereotypien Hyperkinesien Automatis-

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

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men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 22: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

men Jaktationen Greifreflexe Tics Myoklonien mimisches Beben Spasmen fokalebzw psychomotorische Anfaumllle)

Hinweis Neurophysiologische Emotionserfassung (em FACS) klinisch irrelevant

PhonikProsodie

Definition Art und Weise des Sprachausdrucks und des Sprechverhaltens Prinzip

bull Das Sprechverhalten umfasst Lautstaumlrke Betonung Deutlichkeit Modulation undTonfall des Sprechens Es wird weitgehend durch psychische Vorgaumlnge mit-bestimmt Der Sprachausdruck repraumlsentiert die globale Expression des Spre-chens unter Integration der genannten Elemente

bull Registrierung und Analyse von Sprechweise und Sprachausdruck lassen Ruumlck-schluumlsse auf die seelische (und koumlrperliche) Befindlichkeit zu insbesondere be-stehen enge Beziehungen zu Motivation Volition Stresserleben Antriebsverhal-ten und Gestimmtheit

Hinweis Die Sprache bezieht sich auf die Inhalte des Gesprochenen ndash s unten Anwendung Sprechverhalten und Sprachausdruck des Patienten sollten stets bei

allen verbalen Interaktionen im Rahmen der Verhaltensbeobachtung beachtet undbewusst wahrgenommen werden Voraussetzungen sind die Bereitschaft und Fauml-higkeit des Patienten sich houmlrbar bzw verstaumlndlich verbal mitzuteilen

Aussagebull Funktionelle Sprachstoumlrungenwie Stottern oder Stimmlosigkeit (Aphonie) koumlnnen

auftreten unter Stress bei Belastungs- Anpassungs- (S218) und Persoumlnlichkeits-(S268) bzw somatoformen Stoumlrungen (S219)

bull Stammeln Poltern oder Lispeln kommen als Begleiterscheinungen hirnorgani-scher Dysfunktionen vor

bull Sprechstoumlrungen aufgrund einer inneren Gehemmtheit (Logophobie) oder nachTraumatisierung koumlnnen bis zum Mutismus (S93) reichen

bull Logorrhouml (S96) und Inkohaumlrenz (S96) deuten auf einen Verlust von sprachlicherSelbstkontrolle hin der psychisch bzw psychotisch wie auch hirnorganisch be-dingt sein kann

Hinweis Von den Veraumlnderungen des Sprachausdrucks bzw den psychogenenSprechstoumlrungen sind krankhafte Beeintraumlchtigungen der Sprachinhalte zu unter-scheiden wie z B wahnhafte Aumluszligerungen Neologismen Echolalie und Sprachzer-fall bei Psychosen (S184) oder kuumlnstlerische Attituumlden wie z B dadaistische Lyrik

Gestik (Pantomimik)

Definition Dynamische expressive Bewegungskomplexe der Gliedmaszligen vor al-lem der Haumlnde (im Gegensatz zur statischen Koumlrperhaltung)

Prinzip Aus der Wahrnehmung der Koumlrperbewegungen wird auf vermutlich zu-grundeliegende Antriebs- Stimmungs- und Aktivitaumltsimpulse geschlossen MimikPhonik und Gestik sind Formen der analogen Kommunikation Sie stellen evoluti-onsbiologisch den wesentlichen Verstaumlndigungsmodus im Sinne sog angeborenerAusloumlseschemata dar d h eine spezifische Reizsituation loumlst reflexhaft eine einpro-grammierte Antwortreaktion aus (z B bdquoKindchenschemaldquo bdquoDemutsgebaumlrdeldquo) Alsneurophysiologische Vermittler fungieren offenbar u a Spiegelneuronen Weiteress Psychomotorik (S21)

Anwendung Die (meist rasche unmittelbare und unreflektierte) Wahrnehmungdes gestikulatorischen Verhaltens wird als unentbehrliche diagnostische Hilfe vorallem bei psychischen Erkrankungen einbezogen die mit voluntativen (den Willenbetreffenden) emotionalen und kognitiven Beeintraumlchtigungen einhergehen

Aussagebull Die Beurteilung von Mimik und Gestik ist der wichtigste klinisch-diagnostische

Zugang bei Patienten die nicht verbal kommunikationsfaumlhig sind z B bei Stupor

13 VerhaltensbeobachtungDiagn

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oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 23: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

oder Katatonie (S310) bei Sprachstoumlrungen hirnorganisch bedingten Ausfaumlllenoder hochgradiger geistiger Behinderung)

bull Gestikulatorische und mimische Auffaumllligkeiten (z B Bewegungsstereotypien inForm von Automatismen Echopraxie Katalepsie oder Manieriertheit) koumlnnen beischizophrenen Psychosen (S184) und im Autismusspektrum vorkommen Hy-perexpressivitaumlt zeigt sich bei maniformen und histrionischen Stoumlrungen (S276)

Hinweis Die diagnostische Valenz relativiert sich umso staumlrker je mehr unwill-kuumlrliche ndash psychisch nicht fundierte ndashmotorische Ablaumlufe infolge hirnorganischerStoumlrungen vorliegen (z B extrapyramidale Hyperkinesen Tics oder andereZwangsbewegungen)

Psychomotorik

Definition Aufeinander abgestimmte zielgerichtete Bewegungsablaumlufe des Koumlrpersund der Gliedmaszligen als Folge des integrativen Zusammenwirkens psychischerneuronaler und muskulaumlrer Faktoren Hiervon zu unterscheiden Motilitaumlt als Aus-druck der allgemeinen Beweglichkeit

Prinzip (Oft sekundenschnelle) Erfassung und Beurteilung der psychisch organi-sierten Bewegungsablaumlufe unter dem Aspekt ihres Ausdrucksgehaltes bzw der Prauml-gung durch die Gesamtpersoumlnlichkeit einschlieszliglich ihrer Antriebsgerichtetheitenund Impulse (bdquoBiological motionldquo)

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Beurteilung der Bewegung stellt ndash neben neurologi-

schen ndash auch bei allen psychischen Stoumlrungen eine wichtige Untersuchungs-methode dar

bull Besonders zu beachten sind die zielgerichtete und kontrollierte Steuerung derBewegungsablaumlufe bzw deren Beeintraumlchtigungen in Form von Unruhe HektikFahrigkeit Ziellosigkeit Unkoordiniertheit Verlangsamung Iteration (stereotypeWiederholung von Lauten Silben Woumlrtern Satzteilen bzw Saumltzen) Gebunden-heit und Erstarrung

Hinweis Auch die Beurteilung der Handschrift kann diagnostische Valenz habensofern sie nicht als spekulative Grafologie uumlberinterpretiert wird

Aussage Moumlgliche Ursachen fuumlr Veraumlnderungen der Psychomotorik mit psychiatri-scher Relevanz sindbull Bewusstseins- (S84) Antriebs- (S91) und Willensstoumlrungen (S92) aufgrund

von zentralen Integrations- und Steuerungsschwaumlchen (z B unter Stress bei in-nerer Angespanntheit Impulskontrollstoumlrung Manie intoxikationsbedingter Hy-peraktivitaumlt oder Vigilanzminderung)

bull Begleitwirkungen psychopharmakologischer Behandlung z B unter klassischenAntipsychotika (Tremor Tonusveraumlnderungen der Muskulatur mit Einbuszligen anFeinmotorik und Kraft Dyskinesien Akathisie Tasikinese) oder Tranquillizernbzw Drogen (Muumldigkeit Verlangsamung Lethargie Kraftlosigkeit Erstarrung)

Koumlrperhaltung Habitus

Definition Durch Skelettsystem und Muskulatur gepraumlgte koumlrperliche Gesamt-erscheinung die durch psychische Einfluumlsse mitbestimmt wird

Prinzip Seelische Faktoren wirken uumlber Vegetativum und Endokrinum auf Gefaumlszlig-und Muskeltonus ein die ihrerseits die Koumlrperhaltung beeinflussen Aus ihr lassensich daher in gewissem Umfang Hinweise auf allgemeine Befindlichkeit Aktivitaumlts-niveau Selbstwertgefuumlhl Stimmungslage u auml gewinnen

Anwendung Die Beurteilung der Koumlrperhaltung stellt einen Aspekt der Verhaltens-beobachtung dar deren Registrierung die klinische Diagnostik von der ersten Kon-taktaufnahme an begleitet Kommunikationsfaumlhigkeit oder -willigkeit des Unter-suchten sind wie bei allen nonverbalen im Gegensatz zu den gespraumlchsgebundenenUntersuchungsmethoden nicht erforderlich

13 Verhaltensbeobachtung

Diagn

ostik

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Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

25

Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

1

26

Page 24: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Aussagebull Die diagnostische Wertigkeit der Beurteilung von Koumlrperhaltung wie auch ande-

rer Ausdruckstraumlger erscheint bei beruflicher Erfahrung mit geschulter Wahrneh-mung durchaus ergiebig Eine intendierte oder unbewusste Verfaumllschung desAusdrucksverhaltens ist uumlber laumlngere Zeit nur schwer durchzuhalten

bull Abzugrenzen sind Veraumlnderungen der koumlrperlichen Erscheinung infolge organi-scher insbesondere orthopaumldischer und neurologischer Erkrankungen die keinepsychiatrische Ausdrucksfunktion besitzen vgl Physiognomie (S19)

Gesamteindruck

Definition Ganzheitliches Anmutungserlebnis bezuumlglich der gesamten Erscheinungeiner Person das aus dem Zusammenwirken aller geistig-seelischen und koumlrper-lichen Funktionen resultiert

Prinzip Aus dem summarischen aber durchaus gestalthaften Gesamteindruck wirdglobal auf Besonderheiten der Persoumlnlichkeit bzw Persoumlnlichkeitsveraumlnderungengeschlossen

Anwendungbull Die Wahrnehmung und Bewertung des aumluszligeren Erscheinungsbildes des Patien-

ten stellt einen integrativen Bestandteil der psychopathologischen Beurteilungdar und sollte im Befund dokumentiert werden

bull Von Bedeutung ist die Beurteilung des Gesamteindrucks wenn Abweichungen inRichtung Ungepflegtheit Verwahrlosung Kontaktschwaumlche VerschrobenheitReizbarkeit Exzentrik Infantilismus u a zu registrieren sind

Aussagebull Der Gesamteindruck vermittelt eine Bewertung der Persoumlnlichkeit des Unter-

suchten die einerseits subjektiv ist andererseits aber in einer bio-psychosozialenGesamtschau uumlberraschend reliabel ist Abhaumlngigkeiten von aktuell-modischenund kulturellen Einfluumlssen sind zu beruumlcksichtigen (v a hinsichtlich AuftretenBenehmen Kleidung und Schmuck) gleichermaszligen evtl (unbewusste) Voreinge-nommenheiten des Untersuchers

bull Groumlbere Beeintraumlchtigungen werden am haumlufigsten gesehen bei Demenz geisti-ger Behinderung (S101) Suchterkrankungen (S159) Persoumlnlichkeitsstoumlrungen(S268) und chronischen psychotischen Stoumlrungen (S184)

14 AnamneseerhebungFamilienanamnese

Definition Ermittlung und Bewertung von Erkrankungen bei Familienmitgliedernbzw der Sippe sowie innerhalb der Lebensgemeinschaft

Prinzip Die Familienanamnese kann wichtige Hinweise zur Diagnose von psychia-trischen Erkrankungen liefern bei denen genetische und epigenetische Faktorenbzw praumlgende psychosoziale Einwirkungen in Kindheit und Adoleszenz eine beson-dere Rolle spielen

Durchfuumlhrung Der Patient bzw dessen Angehoumlrige werden auf Erkrankungen undLebensalter ndash gegebenenfalls Todesursache ndash bei Geschwistern Eltern und Groszlig-eltern sowie anderen Bezugspersonen angesprochen Dokumentation

Aussage Aus moumlglichst vollstaumlndigen und korrekten familienanamnestischen An-gaben lassen sich diagnostische Hinweise auf Erkrankungen mit hereditaumlrer odermilieubedingter Belastung gewinnen wie z Bbull Schizophrene (S184) und affektive Psychosen (S203)bull Angsterkrankungen (S305) Angst Panik (S103) bzw Phobien (S220)bull Suchterkrankungen (S159)bull Geistiger Behinderung Intelligenzschwaumlche (S101)

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

22

bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

23

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

24

bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

25

Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

1

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Page 25: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

bull Degenerativen Systemerkrankungen z B Morbus Pick (S124) Morbus Alzhei-mer (S116) Morbus Huntington (S128) Bei aumllteren oder schwerer beeintraumlch-tigten Patienten ist mit groumlszligeren Erinnerungsluumlcken zu rechnen oft fehlenKenntnisse uumlber Erkrankungen und Todesursachen vorausgegangener Generatio-nen Oft Verstaumlndigungsprobleme mit Fluumlchtlingen bzw Migranten

Hinweisebull Suizidversuche und Suizide Suchterkrankungen und Behinderungen in der wei-

teren Familie sind dem Patienten selbst nicht immer bekannt oder werden ndash viel-leicht aus Scham ndash verschwiegen

bull Zwischen allen Formen der Anamneseerhebung gibt es flieszligende Uumlbergaumlnge einrigides Festhalten an einer Art Schablone ist kontraproduktiv und unoumlko-nomisch

Weitere Anamnese

Definition Die weitere Anamnese umfasst uumlber die spezielle Vorgeschichte (S24)hinaus alle anderen bedeutsamen fruumlheren Erkrankungen des Patienten einschlieszlig-lich eventueller Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

Prinzip Die Ergaumlnzung der Krankheitsgeschichte durch zusaumltzliche Beitraumlge auchuumlber andere Krankheiten dient der Vervollstaumlndigung aller Angaben die fuumlr diepsychiatrisch-psychologische Diagnostik und Therapie Bedeutung haben koumlnnten

Durchfuumlhrungbull Obgleich die Erhebung und Dokumentation der weiteren Anamnese im Rahmen

der strukturierten Exploration aumllterer Patienten einen groumlszligeren zeitlichen Um-fang einnehmen kann sollte darauf nicht verzichtet werden Dokumentation

bull Bedeutung fuumlr den psychiatrischen Bereich koumlnnen insbesondere habenndash Prauml- und perinatale Komplikationenndash Alle spaumlteren Erkrankungen die mit direkten oder indirekten Schaumldigungen

des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht werden koumlnnen Aussage Bei kritischer Einordnung werden die hierdurch gewonnenen Informatio-

nen zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Krankheits- und Lebensgeschich-te vor allem wenn Interferenzen zu Art und Entwicklung der aktuellen psy-chischen Stoumlrung vermutet werden Eine Absicherung durch fremdanamnestischeAngaben ist moumlglicherweise nuumltzlich

Biografische Anamnese Sozialanamnese

Definition Ausfuumlhrliche Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten Prinzip

bull Neben der speziellen Anamnese (S24) stellt die Biografie den psychiatrisch-psy-chotherapeutisch wichtigsten Teil der Vorgeschichte dar dandash viele psychische Erkrankungen durch Besonderheiten des Milieus der fruumlh-

kindlichen (u U auch schon vorgeburtlichen) Entwicklung und der Sozialisati-on (etwa durch emotionale Vernachlaumlssigung oder Missbrauch) verursacht inGang gesetzt oder geformt werden und

ndash umgekehrt psychische ndash insbesondere chronische ndash Erkrankungen den Lebens-lauf eines Menschen entscheidend beeinflussen koumlnnen

bull Die biografische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der neurosenpsychologi-schen (S31) bzw operationalisierten psychodynamischen Diagnostik kurz OPD(S31)

Durchfuumlhrungbull Gewoumlhnlich hoher Zeitbedarf Es kann daher hilfreich sein den Patienten zusaumltz-

lich um eine Niederschrift seines Lebenslaufes zu bittenbull Schwerpunktmaumlszligig sind hierbei die in Tab 11 aufgefuumlhrten Punkte und Fragen-

komplexe zu erfassen und zu dokumentierenbull Evtl Fremdangaben von Angehoumlrigen Bekannten Freunden oder Arbeitskollegen

fuumlr eine zusaumltzliche Absicherung anstreben

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

23

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

25

Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

1

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Page 26: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Aussage Die Kenntnis biografischer Fakten einschlieszliglich Hinweisen auf die Resi-lienz ist unerlaumlsslich zum Verstaumlndnis der Krankheitsentwicklung Sie dient fernerdem Aufbau von Behandlungsstrategien psychotherapeutischer und sozialpsychia-trischer Art Vergleiche Erstinterview (S17) neurosenpsychologische Diagnostik(S31) OPD (S31)

Tab 11 bull Moumlgliche Schwerpunkte der biografischen Anamnese

Themenkatalog moumlgliche Fragen

Atmosphaumlre und Milieu der Kindheit undder fruumlhkindlichen Entwicklung

Verlauf der Schwangerschaft und Geburt Geburts-komplikationen Kindergarten Freunde Peer groups

soziale Herkunft berufliche Verhaumlltnisseder Eltern

Beziehung zu den Eltern Erziehungsstil VorbilderGroszligeltern

Verhaumlltnis zu Eltern und Geschwisternv a bzgl der emotionalen Bindung

Rivalitaumlt Aufgabenverteilung Stellung zu den ElternGeschwisterreihe Kontakte

Schulbesuch und eigene Berufswahlberufliche Entwicklung

Schulbildung Schulabschluss Berufsausbildung be-ruflicher Status Wechsel der Arbeitsstelle beruflicheErfolge und Misserfolge Verhaumlltnis zu Kollegen

Freundschaften und Partnerschafteneinschlieszliglich Sexualitaumlt

soziale Bindungen Entwicklung in der Kindheit undPubertaumlt erste sexuelle Erfahrungen und sexuelleAusrichtung Libido Orgasmuserleben bei Frauenauch Menarche Zyklus Schwangerschaften (Fehl-)geburten Interruptio

Situation der eigenen Familie Wohnsituation Kinder Enkel

private und besondere beruflicheBelastungen

Trennung Scheidung Partnerverlust Arbeit Exa-mina Pruumlfungen bdquoMobbingldquo bdquoBurnoutldquo Resilienz

wirtschaftliche Verhaumlltnisse finanzielle Situation Schulden Verpflichtungen

Sozialkontakte Freunde Bekannte Hobbys Sport MitgliedschaftenInteresse an Kulturveranstaltungen EngagementsReligion und Kirche

Wohnungswechsel berufliche finanzielle private Gruumlnde

weitere Lebensplanung berufliche und private Ziele (berufliche KarriereHeirat Kinder Anschaffungen Wohneigentum)

Spezielle Anamnese

Definition Vorgeschichte der psychiatrischen Erkrankung die den Patienten zurUntersuchung und Behandlung gefuumlhrt hat

Prinzip Aus der moumlglichst vollstaumlndig zu erfassenden Krankheitsentwicklung las-sen sich die wesentlichen diagnostischen Hinweise zu Beginn evtl Ausloumlsern Ab-lauf und Form der aktuellen Erkrankung gewinnen

Durchfuumlhrung Die spezielle Anamnese ist qualitativ (entsprechend differenziertbdquointensivldquo) und quantitativ (ausreichend umfangreich bdquoextensivldquo) im Rahmen derUntersuchungsexploration sorgfaumlltig zu entwickeln und in Stichworten zu doku-mentieren Fehlende Daten sind moumlglichst durch fremdanamnestische Angaben zuergaumlnzen Stets bisherige und aktuelle Medikation abfragen

Aussagebull Zumindest eine vorlaumlufige bzw Verdachtsdiagnose laumlsst sich meistens als Arbeits-

hypothese aus spezieller Anamnese und aktuellem psychopathologischen Befundstellen sofern eine ausreichende sprachliche Verstaumlndigung moumlglich ist

14 AnamneseerhebungDiagn

ostik

1

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bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

ostik

1

25

Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

ostik

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Page 27: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

bull Die Ermittlung des Erkrankungsbeginns ist insofern wichtig als einige psychischeErkrankungen an bestimmte Lebensalter gebunden sind bzw dann mit groumlszligererWahrscheinlichkeit auftreten (Beispiele siehe Tab 12)

Hinweis Divergierende Informationen koumlnnen aus Erinnerungs- und Wahrneh-mungsverzerrungen resultieren da der Patient meist seine eigene Krankheitsvor-geschichte ruumlckblickend aus der momentanen subjektiven Befindlichkeit herausschildert (so schildern depressive Patienten z B ihre Vorgeschichte meist negativerals dies tatsaumlchlich der Fall war) Fremdanamnese

Tab 12 bull Altersgebundene psychische Erkrankungen

typisches Alter Krankheitsbild

juumlngeres Lebens-alter

bullADHS (S100)bullVerhaltensstoumlrungen (S269)bullAutismusspektrumbullgeistige Behinderung mentale RetardierungbullHebephrenie (S194)bullDrogenabhaumlngigkeit (S167)bullPhobien (S220) Zwaumlnge (S98)

mittleres Lebens-alter

bullSchizophrenien (S184) und affektive Stoumlrungen (S203)bullAlkoholabhaumlngigkeit (S161) nicht-stoffgebundene SuchterkrankungenbullBelastungs- und Anpassungsstoumlrungen (S217) bdquoBurnoutldquobullPersoumlnlichkeitsstoumlrungen (S268)

houmlheres Lebens-alter

bullhirnorganische Stoumlrungen bzw Demenzen (S116)bull Involutionspsychosen (S211)

Fremdanamnese

Definition Angaben von Personen die mit dem Patienten naumlher bekannt sind Prinzip Zusaumltzliche fremdanamnestische Informationen von Angehoumlrigen oder an-

deren Bezugspersonen liefern oft verlaumlssliche Hinweise zum Krankheitsgeschehenbzw zur Symptomatik (besonders wichtig wenn der Patient selbst nur unvollstaumln-dige oder gar keine Angaben machen will oder kann)

Durchfuumlhrungbull Die naumlchsten Kontaktpersonen sind ndash nach Moumlglichkeit mit Zustimmung des Pa-

tienten ndash in die Erstuntersuchung einzubeziehen Bei bewusstseinsgestoumlrten de-menten oder stuporoumlsen Patienten sind ihre Angaben unverzichtbarer Bestand-teil der Diagnostik Dokumentation

bull Fremdanamnestische Angaben sind ferner wichtig bei verminderter Krankheits-einsicht bzw Unfaumlhigkeit zu kritischer Selbstbeobachtung und -beurteilung

Hinweis Zu den fremdanamnestischen Angaben gehoumlren auch aumlrztliche Berichte ausfruumlheren Behandlungen u auml die mit Einverstaumlndnis des Patienten einzuholen sind

Aussagebull Der besondere Informationsgewinn der Fremdanamnese ergibt sich aus den pa-

tientenunabhaumlngigen bdquoobjektiverenldquoMitteilungenbull Die eigenen Angaben des Patienten sind mit den fremdanamnestischen Daten

nicht immer kompatibel Beschoumlnigende oder aggravierende zweckgerichteteAngaben kommen vor bei einer engen Beziehung zum Patienten (emotional be-gruumlndete Wahrnehmungsverzerrungen) undoder wenn persoumlnliche Interesseneingebracht werden Evtl Einfluss dolmetschender Personen

Katamnese

Definition Beobachtung und Beschreibung einer bestimmten Erkrankung uumlber ei-nen laumlngeren Zeitraum

14 Anamneseerhebung

Diagn

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Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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Page 28: Psychatrische Notfälle - m.ciando.comm.ciando.com/img/books/extract/3132406694_lp.pdfPsychatrische Notfälle Erregungszustand S. 300 Bewusstseinsstörung S. 302 Akute Verwirrtheit

Prinzip Das Zuruumlckverfolgen der Krankheit von ihren Anfaumlngen an und die Beobach-tung ihres weiteren Verlaufs haben zum Ziel naumlhere differenzialdiagnostische Auf-schluumlsse zu erhalten und Anhaltspunkte fuumlr eine verlaumlssliche Prognose zu gewinnen(Streckenprognose Langzeitprognose Richtungsprognose soziale Prognose)

Durchfuumlhrung Waumlhrend der (ambulanten oder stationaumlren) Behandlung wird derKrankheitsverlauf stichwortartig aber moumlglichst praumlgnant dokumentiert gegebe-nenfalls unter Einbeziehung fremdanamnestischer Angaben Die Verlaufsbeurtei-lung orientiert sich wie auch die uumlbrige Diagnostik an der uumlblichen Untersuchungs-dichotomie bdquosubjektives Befinden ndash objektiver Befundldquo

Aussagebull Eine kontinuierliche Verlaufskontrolle erleichtert prognostische Aussagen hin-

sichtlich des zu erwartenden weiteren Krankheitsverlaufs was z B bei degenera-tiven Erkrankungen Suumlchten oder Persoumlnlichkeitsstoumlrungen bedeutsam ist Fer-ner koumlnnen die Wirksamkeit der Therapie und der Erfolg rehabilitativer Maszlignah-men einschlieszliglich der Krankheitsbewaumlltigung (Coping-Strategien) z B nachTraumatisierung genauer eingeschaumltzt werden

bull In Einzelfaumlllen gelingt erst durch die Verlaufsbeobachtung eine endguumlltige diag-nostische Klaumlrung z B bei initial wenig praumlgnanten Psychosen oder schleichendbeginnenden hirnorganischen Prozessen Eine exakte Dokumentation schuumltztvor forensischen oder abrechnungstechnischen Missverstaumlndnissen (S405)

15 Psychiatrische UntersuchungPsychopathologischer Befund (Psychostatus)

Definition und Prinzip Wahrnehmung Explikation Registrierung Gewichtung undDokumentation von Abweichungen im Denken Erleben und Verhalten des Patien-ten (Symptome) im Rahmen der klinischen Untersuchung sind die wichtigsten Bau-steine der klinischen Diagnose Sie richten sich auf die in der Tab 13 dargestelltenelementaren und komplexen psychischen Funktionen

Die Befunderhebung erfolgt aufgrund der vorlaufend beschriebenen Explorations-methoden und Verhaltensbeobachtungen Sie sollte im Zweifelsfall durch psycho-metrische Methoden abgesichert bzw ergaumlnzt werden

Tab 13 bull Psychopathologischer Befund ndash elementare und komplexe psychische Funk-tionen

Funktion Befindlichkeit moumlgliche Abweichungen (Beispiele)

erster Eindruck aumluszligeresErscheinungsbild

uumlberangepasst umtriebig devot ungepflegt muumlde verwahrlostvorgealtert erschoumlpft ablehnend unkooperativ unzugaumlnglichautistisch desorganisiert abgebaut

Bewusstseinslage Vigi-lanz

somnolent soporoumls komatoumls delirant umdaumlmmert eingeengtfluktuierend uumlberwach

Aufmerksamkeit Kon-zentration

desinteressiert zerstreut abgelenkt konfus wechselnd gleitendfahrig gelangweilt abwesend

Orientiertheit (PersonOrt Zeit Situation)

uninformiert falschinformiert verwirrt ratlos luumlckenhaft desori-entiert durcheinander kopflos

Interaktion Kontakt negativistisch ablehnend verschlossen introvertiert gehemmteinsilbig scheu angepasst extrovertiert theatralisch feindseligaggressiv anhaumlnglich klebrig distanzlos

AntriebsverhaltenPsychomotorik

stuporoumls kataton verlangsamt ambitendent manieriert unruhigumtriebig getrieben impulsiv erregt kataleptisch stereotyp

15 Psychiatrische UntersuchungDiagn

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