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02/2014 DBI Der Bayerische Internist
PARODONTOLOGIE 35
Einleitung
Die Faktoren Entzündung, Belas-tung, Rauchen, Ernährung und Be-wegung sind allen chronischen Er-krankungen in der Medizin undZahnmedizin zugrunde liegendegemeinsame Merkmale. Dabei ste-hen Entzündung, Schmerz und Hy-giene als Schwerpunktthemen im
Fokus ärztlichen Interesses. Zur För-derung einer verbesserten medizi-nischen Breitenversorgung ist einefachübergreifende Beurteilung imPraxisalltag erforderlich. Der vorlie-gende Beitrag stellt die Bedeutungdes Fachgebietes Parodontologieaus ärztlicher Sicht vor.
Relevanz
Die Effekte fehlender Hygiene undfunktioneller Dekompensation aufdas Immunsystem, das Fortschrei-tenbestehenderErkrankungenunddie Aufrechterhaltung der Gesund-heit werden häufig unterschätzt.Ähnlich wie durch multikausale Ef-fekte ausgelöste chronische Rü-ckenschmerzen verursachen Paro-dontalerkrankungen eine nachhal-tige Veränderung der Lebensquali-tät [1, 2], wiederholte Krankschrei-bungen bei operativer Therapie,immense Folgekosten in der Rekon-struktion und eine umfassendelangzeitmedizinische Betreuung [3].
Prävention
Die Bedeutung eines gesundenMundes fürdieGesundheitunddenErkrankungsschutz ist in der Ärzte-schaft fest verankert. Die Eigenver-antwortung des Patienten für Ge-sundheit erfährt durch Angeboteaus den Medien, der Industrie,Dienstleistern im Gesundheitswe-sen und Krankenversicherungeneine zunehmende Fremdbestim-mung. Die Verantwortung für Ge-sundheit und ihre Behandlungwirdvertrauensvoll an den Arzt übertra-gen. Bislang wurden nur für schwe-re Parodontalerkrankungen erhöh-te Serumtriglycerid- (> 100 mg/dl)und Cholesterinkonzentrationen
(> 200 mg/dl) sowie eine erhöhteToxinreaktivität gegenüber LPS-Antigenen zusammen mit einemhohen IgG-TitergegenüberP.gingi-valisnachgewiesen [4]. Auch leichteFormen parodontaler Entzündun-gen (Übergangsparodontitis) undihre durch Enzymdegradation [5]entstandenen Reaktionsproduktefinden nach Passage durch den Ge-fäßplexus in der Gingiva [6] und dieTonsillen [7] über die Funktionsein-heit Arterie-Vene-Nerv Ausbreitungin den Respirationstrakt mit funk-tioneller Anlagerung an das Nach-barorganHerzunddamitWeiterlei-tung in den großenKörperkreislaufmitAnschluss andenGastrointesti-nal- und Urogenitaltrakt [8]. DieDegeneration von Schwachstellenwie chronisch belastetetem, im-mungeschwächtem, medikamen-tengeschädigtem oder anfälligemParenchymwird gefördert.Labormedizinische Tests besitzenkeine ausreichende Sensitivität undSpezifität zum Nachweis des Scha-denpotentials von Zerfallsproduk-ten aus chronischer Entzündung [9,10]. Dies gilt auch für die aktuelleStudienlage, die aufgrund der He-terogenität der Daten (Rekruit-ment, Intervention, Randomisie-rung, Prospektivität etc.) keine kon-kreten praxisrelevanten Hinweiseliefert [11–18]. Hier ist die evidenz-basierte Beurteilung überfordertund muss durch ärztlichen Sachver-stand mit ganzheitlichem Urteils-vermögen ergänztwerden.
Gefäßregulation
Die Bedeutung der Parodontalbe-handlung als präventivmedizini-scher Faktor liegt in der Stabilisie-
Langfristige Behandlungser-folge inderMedizin setzeneinganzheitliches Verständnis fürdie Erkrankungen des Men-schen, ein hohes Maß an Ur-teilsfähigkeit für die notwen-dige Therapie und eine defen-sive Therapiewahl voraus.Die Wertschöpfung der Paro-dontalbehandlung liegt inder Kontrolle organbedingterEntzündungen, der Stabilisie-rung der Körperschutzzonenund der Verminderung vor-schneller Gefäßalterung. DieTherapie der Parodontitis lie-fert einen Grundbeitrag zurFörderung der Allgemeinge-sundheit. Die systematischeParodontalbehandlung ist fo-rensisch wichtig vor kardio-logischer, kardiochirurgischerund endoprothetischer Im-plantation. Bei internistischerund orthopädischer Therapieist eine therapiebegleitendeSanierung erforderlich.Schlüsselwörter: Entzündung,Vaskularisation, Funktion, Hal-tung, Lebensqualität, Präven-tion.
Parodontale Therapie im Fokus der Medizin:Hygiene, Funktion und GesundheitRainer Buchmann, Fachpraxis für Parodontologie und Orale Präventivmedizin, Düsseldorf,
Medizinische Fakultät, Westdeutsche Kieferklinik, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf
Zusammenfassung
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rung der Körperschutzzonen, derKontrolle organbedingter Entzün-dungen und der Verminderung vor-schneller Gefäßalterung (E Abb. 1).Vergleichbar zum Säureschutzman-tel der Haut oder der regulatori-schen Muzinschichten des Gastroin-testinaltraktes entlasten orale Bio-filme den Körper vor Übersäuerungdurch Entzündung und sind wichti-ge Schutzzonen mit Ausscheidungs-und Entgiftungsfunktion zur Um-
welt. Langandauernde chronischeEntzündungenalsFolgeeines struk-turierten Erregerwachstums im Bio-film belasten den Körper, erhöhendie Gefäßpermeabilität (E Abb. 2),beschleunigen bei Persistenz dieGefäßalterung und führen mit zu-nehmendem Lebensalter zu regio-nalen Durchblutungsstörungen mitVerhärtung und Einengung der Ge-fäßlumina in den Endstromgebie-ten der Extremitäten. Als Folgeer-
krankungen treten Hypertonie,begünstigt durch einen gestörtenFettstoffwechsel aus Überernäh-rung oder Bewegungsmangel mitInsulinresistenz auf. Bluthochdruck,Übergewicht, Hyperlipidämie undInsulinresistenz sind als metaboli-sches Syndrom der RisikofaktorNr. 1 für koronare Herzerkrankun-gen weltweit [19, 20].
Körperhaltung
Die Einheit von Kiefergelenkenund Halswirbelsäule steht in Wech-selwirkung zu den Hüftgelenken.Craniocaudale Dysfunktionen wieFehlbisse, Seitenverschiebungenund Kieferfehlstellungen führenhäufig zu Mundtrockenheit, Erkäl-tungen, Bronchitiden oder Gleich-gewichtsproblemen bis hin zu Ver-dauungsstörungen. Störungen imBewegungsapparat wie Fehlhal-tungen, Asymmetrien, unter-schiedliche Beinlängen etc. resul-tieren bei mangelnder Dekompen-sation aufsteigend in erhöhter cra-niomandibulärer Abnutzung undDegeneration. Davon ist nicht nurdie Kiefergelenk- und Gebissent-wicklung bei Kindern und Jugend-lichen betroffen, sondern auch dieProgression parodontaler Schädenim Erwachsenenalter (E Abb. 3).
Zur Mitbeurteilung craniocaudalerHaltungsstörungen empfiehlt sichdaher eine einfache Gang-, Hal-tungs- und Funktionsanalyse desBewegungsapparates. Bei Hand-lungsbedarf erfolgt fachübergrei-fend eine osteopathische, physio-therapeutische oder orthopädi-sche Behandlung. Zusammen miteiner intraoralen Schienenthera-pie resultiert eine funktionelle Ent-lastung mit nachfolgender Selbst-regulation [21, 22]. Neben derSchmerzreduktion und Auflösungder körperlichen Fehlhaltung wirdaufsteigend der funktionell ge-schwächte Kieferknochen entlas-tet.
Abb. 1: Unauffälliger arterieller Gefäßstatus undgünstige Intima-Media-Dicke (Ho-rizontalmessung) aus Duplex-Sonographie der rechten Carotis. Es besteht eine Kor-relation zwischen Lipid-Profil undDicke der Intima-Media (PreventonGmbH).
Abb.2:DieerhöhteGefäßdurchlässigkeiterleichtertdenAustritt vonBlutzellen indasGewebe (Entzündung) und vonGiftstoffen ins Blut (Bakteriämie).
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Lebensalter
In der Behandlung ältererMenschenmit chronischen Erkrankungen – da-zuzählenauchdieErkrankungendesMundes – nimmtmit zunehmendemLebensalter (50 plus) die Reserveka-pazitätdes Immunsystemsab,dieBe-lastungsfähigkeit für komplexe Be-handlungen sinkt. Müdigkeit, Er-schöpfung, Kopf-, Muskel und Ge-lenkbeschwerden oder Organdruck-schmerz sind erste Symptome. Fol-gende Medizinbefunde mit resultie-renderGesundheitsgefährdungwer-den diagnostisch sichtbar:1. Gefäßablagerungen mit Schädi-
gung der Endothelzellschicht auf-grund von stetigem Kontakt mitAbbau-undZerfallsproduktenausKörperstaufeldern (Entzündung),Fettverbindungen (Ernährungund Bewegung) und Giftstoffen(Rauchen) (EAbb. 4).
2. Arteriosklerotisch verengtes Ge-fäßlumen als Folge der auf tiefereBereiche der Arterienwand über-greifenden Entzündungsreaktion(EAbb. 5).
3. Endoprothesen mit Implantatlo-ckerung als Folge des Material-abriebs mit Fremdkörperreaktion(Entzündung), Ödem (lymphozy-tärem Stau) und Aufweitung desInterfaces (mechanische Belas-tung) (EAbb. 6).
Die klinisch bereits im Alter von
30–40 Jahren einsetzende Dekom-pensation einzelner Organabschnit-te wird verdrängt und führt erstnach klinischer Auffälligkeit im Le-bensalltag durch Einschränkungoder Ausfall zur ärztlichenUntersu-chung. Ein Zeitversatz zwischen Er-krankungs- und Behandlungsbe-ginn von mehr als 5 Jahren (Angst)istmedizinische Regel. DieseAnalo-gie gilt ebenso für Parodontalpati-enten und verdeutlicht die medizi-nischeNotwendigkeit derparodon-
talen Therapie bereits im mittlerenLebensalter [23, 24].
Lebenserwartung
Die in höherem Lebensalter (65plus) auftretenden Risikofaktorenwie geschwächte körperliche Re-servekraft, Infektanfälligkeit, ver-zögerte Heilung mit zeitintensiverPflege und erhöhtem Komplikati-onsrisiko bei endo- und implantat-prothetischer Therapie (Dekom-pensation, Gefäßembolie) werden
Abb. 3: Durch Hüftfehlstellung aufsteigende Fehlbelastung mit craniocaudalerDysfunktion und fortgeschrittenen parodontalenKnochenschäden im rechtenOber-kiefer.
Abb. 4: Schädigungder Endothelzell-schicht durchOxidationmit Bildung vonSauerstoffradikalen (Response to Inju-ry). Anheftung von Leukozytenmit Auf-nahme von FettverbindungenundUm-wandelung in Schaumzellen. ReaktiveBindegewebsvermehrungunter Verdi-ckungund EinengungderGefäßwandmit Anlagerung vonGefäßplaques.
Abb.5:BeginnenderarteriosklerotischerGefäßverschlussderKarotis als Folgederauftiefere Bereiche der Arterienwandübergreifende Entzündungsreaktion,Makroan-giopathie (Neurologie, UniversitätMainz).
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mit einer konsequenten Lebenshy-giene (Ernährung, Pflege, Schlaf)weitgehendaufgefangen.Dieper-sönliche Lebensführung beinhal-tet eine ausgewogene Ernährungund Bewegung zur Balancierungder Energiebilanz von Kohlenhy-draten und Fetten. Zum Aufbauund Stabilisierung der Körper-schutzzonen (Biofilme) undweite-ren Schutz vor Entzündungenwird
eine bewusste Körperpflege im-merwichtiger [25, 26].
Im Zusammenhang mit einer kon-trollierten Körperhygiene liegt dermedizinische Nutzen einer opti-mierten Mundpflege einschließlichder Parodontalbehandlung in einerVerringerungderGefäßpermeabili-tat und dem daraus resultierendenerhöhten „Schadensschutz“. Dieser
Kommunikationsfokus sollte imärztlichen Tagesgeschäft kompe-tent und mit Vorbildfunktion reali-siertwerden.
Implantatmedizin
Endoprothetische und kardiale Im-plantate sindvonNaturaus funktio-nell in den Körper integriert. Sieentwickeln sich zum Gefährdungs-potential, sobald Implantatkno-chenschäden (Hüfte, Knie) durchZementverluste oder Aufbiegung,Überlastung oder Infektion ausStreuregionen (Mund) ein Eindrin-gen von Erregern in die Havers-schen Kanäle ermöglichen. Das Risi-ko kardialer Implantate wie bei-spielsweise Schrittmachern liegt inder funktionellen Dislokation, dasvon Herzklappen in der Inaktivie-rung durch bakterielle Zerfallspro-dukte oder von Gefässen in throm-boembolischem Verschluss mit Ne-krosen. Gelenkimplantate reagie-ren mit Entzündung, Schmerzenund nachfolgender Bewegungs-einschränkung, orale Implantatemittels Mukositis mit resul-tierender Periimplantitis. Zur Opti-mierung des Körperschutzes vorEntzündungen im Zusammenhangmit Implantatersatz ist eine syste-matische Parodontaltherapie (Hy-giene) vor jeder Implantatversor-gung (Schrittmacher, Klappen,Hüft- und Knieendoprothesen)dringlichst zu empfehlen [27]. Beiweit fortgeschrittener Parodontitisund nicht mehr hygienefähigenZähnen sindZahnentfernungenun-umgänglich.
Handlungsempfehlungen
Aus den genannten Strukturbaus-teinen Alter (Immunabwehr), Prä-vention (Verantwortung), Gefäß-schutz (Vaskularisation) undOrtho-pädie (Statik) sind zum Entzün-dungsschutz folgendemedizinischeBeobachtungen ratsam. Sie dienenvornehmlich der zielgerichtetenAusschlussdiagnostik von Schadens-
Abb. 6: Bei Patientenmit Hüft- oder Kniegelenkendoprothesen entwickeln sich alsFolge desMaterialabriebsmit zunehmender Implantationsdauer Entzündungszellin-filtratemitmakrophagenreicher Fremdkörperreaktion, lymphozytärer InfiltrationundAufweitung des Interfaces durch aseptische Lockerung.
Abb. 7: Das Blutbildmit Fokus auf Entzündungsparameter, HbA1c , Leberwerte undBlutfette erfolgt zur Ausschlussdiagnostikmedizinischer Schadensfaktoren.
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Prof. Dr. RainerBuchmannFachzahnarztParodontologie
faktoren für Parodontalerkrankun-
gen und sollten bei jeder ärztlichen
Untersuchung durchgeführt wer-
den:
a) Mundgeruch: Olfaktorische Be-
urteilung (Geruch) und Trocken-
heit.
b) Rauchen. Gilt als Suchterkran-
kungundwirdauchals solchemit
demPatienten besprochen.
c) Stoffwechselerkrankungen. Dia-
betes mellitus Typ I und II mit re-
duzierter Vaskularisation in den
Endstromgebieten (Auge, Zahn-
halteapparat, Extremitäten).
d) Blutbild mit besonderer Beach-
tung der HbA1c-Werte, der Leu-
kozytenzahl, der Leberwerte
(Transaminasen GOT, GPT etc.),
des Gesamtcholesterins sowie
der HDL- und LDL-Fraktion und
der Osteoporose-Marker (Alkali-
sche Phosphatase) (E Abb. 7) [28,
29].
e) Funktions- und Haltungsschä-
den. Gang (schief), Haltung (Tor-
sion, Flexion), und funktionelle
Belastung (Asymmetrie, Gelenk-
kompression usw.).
Zur Therapie kardialer Erkrankun-
gen (Myokardinfarkt, Herzrhyth-
musstörungen, Endokarditis), Im-
munerkrankungen (rheumatoide
Arthritis, CED,HIV-Infektion, Schild-
drüsenunterfunktionundHashimo-
to-Thyreoditis, Tumorleiden, Or-
gantransplantation) oder hirnorga-
nischer Schäden (Transitorische
ischämische Attacke, Schlaganfall)
sollte der parodontale Schadenszu-
stand unmittelbar beurteilt und
therapiertwerden.
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Alle Literaturstellen können Sie onlineauf unserer Homepage einsehen:www.der-bayerische-internist.de
Danksagung:Frau Swantje Buchmann, UniversitätKiel, danke ich für diemedizinischeFachberatung.
Korrespondenzadresse:Prof. Dr. Rainer BuchmannFachzahnarzt ParodontologieKönigsallee 12D-40212DüsseldorfTel. +49 211 8629120E-Mail: [email protected]
Longtermtreatment success in
medicine requires a compre-
hensive diagnosis of general
diseases, a high-level compe-
tency for the appropriate the-
rapy and a defensive treat-
ment regimen. The value of
periodontal treatment com-
prises the control of organ-in-
duced inflammation, the sta-
bilization of life-essential pro-
tecting biofilms and the pre-
vention of premature vascular
aging. Periodontal therapy
contributes to the promotion
of general health. A compre-
hensive periodontal treat-
mentprotocol isessentialprior
to cardiological, cardiosurgi-
cal and endoprosthetic imp-
lant therapy. In internal medi-
cine and orthopedics, an ac-
companying periodontal regi-
men is advisable.
Keywords: Inflammation, vas-
cularization, posture, functi-
on, life quality, prevention.
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