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DIW Wochenbericht Wirtschaft. Politik. Wissenschaft. Seit 1928 2019 18 332 Kommentar von Marcel Fratzscher Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik Mehr Europa: 13 Herausforderungen – 13 Lösungen 300 Editorial von Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky Europa muss sich auf seine Stärken konzentrieren 302 Berichte von Tomaso Duso, Martin Gornig, Alexander Kritikos, Malte Rieth und Axel Werwatz Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz: Handel, Fusionskontrolle, Industrie, Innovationen 310 Berichte von Franziska Bremus, Marius Clemens, Marcel Fratzscher, Anna Hammerschmid, Tatsiana Kliatskova, Alexander Kriwoluzky, Claus Michelsen, Carla Rowold, Felix Weinhardt und Katharina Wrohlich Stabiles und soziales Europa: Fiskalregeln, Stabilisierungsfonds, Insolvenzregeln, Gender Quote, Gender Pension Gaps, Bildung 322 Berichte von Claudia Kemfert, Lukas Menkhoff, Karsten Neuhoff, Jörn Richstein, Tobias Stöhr und Vera Zipperer Globale Verantwortung: Erneuerbare Energien, Klima, Migrationsdruck 329 Interview mit Alexander Kriwoluzky

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DIW WochenberichtWirtschaft Politik Wissenschaft Seit 1928

201918

332 Kommentar von Marcel Fratzscher

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

Mehr Europa 13 Herausforderungen ndash 13 Loumlsungen

300 Editorial von Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky

Europa muss sich auf seine Staumlrken konzentrieren

302 Berichte von Tomaso Duso Martin Gornig Alexander Kritikos Malte Rieth und Axel Werwatz

Wettbewerbsfaumlhigkeit und Konvergenz Handel Fusionskontrolle Industrie Innovationen

310 Berichte von Franziska Bremus Marius Clemens Marcel Fratzscher Anna Hammerschmid Tatsiana Kliatskova Alexander Kriwoluzky Claus Michelsen Carla Rowold Felix Weinhardt und Katharina Wrohlich

Stabiles und soziales Europa Fiskalregeln Stabilisierungsfonds Insolvenzregeln Gender Quote Gender Pension Gaps Bildung

322 Berichte von Claudia Kemfert Lukas Menkhoff Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein Tobias Stoumlhr und Vera Zipperer

Globale Verantwortung Erneuerbare Energien Klima Migrationsdruck

329 Interview mit Alexander Kriwoluzky

IMPRESSUM

DIW Berlin mdash Deutsches Institut fuumlr Wirtschaftsforschung e V

Mohrenstraszlige 58 10117 Berlin

wwwdiwdeTelefon +49 30 897 89 ndash 0 Fax ndash 200

86 Jahrgang 2 Mai 2019

Herausgeberinnen und Herausgeber

Prof Dr Tomaso Duso Prof Marcel Fratzscher PhD Prof Dr Peter Haan

Prof Dr Claudia Kemfert Prof Dr Alexander Kriwoluzky Prof Dr Stefan Liebig

Prof Dr Lukas Menkhoff Dr Claus Michelsen Prof Karsten Neuhoff PhD

Prof Dr Juumlrgen Schupp Prof Dr C Katharina Spieszlig

Chefredaktion

Dr Gritje Hartmann Mathilde Richter Dr Wolf-Peter Schill

Lektorat

Prof Dr Pio Baake Dr Franziska Bremus Prof Dr Tomaso Duso

Prof Dr Alexander S Kritikos Prof Dr Alexander Kriwoluzky

Prof Dr Lukas Menkhoff

Redaktion

Renate Bogdanovic Dr Franziska Bremus Rebecca Buhner

Claudia Cohnen-Beck Dr Daniel Kemptner Sebastian Kollmann

Bastian Tittor Dr Alexander Zerrahn

Vertrieb

DIW Berlin Leserservice Postfach 74 77649 Offenburg

leserservicediwde

Telefon +49 1806 14 00 50 25 (20 Cent pro Anruf)

Gestaltung

Roman Wilhelm DIW Berlin

Umschlagmotiv

copy imageBROKER Steffen Diemer

Satz

Satz-Rechen-Zentrum Hartmann + Heenemann GmbH amp Co KG Berlin

Druck

USE gGmbH Berlin

ISSN 0012-1304 ISSN 1860-8787 (online)

Nachdruck und sonstige Verbreitung ndash auch auszugsweise ndash nur mit

Quellenangabe und unter Zusendung eines Belegexemplars an den

Kundenservice des DIW Berlin zulaumlssig (kundenservicediwde)

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RUumlCKBLENDE DIW WOCHENBERICHT VOR 90 JAHREN

Der Baumarkt

Geringe Beschaumlftigung im Baugewerbe Die Beschaumlfti-gung im Baugewerbe hat bisher den Vormonatsstand nicht erreicht Sie ist nach der Statistik der Gewerk-schaften gegenwaumlrtig um 25 vH niedriger als im Vor-jahr und um 5 v-H geringer als Mitte 1927 Eine Schaumlt-zung auf Grund der Gewerkschaftsstatistiken ergibt daszlig die Arbeitsleistung im Baugewerbe waumlhrend des 1 Halb-jahres 1929 um 20 vH hinter der des Vorjahres zuruumlck-blieb Dies ist zunaumlchst eine Folge der Arbeitsbehinde-rung durch Frost in den ersten drei Monaten des Jahres Da aber bisher ndash trotz beschleunigter Wiederaufnahme der Bauarbeiten nach Abschluszlig der Frostperiode ndash der Beschaumlftigungsstand des Vorjahrs nicht erreicht werden konnte so ist ein Teil dieses Ruumlckgangs wohl auch kon-junktureller Art Diese konjunkturelle Beeintraumlchtigung machte sich dem bisherigen Bauvolumen nach fast aus-schlieszliglich im gewerblichen und oumlffentlichen Bau weni-ger dagegen im Wohnungsbau bemerkbar

Aus dem Wochenbericht Nr 18 vom 31 Juli 1929

copy DIW Berlin 1929

DIW Wochenbericht 18 2019

Das Wohlstandsniveau in der EU ist zwar noch sehr heterogen hat sich aber seit 2000 deutlich angeglichenBIP pro Kopf 2017 in Euro und prozentuale Veraumlnderung seit dem Jahr 2000

Rumaumlnien

18

36

22

36

38

Vereinigtes Koumlnigreich

164

261

188

218

Zypern

Griechenland

Italien

Frankreich

hohe prozentuale Veraumlnderung

niedrige prozentuale Veraumlnderung

Bulgarien

Auswahl der Laumlnder mit den fuumlnf houmlchsten und fuumlnf niedrigsten prozentualen Veraumlnderungen seit dem Jahr 2000

Quelle Eurostat eigene Berechnungen copy DIW Berlin 2019

BIP pro Kopf 2017 in Euro

80 000

60 000

40 000

30 000

20 000

0

Litauen

Lettland

Estland

186

MEDIATHEK

Audio-Interview mit Alexander Kriwoluzky wwwdiwdemediathek

ZITAT

bdquoDrei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus Protektionismus und Pa-

ralyse Die Europawahl ist die groszlige Chance fuumlr eine Neuorientierung Wir brauchen

in wichtigen Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumlnnen ndash mit einer

weitsichtigen Strategie in der sich Europa auf seine Staumlrken konzentriertldquo

mdash Alexander Kriwoluzky mdash

AUF EINEN BLICK

Mehr Europa 13 Herausforderungen ndash 13 LoumlsungsansaumltzeVon Alexander Kriwoluzky et al

bull Mehr als 20 DIW-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler identifizieren Bereiche in denen Europa noch besser werden kann und schlagen Loumlsungen vor

bull Fuumlr mehr Wettbewerbsfaumlhigkeit und Konvergenz koumlnnten ein Pakt fuumlr Innovation stringentere Fusionskontrolle und gezieltere Industriefoumlrderung sorgen

bull Neue Fiskalregeln ein Stabilisierungsfonds und effizientere Insolvenzregeln wuumlrden Europa stabiler und sozialer machen

bull Nur gemeinsam lassen sich globale Herausforderungen wie Umwelt und Migration schultern mit 100 Prozent erneuerbaren Energien Klimapfand und EU-Plan fuumlr Afrika

bull Mit einheitlicheren Rahmenbedingungen und geschlossenem Auftreten kann Europa Risiken von innen und auszligen erfolgreich bewaumlltigen

300 DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-1

Europa steht vor einer Zerreiszligprobe Selten erschienen in

den vergangenen 70 Jahren die Risiken sowohl innerhalb

Europas als auch von auszligen so existentiell Die wirtschaft-

lichen Auswirkungen der Finanz- und Staatsschuldenkrise

sind immer noch in vielen europaumlischen Laumlndern zu spuumlren

kriselnde Banken eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und

steigende Divergenzen innerhalb Europas Ein zunehmender

Wettbewerb aus Asien und die protektionistische Handels-

politik des US-Praumlsidenten erhoumlhen den Druck zusaumltzlich

Die Krise Europas hat jedoch nicht nur eine wirtschaftliche

Dimension Hinzu kommt auch die soziale Polarisierung

demografisch erfaumlhrt der Kontinent eine massive Alterung

politisch ist der Populismus auf dem Vormarsch und beim

Schutz von Klima und Umwelt passiert in Europa und seinen

Mitgliedslaumlndern viel zu wenig Der Klimawandel findet

scheinbar ohne Gegenmaszlignahmen statt und veranlasst

einen Teil der Jugend zu den bdquoFridays for Futureldquo-Demons-

trationen Zusaumltzlich sieht sich Europa mit einer steigenden

Anzahl von Gefluumlchteten konfrontiert

Drei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus

Protektionismus und Paralyse Eine einfache Antwort auf

die Probleme Europas scheint ein Rezept aus dem 19 Jahr-

hundert zu sein der Ruumlckzug in nationale Abschottung

Viele Politikerinnen und Politiker missbrauchen Europa als

Suumlndenbock fuumlr die eigenen nationalen Fehler Nicht nur

die USA agieren zunehmend protektionistisch auch viele

Nationalstaaten in Europa versuchen ihre Unternehmen

durch eine nationale Industriestrategie durch Regulierung

oder wirtschaftspolitische Alleingaumlnge bei Energie Digitali-

sierung Migration oder Direktinvestitionen zu bevorteilen

Und viele dringend notwendige Reformprozesse haben sich

verlangsamt oder sind zum Stillstand gekommen So wird

insbesondere die Neuaufstellung der Waumlhrungsunion ndash wie

die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion kluumlgere

Regeln der Finanzpolitik oder eine Staumlrkung europaumlischer

Institutionen ndash verzoumlgert oder blockiert Doch trotz aller Risi-

ken und Herausforderungen sollte nicht uumlbersehen werden

dass Europa mit dem gemeinsamen Binnenmarkt und der

gemeinsamen Waumlhrung in den vergangenen 70 Jahren viel

zu Stabilitaumlt Wohlstand und Frieden beigetragen hat

Die Europawahl am 26 Mai ist eine groszlige Chance fuumlr eine

Neuorientierung Europas um die Erfolgsgeschichte Europa

weiterzuentwickeln Was muumlssen die Europaumlische Union und

ihre Mitgliedslaumlnder tun um Divergenz und Polarisierung zu

stoppen und ein weiteres Zusammenwachsen zu ermoumlgli-

chen Wie kann die gesamte EU sich wirtschaftlich stabili-

sieren und im globalen Wettbewerb mit China und den USA

erfolgreich bestehen Und wie kann Europa auch seiner

globalen Verantwortung endlich wieder gerecht werden

Dies sind zentrale Fragen die sich nach den Europawahlen

stellen Und einige der Fragen mit denen wir uns in diesem

Wochenbericht beschaumlftigen Dabei geht es uns nicht um

eine allumfassende Antwort fuumlr die Zukunft Europas In die-

sem Wochenbericht analysieren mehr als 20 Wissenschaft-

lerinnen und Wissenschaftler des DIW Berlin spezifische

Elemente einer Zukunftsvision und -strategie

Die 13 analysierten Herausforderungen gruppieren sich in

drei Bereiche Seit der Gruumlndung der damaligen Europauml-

ischen Wirtschaftsgemeinschaft stehen der gemeinsame

Binnenmarkt die Moumlglichkeit als Gemeinschaft vorteilhafte

Handelsbeziehungen zu unterhalten sowie die Foumlrderung

schwaumlcherer wirtschaftlicher Regionen im Mittelpunkt der

Politik Im Bereich bdquoWettbewerb und Konvergenzldquo zeigen

die Analysen am DIW Berlin dass Europa nur mit einem

geschlossenen Auftreten gegenuumlber den USA negative

Folgen der protektionistischen Handelspolitik des amerika-

nischen Praumlsidenten verhindern kann Des Weiteren wird

untersucht inwiefern ein bdquoPakt fuumlr Innovationldquo und eine

Europa muss sich auf seine Staumlrken konzentrierenVon Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky

301DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

Bevoumllkerung zu beenden Da Wissen und Bildung eine unab-

dingbare Voraussetzung fuumlr den Wohlstand Europas sind

sollten sich nach den europaumlischen Universitaumlten nun auch

die Schulen uumlber eine Bildungsplattform vernetzen um auf

neue Herausforderungen wie den digitalen Wandel schon

moumlglichst in einem fruumlhen Bildungsstadium zu reagieren

Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die unab-

haumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlignah-

men bereitstellen

Der dritte Bereich des Wochenberichts betrachtet die bdquoGlo-

bale Verantwortungldquo der sich die Laumlnder Europas gemein-

sam stellen muumlssen Dazu gehoumlren auch die Klimapolitik

und die Energieversorgung Um die Klimaziele zu erreichen

muss die Energiewirtschaft ausschlieszliglich auf erneuerbare

Energien setzen Dies ist technisch moumlglich und wirtschaft-

lich lohnend wenn die Marktbedingungen europaweit stim-

men Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissions-

intensiver Grundstoffe koumlnnte die CO2-Emissionen drastisch

senken ohne die Verlagerung der Industrie ins Ausland

befuumlrchten zu muumlssen Zu den globalen Herausforderungen

die Europa gemeinsam angehen muss gehoumlrt auch der

Migrationsdruck aus Afrika Forscher am DIW Berlin argu-

mentieren dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit sei-

nem bdquoMarshall-Plan mit Afrikaldquo viel zu wenig ausrichten kann

ein Zusammenschluss der Laumlnder Europas aber durchaus

Erfolg haben koumlnnte

Unsere Antwort auf die Frage welche Richtung Europa

grundsaumltzlich einschlagen soll ist Wir brauchen in wichtigen

Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumln-

nen ndash mit einer weitsichtigen Strategie in der sich Europa

auf seine Staumlrken konzentriert

Industriepolitik die die heterogenen regionalen Vorausset-

zungen fuumlr Industrien staumlrker beruumlcksichtigen dazu beitra-

gen dass die Regionen Europas wirtschaftlich nicht weiter

divergieren und Europa im globalen Wandel der Industrie

besser bestehen kann Ein weiterer Beitrag unterstreicht die

Bedeutung einer unabhaumlngigen europaumlischen Wettbewerbs-

behoumlrde die die Fusionskontrolle effektiv durchsetzt um den

Wettbewerb im Binnenmarkt zum Vorteil der europaumlischen

Verbraucherinnen und Verbraucher zu sichern

Um den erworbenen Wohlstand in Zukunft zu sichern und

gerecht zu verteilen muss Europa Antworten auf Herausfor-

derungen geben die wir im Bereich bdquoStabiles und soziales

Europaldquo behandeln Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr ein neues Fiskal-

paket wie beispielsweise eine neue Ausgaberegel koumlnnten in

schlechten Zeiten mehr Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch

wirken Um die Folgen von Wirtschaftskrisen besser abfe-

dern zu koumlnnen benoumltigt Europa einen Stabilisierungsfonds

der aumlhnlich einer Versicherung in guten Zeiten auf Grund-

lage einer Risikoklassifizierung Beitraumlge einnimmt und in

schlechten Zeiten auszahlt Zusaumltzlich kann ein integrierter

Eigenkapitalmarkt helfen die Auswirkungen von wirtschaftli-

chen Schwankungen zu mildern Effizientere Insolvenzregeln

koumlnnten der Schluumlssel fuumlr die weitere Integration der Kapi-

talmaumlrkte sein Ein zusaumltzlicher wichtiger sozialer Aspekt in

Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter In Aufsichts-

gremien kommt diese nur in Laumlndern mit einer verbindlichen

Quote voran Der Unterschied in den Erwerbsbiografen

zwischen den Geschlechtern schlaumlgt sich auch in den Ren-

tenluumlcken nieder die wir europaweit dokumentiert haben

Es gilt also europaweite Regelungen zu bestimmen um die

systematische Benachteiligung der Haumllfte der europaumlischen

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin |

akriwoluzkydiwde

302 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-2

ABSTRACT

bull Berechnungen am DIW Berlin zeigen dass im Stahlkonflikt

die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankuumlndi-

gungen houmlherer Zoumllle profitierten

bull Dagegen fallen bei Ankuumlndigungen von houmlheren Zoumlllen

zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in

den USA signifikant

bull Bei Zollankuumlndigungen fuumlr EU-Waren reagieren die Kurse

bisher nicht merklich

bull Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU aumlhn-

lich der Chinas koumlnnte Amerikas Aktienkurse treffen und

dadurch den US-Praumlsidenten von weiteren Zollerhoumlhungen

abhalten

Das globale Umfeld fuumlr die deutsche und europaumlische Wirt-schaft wird zunehmend rauer Neben der Unsicherheit uumlber den Brexit und der Abschwaumlchung der weltweiten Wachs-tumsdynamik duumlrften die von den USA ausgehenden Han-delsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturver-lauf wesentlich mitbestimmen

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht Zunaumlchst verhaumlngte sie Schutzzoumllle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaszlignahmen Danach verhaumlng-ten die USA Einfuhrzoumllle auf Stahl und Aluminium gegen-uumlber dem uumlberwiegenden Rest der Welt Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaszlignahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewaumlhlter amerikanischer Guumlter In einer dritten Runde fuumlhrte die US-Regierung mit der Begruumlndung die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht Zoumllle auf chinesische Importe ein Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaszlignahmen zum Schutz der heimischen Wirt-schaft Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschaumlrfung ab

Dafuumlr bahnt sich viertens eine Auseinandersetzung um den Export von europaumlischen Kraftfahrzeugen und Autotei-len in die USA an Aufgrund der wichtigen Rolle des Auto-mobilsektors in Europa wuumlrde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Laumlndern der Staatengemeinschaft und insbeson-dere in Deutschland die Exporte die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten Was koumlnnen Deutschland und die EU tun um dies zu verhindern

Hierfuumlr lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der juumlngs-ten Handelsauseinandersetzungen Eine Analyse der Aktien-renditen an Tagen an denen die Streitparteien houmlhere Zoumllle ankuumlndigten (oder einfuumlhrten) zeigt dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten1 Die Erhouml-hung der Stahl- und Aluminiumzoumllle durch die Vereinig-ten Staaten erhoumlhte die Renditen von US- Aktien im Durch-schnitt (Tabelle) Waumlhrend der Effekt fuumlr international agie-rende Groszligunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der groumlszligten Industrieunternehmen

1 Die in die Analyse einbezogenen Ankuumlndigungsdaten basieren auf Chad P Bown und Melina Kolb

(2019) Trumprsquos Trade War Timeline An Up-to-Date Guide Peterson Institute for International Economics

(online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechenVon Malte Rieth

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

IMPRESSUM

DIW Berlin mdash Deutsches Institut fuumlr Wirtschaftsforschung e V

Mohrenstraszlige 58 10117 Berlin

wwwdiwdeTelefon +49 30 897 89 ndash 0 Fax ndash 200

86 Jahrgang 2 Mai 2019

Herausgeberinnen und Herausgeber

Prof Dr Tomaso Duso Prof Marcel Fratzscher PhD Prof Dr Peter Haan

Prof Dr Claudia Kemfert Prof Dr Alexander Kriwoluzky Prof Dr Stefan Liebig

Prof Dr Lukas Menkhoff Dr Claus Michelsen Prof Karsten Neuhoff PhD

Prof Dr Juumlrgen Schupp Prof Dr C Katharina Spieszlig

Chefredaktion

Dr Gritje Hartmann Mathilde Richter Dr Wolf-Peter Schill

Lektorat

Prof Dr Pio Baake Dr Franziska Bremus Prof Dr Tomaso Duso

Prof Dr Alexander S Kritikos Prof Dr Alexander Kriwoluzky

Prof Dr Lukas Menkhoff

Redaktion

Renate Bogdanovic Dr Franziska Bremus Rebecca Buhner

Claudia Cohnen-Beck Dr Daniel Kemptner Sebastian Kollmann

Bastian Tittor Dr Alexander Zerrahn

Vertrieb

DIW Berlin Leserservice Postfach 74 77649 Offenburg

leserservicediwde

Telefon +49 1806 14 00 50 25 (20 Cent pro Anruf)

Gestaltung

Roman Wilhelm DIW Berlin

Umschlagmotiv

copy imageBROKER Steffen Diemer

Satz

Satz-Rechen-Zentrum Hartmann + Heenemann GmbH amp Co KG Berlin

Druck

USE gGmbH Berlin

ISSN 0012-1304 ISSN 1860-8787 (online)

Nachdruck und sonstige Verbreitung ndash auch auszugsweise ndash nur mit

Quellenangabe und unter Zusendung eines Belegexemplars an den

Kundenservice des DIW Berlin zulaumlssig (kundenservicediwde)

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RUumlCKBLENDE DIW WOCHENBERICHT VOR 90 JAHREN

Der Baumarkt

Geringe Beschaumlftigung im Baugewerbe Die Beschaumlfti-gung im Baugewerbe hat bisher den Vormonatsstand nicht erreicht Sie ist nach der Statistik der Gewerk-schaften gegenwaumlrtig um 25 vH niedriger als im Vor-jahr und um 5 v-H geringer als Mitte 1927 Eine Schaumlt-zung auf Grund der Gewerkschaftsstatistiken ergibt daszlig die Arbeitsleistung im Baugewerbe waumlhrend des 1 Halb-jahres 1929 um 20 vH hinter der des Vorjahres zuruumlck-blieb Dies ist zunaumlchst eine Folge der Arbeitsbehinde-rung durch Frost in den ersten drei Monaten des Jahres Da aber bisher ndash trotz beschleunigter Wiederaufnahme der Bauarbeiten nach Abschluszlig der Frostperiode ndash der Beschaumlftigungsstand des Vorjahrs nicht erreicht werden konnte so ist ein Teil dieses Ruumlckgangs wohl auch kon-junktureller Art Diese konjunkturelle Beeintraumlchtigung machte sich dem bisherigen Bauvolumen nach fast aus-schlieszliglich im gewerblichen und oumlffentlichen Bau weni-ger dagegen im Wohnungsbau bemerkbar

Aus dem Wochenbericht Nr 18 vom 31 Juli 1929

copy DIW Berlin 1929

DIW Wochenbericht 18 2019

Das Wohlstandsniveau in der EU ist zwar noch sehr heterogen hat sich aber seit 2000 deutlich angeglichenBIP pro Kopf 2017 in Euro und prozentuale Veraumlnderung seit dem Jahr 2000

Rumaumlnien

18

36

22

36

38

Vereinigtes Koumlnigreich

164

261

188

218

Zypern

Griechenland

Italien

Frankreich

hohe prozentuale Veraumlnderung

niedrige prozentuale Veraumlnderung

Bulgarien

Auswahl der Laumlnder mit den fuumlnf houmlchsten und fuumlnf niedrigsten prozentualen Veraumlnderungen seit dem Jahr 2000

Quelle Eurostat eigene Berechnungen copy DIW Berlin 2019

BIP pro Kopf 2017 in Euro

80 000

60 000

40 000

30 000

20 000

0

Litauen

Lettland

Estland

186

MEDIATHEK

Audio-Interview mit Alexander Kriwoluzky wwwdiwdemediathek

ZITAT

bdquoDrei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus Protektionismus und Pa-

ralyse Die Europawahl ist die groszlige Chance fuumlr eine Neuorientierung Wir brauchen

in wichtigen Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumlnnen ndash mit einer

weitsichtigen Strategie in der sich Europa auf seine Staumlrken konzentriertldquo

mdash Alexander Kriwoluzky mdash

AUF EINEN BLICK

Mehr Europa 13 Herausforderungen ndash 13 LoumlsungsansaumltzeVon Alexander Kriwoluzky et al

bull Mehr als 20 DIW-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler identifizieren Bereiche in denen Europa noch besser werden kann und schlagen Loumlsungen vor

bull Fuumlr mehr Wettbewerbsfaumlhigkeit und Konvergenz koumlnnten ein Pakt fuumlr Innovation stringentere Fusionskontrolle und gezieltere Industriefoumlrderung sorgen

bull Neue Fiskalregeln ein Stabilisierungsfonds und effizientere Insolvenzregeln wuumlrden Europa stabiler und sozialer machen

bull Nur gemeinsam lassen sich globale Herausforderungen wie Umwelt und Migration schultern mit 100 Prozent erneuerbaren Energien Klimapfand und EU-Plan fuumlr Afrika

bull Mit einheitlicheren Rahmenbedingungen und geschlossenem Auftreten kann Europa Risiken von innen und auszligen erfolgreich bewaumlltigen

300 DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-1

Europa steht vor einer Zerreiszligprobe Selten erschienen in

den vergangenen 70 Jahren die Risiken sowohl innerhalb

Europas als auch von auszligen so existentiell Die wirtschaft-

lichen Auswirkungen der Finanz- und Staatsschuldenkrise

sind immer noch in vielen europaumlischen Laumlndern zu spuumlren

kriselnde Banken eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und

steigende Divergenzen innerhalb Europas Ein zunehmender

Wettbewerb aus Asien und die protektionistische Handels-

politik des US-Praumlsidenten erhoumlhen den Druck zusaumltzlich

Die Krise Europas hat jedoch nicht nur eine wirtschaftliche

Dimension Hinzu kommt auch die soziale Polarisierung

demografisch erfaumlhrt der Kontinent eine massive Alterung

politisch ist der Populismus auf dem Vormarsch und beim

Schutz von Klima und Umwelt passiert in Europa und seinen

Mitgliedslaumlndern viel zu wenig Der Klimawandel findet

scheinbar ohne Gegenmaszlignahmen statt und veranlasst

einen Teil der Jugend zu den bdquoFridays for Futureldquo-Demons-

trationen Zusaumltzlich sieht sich Europa mit einer steigenden

Anzahl von Gefluumlchteten konfrontiert

Drei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus

Protektionismus und Paralyse Eine einfache Antwort auf

die Probleme Europas scheint ein Rezept aus dem 19 Jahr-

hundert zu sein der Ruumlckzug in nationale Abschottung

Viele Politikerinnen und Politiker missbrauchen Europa als

Suumlndenbock fuumlr die eigenen nationalen Fehler Nicht nur

die USA agieren zunehmend protektionistisch auch viele

Nationalstaaten in Europa versuchen ihre Unternehmen

durch eine nationale Industriestrategie durch Regulierung

oder wirtschaftspolitische Alleingaumlnge bei Energie Digitali-

sierung Migration oder Direktinvestitionen zu bevorteilen

Und viele dringend notwendige Reformprozesse haben sich

verlangsamt oder sind zum Stillstand gekommen So wird

insbesondere die Neuaufstellung der Waumlhrungsunion ndash wie

die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion kluumlgere

Regeln der Finanzpolitik oder eine Staumlrkung europaumlischer

Institutionen ndash verzoumlgert oder blockiert Doch trotz aller Risi-

ken und Herausforderungen sollte nicht uumlbersehen werden

dass Europa mit dem gemeinsamen Binnenmarkt und der

gemeinsamen Waumlhrung in den vergangenen 70 Jahren viel

zu Stabilitaumlt Wohlstand und Frieden beigetragen hat

Die Europawahl am 26 Mai ist eine groszlige Chance fuumlr eine

Neuorientierung Europas um die Erfolgsgeschichte Europa

weiterzuentwickeln Was muumlssen die Europaumlische Union und

ihre Mitgliedslaumlnder tun um Divergenz und Polarisierung zu

stoppen und ein weiteres Zusammenwachsen zu ermoumlgli-

chen Wie kann die gesamte EU sich wirtschaftlich stabili-

sieren und im globalen Wettbewerb mit China und den USA

erfolgreich bestehen Und wie kann Europa auch seiner

globalen Verantwortung endlich wieder gerecht werden

Dies sind zentrale Fragen die sich nach den Europawahlen

stellen Und einige der Fragen mit denen wir uns in diesem

Wochenbericht beschaumlftigen Dabei geht es uns nicht um

eine allumfassende Antwort fuumlr die Zukunft Europas In die-

sem Wochenbericht analysieren mehr als 20 Wissenschaft-

lerinnen und Wissenschaftler des DIW Berlin spezifische

Elemente einer Zukunftsvision und -strategie

Die 13 analysierten Herausforderungen gruppieren sich in

drei Bereiche Seit der Gruumlndung der damaligen Europauml-

ischen Wirtschaftsgemeinschaft stehen der gemeinsame

Binnenmarkt die Moumlglichkeit als Gemeinschaft vorteilhafte

Handelsbeziehungen zu unterhalten sowie die Foumlrderung

schwaumlcherer wirtschaftlicher Regionen im Mittelpunkt der

Politik Im Bereich bdquoWettbewerb und Konvergenzldquo zeigen

die Analysen am DIW Berlin dass Europa nur mit einem

geschlossenen Auftreten gegenuumlber den USA negative

Folgen der protektionistischen Handelspolitik des amerika-

nischen Praumlsidenten verhindern kann Des Weiteren wird

untersucht inwiefern ein bdquoPakt fuumlr Innovationldquo und eine

Europa muss sich auf seine Staumlrken konzentrierenVon Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky

301DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

Bevoumllkerung zu beenden Da Wissen und Bildung eine unab-

dingbare Voraussetzung fuumlr den Wohlstand Europas sind

sollten sich nach den europaumlischen Universitaumlten nun auch

die Schulen uumlber eine Bildungsplattform vernetzen um auf

neue Herausforderungen wie den digitalen Wandel schon

moumlglichst in einem fruumlhen Bildungsstadium zu reagieren

Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die unab-

haumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlignah-

men bereitstellen

Der dritte Bereich des Wochenberichts betrachtet die bdquoGlo-

bale Verantwortungldquo der sich die Laumlnder Europas gemein-

sam stellen muumlssen Dazu gehoumlren auch die Klimapolitik

und die Energieversorgung Um die Klimaziele zu erreichen

muss die Energiewirtschaft ausschlieszliglich auf erneuerbare

Energien setzen Dies ist technisch moumlglich und wirtschaft-

lich lohnend wenn die Marktbedingungen europaweit stim-

men Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissions-

intensiver Grundstoffe koumlnnte die CO2-Emissionen drastisch

senken ohne die Verlagerung der Industrie ins Ausland

befuumlrchten zu muumlssen Zu den globalen Herausforderungen

die Europa gemeinsam angehen muss gehoumlrt auch der

Migrationsdruck aus Afrika Forscher am DIW Berlin argu-

mentieren dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit sei-

nem bdquoMarshall-Plan mit Afrikaldquo viel zu wenig ausrichten kann

ein Zusammenschluss der Laumlnder Europas aber durchaus

Erfolg haben koumlnnte

Unsere Antwort auf die Frage welche Richtung Europa

grundsaumltzlich einschlagen soll ist Wir brauchen in wichtigen

Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumln-

nen ndash mit einer weitsichtigen Strategie in der sich Europa

auf seine Staumlrken konzentriert

Industriepolitik die die heterogenen regionalen Vorausset-

zungen fuumlr Industrien staumlrker beruumlcksichtigen dazu beitra-

gen dass die Regionen Europas wirtschaftlich nicht weiter

divergieren und Europa im globalen Wandel der Industrie

besser bestehen kann Ein weiterer Beitrag unterstreicht die

Bedeutung einer unabhaumlngigen europaumlischen Wettbewerbs-

behoumlrde die die Fusionskontrolle effektiv durchsetzt um den

Wettbewerb im Binnenmarkt zum Vorteil der europaumlischen

Verbraucherinnen und Verbraucher zu sichern

Um den erworbenen Wohlstand in Zukunft zu sichern und

gerecht zu verteilen muss Europa Antworten auf Herausfor-

derungen geben die wir im Bereich bdquoStabiles und soziales

Europaldquo behandeln Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr ein neues Fiskal-

paket wie beispielsweise eine neue Ausgaberegel koumlnnten in

schlechten Zeiten mehr Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch

wirken Um die Folgen von Wirtschaftskrisen besser abfe-

dern zu koumlnnen benoumltigt Europa einen Stabilisierungsfonds

der aumlhnlich einer Versicherung in guten Zeiten auf Grund-

lage einer Risikoklassifizierung Beitraumlge einnimmt und in

schlechten Zeiten auszahlt Zusaumltzlich kann ein integrierter

Eigenkapitalmarkt helfen die Auswirkungen von wirtschaftli-

chen Schwankungen zu mildern Effizientere Insolvenzregeln

koumlnnten der Schluumlssel fuumlr die weitere Integration der Kapi-

talmaumlrkte sein Ein zusaumltzlicher wichtiger sozialer Aspekt in

Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter In Aufsichts-

gremien kommt diese nur in Laumlndern mit einer verbindlichen

Quote voran Der Unterschied in den Erwerbsbiografen

zwischen den Geschlechtern schlaumlgt sich auch in den Ren-

tenluumlcken nieder die wir europaweit dokumentiert haben

Es gilt also europaweite Regelungen zu bestimmen um die

systematische Benachteiligung der Haumllfte der europaumlischen

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin |

akriwoluzkydiwde

302 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-2

ABSTRACT

bull Berechnungen am DIW Berlin zeigen dass im Stahlkonflikt

die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankuumlndi-

gungen houmlherer Zoumllle profitierten

bull Dagegen fallen bei Ankuumlndigungen von houmlheren Zoumlllen

zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in

den USA signifikant

bull Bei Zollankuumlndigungen fuumlr EU-Waren reagieren die Kurse

bisher nicht merklich

bull Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU aumlhn-

lich der Chinas koumlnnte Amerikas Aktienkurse treffen und

dadurch den US-Praumlsidenten von weiteren Zollerhoumlhungen

abhalten

Das globale Umfeld fuumlr die deutsche und europaumlische Wirt-schaft wird zunehmend rauer Neben der Unsicherheit uumlber den Brexit und der Abschwaumlchung der weltweiten Wachs-tumsdynamik duumlrften die von den USA ausgehenden Han-delsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturver-lauf wesentlich mitbestimmen

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht Zunaumlchst verhaumlngte sie Schutzzoumllle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaszlignahmen Danach verhaumlng-ten die USA Einfuhrzoumllle auf Stahl und Aluminium gegen-uumlber dem uumlberwiegenden Rest der Welt Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaszlignahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewaumlhlter amerikanischer Guumlter In einer dritten Runde fuumlhrte die US-Regierung mit der Begruumlndung die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht Zoumllle auf chinesische Importe ein Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaszlignahmen zum Schutz der heimischen Wirt-schaft Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschaumlrfung ab

Dafuumlr bahnt sich viertens eine Auseinandersetzung um den Export von europaumlischen Kraftfahrzeugen und Autotei-len in die USA an Aufgrund der wichtigen Rolle des Auto-mobilsektors in Europa wuumlrde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Laumlndern der Staatengemeinschaft und insbeson-dere in Deutschland die Exporte die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten Was koumlnnen Deutschland und die EU tun um dies zu verhindern

Hierfuumlr lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der juumlngs-ten Handelsauseinandersetzungen Eine Analyse der Aktien-renditen an Tagen an denen die Streitparteien houmlhere Zoumllle ankuumlndigten (oder einfuumlhrten) zeigt dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten1 Die Erhouml-hung der Stahl- und Aluminiumzoumllle durch die Vereinig-ten Staaten erhoumlhte die Renditen von US- Aktien im Durch-schnitt (Tabelle) Waumlhrend der Effekt fuumlr international agie-rende Groszligunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der groumlszligten Industrieunternehmen

1 Die in die Analyse einbezogenen Ankuumlndigungsdaten basieren auf Chad P Bown und Melina Kolb

(2019) Trumprsquos Trade War Timeline An Up-to-Date Guide Peterson Institute for International Economics

(online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechenVon Malte Rieth

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

DIW Wochenbericht 18 2019

Das Wohlstandsniveau in der EU ist zwar noch sehr heterogen hat sich aber seit 2000 deutlich angeglichenBIP pro Kopf 2017 in Euro und prozentuale Veraumlnderung seit dem Jahr 2000

Rumaumlnien

18

36

22

36

38

Vereinigtes Koumlnigreich

164

261

188

218

Zypern

Griechenland

Italien

Frankreich

hohe prozentuale Veraumlnderung

niedrige prozentuale Veraumlnderung

Bulgarien

Auswahl der Laumlnder mit den fuumlnf houmlchsten und fuumlnf niedrigsten prozentualen Veraumlnderungen seit dem Jahr 2000

Quelle Eurostat eigene Berechnungen copy DIW Berlin 2019

BIP pro Kopf 2017 in Euro

80 000

60 000

40 000

30 000

20 000

0

Litauen

Lettland

Estland

186

MEDIATHEK

Audio-Interview mit Alexander Kriwoluzky wwwdiwdemediathek

ZITAT

bdquoDrei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus Protektionismus und Pa-

ralyse Die Europawahl ist die groszlige Chance fuumlr eine Neuorientierung Wir brauchen

in wichtigen Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumlnnen ndash mit einer

weitsichtigen Strategie in der sich Europa auf seine Staumlrken konzentriertldquo

mdash Alexander Kriwoluzky mdash

AUF EINEN BLICK

Mehr Europa 13 Herausforderungen ndash 13 LoumlsungsansaumltzeVon Alexander Kriwoluzky et al

bull Mehr als 20 DIW-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler identifizieren Bereiche in denen Europa noch besser werden kann und schlagen Loumlsungen vor

bull Fuumlr mehr Wettbewerbsfaumlhigkeit und Konvergenz koumlnnten ein Pakt fuumlr Innovation stringentere Fusionskontrolle und gezieltere Industriefoumlrderung sorgen

bull Neue Fiskalregeln ein Stabilisierungsfonds und effizientere Insolvenzregeln wuumlrden Europa stabiler und sozialer machen

bull Nur gemeinsam lassen sich globale Herausforderungen wie Umwelt und Migration schultern mit 100 Prozent erneuerbaren Energien Klimapfand und EU-Plan fuumlr Afrika

bull Mit einheitlicheren Rahmenbedingungen und geschlossenem Auftreten kann Europa Risiken von innen und auszligen erfolgreich bewaumlltigen

300 DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-1

Europa steht vor einer Zerreiszligprobe Selten erschienen in

den vergangenen 70 Jahren die Risiken sowohl innerhalb

Europas als auch von auszligen so existentiell Die wirtschaft-

lichen Auswirkungen der Finanz- und Staatsschuldenkrise

sind immer noch in vielen europaumlischen Laumlndern zu spuumlren

kriselnde Banken eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und

steigende Divergenzen innerhalb Europas Ein zunehmender

Wettbewerb aus Asien und die protektionistische Handels-

politik des US-Praumlsidenten erhoumlhen den Druck zusaumltzlich

Die Krise Europas hat jedoch nicht nur eine wirtschaftliche

Dimension Hinzu kommt auch die soziale Polarisierung

demografisch erfaumlhrt der Kontinent eine massive Alterung

politisch ist der Populismus auf dem Vormarsch und beim

Schutz von Klima und Umwelt passiert in Europa und seinen

Mitgliedslaumlndern viel zu wenig Der Klimawandel findet

scheinbar ohne Gegenmaszlignahmen statt und veranlasst

einen Teil der Jugend zu den bdquoFridays for Futureldquo-Demons-

trationen Zusaumltzlich sieht sich Europa mit einer steigenden

Anzahl von Gefluumlchteten konfrontiert

Drei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus

Protektionismus und Paralyse Eine einfache Antwort auf

die Probleme Europas scheint ein Rezept aus dem 19 Jahr-

hundert zu sein der Ruumlckzug in nationale Abschottung

Viele Politikerinnen und Politiker missbrauchen Europa als

Suumlndenbock fuumlr die eigenen nationalen Fehler Nicht nur

die USA agieren zunehmend protektionistisch auch viele

Nationalstaaten in Europa versuchen ihre Unternehmen

durch eine nationale Industriestrategie durch Regulierung

oder wirtschaftspolitische Alleingaumlnge bei Energie Digitali-

sierung Migration oder Direktinvestitionen zu bevorteilen

Und viele dringend notwendige Reformprozesse haben sich

verlangsamt oder sind zum Stillstand gekommen So wird

insbesondere die Neuaufstellung der Waumlhrungsunion ndash wie

die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion kluumlgere

Regeln der Finanzpolitik oder eine Staumlrkung europaumlischer

Institutionen ndash verzoumlgert oder blockiert Doch trotz aller Risi-

ken und Herausforderungen sollte nicht uumlbersehen werden

dass Europa mit dem gemeinsamen Binnenmarkt und der

gemeinsamen Waumlhrung in den vergangenen 70 Jahren viel

zu Stabilitaumlt Wohlstand und Frieden beigetragen hat

Die Europawahl am 26 Mai ist eine groszlige Chance fuumlr eine

Neuorientierung Europas um die Erfolgsgeschichte Europa

weiterzuentwickeln Was muumlssen die Europaumlische Union und

ihre Mitgliedslaumlnder tun um Divergenz und Polarisierung zu

stoppen und ein weiteres Zusammenwachsen zu ermoumlgli-

chen Wie kann die gesamte EU sich wirtschaftlich stabili-

sieren und im globalen Wettbewerb mit China und den USA

erfolgreich bestehen Und wie kann Europa auch seiner

globalen Verantwortung endlich wieder gerecht werden

Dies sind zentrale Fragen die sich nach den Europawahlen

stellen Und einige der Fragen mit denen wir uns in diesem

Wochenbericht beschaumlftigen Dabei geht es uns nicht um

eine allumfassende Antwort fuumlr die Zukunft Europas In die-

sem Wochenbericht analysieren mehr als 20 Wissenschaft-

lerinnen und Wissenschaftler des DIW Berlin spezifische

Elemente einer Zukunftsvision und -strategie

Die 13 analysierten Herausforderungen gruppieren sich in

drei Bereiche Seit der Gruumlndung der damaligen Europauml-

ischen Wirtschaftsgemeinschaft stehen der gemeinsame

Binnenmarkt die Moumlglichkeit als Gemeinschaft vorteilhafte

Handelsbeziehungen zu unterhalten sowie die Foumlrderung

schwaumlcherer wirtschaftlicher Regionen im Mittelpunkt der

Politik Im Bereich bdquoWettbewerb und Konvergenzldquo zeigen

die Analysen am DIW Berlin dass Europa nur mit einem

geschlossenen Auftreten gegenuumlber den USA negative

Folgen der protektionistischen Handelspolitik des amerika-

nischen Praumlsidenten verhindern kann Des Weiteren wird

untersucht inwiefern ein bdquoPakt fuumlr Innovationldquo und eine

Europa muss sich auf seine Staumlrken konzentrierenVon Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky

301DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

Bevoumllkerung zu beenden Da Wissen und Bildung eine unab-

dingbare Voraussetzung fuumlr den Wohlstand Europas sind

sollten sich nach den europaumlischen Universitaumlten nun auch

die Schulen uumlber eine Bildungsplattform vernetzen um auf

neue Herausforderungen wie den digitalen Wandel schon

moumlglichst in einem fruumlhen Bildungsstadium zu reagieren

Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die unab-

haumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlignah-

men bereitstellen

Der dritte Bereich des Wochenberichts betrachtet die bdquoGlo-

bale Verantwortungldquo der sich die Laumlnder Europas gemein-

sam stellen muumlssen Dazu gehoumlren auch die Klimapolitik

und die Energieversorgung Um die Klimaziele zu erreichen

muss die Energiewirtschaft ausschlieszliglich auf erneuerbare

Energien setzen Dies ist technisch moumlglich und wirtschaft-

lich lohnend wenn die Marktbedingungen europaweit stim-

men Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissions-

intensiver Grundstoffe koumlnnte die CO2-Emissionen drastisch

senken ohne die Verlagerung der Industrie ins Ausland

befuumlrchten zu muumlssen Zu den globalen Herausforderungen

die Europa gemeinsam angehen muss gehoumlrt auch der

Migrationsdruck aus Afrika Forscher am DIW Berlin argu-

mentieren dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit sei-

nem bdquoMarshall-Plan mit Afrikaldquo viel zu wenig ausrichten kann

ein Zusammenschluss der Laumlnder Europas aber durchaus

Erfolg haben koumlnnte

Unsere Antwort auf die Frage welche Richtung Europa

grundsaumltzlich einschlagen soll ist Wir brauchen in wichtigen

Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumln-

nen ndash mit einer weitsichtigen Strategie in der sich Europa

auf seine Staumlrken konzentriert

Industriepolitik die die heterogenen regionalen Vorausset-

zungen fuumlr Industrien staumlrker beruumlcksichtigen dazu beitra-

gen dass die Regionen Europas wirtschaftlich nicht weiter

divergieren und Europa im globalen Wandel der Industrie

besser bestehen kann Ein weiterer Beitrag unterstreicht die

Bedeutung einer unabhaumlngigen europaumlischen Wettbewerbs-

behoumlrde die die Fusionskontrolle effektiv durchsetzt um den

Wettbewerb im Binnenmarkt zum Vorteil der europaumlischen

Verbraucherinnen und Verbraucher zu sichern

Um den erworbenen Wohlstand in Zukunft zu sichern und

gerecht zu verteilen muss Europa Antworten auf Herausfor-

derungen geben die wir im Bereich bdquoStabiles und soziales

Europaldquo behandeln Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr ein neues Fiskal-

paket wie beispielsweise eine neue Ausgaberegel koumlnnten in

schlechten Zeiten mehr Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch

wirken Um die Folgen von Wirtschaftskrisen besser abfe-

dern zu koumlnnen benoumltigt Europa einen Stabilisierungsfonds

der aumlhnlich einer Versicherung in guten Zeiten auf Grund-

lage einer Risikoklassifizierung Beitraumlge einnimmt und in

schlechten Zeiten auszahlt Zusaumltzlich kann ein integrierter

Eigenkapitalmarkt helfen die Auswirkungen von wirtschaftli-

chen Schwankungen zu mildern Effizientere Insolvenzregeln

koumlnnten der Schluumlssel fuumlr die weitere Integration der Kapi-

talmaumlrkte sein Ein zusaumltzlicher wichtiger sozialer Aspekt in

Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter In Aufsichts-

gremien kommt diese nur in Laumlndern mit einer verbindlichen

Quote voran Der Unterschied in den Erwerbsbiografen

zwischen den Geschlechtern schlaumlgt sich auch in den Ren-

tenluumlcken nieder die wir europaweit dokumentiert haben

Es gilt also europaweite Regelungen zu bestimmen um die

systematische Benachteiligung der Haumllfte der europaumlischen

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin |

akriwoluzkydiwde

302 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-2

ABSTRACT

bull Berechnungen am DIW Berlin zeigen dass im Stahlkonflikt

die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankuumlndi-

gungen houmlherer Zoumllle profitierten

bull Dagegen fallen bei Ankuumlndigungen von houmlheren Zoumlllen

zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in

den USA signifikant

bull Bei Zollankuumlndigungen fuumlr EU-Waren reagieren die Kurse

bisher nicht merklich

bull Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU aumlhn-

lich der Chinas koumlnnte Amerikas Aktienkurse treffen und

dadurch den US-Praumlsidenten von weiteren Zollerhoumlhungen

abhalten

Das globale Umfeld fuumlr die deutsche und europaumlische Wirt-schaft wird zunehmend rauer Neben der Unsicherheit uumlber den Brexit und der Abschwaumlchung der weltweiten Wachs-tumsdynamik duumlrften die von den USA ausgehenden Han-delsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturver-lauf wesentlich mitbestimmen

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht Zunaumlchst verhaumlngte sie Schutzzoumllle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaszlignahmen Danach verhaumlng-ten die USA Einfuhrzoumllle auf Stahl und Aluminium gegen-uumlber dem uumlberwiegenden Rest der Welt Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaszlignahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewaumlhlter amerikanischer Guumlter In einer dritten Runde fuumlhrte die US-Regierung mit der Begruumlndung die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht Zoumllle auf chinesische Importe ein Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaszlignahmen zum Schutz der heimischen Wirt-schaft Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschaumlrfung ab

Dafuumlr bahnt sich viertens eine Auseinandersetzung um den Export von europaumlischen Kraftfahrzeugen und Autotei-len in die USA an Aufgrund der wichtigen Rolle des Auto-mobilsektors in Europa wuumlrde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Laumlndern der Staatengemeinschaft und insbeson-dere in Deutschland die Exporte die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten Was koumlnnen Deutschland und die EU tun um dies zu verhindern

Hierfuumlr lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der juumlngs-ten Handelsauseinandersetzungen Eine Analyse der Aktien-renditen an Tagen an denen die Streitparteien houmlhere Zoumllle ankuumlndigten (oder einfuumlhrten) zeigt dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten1 Die Erhouml-hung der Stahl- und Aluminiumzoumllle durch die Vereinig-ten Staaten erhoumlhte die Renditen von US- Aktien im Durch-schnitt (Tabelle) Waumlhrend der Effekt fuumlr international agie-rende Groszligunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der groumlszligten Industrieunternehmen

1 Die in die Analyse einbezogenen Ankuumlndigungsdaten basieren auf Chad P Bown und Melina Kolb

(2019) Trumprsquos Trade War Timeline An Up-to-Date Guide Peterson Institute for International Economics

(online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechenVon Malte Rieth

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

300 DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-1

Europa steht vor einer Zerreiszligprobe Selten erschienen in

den vergangenen 70 Jahren die Risiken sowohl innerhalb

Europas als auch von auszligen so existentiell Die wirtschaft-

lichen Auswirkungen der Finanz- und Staatsschuldenkrise

sind immer noch in vielen europaumlischen Laumlndern zu spuumlren

kriselnde Banken eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und

steigende Divergenzen innerhalb Europas Ein zunehmender

Wettbewerb aus Asien und die protektionistische Handels-

politik des US-Praumlsidenten erhoumlhen den Druck zusaumltzlich

Die Krise Europas hat jedoch nicht nur eine wirtschaftliche

Dimension Hinzu kommt auch die soziale Polarisierung

demografisch erfaumlhrt der Kontinent eine massive Alterung

politisch ist der Populismus auf dem Vormarsch und beim

Schutz von Klima und Umwelt passiert in Europa und seinen

Mitgliedslaumlndern viel zu wenig Der Klimawandel findet

scheinbar ohne Gegenmaszlignahmen statt und veranlasst

einen Teil der Jugend zu den bdquoFridays for Futureldquo-Demons-

trationen Zusaumltzlich sieht sich Europa mit einer steigenden

Anzahl von Gefluumlchteten konfrontiert

Drei Ps sind die groumlszligten Risiken fuumlr Europa Populismus

Protektionismus und Paralyse Eine einfache Antwort auf

die Probleme Europas scheint ein Rezept aus dem 19 Jahr-

hundert zu sein der Ruumlckzug in nationale Abschottung

Viele Politikerinnen und Politiker missbrauchen Europa als

Suumlndenbock fuumlr die eigenen nationalen Fehler Nicht nur

die USA agieren zunehmend protektionistisch auch viele

Nationalstaaten in Europa versuchen ihre Unternehmen

durch eine nationale Industriestrategie durch Regulierung

oder wirtschaftspolitische Alleingaumlnge bei Energie Digitali-

sierung Migration oder Direktinvestitionen zu bevorteilen

Und viele dringend notwendige Reformprozesse haben sich

verlangsamt oder sind zum Stillstand gekommen So wird

insbesondere die Neuaufstellung der Waumlhrungsunion ndash wie

die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion kluumlgere

Regeln der Finanzpolitik oder eine Staumlrkung europaumlischer

Institutionen ndash verzoumlgert oder blockiert Doch trotz aller Risi-

ken und Herausforderungen sollte nicht uumlbersehen werden

dass Europa mit dem gemeinsamen Binnenmarkt und der

gemeinsamen Waumlhrung in den vergangenen 70 Jahren viel

zu Stabilitaumlt Wohlstand und Frieden beigetragen hat

Die Europawahl am 26 Mai ist eine groszlige Chance fuumlr eine

Neuorientierung Europas um die Erfolgsgeschichte Europa

weiterzuentwickeln Was muumlssen die Europaumlische Union und

ihre Mitgliedslaumlnder tun um Divergenz und Polarisierung zu

stoppen und ein weiteres Zusammenwachsen zu ermoumlgli-

chen Wie kann die gesamte EU sich wirtschaftlich stabili-

sieren und im globalen Wettbewerb mit China und den USA

erfolgreich bestehen Und wie kann Europa auch seiner

globalen Verantwortung endlich wieder gerecht werden

Dies sind zentrale Fragen die sich nach den Europawahlen

stellen Und einige der Fragen mit denen wir uns in diesem

Wochenbericht beschaumlftigen Dabei geht es uns nicht um

eine allumfassende Antwort fuumlr die Zukunft Europas In die-

sem Wochenbericht analysieren mehr als 20 Wissenschaft-

lerinnen und Wissenschaftler des DIW Berlin spezifische

Elemente einer Zukunftsvision und -strategie

Die 13 analysierten Herausforderungen gruppieren sich in

drei Bereiche Seit der Gruumlndung der damaligen Europauml-

ischen Wirtschaftsgemeinschaft stehen der gemeinsame

Binnenmarkt die Moumlglichkeit als Gemeinschaft vorteilhafte

Handelsbeziehungen zu unterhalten sowie die Foumlrderung

schwaumlcherer wirtschaftlicher Regionen im Mittelpunkt der

Politik Im Bereich bdquoWettbewerb und Konvergenzldquo zeigen

die Analysen am DIW Berlin dass Europa nur mit einem

geschlossenen Auftreten gegenuumlber den USA negative

Folgen der protektionistischen Handelspolitik des amerika-

nischen Praumlsidenten verhindern kann Des Weiteren wird

untersucht inwiefern ein bdquoPakt fuumlr Innovationldquo und eine

Europa muss sich auf seine Staumlrken konzentrierenVon Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky

301DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

Bevoumllkerung zu beenden Da Wissen und Bildung eine unab-

dingbare Voraussetzung fuumlr den Wohlstand Europas sind

sollten sich nach den europaumlischen Universitaumlten nun auch

die Schulen uumlber eine Bildungsplattform vernetzen um auf

neue Herausforderungen wie den digitalen Wandel schon

moumlglichst in einem fruumlhen Bildungsstadium zu reagieren

Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die unab-

haumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlignah-

men bereitstellen

Der dritte Bereich des Wochenberichts betrachtet die bdquoGlo-

bale Verantwortungldquo der sich die Laumlnder Europas gemein-

sam stellen muumlssen Dazu gehoumlren auch die Klimapolitik

und die Energieversorgung Um die Klimaziele zu erreichen

muss die Energiewirtschaft ausschlieszliglich auf erneuerbare

Energien setzen Dies ist technisch moumlglich und wirtschaft-

lich lohnend wenn die Marktbedingungen europaweit stim-

men Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissions-

intensiver Grundstoffe koumlnnte die CO2-Emissionen drastisch

senken ohne die Verlagerung der Industrie ins Ausland

befuumlrchten zu muumlssen Zu den globalen Herausforderungen

die Europa gemeinsam angehen muss gehoumlrt auch der

Migrationsdruck aus Afrika Forscher am DIW Berlin argu-

mentieren dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit sei-

nem bdquoMarshall-Plan mit Afrikaldquo viel zu wenig ausrichten kann

ein Zusammenschluss der Laumlnder Europas aber durchaus

Erfolg haben koumlnnte

Unsere Antwort auf die Frage welche Richtung Europa

grundsaumltzlich einschlagen soll ist Wir brauchen in wichtigen

Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumln-

nen ndash mit einer weitsichtigen Strategie in der sich Europa

auf seine Staumlrken konzentriert

Industriepolitik die die heterogenen regionalen Vorausset-

zungen fuumlr Industrien staumlrker beruumlcksichtigen dazu beitra-

gen dass die Regionen Europas wirtschaftlich nicht weiter

divergieren und Europa im globalen Wandel der Industrie

besser bestehen kann Ein weiterer Beitrag unterstreicht die

Bedeutung einer unabhaumlngigen europaumlischen Wettbewerbs-

behoumlrde die die Fusionskontrolle effektiv durchsetzt um den

Wettbewerb im Binnenmarkt zum Vorteil der europaumlischen

Verbraucherinnen und Verbraucher zu sichern

Um den erworbenen Wohlstand in Zukunft zu sichern und

gerecht zu verteilen muss Europa Antworten auf Herausfor-

derungen geben die wir im Bereich bdquoStabiles und soziales

Europaldquo behandeln Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr ein neues Fiskal-

paket wie beispielsweise eine neue Ausgaberegel koumlnnten in

schlechten Zeiten mehr Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch

wirken Um die Folgen von Wirtschaftskrisen besser abfe-

dern zu koumlnnen benoumltigt Europa einen Stabilisierungsfonds

der aumlhnlich einer Versicherung in guten Zeiten auf Grund-

lage einer Risikoklassifizierung Beitraumlge einnimmt und in

schlechten Zeiten auszahlt Zusaumltzlich kann ein integrierter

Eigenkapitalmarkt helfen die Auswirkungen von wirtschaftli-

chen Schwankungen zu mildern Effizientere Insolvenzregeln

koumlnnten der Schluumlssel fuumlr die weitere Integration der Kapi-

talmaumlrkte sein Ein zusaumltzlicher wichtiger sozialer Aspekt in

Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter In Aufsichts-

gremien kommt diese nur in Laumlndern mit einer verbindlichen

Quote voran Der Unterschied in den Erwerbsbiografen

zwischen den Geschlechtern schlaumlgt sich auch in den Ren-

tenluumlcken nieder die wir europaweit dokumentiert haben

Es gilt also europaweite Regelungen zu bestimmen um die

systematische Benachteiligung der Haumllfte der europaumlischen

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin |

akriwoluzkydiwde

302 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-2

ABSTRACT

bull Berechnungen am DIW Berlin zeigen dass im Stahlkonflikt

die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankuumlndi-

gungen houmlherer Zoumllle profitierten

bull Dagegen fallen bei Ankuumlndigungen von houmlheren Zoumlllen

zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in

den USA signifikant

bull Bei Zollankuumlndigungen fuumlr EU-Waren reagieren die Kurse

bisher nicht merklich

bull Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU aumlhn-

lich der Chinas koumlnnte Amerikas Aktienkurse treffen und

dadurch den US-Praumlsidenten von weiteren Zollerhoumlhungen

abhalten

Das globale Umfeld fuumlr die deutsche und europaumlische Wirt-schaft wird zunehmend rauer Neben der Unsicherheit uumlber den Brexit und der Abschwaumlchung der weltweiten Wachs-tumsdynamik duumlrften die von den USA ausgehenden Han-delsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturver-lauf wesentlich mitbestimmen

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht Zunaumlchst verhaumlngte sie Schutzzoumllle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaszlignahmen Danach verhaumlng-ten die USA Einfuhrzoumllle auf Stahl und Aluminium gegen-uumlber dem uumlberwiegenden Rest der Welt Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaszlignahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewaumlhlter amerikanischer Guumlter In einer dritten Runde fuumlhrte die US-Regierung mit der Begruumlndung die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht Zoumllle auf chinesische Importe ein Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaszlignahmen zum Schutz der heimischen Wirt-schaft Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschaumlrfung ab

Dafuumlr bahnt sich viertens eine Auseinandersetzung um den Export von europaumlischen Kraftfahrzeugen und Autotei-len in die USA an Aufgrund der wichtigen Rolle des Auto-mobilsektors in Europa wuumlrde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Laumlndern der Staatengemeinschaft und insbeson-dere in Deutschland die Exporte die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten Was koumlnnen Deutschland und die EU tun um dies zu verhindern

Hierfuumlr lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der juumlngs-ten Handelsauseinandersetzungen Eine Analyse der Aktien-renditen an Tagen an denen die Streitparteien houmlhere Zoumllle ankuumlndigten (oder einfuumlhrten) zeigt dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten1 Die Erhouml-hung der Stahl- und Aluminiumzoumllle durch die Vereinig-ten Staaten erhoumlhte die Renditen von US- Aktien im Durch-schnitt (Tabelle) Waumlhrend der Effekt fuumlr international agie-rende Groszligunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der groumlszligten Industrieunternehmen

1 Die in die Analyse einbezogenen Ankuumlndigungsdaten basieren auf Chad P Bown und Melina Kolb

(2019) Trumprsquos Trade War Timeline An Up-to-Date Guide Peterson Institute for International Economics

(online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechenVon Malte Rieth

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

301DIW Wochenbericht Nr 182019

EDITORIAL

Bevoumllkerung zu beenden Da Wissen und Bildung eine unab-

dingbare Voraussetzung fuumlr den Wohlstand Europas sind

sollten sich nach den europaumlischen Universitaumlten nun auch

die Schulen uumlber eine Bildungsplattform vernetzen um auf

neue Herausforderungen wie den digitalen Wandel schon

moumlglichst in einem fruumlhen Bildungsstadium zu reagieren

Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die unab-

haumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlignah-

men bereitstellen

Der dritte Bereich des Wochenberichts betrachtet die bdquoGlo-

bale Verantwortungldquo der sich die Laumlnder Europas gemein-

sam stellen muumlssen Dazu gehoumlren auch die Klimapolitik

und die Energieversorgung Um die Klimaziele zu erreichen

muss die Energiewirtschaft ausschlieszliglich auf erneuerbare

Energien setzen Dies ist technisch moumlglich und wirtschaft-

lich lohnend wenn die Marktbedingungen europaweit stim-

men Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissions-

intensiver Grundstoffe koumlnnte die CO2-Emissionen drastisch

senken ohne die Verlagerung der Industrie ins Ausland

befuumlrchten zu muumlssen Zu den globalen Herausforderungen

die Europa gemeinsam angehen muss gehoumlrt auch der

Migrationsdruck aus Afrika Forscher am DIW Berlin argu-

mentieren dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit sei-

nem bdquoMarshall-Plan mit Afrikaldquo viel zu wenig ausrichten kann

ein Zusammenschluss der Laumlnder Europas aber durchaus

Erfolg haben koumlnnte

Unsere Antwort auf die Frage welche Richtung Europa

grundsaumltzlich einschlagen soll ist Wir brauchen in wichtigen

Bereichen mehr Europa um schlagkraumlftig agieren zu koumln-

nen ndash mit einer weitsichtigen Strategie in der sich Europa

auf seine Staumlrken konzentriert

Industriepolitik die die heterogenen regionalen Vorausset-

zungen fuumlr Industrien staumlrker beruumlcksichtigen dazu beitra-

gen dass die Regionen Europas wirtschaftlich nicht weiter

divergieren und Europa im globalen Wandel der Industrie

besser bestehen kann Ein weiterer Beitrag unterstreicht die

Bedeutung einer unabhaumlngigen europaumlischen Wettbewerbs-

behoumlrde die die Fusionskontrolle effektiv durchsetzt um den

Wettbewerb im Binnenmarkt zum Vorteil der europaumlischen

Verbraucherinnen und Verbraucher zu sichern

Um den erworbenen Wohlstand in Zukunft zu sichern und

gerecht zu verteilen muss Europa Antworten auf Herausfor-

derungen geben die wir im Bereich bdquoStabiles und soziales

Europaldquo behandeln Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr ein neues Fiskal-

paket wie beispielsweise eine neue Ausgaberegel koumlnnten in

schlechten Zeiten mehr Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch

wirken Um die Folgen von Wirtschaftskrisen besser abfe-

dern zu koumlnnen benoumltigt Europa einen Stabilisierungsfonds

der aumlhnlich einer Versicherung in guten Zeiten auf Grund-

lage einer Risikoklassifizierung Beitraumlge einnimmt und in

schlechten Zeiten auszahlt Zusaumltzlich kann ein integrierter

Eigenkapitalmarkt helfen die Auswirkungen von wirtschaftli-

chen Schwankungen zu mildern Effizientere Insolvenzregeln

koumlnnten der Schluumlssel fuumlr die weitere Integration der Kapi-

talmaumlrkte sein Ein zusaumltzlicher wichtiger sozialer Aspekt in

Europa ist die Gleichstellung der Geschlechter In Aufsichts-

gremien kommt diese nur in Laumlndern mit einer verbindlichen

Quote voran Der Unterschied in den Erwerbsbiografen

zwischen den Geschlechtern schlaumlgt sich auch in den Ren-

tenluumlcken nieder die wir europaweit dokumentiert haben

Es gilt also europaweite Regelungen zu bestimmen um die

systematische Benachteiligung der Haumllfte der europaumlischen

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin |

akriwoluzkydiwde

302 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-2

ABSTRACT

bull Berechnungen am DIW Berlin zeigen dass im Stahlkonflikt

die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankuumlndi-

gungen houmlherer Zoumllle profitierten

bull Dagegen fallen bei Ankuumlndigungen von houmlheren Zoumlllen

zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in

den USA signifikant

bull Bei Zollankuumlndigungen fuumlr EU-Waren reagieren die Kurse

bisher nicht merklich

bull Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU aumlhn-

lich der Chinas koumlnnte Amerikas Aktienkurse treffen und

dadurch den US-Praumlsidenten von weiteren Zollerhoumlhungen

abhalten

Das globale Umfeld fuumlr die deutsche und europaumlische Wirt-schaft wird zunehmend rauer Neben der Unsicherheit uumlber den Brexit und der Abschwaumlchung der weltweiten Wachs-tumsdynamik duumlrften die von den USA ausgehenden Han-delsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturver-lauf wesentlich mitbestimmen

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht Zunaumlchst verhaumlngte sie Schutzzoumllle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaszlignahmen Danach verhaumlng-ten die USA Einfuhrzoumllle auf Stahl und Aluminium gegen-uumlber dem uumlberwiegenden Rest der Welt Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaszlignahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewaumlhlter amerikanischer Guumlter In einer dritten Runde fuumlhrte die US-Regierung mit der Begruumlndung die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht Zoumllle auf chinesische Importe ein Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaszlignahmen zum Schutz der heimischen Wirt-schaft Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschaumlrfung ab

Dafuumlr bahnt sich viertens eine Auseinandersetzung um den Export von europaumlischen Kraftfahrzeugen und Autotei-len in die USA an Aufgrund der wichtigen Rolle des Auto-mobilsektors in Europa wuumlrde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Laumlndern der Staatengemeinschaft und insbeson-dere in Deutschland die Exporte die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten Was koumlnnen Deutschland und die EU tun um dies zu verhindern

Hierfuumlr lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der juumlngs-ten Handelsauseinandersetzungen Eine Analyse der Aktien-renditen an Tagen an denen die Streitparteien houmlhere Zoumllle ankuumlndigten (oder einfuumlhrten) zeigt dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten1 Die Erhouml-hung der Stahl- und Aluminiumzoumllle durch die Vereinig-ten Staaten erhoumlhte die Renditen von US- Aktien im Durch-schnitt (Tabelle) Waumlhrend der Effekt fuumlr international agie-rende Groszligunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der groumlszligten Industrieunternehmen

1 Die in die Analyse einbezogenen Ankuumlndigungsdaten basieren auf Chad P Bown und Melina Kolb

(2019) Trumprsquos Trade War Timeline An Up-to-Date Guide Peterson Institute for International Economics

(online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechenVon Malte Rieth

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

302 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-2

ABSTRACT

bull Berechnungen am DIW Berlin zeigen dass im Stahlkonflikt

die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankuumlndi-

gungen houmlherer Zoumllle profitierten

bull Dagegen fallen bei Ankuumlndigungen von houmlheren Zoumlllen

zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in

den USA signifikant

bull Bei Zollankuumlndigungen fuumlr EU-Waren reagieren die Kurse

bisher nicht merklich

bull Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU aumlhn-

lich der Chinas koumlnnte Amerikas Aktienkurse treffen und

dadurch den US-Praumlsidenten von weiteren Zollerhoumlhungen

abhalten

Das globale Umfeld fuumlr die deutsche und europaumlische Wirt-schaft wird zunehmend rauer Neben der Unsicherheit uumlber den Brexit und der Abschwaumlchung der weltweiten Wachs-tumsdynamik duumlrften die von den USA ausgehenden Han-delsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturver-lauf wesentlich mitbestimmen

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht Zunaumlchst verhaumlngte sie Schutzzoumllle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaszlignahmen Danach verhaumlng-ten die USA Einfuhrzoumllle auf Stahl und Aluminium gegen-uumlber dem uumlberwiegenden Rest der Welt Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaszlignahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewaumlhlter amerikanischer Guumlter In einer dritten Runde fuumlhrte die US-Regierung mit der Begruumlndung die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht Zoumllle auf chinesische Importe ein Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaszlignahmen zum Schutz der heimischen Wirt-schaft Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschaumlrfung ab

Dafuumlr bahnt sich viertens eine Auseinandersetzung um den Export von europaumlischen Kraftfahrzeugen und Autotei-len in die USA an Aufgrund der wichtigen Rolle des Auto-mobilsektors in Europa wuumlrde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Laumlndern der Staatengemeinschaft und insbeson-dere in Deutschland die Exporte die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten Was koumlnnen Deutschland und die EU tun um dies zu verhindern

Hierfuumlr lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der juumlngs-ten Handelsauseinandersetzungen Eine Analyse der Aktien-renditen an Tagen an denen die Streitparteien houmlhere Zoumllle ankuumlndigten (oder einfuumlhrten) zeigt dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten1 Die Erhouml-hung der Stahl- und Aluminiumzoumllle durch die Vereinig-ten Staaten erhoumlhte die Renditen von US- Aktien im Durch-schnitt (Tabelle) Waumlhrend der Effekt fuumlr international agie-rende Groszligunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der groumlszligten Industrieunternehmen

1 Die in die Analyse einbezogenen Ankuumlndigungsdaten basieren auf Chad P Bown und Melina Kolb

(2019) Trumprsquos Trade War Timeline An Up-to-Date Guide Peterson Institute for International Economics

(online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechenVon Malte Rieth

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

303DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Spalte 1) scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orien-tierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den brei-ten Index Russell 2000 Spalte 2) Fuumlr europaumlische Firmen werden die Maszlignahmen weitgehend negativ eingeschaumltzt wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spal-ten 3 bis 5) Moumlglicherweise wird durch die US-Zoumllle eine Umverteilung der Gewinne von auslaumlndischer Produzen-tenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von houmlheren Zoll-einnahmen erwartet

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich fuumlr den Konflikt zwi-schen den USA und China Ankuumlndigungen die eine Erhouml-hung des bilateralen Zollniveaus implizierten sorgten fuumlr Kursruumlckgaumlnge in allen betrachteten Laumlndern Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6) Im Gegensatz zum Stahl-konflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen ndash sowohl von international taumltigen als auch von kleineren Unternehmen

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschaumltzt als der Stahlkonflikt Das mag zum einen an der Groumlszlige des Konflikts liegen zum anderen an der Dramaturgie In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Akti-onen des anderen mit Gegenmaszlignahmen reagieren Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unter-nehmensgewinne werden daher negativ fuumlr alle Seiten einge-schaumltzt Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmaumlrkte fuumlr die USA vorteilhaft Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Laumlndern gegenuumlber die wenig konzertiert und ndash wenn uumlber-haupt ndash nur geringfuumlgig auf die US-Schutzzoumllle reagieren

Schaut man sich schlieszliglich an wie die Auseinanderset-zung zwischen den USA und der EU bisher wirkte so ergibt sich (noch) kein klares Bild Die Koeffizienten sind

alle insignifikant Die Schaumltzergebnisse aus den anderen Konflikten koumlnnen fuumlr die EU eine Lehre sein Es gelang ihr bisher nicht so kraftvoll und geschlossen gegenuumlber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung Schafft sie es kuumlnftig hingegen mit einer Stimme zu sprechen duumlrfte dies ndash wie im Falle Chinas ndash auch die US-Aktienmaumlrkte nicht unbeeindruckt lassen Dies wiederum koumlnnte sogar die Mei-nung eines US-Praumlsidenten aumlndern der die Houmlhe der US-Lei-tindizes zum Barometer seines Erfolgs erklaumlrt hat Vielleicht war es mehr als Zufall dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des ver-gangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalations-stufen gegenuumlber China ankuumlndigte Viel spricht auf jeden Fall dafuumlr dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert

Tabelle

Wie die Aktienindizes auf Ankuumlndigungen von Zollerhoumlhungen reagiertenVeraumlnderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6

Abhaumlngige Variablen

Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China

Indikatorvariablen

Houmlhere US-Stahlzoumllle 0237 0302 minus0174 minus0127 minus0388 0247

Zollniveau USA und China steigt minus0319 minus0310 minus0086 minus0091 minus0331 minus0589

Zollniveau USA und EU steigt minus0014 0012 minus0079 0008 0109 minus0176

Anmerkung Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschaumltzt Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante n = 493Signifikanzniveau p lt 01 p lt 005

Quelle Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg

Lesebeispiel Als die USA oder China houmlhere Zoumllle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankuumlndigten fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 03 Prozent Spalten 1 und 2) als auch in China (um 06 Prozent Spalte 6)

copy DIW Berlin 2019

JEL F13 F65 G14

Keywords Trade policy USA EU China tariffs stock returns event study

Malte Rieth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Makrooumlkonomie

am DIW Berlin | mriethdiwde

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

304 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

ABSTRACT

bull Marktkonzentration kann oft zu unnoumltig hohen Preisen und

niedriger Innovation fuumlhren

bull Eine effiziente europaumlische Fusionskontrolle hat positive

Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivitaumlt

bull In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die

Fusionskontrolle gerade in digitalen Maumlrkten noch stringen-

ter durchgesetzt werden

bull Bestrebungen die Fusionskontrolle zu schwaumlchen muss

entschieden entgegengetreten werden

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle Sie ist der einzige Bereich in dem die Durchsetzung der Wett-bewerbsregel im Voraus stattfindet denn alle groszligen Zusam-menschluumlsse muumlssen zuerst von der Kommission freigege-ben werden Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen fuumlr die anderen Bereiche des Kartellrechts Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden kann dies die Kontrolle von missbraumluchlichen Verhaltens-weisen in der Zukunft erschweren

Obwohl viele Stimmen die Qualitaumlt und die Unabhaumlngig-keit der europaumlischen Wettbewerbsordnung und Institu-tionen als Erfolg feiern1 sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden Einige halten die Fusionskontrolle fuumlr zu aggressiv Zusammen-schluumlsse seien meistens wettbewerbsfoumlrdernd wuumlrden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europauml-ischen Groszligunternehmen erlauben global wettbewerbs-faumlhig zu bleiben Wettbewerbsbehoumlrden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nati-onaler beziehungsweise europaumlischer Champions einfacher erlauben Besonders heftig haben verschiedene deutsche und franzoumlsische Politikerinnen und Politiker sowie meh-rere Industrie unternehmen kritisiert dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Fruumlhjahr 2019 untersagt wurde

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle waumlre einer der Hauptgruumlnde fuumlr die steigende Konzentra-tion in vielen Maumlrkten2 Die Wettbewerbsbehoumlrden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen Die erlaubten Uumlbernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oft-mals als beispielhafter Fehler bezeichnet

Fragt sich inwiefern diese Vorwuumlrfe jeweils gerechtfertigt sind Dass die EU-Kommission besonders interventionis-tisch vorgeht ist tatsaumlchlich nicht zu belegen Sie hat zwi-schen 1990 und 2014 genau 5 169 Fusionen gepruumlft Lediglich 19 wurden nicht genehmigt fuumlnf weitere wurden von den

1 Vgl Germaacuten Gutieacuterrez und Thomas Philippon (2018) How EU markets became more competitive than

US markets a study of institutional drift National Bureau of Economic Research Working Papers 24700

2 Vgl Gutieacuterrez und Philippon (2018) a a O

Seit dem Gruumlndungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbs-politik einer der Eckpfeiler der Europaumlischen Union Die Gruumlndungsmitgliedstaaten waren der Auffassung dass die Autoritaumlt in Wettbewerbsfragen zum groszligen Teil den euro-paumlischen Organen uumlberlassen werden muumlsste da der funk-tionierende Wettbewerb fuumlr die Entstehung eines europauml-ischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde Um diese Ziele zu unterstuumltzen wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europaumlischen Kommission eine unver-gleichbar starke Unabhaumlngigkeit und Durchsetzungsbefug-nis in diesem Bereich eingeraumlumt Obwohl die 28 EU-Mit-gliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehoumlrden ndash etwa das Bundeskartellamt in Deutschland ndash haben ist die EU allein fuumlr gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zustaumln-dig Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusam-menschluumlsse zwischen Unternehmen ndash auch wenn sie nicht europaumlisch sind ndash blockieren oder umgestalten hohe Stra-fen fuumlr Marktmissbraumluche verhaumlngen die Kartellierung von Maumlrkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewaumlhrte Bei-hilfe verbieten wenn diese die europaumlischen Verbraucherin-nen und Verbraucher schaumldigen

Europaumlische Fusionskontrolle Lieber mehr als wenigerVon Tomaso Duso

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

305DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Unternehmen selbst nach einer langen Pruumlfung zuruumlckge-zogen die Fusion wurde quasi untersagt Das macht weni-ger als 05 Prozent aller Faumllle aus In 239 Faumlllen (46 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaszlignahme in der ersten Pruuml-fungsphase und in 104 Faumlllen (zwei Prozent) in der vertief-ten zweiten Pruumlfungsphase verhaumlngt (Abbildung)3

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin dass die Marktkon-zentration nicht nur in den USA und Asien sondern auch in Europa gewachsen ist4 und dass die Aufschlaumlge und Gewinne von Unternehmen in europaumlischen Laumlndern deutlich gestie-gen sind wenngleich weniger als in den USA5

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergange-nen zehn Jahren zeigen dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidun-gen bei der Durchfuumlhrung der Fusionskontrolle getroffen hat6 Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschluumlsse genehmigt waumlhrend sie andere unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaszlignahmen ver-haumlngte Solche Fehlentscheidungen gab es besonders haumlufig bei Fusionen bei denen Unternehmen aus kleinen europauml-ischen Laumlndern betroffen waren Anfang der 2000er Jahre hat der Europaumlische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert da die oumlkonomische Beweisfuumlhrung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war7 Auch deswegen wurde die europaumlische Fusionskontrolle 2004 einer umfas-senden Reform unterzogen Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt dass die Kommission danach weni-ger Fehlentscheidungen traf Daruumlber hinaus wurde festge-stellt und in weiteren Studien bekraumlftigt dass Fusionsver-bote sowie Abhilfemaszlignahmen ndash insbesondere in der ers-ten Pruumlfungsphase ndash etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukuumlnftige Fusionen ausuumlbten8 Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europaumli-sche Fusionskontrolle und zeigt welche die Hauptdetermi-nanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich uumlber die Zeit entwickelt haben9

Diese umfassende Forschung zeigt dass die Fusionskon-trolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die

3 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2018) EU Merger Control Database 1990ndash2014

DIW Data Documentation 95 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen

in diesem Bericht sofern ncht anders vermerkt)

4 Vgl OECD (2018) Market concentration DAFCOMPWD 46

5 Vgl Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018) Global market power National Bureau of Economic Re-

search Working Papers 24768

6 Tomaso Duso Damien J Neven und Lars-Hendrik Roumlller (2007) The Political Economy of European

Merger Control Evidence Using Stock Market Data The Journal of Law and Economics 50 (3) 455ndash489

7 Das war der Fall bei den Fusionen von AirtoursFirst Choice SchneiderLegrand sowie Tetra Laval

Sidel

8 Vgl Tomaso Duso Klaus Gugler und Florian Szuumlcs (2013) An Empirical Assessment of the 2004 EU

Merger Policy Reform The Economic Journal 123 572 F596ndashF619 Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2014)

Die Oumlkonomisierung der Europaumlischen Fusionskontrolle eine Evaluierung DIW Wochenbericht Nr 29

699ndash704 (online verfuumlgbar) und Joseph Clougherty et al (2016) Effective European Antitrust Does EC

Merger Policy Involve Deterrence Economic Inquiry 54(4) 1884ndash1903

9 Vgl Pauline Affeldt Tomaso Duso und Florian Szuumlcs (2019) Twenty-five years European merger cont-

rol DIW Discussion Paper 1797 (online verfuumlgbar)

Produktivitaumlt hat aber auch noch verbesserungswuumlrdig ist10 Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken sollte die Kommission bedenkli-che Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase verhaumlngen Das gilt besonders in digitalen Maumlrkten wo hunderte Uumlber-nahmen von kleinen Start-ups durch groszlige Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Uumlberpruumlfung durch-gegangen sind In diesem Sinne scheinen die juumlngsten Vor-schlaumlge der deutschen und franzoumlsischen Wirtschaftsminis-ter die die Unabhaumlngigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europaumlische Fusionskontrolle schwaumlchen wollen alles andere als zielfuumlhrend

10 Vgl auch Tomaso Duso (2014) Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitaumltswachstum

merklich DIW Wochenbericht Nr 29 687ndash697 (online verfuumlgbar) Paolo Buccirossi et al (2013) Competi-

tion Policy and Productivity Growth An Empirical Assessment The Review of Economics and Statistics

95(4) 1324ndash1336

Abbildung

Europaumlische Fusionskontrolle seit 1990Anzahl der gepruumlften Fusionen (linke Achse) Anzahl der abgelehnten oder mit Abhilfemaszlignahmen belegten Fusionen (rechte Achse)

0

50

100

150

200

300

400

350

250

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 20142010 2012

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Gepruumlfte Fusionen (linke Achse)

Abhilfemaszlignahmen in der ersten Phase

Abhilfemaszlignahmen in der zweiten Phase

Blockierte und zuruumlckgezogene Fusionen

Quelle EU-Kommission eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Die Anzahl der abgelehnten oder zuruumlckgezogenen Fusionen ist verschwindend gering

JEL L40 K21 G34

Keywords Merger Control Competition Policy European Commission

Tomaso Duso ist Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am

DIW Berlin | tdusodiwde

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

306 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Wirtschaftskrise 20082009 festgestellt3 Anfang 2014 entwi-ckelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Pro-grammpaket fuumlr eine industrielle Renaissance Europas Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschoumlpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen4

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe fuumlr die einzel-nen Regionen in Europa Gibt es Regionen die ein hohes Potential fuumlr eine verstaumlrkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion fuumlr jede Region abzuschaumltzen wird ein Regressionsmodell verwen-det das auf einer logistischen Trendfunktion basiert Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nati-onale Rahmenbedingungen wie uumlberregionale Infrastruk-tur nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionaloumlkonomische Faktoren wie geografi-sche Lage und Bevoumllkerungsdichte bestimmt5

Die Ergebnisse bestaumltigen eine groszlige Bedeutung regional-oumlkonomischer Einfluumlsse Je laumlnger die Transportwege zur Kernzone der EU ndash diese reicht von Oberitalien uumlber die Rheinschiene bis nach Suumldengland ndash sind umso geringer faumlllt der erwartete Industrieanteil aus Gleichzeitig zeigt sich dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt Statistisch nachweisbar sind daruumlber hinaus laumlnderspezifische institutionelle Einfluumlsse

Betrachtet man die 20 europaumlischen Regionen in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich houmlher ist als der tat-saumlchliche Industrieanteil lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung) Beim ers-ten und am staumlrksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen Hierzu zaumlhlen in erster Linie Hauptstadtregionen Die houmlchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag Bratislava Budapest Rom und Stockholm auf Aber auch

3 Philippe Aghion Julian Boulanger und Elie Cohen (2011) Rethinking industrial policy Bruegel policy

brief 4 sowie Joseph E Stiglitz Justin Yifu und Celestin Monga (2013) The rejuvenation of industrial po-

licy Policy Research Working Paper Nr 6628

4 European Commission (2014) For a European Industrial Renaissance Bruumlssel 14 final

5 Martin Gornig und Axel Werwatz (2019) The potential for industrial activity among EU regions ndash an

empirical analysis at the NUTS2 level FORLand Working paper Humboldt-University (im Erscheinen)

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Euro-paumlischen Union wird aktuell wieder besonders betont1 Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tra-gen dazu bei dass gerade groszlige Unternehmen die in den amerikanischen und asiatischen Massenmaumlrkten entstehen Wettbewerbsvorteile besitzen Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen dass China und die USA kuumlnftig ihre marktbeherr-schende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen koumlnnten wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen2 Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und

1 European Political Strategy Centre (2019) EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom Finding a new

balance between openess and protection

2 Bundesministerium fuumlr Wirtschaft und Energie (2019) Nationale Industriestrategie 2030 Strategische

Leitlinien fuumlr eine deutsche und europaumlische Industriepolitik

ABSTRACT

bull Die Digitalisierung fuumlhrt zu einem Wandel der Industrie und

zu globalen Herausforderungen

bull Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhoumlhung des

Industrieanteils an der Wertschoumlpfung begegnen

bull Analysen des DIW Berlin zeigen dass ausgewaumlhlte Regio-

nen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wich-

tige Rolle spielen koumlnnen

bull Dazu gehoumlren Ballungsraumlume aufgrund hoher Anzahl an

qualifizierten potentiellen Arbeitskraumlften Tourismusregio-

nen aufgrund guter Infrastruktur sowie laumlndliche Regionen

in Suumldosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknuumlpfenVon Martin Gornig und Axel Werwatz

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

307DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

andere stark entwickelte Regionen wie Malmouml Surrey Kent Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrie-anteil deutlich In der Region Malmouml liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsaumlchlich erreichte von zehn Prozent

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf Hierzu zaumlhlen insbesondere sehr bekannte suumldeuropaumlische Regionen wie die Cocircte drsquoAzur die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle drsquoAosta In diese Kategorie der Tourismusregionen faumlllt auch Mecklenburg-Vorpommern Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwoumllf Prozent aus Unter den nationalen und regionaloumlkonomischen Rahmendaten waumlren eigentlich 18 Prozent zu erwarten

Zum dritten Typus zaumlhlen Regionen in Suumldosteuropa Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen auszligerhalb der Haupt-staumldte sehr groszlig Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden suumldwestlich von Sofia in Bulgarien und drei laumlndliche Regi-onen in Rumaumlnien

Da diese drei Typen sehr heterogen sind ist nicht zu erwar-ten dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maszlignahmen zu errei-chen ist So wichtig eine Aufstockung europaumlischer Techno-logieprogramme die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind kommt es auch darauf an eine industriepolitische Strategie zu entwickeln die die Verknuumlpfung mit den unterschied-lichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen Humankapital Kostenvorteile) erlaubt

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Haupt-stadtregionen koumlnnte durch EU-Forschungsprogramme wei-ter gestaumlrkt und intensiver auch fuumlr moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden6 Dazu muumlsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flaumlchenkon-kurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen bes-ser geloumlst werden als heute

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attrakti-vitaumlt der Tourismusregionen muss auch kuumlnftig erhalten wer-den Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eroumlffnen sich dennoch neue Moumlglichkeiten sau-bere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attrakti-ven Tourismuszentren zu entwickeln Diese Regionen besit-zen in der Regel schon guumlnstige Verkehrsinfrastrukturen Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskraumlfte aus dem Wachstumseli-xier moderner Industrie

Der Fall laumlndlicher Regionen in Suumldosteuropa auszligerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin wie

6 Martin Gornig et al (2018) Industrie in der Stadt Wachstumsmotor mit Zukunft DIW Wochenbericht

Nr 47 (online verfuumlgbar abgerufen am 11 April 2019)

wichtig Infrastrukturanbindung fuumlr die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschoumlpfungsketten ist Diese Regionen koumlnnten ihre Kostenvorteile die gerade in man-chen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden nur ausspielen wenn entsprechend massiv in die Infrastruktu-ren investiert wird

Abbildung

20 Regionen mit auffaumlllig geringem IndustrieanteilAbweichung des tatsaumlchlichen vom erwarteten Industrieanteil in Prozent

minus71

minus86

minus54

Typ 1 Groszligstadtregionen

Typ 2Tourismusregionen

Typ 3 Regionen in Suumldosteuropa

minus64minus81

minus88

minus146

minus102

minus71

minus84

minus62

minus82

minus85

minus74minus77

minus59minus54

minus65

minus62minus68

Quelle Eurostat eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Vor allem einige Hauptstadtregionen sowie Tourismuszentren und laumlndliche Regio-nen in Suumldosteuropa bleiben beim Industrieanteil hinter den Erwartungen zuruumlck

JEL L52 R11 O52

Keywords Industrial policy regional growth Europe

Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertretender

Leiter der Abteilung Unternehmen und Maumlrkte am DIW Berlin |

mgornigdiwde

Axel Werwatz ist Professor fuumlr Oumlkonometrie an der TU Berlin und

DIW Research Fellow

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

308 DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Drei Kriterien sind fuumlr die Standortwahl vieler Investoren Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend die Qua-litaumlt staatlicher Institutionen also etwa die Effizienz der Ver-waltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durch-setzung vertraglicher Anspruumlche die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung Innovatoren fuumlgen dem noch die Qualitaumlt des Innovationssystems hinzu1 Fuumlr innovative im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zuumlgi-ger Markteintritt entscheidend vor allem wenn es sich um bdquothe winner-takes-the-mostldquo-Maumlrkte handelt Zu viel steht fuumlr sie auf dem Spiel als dass sie bereit waumlren zusaumltzlich Zeit Aufwand und Geld zur Finanzierung von buumlrokrati-schen Aktivitaumlten zu investieren um dann dennoch zu spaumlt in den Markt einzutreten2

Innerhalb der EU gibt es was die institutionellen Rahmen-bedingungen fuumlr die Gruumlndung den Betrieb und das Schlie-szligen eines Unternehmens angeht einen unuumlbersichtlichen Flickenteppich Ebenso unterschiedlich ist die Qualitaumlt der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme So macht der bdquoEase of Doing Businessldquo-Index der Weltbank deutlich dass die skandinavischen und baltischen Laumlnder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben gefolgt von den zentraleuropaumlischen Laumlndern wie Frank-reich Deutschland Oumlsterreich oder Polen Manche Laumlnder Spanien zum Beispiel haben es zuletzt geschafft dieses Umfeld signifikant zu verbessern Dagegen sind die staat-lichen Institutionen in anderen Laumlndern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualitaumlt3

Auch bei den Rahmenbedingungen fuumlr Innovationsaktivi-taumlten von Unternehmen4 gibt es ein Nord-Suumld-Gefaumllle und

1 Neben diesen Kriterien gibt es natuumlrlich noch weitere Merkmale etwa die Regulierung auf den Ar-

beitsmaumlrkten die die Standortwahl auch beeinflussen

2 Benedikt Herrmann und Alexander S Kritikos (2013) Growing out of the Crisis Hidden Assets to Gre-

ecersquos Transition to an Innovation Economy IZA Journal of European Labor Studies 214

3 Ein Beispiel In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Anspruumlche durchschnitt-

lich mehr als vier Jahre auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren uumlber drei Jahre und ver-

schlingt im Schnitt Kosten in Houmlhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs In Litauen braucht man fuumlr

einen solchen Schritt nur ein Jahr Siehe World Bank (2019) Ease of Doing Business (online verfuumlgbar

abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders angege-

ben)

4 Gemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index dem European Innovation Score-

board oder dem fuumlr wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommis-

sion Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) zur Wissensgenerie-

rung oder um andere Rahmenbedingungen fuumlr Innovationen

ABSTRACT

bull Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel

der EU dafuumlr braucht es Innovationen und Investitionen in

oumlkonomisch schwaumlcheren Regionen

bull Regulierungen und Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen

unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitglied-

staaten und sorgen fuumlr Wohlstandsgefaumllle

bull bdquoPakt fuumlr Innovationenldquo Strukturfonds werden auf Innovati-

onen fokussiert der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umset-

zung entsprechender Strukturreformen gewaumlhrt

bull Dies fuumlhrt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen

und unterstuumltzt Konvergenz bei Wachstum

bdquoPakt fuumlr Innovationldquo foumlrdert Konvergenz in EuropaVon Alexander S Kritikos

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

309DIW Wochenbericht Nr 182019

WETTBEWERBSFAumlHIGKEIT UND KONVERGENZ

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nati-onalen Regierungen beduumlrfen um eine gemeinsame Refor-magenda mit allen reformbereiten Regierungen zu verein-baren Laumlnder mit mittlerweile besseren staatlichen Institu-tionen und geeigneter Regulierung die als Maszligstab fuumlr eine solche Agenda dienen etwa die baltischen Republiken oder Spanien werden dabei als Beispiele helfen

hier ndash im Unterschied zum Unternehmensklima ndash auch ein West-Ost-Gefaumllle (Abbildung) Wertschoumlpfung und Beschaumlf-tigung wachsen in denjenigen Laumlndern staumlrker die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben Verstaumlrkt werden die divergierenden Entwicklungen inner-halb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wande-rungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien Spa-nien Portugal oder Griechenland in Laumlnder mit besseren Rahmenbedingungen5 Es gibt demzufolge einen intensi-ven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU uumlber Laumln-dergrenzen hinweg Spanien hat dies erkannt maszliggebliche Strukturreformen durchgefuumlhrt und den Exodus der Inno-vatoren stoppen koumlnnen Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven Dienstleistungen6 ndash etwa im neuen bdquoGruumlnder-Hot-Spotldquo Barcelona7 ndash haben zu den juumlngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen8 In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen Ent-sprechend stagniert dort auch die Wirtschaft9

Die EU hat es in der Hand die richtigen Impulse zu setzen damit sich mehr Laumlnder auf diesen Weg der Harmonisie-rung begeben Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt einen bdquoPakt fuumlr Innovationldquo Ein solcher Pakt bestuumlnde aus drei Elementen erstens der Weiterentwicklung der Struk-turfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (FampE) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruk-tur verwendet werden Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatli-chen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmen-bedingungen geknuumlpft Die Reforminhalte und ihr Fahr-plan zur Durchfuumlhrung werden ndash mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung ndash zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart Um Anreize fuumlr solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmit-teln erst wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstuumlt-zung von der EU erhalten10

5 Siehe Kyriakos Drivas et al (2018) Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and

Entrepreneurship Activity MPRA Discussion Paper (online verfuumlgbar)

6 In diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gruumlndungen und das sogar haumlufiger wenn

sich ein Land in der Rezession befindet Vgl Alexander Konon Michael Fritsch und Alexander S Kritikos

(2018) Business Cycles and Start-Ups Across Industries Journal of Business Venturing 33 742ndash761

7 Siehe Startup Genome (2018) Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfuumlgbar)

8 Im Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe koumlnnen im Wirtschaftszweig der wis-

sensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln Vgl Julian

Baumann und Alexander S Kritikos (2016) The Link between RampD Innovation and Productivity Are Micro

Firms Different Research Policy 45 1263ndash1274 David B Audretsch et al (2018) Firm Size and Innovation

in the Service Sector DIW Discussion Paper 1774 (online verfuumlgbar) Entsprechend reagieren sie relativ

rasch auf Aumlnderungen in den Rahmenbedingungen

9 Siehe Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wo-

chenbericht Nr 9 111ndash121 (online verfuumlgbar) sowie Alexander Kritikos Lars Handrich und Anselm Mattes

(2018) Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach DIW Wochenbericht Nr 29

641ndash651 (online verfuumlgbar)

10 Einen entsprechenden bdquostructural reform serviceldquo bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an

JEL L2 O3 O4

Keywords EU growth sectors innovation SME knowledge-intensive services

regulatory environment public institutions

Alexander S Kritikos ist Leiter der Forschungsgruppe Entrepreneurship am

DIW Berlin | akritikosdiwde

Abbildung

Der European Innovation Scoreboard 2018Nationale Innovationssysteme im Verhaumlltnis zum EU-Durchschnitt (= 100)

DurchschnittEuropaumlische Union28 Laumlnder

0 20 40 60 80 100 120 140 160

Rumaumlnien

Bulgarien

Kroatien

Polen

Lettland

Slowakei

Griechenland

Ungarn

Litauen

Italien

Zypern

Estland

Spanien

Malta

Portugal

Tschechien

Slowenien

Frankreich

Oumlsterreich

Irland

Belgien

Deutschland

Luxemburg

UK

Niederlande

Finnland

Daumlnemark

Schweden

Quelle Europaumlische Kommission

copy DIW Berlin 2019

Die Innovationssysteme der osteuropaumlischen Staaten und der Krisenlaumlnder wie Italien und Griechenland haben noch Nachholbedarf

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

310 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-3

ABSTRACT

bull Gegenwaumlrtige Fiskalregeln haben in der Finanz- und Staats-

schuldenkrise zu einer Verschaumlrfung der wirtschaftlichen

Situation im Euroraum gefuumlhrt

bull Notwendig sind Regeln die in schlechten Zeiten mehr

Flexibilitaumlt erlauben und antizyklisch wirken

bull Fuumlnf Vorschlaumlge fuumlr neues Fiskalpaket neue Ausgaberegel

nachrangige Anleihen zur Finanzierung von Staatsausga-

ben Euro-Anleihen Investitionsrecht und neue Institutionen

zwischen 2009 und 2011 auf eine stark expansive Finanz-politik gesetzt mit groszligen fiskalischen Defiziten und gleich-zeitig das eigene Bankensystem grundlegend reformiert waumlhrend die US-Notenbank eine aumluszligerst expansive Geld-politik umgesetzt hat

Mittlerweile gibt es einen internationalen Konsens daruumlber dass die Finanzpolitik der vergangenen zehn Jahren in den meisten europaumlischen Laumlndern zu restriktiv war und die Krise verschaumlrft hat Vor allem in Laumlndern mit einer hohen privaten Verschuldung haben die Austeritaumltsmaszlignahmen zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gefuumlhrt3 Eine deutlich expansivere Finanzpolitik mit einem starken Fokus auf oumlffentliche Investitionen und Maszlignahmen zur Staumlrkung von Beschaumlftigung haumltte den Euroraum als Gan-zes viel schneller und nachhaltiger aus der Krise gefuumlhrt Gleichzeitig merken einige zu Recht an dass eine solche expansive Finanzpolitik unter den bestehenden Regeln des Stabilitaumlts- und Wachstumspakts und des neu entwickelten Fiskalpakts (fiscal compact) gar nicht moumlglich gewesen waumlre Zwar konnten Regierungen fiskalische Defizite von mehr als drei Prozent realisieren jedoch nur fuumlr kurze Zeit und in begrenztem Umfang Dieser Rahmen ist nicht geeignet um strukturierte konjunkturstuumltzende Maszlignahmen mit finanz-politischen Instrumenten umzusetzen Gerade Italien wuumlrde von diesen Instrumenten aber profitieren4

Die europaumlischen Regeln der Finanzpolitik muumlssen ange-passt werden Fuumlnf konkrete Reformen sollten umgesetzt werden um die Lehren der europaumlischen Finanzkrise auf-zugreifen und den Euroraum krisenfest zu machen

Erstens sollten die Vereinbarungen zur Neuverschuldung im Stabilitaumlts- und Wachstumspakt durch eine nominale Aus-gabenregel ersetzt werden die es jeder nationalen Regie-rung erlaubt die Staatsausgaben jedes Jahr um maximal die nominale Potentialwachstumsrate der eigenen Volks-wirtschaft zu steigern Dies wuumlrde beispielsweise bedeu-ten dass Deutschland jedes Jahr die Staatsausgaben um nicht mehr als drei Prozent erhoumlhen darf5 Fuumlr Laumlnder mit

3 Mathias Klein (2017) Austerity and Private Debt Journal of Money Credit and Banking Volume 49

Issue 7 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die

Krise verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar)

4 Stefan Gebauer et al (2019) Italien braucht neue Impulse fuumlr Wachstumsbranchen DIW Wochen-

bericht Nr 9 (online verfuumlgbar)

5 Das Potentialwachstum von drei Prozent fuumlr Deutschland setzt sich zusammen aus einem Prozent

realem BIP-Wachstum und zwei Prozent Inflationsrate

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Europaumlischen Union war seit Beginn der globalen Finanzkrise 2008 viel-fach enttaumluschend Die wirtschaftliche Abschwaumlchung seit Ende 2018 zeigt deutlich wie hoch die Abhaumlngigkeit von der Weltwirtschaft und wie verwundbar die Entwicklung durch die erhoumlhte Brexit-Unsicherheit und die zunehmend unbe-rechenbare US-Regierung wirklich ist1

Die Regierungen der Eurolaumlnder haben in ihrer Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende Fehler begangen Vor allem die strukturellen Probleme wurden viel-fach zu spaumlt erkannt Als fatal erwiesen hat sich die fehlende Koordination der makrooumlkonomischen Politikinstrumente ndash Geldpolitik Finanzpolitik und Strukturpolitik Die Regierun-gen haben sich viel zu sehr auf die Europaumlische Zentralbank (EZB) verlassen Deren Politik hat die Zinsen fuumlr die oumlffent-lichen und privaten Haushalte gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt2 In anderen Politikbereichen die unter natio-naler Verantwortung stehen wurde nachlaumlssige oder gar fal-sche Wirtschaftspolitik betrieben Die USA haben den euro-paumlischen Verantwortlichen vorgemacht wie eine erfolgrei-che Krisenbekaumlmpfung gehen kann Die US-Regierung hat

1 Malte Rieth Claus Michelsen und Michele Piffer (2016) Unsicherheit durch Brexit-Votum verringert In-

vestitionstaumltigkeit und Bruttoinlandsprodukt im Euroraum und in Deutschland Wochenbericht Nr 32+33

(online verfuumlgbar abgerufen am 15 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle an-

deren Onlinequellen in diesem Bericht) Michele Piffer und Maximilian Podstawski (2018) Identifying

Uncertainty Schocks Using the Price of Gold The Economic Journal 128616 3266ndash3284 Projektgruppe

Gemeinschaftsdiagnose (2019) Gemeinschaftsdiagnose Fruumlhjahr 2019 Konjunktur deutlich abgekuumlhlt ndash

Politische Risiken hoch (online verfuumlgbar)

2 Michael Hachula Michele Piffer und Malte Rieth Unconventional monetary policy fiscal side effects

and euro area (im)balances Journal of the European Economic Association (forthcoming)

Neue Fiskalregeln fuumlr EuropaVon Marcel Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen

STABILES UND SOZIALES EUROPA

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

311DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

besonders hoher Staatsverschuldung sollten diese Steige-rungsraten geringer sein um sicherzustellen dass lang-fristig alle Laumlnder wieder eine geringere Staatsverschuldung als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung haben (Abbildung) Der groszlige Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist dass sie deutlich antizyklischer ist als die bestehenden Regeln In guten Zeiten schraumlnkt sie die Ausgaben ein weil sich diese am Potentialwachstum orientieren muumlssen und nicht am aktuell houmlheren tatsaumlchlichen Wachstum und in schlechten Zeiten gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum weil ein Einbruch der Einnahmen nicht zu einer Verringe-rung der Ausgaben fuumlhren muss

Nationale Regelungen die im Widerspruch zu dieser Ausga-beregel stehen zum Beispiel die deutsche Schuldenbremse sollten abgeschafft werden Denn die Schuldenbremse ver-staumlrkt das negative prozyklische Verhalten der Finanzpolitik in unserem Land und gibt vor allem Kommunen viel zu wenig Spielraum eine weitsichtige Finanzpolitik umzusetzen

Zweitens sollten Regierungen dazu verpflichtet werden Ausgaben die uumlber diese erlaubten Steigerungsraten hinausgehen durch nachrangige Anleihen zu finanzie-ren Diese Anleihen muumlssten so gestaltet sein dass sie im Insolvenzfall eines Landes erst bedient werden nach-dem die anderen vorrangigen Anleihen bedient wurden Das koumlnnte bedeuten dass diese Anleihen automatisch verlaumlngert oder zumindest teilweise glattgestellt wuumlrden Damit haumlngt es an der Glaubwuumlrdigkeit der Politik ob der Markt schuldenfinanzierte Mehrausgaben mit Risikoauf-schlaumlgen belegt Handeln Regierungen unverantwortlich werden die Finanzmaumlrkte hohe Risikopraumlmien verlangen und Regierungen disziplinieren Dies ist ein deutlich wir-kungsvolleres Instrument als die bisherigen Regeln des Sta-bilitaumlts- und Wachstumspakts und der Druck der europaumli-schen Partnerlaumlnder

Als drittes sollte die EU die Schaffung synthetischer Euro-An-leihen durch den Privatsektor ermoumlglichen um ein groumlszligeres Angebot an sicheren Anleihen vorzuhalten Somit koumlnnten private Investoren die Staatsanleihen der Eurolaumlnder buumlndeln verbriefen und als Sicherheiten bei der EZB hinterlegen Dies wuumlrde sowohl das Angebot an sicheren Anleihen erhoumlhen als auch einen Anker der Stabilitaumlt schaffen und allen Laumln-dern des Euroraums etwas mehr Zeit geben auf eine Krise zu reagieren Die Sorge Deutschland wuumlrde hierdurch mehr Risiken uumlbernehmen muumlssen ist unberechtigt Gewinnt der Euroraum an Stabilitaumlt profitiert auch Deutschland

Als viertes Element sollte die neue Schuldenregel durch ein Investitionsrecht ergaumlnzt werden das besagt dass Regierun-gen fiskalische Anpassungen nicht alleine zulasten oumlffent-licher Investitionen in Bildung Infrastruktur und Innova-tion machen duumlrfen In der Krise haben viele Regierungen oumlffentliche Investitionen zuruumlckgefahren und damit ihr eige-nes Wirtschaftswachstum folglich auch Beschaumlftigung und Steuereinnahmen nachhaltig gebremst Auch in vielen deut-schen Kommunen wurden die oumlffentlichen Investitionen viel zu stark zuruumlckgefahren

Fuumlnftens muumlssen europaumlische und nationale Institutionen gestaumlrkt werden um Regierungen zum richtigen finanz-politischen Handeln zu draumlngen und Transparenz zu schaf-fen So sollten alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden auto-nome und kompetente nationale Fiskalraumlte einzufuumlhren Zwar haben viele Laumlnder solche Fiskalraumlte bereits sie sind jedoch meist nicht unabhaumlngig zudem haben sie nur geringe Ressourcen und Moumlglichkeiten unabhaumlngige Analysen vor-zunehmen und Empfehlungen auszusprechen Zusaumltzlich sollte der europaumlische Fiskalrat gestaumlrkt werden und direkt an einen europaumlischen Finanzkommissar berichten der mehr Autonomie und Durchschlagskraft haben sollte als bisher

Ergaumlnzend zur Modernisierung der Fiskalregeln die einen wichtigen Bestandteil der Reform Europas darstellen koumlnnte ein Stabilisierungsfonds helfen um in Zukunft auf Krisen besser und schneller reagieren zu koumlnnen und deren Kosten fuumlr Wirtschaft und Gesellschaft klein zu halten6

6 Siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marius Clemens (2019) Ein Stabilisierungsfonds als Instru-

ment fuumlr einen krisenfesteren Euroraum DIW Wochenbericht Nr 18 312ndash313

JEL E61 E62 H62 H77

Keywords Fiscal rules public debt countercyclical policy

Marcel Fratzscher ist Praumlsident des DIW Berlin | mfratzscherdiwde

Alexander Kriwoluzky ist Leiter der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

| akriwoluzkydiwde

Claus Michelsen ist Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am DIW Berlin |

cmichelsendiwde

Abbildung

Schuldenquoten der EurolaumlnderStaatsverschuldung in Relation zum BIP in Prozent (Stand 3 Quartal 2018)

Griechenland

Italien

Portugal

Zypern

Belgien

Frankreich

Spanien

Oumlsterreich

Slowenien

Irland

Deutschland

Finnland

Niederlande

Slowakei

Malta

Lettland

Litauen

Luxemburg

Estland

0 50 100 150 200

Schuldengrenze (60)nach Maastricht-Vertrag

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Nur knapp die Haumllfte der Eurolaumlnder haumllt die Schuldengrenze von 60 Prozent ein

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

312 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die 19 Laumlnder des Euroraums haben ganz unterschiedliche wirtschaftliche Strukturen und sind unterschiedlich von kon-junkturellen Schocks ndash zum Beispiel einem Einbruch der Nachfrage ndash betroffen Die Laumlnder sind nicht immer in der Lage diese Schocks abzumildern Die Geldpolitik die diese Stabilisierungsfunktion uumlbernehmen koumlnnte kann nur in begrenztem Maszlige auf die Rezession eines einzelnen Lan-des reagieren weil sie fuumlr 19 Laumlnder gleichzeitig gemacht wird Die nationale Fiskalpolitik leistet eine solche Absi-cherung nur wenn sie antizyklisch wirkt also in schlech-ten wirtschaftlichen Zeiten vergleichsweise viel ausgibt In einer Rezession sinken aber die nationalen Steuereinnah-men bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben Die Euro-laumlnder sind nicht in der Lage zusaumltzliche Ausgaben zur Stabilisierung der Wirtschaft zu taumltigen ohne sich uumlber die Defizit- und Verschuldungskriterien des Euroraums hinweg-zusetzen1 So werden dringend benoumltigte staatliche Investiti-onen reduziert oder ganz zuruumlckgestellt was die Rezession nochmals verstaumlrkt Das haben in den vergangenen Jahren einige europaumlische Laumlnder erlebt2

Als Loumlsung dieses Problems wird hier ein Stabilisierungs-fonds vorgeschlagen der gewaumlhrleisten soll dass das Kon-sumniveau in den Eurolaumlndern auch bei einer Rezession stabil bleibt Der Fonds erlaubt es einzelnen Laumlndern sich gegen spezifische Schocks abzusichern und dem Euroraum krisenfester zu werden indem das Risiko innerhalb der Waumlh-rungsgemeinschaft aufgeteilt wird3

In den Fonds flieszligen Beitraumlge der Mitgliedslaumlnder ein (Abbildung) Er zahlt einzelnen Laumlndern in Krisensituatio-nen Zuschuumlsse die das Budget dieser Laumlnder entlasten Mit dem Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einsei-tiger Transfermechanismus sondern eine Absicherung im Falle einer Rezession geschaffen werden

1 Zu Reformvorschlaumlgen fuumlr die Fiskalpolitik siehe in dieser Ausgabe den Beitrag von Marcel

Fratzscher Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019) Neue Fiskalregeln fuumlr Europa DIW Wochen-

bericht 18 310ndash311

2 Philipp Engler und Mathias Klein (2017) Austeritaumltspolitik hat in Spanien Italien und Portugal die Kri-

se verschaumlrft DIW Wochenbericht Nr 8 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Das gilt sofern nicht

anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

3 Marius Clemens und Mathias Klein (2018) Ein Stabilisierungsfonds kann den Euroraum krisenfester

machen DIW Wochenbericht Nr 23 (online verfuumlgbar) Guillaume Claveres und Marius Clemens (2017) Un-

employment Insurance Union Meeting Papers 1340 Society for Economic Dynamics

ABSTRACT

bull Von einer Rezession kann jedes Land Europas betroffen

sein

bull Ein Stabilisierungsfonds der in guten Zeiten einnimmt und

in schlechten Zeiten auszahlt kann die Wohlfahrt in den

einzelnen Eurolaumlndern verbessern

bull Der Fonds sollte so ausgestaltet werden dass permanente

Transfers nicht moumlglich sind und besonders risikobehaftete

Laumlnder aumlhnlich einer Versicherung relativ houmlhere Beitraumlge

zahlen

Ein Stabilisierungsfonds als Instrument fuumlr einen krisenfesteren EuroraumVon Marius Clemens

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

313DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Beitraumlge orientieren sich an der konjunkturellen Ent-wicklung und werden zur Risikoabsicherung gegen zukuumlnf-tige Krisen eingezahlt In schlechten Zeiten (definiert anhand harter Indikatoren) wird ein Teil aus dem gemeinsam auf-gebauten Fondsvermoumlgen an die jeweils betroffene Regie-rung ausgezahlt Die Mittel muumlssen zweckgebunden bei-spielsweise als Zuschuss zu Qualifizierungsmaszlignahmen fuumlr Arbeitslose oder fuumlr dringend benoumltigte Investitionen verwendet werden Damit unterscheidet sich der Vorschlag in zweierlei Hinsicht vom aktuell diskutierten Modell einer europaumlischen Arbeitslosenversicherung4

Wichtig ist beim hier vorgeschlagenen Stabilisierungsfonds ein relativ automatischer das heiszligt schneller Einsatz der es der nationalen Finanzpolitik ermoumlglicht bei Rezessio-nen expansiv ausgerichtet zu sein Damit der Fonds seine Funktion erfuumlllt und sich die Eurolaumlnder nicht aus der Ver-antwortung freikaufen koumlnnen eine gute Wirtschaftspolitik zu fuumlhren (Moral-Hazard-Risiko) muss die Gestaltung des Instruments bestimmten Regeln folgen

Erstens sollen permanente einseitige Transferzahlungen verhindert werden Dementsprechend werden Mittel nur dann ausgezahlt wenn bestimmte Grenzwerte uumlberschrit-ten werden zum Beispiel die Arbeitslosenquote eines Lan-des deutlich oberhalb des langfristigen Trendwerts liegt und stark ansteigt Laumlnder die strukturell hohe und leicht anstei-gende Arbeitslosenquoten haben erhalten keine Zahlungen und haben auch weiterhin den Anreiz die strukturellen Pro-bleme auf dem Arbeitsmarkt zu beheben

Zweitens ist es empfehlenswert die Houmlhe der Zahlung in den Fonds aumlhnlich dem Versicherungsprinzip an verschiedene Charakteristika zu knuumlpfen Deutschland als Land mit der houmlchsten Anzahl bdquoversicherungspflichtigerldquo Personen haumltte damit wohl absolut gesehen den groumlszligten Beitrag zu zahlen Pro Kopf duumlrfte die Summe allerdings niedriger sein als in vielen anderen Laumlndern denn wie bei einer Versicherung sollten Laumlnder die in den vergangenen Jahren ein houmlheres Krisenrisiko hatten auch einen houmlheren Pro-Kopf-Beitrag einzahlen Dies duumlrfte auch strukturelle Reformanstren-gungen motivieren

Drittens ist es sinnvoll die Mittel aus dem Fonds nicht an einen einzigen Zweck zu binden Sonst beraubt man sich der Flexibilitaumlt auf spezielle Ursachen von Krisen angemessen zu reagieren Die Entscheidung daruumlber muumlsste die Regie-rung des Empfaumlngerlandes in Absprache mit dem Fonds tref-fen Nach diesen Prinzipien ausgestaltet reduziert ein Sta-bilisierungsfonds konjunkturelle Schwankungen und stellt einen Mechanismus dar um den gesamten Waumlhrungsraum in Zukunft krisenfester zu machen

4 Vgl Martin Greive und Jan Hildebrand (2018) Das sind die Details zu Scholzlsquo Plaumlnen fuumlr eine europauml-

ische Arbeitslosenversicherung Handelsblatt Online 16 Oktober 2018 In diesem Modell werden Kredite

und keine Zuschuumlsse gewaumlhrt und die Mittel duumlrfen nur zugunsten von Arbeitslosen verwendet werden

Marius Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung

Konjunkturpolitik am DIW Berlin | mclemensdiwde

JEL E32 E63 F45

Keywords Monetary union stabilization funds fiscal policy

Abbildung

Wirkungsweise eines europaumlischen StabilisierungsfondsSchematische Darstellung

RegierungLand A

RegierungLand B

(Schock)

EinzahlungEinzahlung

Auszahlungbei Schock

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Auszahlungbei Schock

Handelsbeziehungen

Arbeitslosen-versicherung

Transfer Investitionen

Stabilisierungsfonds

Quelle Eigene Darstellung Simulation auf Basis eines kalibrierten Modells fuumlr zwei von einem wirtschaftlichen Schock ungleich betroffene Laumlnder

copy DIW Berlin 2019

Der Stabilisierungsfonds soll kein permanenter und einseitiger Transfermechanis-mus sein sondern greift nur im Fall einer Rezession

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

314 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Wenn in einem bestimmten europaumlischen Land die Produk-tion sinkt ndash zum Beispiel weil die Nachfrage nach unten sackt ndash sinken auch Einkommen und Konsum weil dieses Land den Schock allein nicht gaumlnzlich abfedern kann Ver-teilt sich die Wirkung dieses Schocks aber auf mehrere Laumln-der sind einzelne Laumlnder weniger betroffen Das Beispiel der USA zeigt dass integrierte Kapitalmaumlrkte zur Abfede-rung von Produktionsschwankungen einen wichtigen Bei-trag leisten Waumlhrend regionale Schocks dort zu etwa 60 Pro-zent geglaumlttet werden ndash hauptsaumlchlich uumlber Kredit- und Kapi-talmaumlrkte ndash sind es in der EU im Durchschnitt nur 20 bis 40 Prozent1

Ein wichtiger Grund fuumlr die mangelnde Risikoteilung in Europa besteht darin dass die europaumlischen Kapitalmaumlrkte im Verhaumlltnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach wie vor recht klein2 und national fragmentiert sind Investo-ren halten uumlberproportional viele Wertpapiere heimischer Emittenten Damit ist der sogenannte Home Bias in vielen europaumlischen Laumlndern hoch3 so dass nationale Schocks nur begrenzt uumlber eine internationale Portfoliodiversifizierung abgefedert werden Um stabilere Finanzmarktstrukturen in Europa zu schaffen und damit die Einkommens- und Kon-sumglaumlttung zu foumlrdern sollen Integrationsbarrieren im Rahmen der europaumlischen Kapitalmarktunion Schritt fuumlr Schritt abgebaut werden4

Grundsaumltzlich funktioniert die Glaumlttung laumlnderspezifischer Schwankungen besonders gut uumlber grenzuumlberschreitende Eigenkapitalinvestitionen5 da diese tendenziell dauer-hafter sind als Investitionen in Fremdkapital und Einkom-mensschwankungen direkt zwischen Kapitalgeber- und

1 Vgl Europaumlische Zentralbank (2018a) Economic Bulletin Issue 32018 (online verfuumlgbar abgerufen

am 8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht) Michela Nardo Filippo Pericoli und Pilar Poncela (2017) Risk sharing among European Countries

JRC Technical Reports Joint Research Center European Commission DOI 102760028526

2 Vgl Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova (2018) Rechtliche Harmonisierung kann Kapitalmarkt-

integration erleichtern DIW Wochenbericht Nr 5152 Abbildung 1 (online verfuumlgbar)

3 Europaumlische Zentralbank (2018b) Financial Integration Report 106 (online verfuumlgbar)

4 Vgl Jens Weidmann und Franccedilois Villeroy de Galhau Auf dem Weg zu einer echten Kapitalmarkt-

union Gastbeitrag in Les Echos und der Frankfurter Allgemeine Zeitung 4 April 2019 (online verfuumlgbar)

5 Bent E Soslashrensen et al (2007) Home bias and international risk sharing Twin puzzles separated at

birth Journal of International Money and Finance 26(4) 587ndash605

ABSTRACT

bull Laumlnderspezifische Konsum- und Einkommensschwankun-

gen koumlnnen zu einem Groszligteil uumlber integrierte Kapital-

maumlrkte ausgeglichen werden

bull Dabei kommt Eigenkapital eine wichtige Rolle zu

bull Insolvenzregeln sind ein wichtiger Faktor fuumlr eine staumlrkere

Integration des Eigenkapitalmarktes

bull Europaumlisch einheitliche Insolvenzregeln sind erstrebens-

wert effizientere Regeln auf nationaler Ebene sind ein

wichtiger Zwischenschritt

Effizientere Insolvenzregelungen koumlnnen Finanzmaumlrkte widerstandsfaumlhiger machenVon Franziska Bremus und Tatsiana Kliatskova

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

315DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

-nehmerland aufgefangen werden zum Beispiel durch Anpassungen von Dividendenzahlungen Dagegen kann die Integration von Anleihe- und Kreditmaumlrkten sogar Schwan-kungen verstaumlrken6 Deshalb sollte insbesondere die Integra-tion der Eigenkapitalmaumlrkte vorangetrieben werden

Neben Unterschieden in den Regelungen fuumlr den Finanz-dienstleistungsmarkt sowie im Steuer- und Vertragsrecht haben sich heterogene und ineffiziente Insolvenzregeln als ein wesentliches Hindernis fuumlr die Integration der europaumli-schen Kapitalmaumlrkte herauskristallisiert7 Unterschiedliche Insolvenzregelungen erschweren es das Risiko einer Kapi-talanlage im Ausland einzuschaumltzen und machen sie somit unattraktiver Eine geringe Effizienz spiegelt sich zum Bei-spiel in geringen Ruumlckzahlungsquoten im Insolvenzfall undoder einer langen Ruumlckzahlungsdauer wider so dass eine Anlage riskanter wird

Auch wenn die Insolvenzregelungen in den vergangenen Jahren in vielen EU-Laumlndern reformiert und verbessert wur-den weisen die Indikatoren der OECD auf eine betraumlchtli-che Heterogenitaumlt innerhalb der EU hin (Abbildung) Waumlh-rend die Insolvenzregelungen im Vereinigten Koumlnigreich schon seit 2010 unveraumlndert effizient sind bilden Ungarn und Estland hier das Schlusslicht

Empirische Untersuchungen fuumlr den Zeitraum 2010 bis 2016 bestaumltigen dass ineffiziente Insolvenzregelungen ein wich-tiges Hindernis fuumlr die Integration von Aktien- und Anlei-hemaumlrkten darstellen8 Andersherum wird mehr in anderen Laumlndern investiert je effizienter die Insolvenzregeln dort sind Insbesondere praumlventive Maszlignahmen spielen fuumlr Aus-landsinvestitionen eine Rolle Gibt es in einem Land Maszlig-nahmen die schon vor einer Insolvenz greifen Fruumlhwarnsys-teme fuumlr Unternehmen oder spezielle Regelungen fuumlr kleine und mittelstaumlndische Unternehmen dann investieren aus-laumlndische Investoren dort mehr in Eigenkapital

Auch wenn es aufgrund der laumlnderspezifischen rechtlichen Gegebenheiten schwer sein wird die Insolvenzregeln inner-halb der EU zu vereinheitlichen koumlnnten also Qualitaumltsstei-gerungen auf nationaler Ebene insbesondere im Bereich der praumlventiven Maszlignahmen ein vielversprechender Schritt sein um die Integration der Kapitalmaumlrkte zu verbessern Daruumlber hinaus sollte mehr Transparenz uumlber die laumlnderspe-zifischen Regelungen hergestellt werden indem vergleich-bare Informationen zentral verfuumlgbar gemacht werden zum Beispiel zur Rangfolge von Forderungen im Insolvenzfall

6 Europaumlische Zentralbank (2018a) aaO Franziska Bremus und Claudia M Buch (2019) Capital

Markets Union and Cross-Border Risk Sharing In Franklin Allen et al (Hrsg) Capital Markets Union and

Beyond MIT Press im Erscheinen Ayhan M Kose Eswar S Prasad und Marco E Terrones (2009) Does

financial globalization promote risk sharing Journal of Development Economics 89 (2) 258ndash270

7 The Giovannini Group (2003) Second Report on EU Clearing and Settlement Arrangements (online

verfuumlgbar) Bremus und Kliatskova (2018) a a O Diego Valiante (2016) Harmonising Insolvency Laws in

the Euro Area CEPS Special Report Nr 153 Dezember 2016

8 Tatsiana Kliatskova (2019) Cross-border capital market integration and insolvency regimes

Arbeitspapier

Damit koumlnnten nicht nur die Integration und marktbasierte Risikoteilung vorangetrieben werden sondern auch notlei-dende Kredite in den Bankbilanzen abgebaut und damit die Bankenunion vervollstaumlndigt werden

Franziska Bremus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung

Makrooumlkonomie am DIW Berlin | fbremusdiwde

Tatsiana Kliatskova ist Doktorandin in der Abteilung Makrooumlkonomie am

DIW Berlin | tkliatskovadiwde

JEL E02 F21 G15

Keywords Capital market integration legal harmonization institutional

differences

Abbildung

Effizienz von InsolvenzregelungenOECD-Index invertiert (10 = bester Wert) Entwicklung von 2010 auf 2016 (uumlber der Diagonalen = Verbesserung auf der Diagonalen = gleichbleibend)

0

1

2

3

4

6

10

0 7 101 2 3 4 5

7

5

9

2010

6 8

8

9

AT

BECZ

DE

EE

ESFI FR

GB

GR

HU

IE

IT

LV

NL

PL

PT

SE

SI SK

2016

AT = Oumlsterreich BE = Belgien CZ = Tschechien DE = Deutschland EE = Estland ES = Spanien FI = Finnland FR = Frankreich GB = Vereinigtes Koumlnigreich GR = Griechenland HU = Ungarn IE = Irland IT = Italien LV = Lettland NL = Niederlande PL = Polen PT = Portugal SE = Schweden SI = Slowenien SK = Slowakei

Quelle OECD eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Bis auf Polen hat sich in allen Laumlndern die Effizienz der Insolvenzregeln verbessert oder ist gleichgeblieben Sie bleibt aber sehr heterogen

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

316 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist ein fun-damentaler Wert der Europaumlischen Union und ein wich-tiges politisches Ziel sowie laut EU-Kommission ein ent-scheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum1 In der strategischen Verpflichtung der EU zur Gleichstellung der Geschlechter fuumlr die Jahre 2016 bis 2019 lagen die wesent-lichen Prioritaumlten unter anderem auf der Foumlrderung der oumlkonomischen Unabhaumlngigkeit von Frauen und Maumlnnern der gleichen Bezahlung fuumlr gleiche Arbeit und der Gleich-stellung von Frauen und Maumlnnern in wichtigen Entschei-dungsprozessen

In keinem dieser drei Bereiche ist die Gleichstellung der Geschlechter in auch nur einem einzigen EU-Land erreicht So liegt der Gender Pay Gap im EU-Durchschnitt derzeit bei 16 Prozent2 Der Frauenanteil in den houmlchsten Entschei-dungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen lag im Jahr 2018 nur bei 26 Prozent3

Um die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in den houmlchsten Entscheidungsgremien der Wirtschaft zu befoumlrdern wurde von der EU-Kommission im Jahr 2012 ein Gesetzentwurf zur Einfuumlhrung einer verbindlichen Geschlechterquote fuumlr Aufsichtsraumlte der groumlszligten boumlrsenno-tierten Unternehmen von 40 Prozent vorgelegt Das Euro-paumlische Parlament hat diesen Gesetzentwurf im November 2013 mit groszliger Mehrheit beschlossen jedoch wurde er im EU-Rat nicht angenommen4

Parallel zur Diskussion auf EU-Ebene gab und gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten Diskussionen zur Einfuumlhrung von Geschlechterquoten fuumlr Entscheidungsgremien im

1 Vgl European Commission (2016) Strategic Engagement for Gender Equality 2016ndash2019 (online ver-

fuumlgbar abgerufen am 11 April 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Bericht sofern nicht anders

angegeben)

2 Vgl Informationen zum Gender Pay Gap auf der Website der Europaumlischen Kommission

3 Vgl Elke Holst und Katharina Wrohlich (2019) Frauenanteile in Aufsichtsraumlten groszliger Unternehmen in

Deutschland auf gutem Weg ndash Vorstaumlnde bleiben Maumlnnerdomaumlnen DIW Wochenbericht Nr 3 20ndash34 (on-

line verfuumlgbar)

4 Vgl Europaumlisches Parlament (2015) Gender balance on company boards (online verfuumlgbar) Neben

dem Vereinigten Koumlnigreich Bulgarien Tschechien Daumlnemark Ungarn Litauen Malta den Niederlan-

den Schweden und Slowenien hat sich im EU-Rat insbesondere auch die deutsche Regierung gegen eine

EU-weite Regelung fuumlr eine verbindliche Geschlechterquote in Houmlhe von 40 Prozent eingesetzt

ABSTRACT

bull Die Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern ist fuumlr die EU

ein entscheidender Faktor fuumlr wirtschaftliches Wachstum

bull Der Anteil von Frauen in Fuumlhrungsgremien boumlrsennotierter

Unternehmen ist ein wichtiger Bestandteil der Gleichstel-

lungspolitik

bull In Mitgliedstaaten mit einer verbindlichen Quote war der

Anstieg des Frauenanteils in Fuumlhrungsgremien deutlich

groumlszliger als in Laumlndern ohne Quote

bull Eine verbindliche europaweite Regelung koumlnnte das

Ziel der Gleichstellung von Frauen und Maumlnnern in allen

EU-Laumlndern befoumlrdern

Verbindliche Geschlechterquote fuumlr Spitzengremien der Wirtschaft wuumlrde Gleichstellung von Frauen befoumlrdernVon Katharina Wrohlich

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

317DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

privatwirtschaftlichen Sektor Mittlerweile sind acht EU-Laumln-der dem Beispiel (des Nicht-EU-Landes) Norwegens5 gefolgt und haben verbindliche Geschlechterquoten festgelegt Das erste EU-Land mit einer gesetzlichen Geschlechterquote war im Jahr 2007 Spanien gefolgt von Belgien Frankreich Italien und den Niederlanden (jeweils 2011) Im Jahr 2015 fuumlhrte Deutschland eine verbindliche Geschlechterquote von 30 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte von boumlrsennotierten und paritauml-tisch mitbestimmten Unternehmen ein Zuletzt folgten 2017 Oumlsterreich und Portugal Alle anderen EU-Laumlnder haben ent-weder nur unverbindliche Empfehlungen zu Geschlechter-quoten in den jeweiligen Corporate Governance Codes (elf Laumlnder) oder gar keine gesetzlichen Regelungen und Emp-fehlungen (neun Laumlnder)6

Die acht Laumlnder mit gesetzlichen Geschlechterquoten unter-scheiden sich hinsichtlich der Houmlhe der Quote der zeitli-chen Frist bis zu der die Quote erreicht werden muss der Gruppe von Unternehmen fuumlr die die gesetzliche Quote gilt und insbesondere hinsichtlich der Sanktionen die bei Nicht-erreichung fuumlr die betroffenen Unternehmen greifen So sind beispielsweise in Spanien und den Niederlanden keine Sanktionen vorgesehen In Frankreich und Italien hingegen sind die Sanktionen relativ hart ndash bis hin zu Strafzahlungen in Houmlhe von maximal einer Million Euro Deutschland und Oumlsterreich haben hier einen Mittelweg gewaumlhlt mit Sankti-onen in Form des bdquoleeren Stuhlsldquo

Ein Vergleich der EU-Laumlnder zeigt dass Laumlnder mit verbind-licher Quote in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil in den houmlchsten Entscheidungsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten Unternehmen verzeichnen konn-ten Dieser Anstieg war deutlich groumlszliger als in den Laumlndern ohne verbindliche Quote die sich diesbezuumlglich im gleichen Zeitraum kaum verbessert haben Die Laumlnder die mittler-weile eine verbindliche Geschlechterquote haben hatten Mitte der 2000er Jahre im Durchschnitt einen niedrigeren Frauenanteil in den Entscheidungsgremien als die Laumlnder ohne Quote (acht versus zwoumllf Prozent im Jahr 2005) Im Jahr 2017 lag der Anteil in der ersten Gruppe bei 28 Prozent und damit um neun Prozentpunkte houmlher als in der Gruppe der Laumlnder ohne Quote (Abbildung) Das heiszligt seit Mitte der 2000er Jahre ist der Frauenanteil in den entsprechenden Gre-mien in den Laumlndern mit gesetzlicher Quotenregelung um 20 Prozentpunkte gestiegen waumlhrend er sich in den ande-ren Laumlndern lediglich um sieben Prozentpunkte erhoumlht hat

Diese deskriptive Evidenz legt nahe dass gesetzliche Quo-tenregelungen ein effektives Mittel sind um den Frauenan-teil in den Spitzengremien der Privatwirtschaft zu steigern Da die EU gemaumlszlig ihrem Selbstbild international ein Vor-bild bei der Gleichstellung der Geschlechter sein will7 waumlre eine EU-weite verbindliche Quotenregelung ein geeignetes Instrument zur nachhaltigen Steigerung des Frauenanteils

5 Norwegen war weltweit das erste Land das im Jahr 2003 eine verbindliche Geschlechterquote von

40 Prozent fuumlr Aufsichtsraumlte staatlicher und boumlrsennotierter Unternehmen eingefuumlhrt hat

6 Eine ausfuumlhrliche Uumlbersicht findet sich in Holst und Wrohlich (2019) a a O

7 Vgl z B Website der Europaumlischen Kommission

Katharina Wrohlich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe

Gender Studies am DIW Berlin | kwrohlichdiwde

JEL D22 J16 J78 M14 M51

Keywords Board diversity gender equality gender quota

Abbildung

Durchschnittlicher Frauenanteil in Aufsichtsgremien der groumlszligten boumlrsennotierten UnternehmenIn EU-Laumlndern mit und ohne Quote in Prozent

0

5

10

15

20

25

30

2003 2009 2010 2012 2013 2014 2015 20172004 2005 2006 2007 2008 2011 2016

EU-Laumlnder mit Quote EU-Laumlnder ohne Quote

Quelle EU-Kommission (Datenbank uumlber die Mitwirkung von Frauen und Maumlnnern an Entscheidungsprozessen) eigene Darstellung

copy DIW Berlin 2019

Der Anteil von Frauen in Aufsichtsraumlten oder aumlhnlichen Gremien ist houmlher in Laumlndern mit Geschlechterquote

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

318 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

In vielen europaumlischen Laumlndern beziehen Frauen weniger Renteneinkommen als Maumlnner In den kommenden Jahr-zehnten werden zunehmend viele Menschen im altern-den Europa das Rentenalter erreichen Die Geschlechter-ungleichheit beim Renteneinkommen ist daher von beson-derer Relevanz da Frauen im Alter haumlufiger von sozialer Ausgrenzung und Altersarmut betroffen sind1 Dies stellt die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten vor enorme Probleme Die-ser Beitrag vergleicht und diskutiert die sogenannten Gen-der Pension Gaps in verschiedenen europaumlischen Laumlndern

Die Analyse nutzt hierfuumlr zwei verschiedene Definitionen fuumlr die Berechnung der Gender Pension Gaps Definition 1 beruumlcksichtigt nur Menschen im Rentenalter die tatsaumlch-lich ein Renteneinkommen beziehen und gibt damit die Renten ungleichheit unter den RentenbezieherInnen wie-der Definition 2 beruumlcksichtigt alle Menschen im Renten-alter also auch diejenigen die keine Rente erhalten Diese werden mit einem Renteneinkommen von null beruumlcksich-tigt wodurch die finanzielle Ungleichheit im Alter in einer umfassenderen Weise beschrieben wird

Nach Definition 1 ist die durchschnittliche Rentenluumlcke2 in allen betrachteten Laumlndern mit Ausnahme von Estland deutlich ausgepraumlgt faumlllt aber in skandinavischen und ost-europaumlischen Laumlndern geringer aus (Abbildung) In Luxem-burg Portugal Deutschland und den Niederlanden ist die Ungleichheit am staumlrksten3

1 Vgl Social Protection Committee amp European Commission (2018) The 2018 Pension Adequacy Report

current and future income adequacy in old age in the EU Volume I 32ff (online verfuumlgbar abgerufen am

8 April 2019 Dies gilt sofern nicht anders vermerkt auch fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht)

2 Die Berechnungen basieren auf Daten von SHARE Fuumlr Details zu Methodik und Daten siehe Peter

Haan Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2017) Geschlechtsspezifische Renten- und Gesundheits-

unterschiede in Deutschland Frankreich und Daumlnemark DIW Wochenbericht Nr 43 (online verfuumlgbar)

und wwwshare projectorg Bis auf einige wenige Aumlnderungen wurde im genannten Wochenbericht die

Rentenungleichheit in drei Laumlndern auf Basis der Definition 1 berechnet Leichte Abweichungen in den Er-

gebnissen kommen unter anderem dadurch zustande dass dort das Sample auf ein maximales Alter von

85 Jahre beschraumlnkt und der Umgang mit Non-response bei den relevanten Pensionsvariablen angepasst

wurde Auszligerdem werden in der vorliegenden Version Befragte mit Einkommen durch eine Erwerbstaumltig-

keit oder Arbeitslosengeld nur dann ausgeschlossen wenn es sich hierbei nicht um eine Nebentaumltigkeit

gehandelt hat

3 Solche Muster (teils mit Ausnahme von Schweden und Portugal) zeigen sich auch in anderen Studien

Vgl Francesca Bettio Platon Tinios und Gianni Betti (2013) The gender gap in pensions in the EU Studie

im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Platon Tinios et al (2015) Men women and

pensions Studie im Auftrag der Europaumlischen Kommission (online verfuumlgbar) Ilze Burkevica et al (2015)

Gender Gap in pensions in the EU Research note to the Latvian Presidency European Institute for Gen-

der Equality (online verfuumlgbar) Manuela Samek Lodovici et al (2016) The gender pension gap Differen-

ces between mothers and women without children Study for the FEMM Committee Policy Department C

Citizenrsquos Rights and Constitutional Affairs Brussels Social Protection Committee amp European Commission

(2018) a a O

ABSTRACT

bull Die Lebenslagen der aumllteren Bevoumllkerung in Europa ruumlcken

aufgrund des demografischen Wandels in den Vordergrund

bull In vielen europaumlischen Laumlndern erzielen Frauen deutlich

weniger Renteneinkommen als Maumlnner die sogenannten

Gender Pension Gaps unter RentenbezieherInnen betragen

bis zu 69 Prozent

bull Werden auch aumlltere Menschen ohne Rentenbezug beruumlck-

sichtigt steigen die Gender Pension Gaps in einigen Laumln-

dern stark an

bull Zur Reduktion der Gaps koumlnnten mitunter Aumlnderungen in

den Voraussetzungen fuumlr Rentenanspruumlche und die Foumlrde-

rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen

Gender Pension Gaps sind in vielen europaumlischen Laumlndern ein ProblemVon Anna Hammerschmid und Carla Rowold

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

319DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Betrachtet man die Gaps nach Definition 2 bekommen Frauen in fast der Haumllfte der 18 betrachteten EU-Laumlnder im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des jaumlhrlichen Renten-einkommens der Maumlnner Die Rangfolge der Laumlnder veraumln-dert sich merklich Die groumlszligten Rentenluumlcken weisen nach dieser Definition nun Luxemburg Spanien und Portugal auf Auffaumlllig ist der Sprung den die Gender Pension Gaps in Griechenland (von 22 Prozent nach Definition 1 auf 51 Pro-zent nach Definition 2) Spanien (von 32 auf 74 Prozent) und Italien (von 32 auf 50 Prozent) sowie Belgien (von 34 auf 57 Prozent) machen wenn Definition 2 herangezogen wird4 Eine Erklaumlrung hierfuumlr koumlnnten zumindest in den drei suumldeuropaumlischen Staaten relativ hohe Mindestbeitragszeiten (15 bis 20 Jahre)5 sein In Verbindung mit einer geringen Frauenerwerbspartizipation6 koumlnnten diese dazu beitragen dass viele Frauen keine Rentenanspruumlche im Alter haben

Auch in Slowenien Oumlsterreich Irland und Portugal steigt die Rentenungleichheit zwischen den Geschlechtern erheb-lich an wenn man Menschen ohne Renteneinkommen ein-bezieht Mit Ausnahme von Irland bestehen auch in diesen Laumlndern vergleichsweise hohe Mindestbeitragszeiten (min-destens 15 Jahre)7

In Luxemburg Deutschland und den Niederlanden sind die Renteneinkommensunterschiede zwischen Frauen und Maumlnnern besonders ausgepraumlgt ndash egal welche der beiden Definitionen betrachtet wird8 Obwohl in diesen Laumlndern niedrigschwelligere Voraussetzungen fuumlr einen Renten-anspruch vorherrschen (null bis zehn Jahre Beitragszeit)9 bestehen offensichtlich weitere gewichtige Mechanismen die zu einer deutlichen geschlechtsspezifischen Rentenluumlcke fuumlhren Moumlgliche Faktoren sind unterschiedlich stark aus-gepraumlgte geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeits-markt

Die geschlechtsspezifische Renteneinkommensungleichheit ist damit ein gravierendes europaumlisches Problem In eini-gen vor allem suumldeuropaumlischen Laumlndern koumlnnte der Gen-der Pension Gap womoumlglich reduziert werden indem die Voraussetzungen fuumlr den Bezug von Renteneinkuumlnften auf-geweicht werden Um die deutlichen Gender Pension Gaps zu reduzieren die es in den meisten Laumlndern auch unter RentenbezieherInnen gibt sollten zudem in allen Laumlndern zum einen die Erwerbsbiografien von Frauen gestaumlrkt wer-den so dass im erwerbsfaumlhigen Alter mehr und houmlhere Ren-tenanspruumlche gesammelt werden koumlnnen Hierzu koumlnnen insbesondere Maszlignahmen beitragen die die Vereinbarkeit

4 Aumlhnliche Entwicklungen in Platon Tinios et al (2015) a a O

5 Vgl OECD (2007) Pensions at a Glance Public Policies across OECD Countries OECD Publishing Part

I 132 OECD (2013) Pensions at a Glance 2013 OECD and G20 Indicators OECD Publishing 286ff

6 Vgl OECD (2019) Employment rate (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz 2019)

7 Vgl OECD (2007) a a O OECD (2011) Pensions at a Glance 2011 Retirement-income Systems in

OECD and G20 Countries OECD Publishing 287 OECD (2013) a a O

8 Die Befunde fuumlr Luxemburg Deutschland die Niederlande sowie Oumlsterreich und Irland werden qua-

litativ von vorherigen Studien bestaumltigt ndash fuumlr Slowenien und Portugal unterscheiden sich die Resultate

deutlich Vgl Bettio Tinios und Betti (2013) a a O Tinios et al (2015) a a O

9 OECD (2013) a aO

von Erwerbsarbeit und Familie fuumlr Maumlnner und Frauen staumlr-ken Zum anderen stellt sich allgemein die Frage ob Sorge- und Familienarbeit die oft mehrheitlich von Frauen geleis-tet wird10 in den aktuellen Rentensystemen in einem aus-reichenden Maszlig honoriert werden Ein gesellschaftliches Umdenken ist notwendig um einen fairen Einbezug von Frauen in den jeweiligen laumlnderspezifischen Rentensyste-men zu ermoumlglichen

10 Vgl fuumlr Deutschland Claire Samtleben (2019) Auch an erwerbsfreien Tagen erledigen Frauen einen

Groszligteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung DIW Wochenbericht Nr 10 139ndash144 (online verfuumlgbar)

Anna Hammerschmid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Staat

am DIW Berlin | ahammerschmiddiwde

Carla Rowold ist studentische Mitarbeiterin der Abteilung Staat am DIW Berlin

| crowolddiwde

JEL J14 J16 J26

Keywords Gender Pension Gap Europe SHARE

Abbildung

Geschlechtsspezifische Rentenluumlcken im Mittel1 in verschiedenen europaumlischen LaumlndernMenschen ab 65 Jahren in Prozent

Rentenluumlcke unter RentenbezieherInnen

Rentenluumlcke unter Beruumlcksichtigung aumllterer Menschen ohne Rentenbezug

Estland

Tschechien

Daumlnemark

Ungarn

Slowenien

Griechenland

Polen

Schweden

Italien

Spanien

Belgien

Oumlsterreich

Frankreich

Irland

Niederlande

Deutschland

Portugal

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

00

14151515

1924

2039

2251

2635

2627

3250

3274

3457

3548

4246

4356

5051

5356

5871

6976

1 Querschnittsgewichtet das Alter beruumlcksichtigt und auf Kaufkraft bereinigt Die Renteneinkuumlnfte beinhalten Bezuumlge aus allen drei Saumlulen der Alterssicherung nicht aber Hinterbliebenenrenten

Quelle SHARE Welle 5 Welle 4 (Ungarn Polen Portugal) Welle 2 (Irland Griechenland) eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

Deutschland gehoumlrt zu den Laumlndern mit den houmlchsten geschlechtsspezifischen Rentenluumlcken unter den betrachteten europaumlischen Laumlndern

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

320 DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

Eine wissensbasierte Gesellschaft kann ohne Wissen nicht florieren Im globalen Wettbewerb stellen sich den Laumlndern der EU aumlhnliche Herausforderungen Die zunehmende glo-bale wirtschaftliche Integration der demografische Wandel sowie neue Herausforderungen und geringere Halbwertszei-ten von vorhandenem Wissen ndash Stichwort Digitalisierung ndash sind Themen mit denen alle EU-Laumlnder konfrontiert sind Die Bildungspolitik kann auf einige der sich hier aufdraumln-genden Fragen Antworten liefern

Gerade im Bereich der Aus- und Weiterbildung hat die EU bereits vieles bewegt Die Errichtung einer bdquoEuropean Educa-tion Arealdquo ist propagiertes Ziel der EU-Kommission Eras-mus+ buumlndelt neben dem bekannten Hochschulaustausch-programm Erasmus noch weitere Programme Das bdquoDigital Opportunity Traineeshipldquo ist ein in Erasmus+ verankertes Praktikantenprogramm das insbesondere Informatikstu-dierende an privatwirtschaftliche Unternehmen in anderen EU-Staaten vermittelt

Der Bologna-Prozess hat Universitaumltsabschluumlsse harmoni-siert Der europaumlische Qualifikationsrahmen schafft eine Vergleichbarkeit verschiedener Abschluumlsse oder Faumlhigkei-ten Sehr anerkannt ist in diesem Kontext der Europaumlische Referenzrahmen fuumlr Fremdsprachen (mit der Bewertung von A1 bis C2) Die bdquoYouth Guaranteeldquo ist eine gemeinsame Absichtserklaumlrung der EU-Staaten um sicher zu stellen dass alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnenAbsolventIn-nen innerhalb von vier Monaten wieder in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung gebracht werden Hier konnten bereits einige Erfolge erzielt werden (Abbildung)

Der Bereich der schulischen Bildung ist im Rahmen der geplanten bdquoEuropean Education Arealdquo sowie in vielen bereits erfolgreich umgesetzten Programmen zumindest rela-tiv betrachtet eine Randerscheinung Hervorzuheben ist jedoch dass Schulen als Teil des Erasmus+-Programms Antraumlge auf Schulpartnerschaften stellen und gemeinsame Fortbildungsprojekte realisieren koumlnnen Verglichen bei-spielsweise mit dem Bologna-Prozess der europaweit Ein-fluss auf die Struktur von Studiengaumlngen hatte werden im Schulbereich jedoch relativ kleine Broumltchen gebacken

Doch auch im Schulbereich sollten die EU-Mitgliedstaa-ten gemeinsame Loumlsungen fuumlr gemeinsame Herausfor-derungen erarbeiten und von den Erfahrungen anderer

ABSTRACT

bull Wissen und Bildung sind unabdingbare Voraussetzungen

fuumlr den zukuumlnftigen Wohlstand Europas

bull Die EU-Bildungspolitik ist im Bereich der Aus- und Weiter-

bildung eine der groszligen Erfolgsgeschichten der Europaumli-

schen Gemeinschaft im Bereich der schulischen Bildung

gibt es groszliges Aufholpotential

bull Empfohlen werden weitere Schulpartnerschaften und eine

europaumlische Bildungsplattform zur Vernetzung der Ent-

scheidungstraumlger und Schulen

bull Die EU sollte in diesem Zusammenhang Gelder fuumlr die

unabhaumlngige und externe Evaluation von schulischen Maszlig-

nahmen bereitstellen

Eine Bildungsplattform fuumlr mehr Kooperation in der schulischen BildungVon Felix Weinhardt

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

321DIW Wochenbericht Nr 182019

STABILES UND SOZIALES EUROPA

EU-Laumlnder profitieren Wie sollten Schulen auf die Digita-lisierung reagieren Welche Fort- und Weiterbildungsmaszlig-nahmen fuumlr Lehrkraumlfte haben sich als zielfuumlhrend erwiesen

Gemeinsame Fragen gibt es genug In der Wahrnehmung der Buumlrgerinnen und Buumlrger sind diese zwar oft nationale oder gar (wie in Deutschland) regionale Fragen Hier gilt es ein Bewusstsein zu schaffen und Akteure zu vernetzen um Erfahrungen auszutauschen ohne dass in die Bildungs-hoheit der Mitgliedslaumlnder eingegriffen wird Auf diese Weise koumlnnte vermieden werden dass Erkenntnisse nicht immer wieder dezentral neu gewonnen werden muumlssen

Vorgeschlagen wird hier eine europaumlische Bildungsplatt-form uumlber die die EntscheidungstraumlgerInnen extern eva-luierte Maszlignahmen miteinander vergleichen und sich bei der Umsetzung unterstuumltzen lassen koumlnnen Neben der Wir-kung und den Kosten einer Maszlignahme beispielsweise des Einsatzes digitaler Technologien im Unterricht sollte auch die Qualitaumlt der empirischen Evidenz bezuumlglich der Wir-kung bewertet werden

Ein entscheidendes Kriterium hierfuumlr ist eine externe und unabhaumlngige Evaluation Dies geschieht idealerweise in soge-nannten Feldexperimenten in denen eine Maszlignahme an rein zufaumlllig ausgewaumlhlten Schulen durchgefuumlhrt wird So sind spaumltere Unterschiede in Lernerfolgen kausal auf die Maszlignahme zuruumlckzufuumlhren Dies geschieht in Deutsch-land vereinzelt bereits

In England wurden mit dem bdquoTeaching and Learning Tool-kitldquo der bdquoEducation Endowment Foundationldquo positive Erfah-rungen gemacht Hier werden uumlber 120 verschiedene imple-mentierte und extern evaluierte Maszlignahmen in Hinblick auf ihre Kosten und Nutzen verglichen interessierte Schu-len vernetzt und bei der Umsetzung unterstuumltzt1

Eine solche Plattform die EntscheidungstraumlgerInnen auf europaumlischer Ebene vernetzt und Schulen dabei unterstuumltzt gemeinsame Herausforderungen zu bewaumlltigen waumlre eine zielfuumlhrende europaumlische Bildungsinitiative Insbesondere sollte die EU Gelder fuumlr die unabhaumlngige und externe Evalua-tion von Maszlignahmen zur Verfuumlgung stellen Neben dem Ausschoumlpfen von Synergien koumlnnte auf diese Weise Bil-dungspolitik als europaumlisches Thema weiter im Bewusst-sein der EU-Buumlrgerinnen und -Buumlrger verankert werden und eine bdquofruumlheldquo Grundlage fuumlr die wirtschaftliche Zukunftsfauml-higkeit der EU gelegt werden

1 Vgl Website der Education Endowment Foundation (abgerufen am 11 April 2019)

Felix Weinhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und

Familie am DIW Berlin | fweinhardtdiwde

JEL I21 I28

Keywords Education program evaluation

Abbildung

Jugendliche die weder beschaumlftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sindIn Prozent der Bevoumllkerung derselben Altersgruppe (15ndash24 Jaumlhrige)

2018 2015

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22

Niederlande

Daumlnemark

Deutschland

Luxemburg

Schweden

Tschechien

Oumlsterreich

Litauen

Slowenien

Lettland

Malta

Finnland

Estland

Polen

Vereinigtes Koumlnigreich

Portugal

Ungarn

Frankreich

Belgien

Slowakei

Irland

Zypern

Spanien

Griechenland

Kroatien

Rumaumlnien

Bulgarien

Italien

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Ziel der EU ist es alle unter 25-jaumlhrigen SchulabgaumlngerInnen und AbsolventInnen in Arbeit- Fort- oder Weiterbildung zu bringen

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

322 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-4

ABSTRACT

bull Um die Klimaziele zu erreichen sollte in Europa neben

Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz vor

allem der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben

werden

bull Europaumlische Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen in

erneuerbare Energien muumlssen verbessert Subventionen

fuumlr fossile und atomare Energien abgebaut werden

bull Eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Ener-

gien ist technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll

Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken um den Anstieg der globalen Erwaumlrmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen Uumlber die national definierten Klimaschutz-ziele der einzelnen Mitgliedslaumlnder hinaus will Europa eine europaumlische Energiewende vorantreiben1 Das bdquoEU Clean Energy Packageldquo setzt dafuumlr den Rahmen definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzun-gen und die innovativsten Technologien foumlrdern2 Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktfuumlhrerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien Neben Ener-gieeffizienz Emissionsminderung Forschung und Innova-tion geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungs-sicherheit um eine Reduktion der Importabhaumlngigkeit und um einen vollstaumlndig integrierten Energie-Binnenmarkt

Die EU hat sich vorgenommen den Anteil der erneuerba-ren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropaumlischer Laumlnder (Abbildung) Elf Laumln-der erfuumlllen schon heute die EU-Ausbauziele fuumlr die erneu-erbaren Energien denen zufolge neben der Stromerzeu-gung auch die Waumlrmeenergie und Kraftstoffe fuumlr die Mobili-taumlt aus erneuerbaren Energien stammen muumlssen 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitaumlten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien allen voran Wind-energie Fuumlnf Laumlnder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen Eines davon ist Deutschland3 aber auch Frank-reich England Belgien und die Niederlande gehoumlren dazu

1 Vgl Christian von Hirschhausen et al (2013) Europaumlische Stromerzeugung nach 2020 Beitrag erneu-

erbarer Energien nicht unterschaumltzen DIW Wochenbericht Nr 29 (online verfuumlgbar abgerufen am 12 Maumlrz

2019 Dies gilt fuumlr alle Quellen dieses Berichts sofern nicht anders vermerkt) sowie Jochen Diekmann

(2009) Erneuerbare Energien in Europa Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen DIW Wochen-

bericht Nr 45 (online verfuumlgbar)

2 Vgl Website der EU-Kommission Clean Energy for all Europeans

3 Bundesministerium fuumlr Umwelt Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016) Klimaschutzplan 2050

Klimaschutzpolitische Grundsaumltze und Ziele der Bundesregierung (online verfuumlgbar)

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnendVon Claudia Kemfert

GLOBALE VERANTWORTUNG

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

323DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein Erreicht werden sollte eine Vollversor-gung denn nur diese kann sicherstellen dass die Ziele des Klimaschutzes der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfuumlllt werden koumlnnen Dass dies durchaus machbar ist zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen Hierzu gehoumlren fruumlhere Arbeiten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU)4 sowie juumlngere Arbeiten mit houmlhe-rem Detailgrad5 In der Kostenbilanz stehen die erneuerba-ren Energien deutlich besser da als konventionelle Energi-en6 Modellergebnisse zeigen dass ein Uumlbergang zu einem Energiesystem das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt auch wirtschaftlich sinnvoll ist7 Diese Studien bestaumltigen dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerba-ren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist sondern die Wirtschaft staumlrken sowie Innovationen und tech-nologische Vorteile hervorbringen kann8 Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt reduzieren sich auch die Kosten insbesondere fuumlr Windkraft und Solar-Photo-voltaik Sinkende Speicherkosten foumlrdern die Wettbewerbs-faumlhigkeit zusaumltzlich Weitere Kostensenkungen wuumlrden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas ndash im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts ndash sowie durch die Sek-torkopplung zwischen Strom Waumlrme und Verkehr ergeben

Wichtig fuumlr eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen fuumlr Investitionen Dafuumlr ist es notwen-dig dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden Zudem muumlssen die Subventionen fuumlr fossile Energien in allen Laumln-dern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Sub-ventionen fuumlr Atom- und fossile Energien gewaumlhrt werden Erneuerbare Energien muumlssen aufgrund ihrer oftmals wet-terabhaumlngigen Schwankungen und Flexibilitaumlten ndash auch mit-tels intelligenter Technik ndash gut miteinander verzahnt werden dafuumlr und fuumlr den Einsatz von Speichern9 ist es notwendig die Marktbedingungen zu verbessern indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilitaumlt ermoumlglicht wer-den Nur so wird es Europa gelingen die Vorteile fuumlr Volks-wirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbs-vorteile heben zu koumlnnen

4 Sachverstaumlndigenrat fuumlr Umweltfragen (2010) 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050

klimavertraumlglich sicher bezahlbar Berlin SRU Martin Faulstich et al (2011) Wege zur 100 Prozent erneu-

erbaren Stromversorgung Sondergutachten des Sachverstaumlndigenrates fuumlr Umweltfragen (SRU) Berlin

5 Michael Child et al (2019) Flexible electricity generation grid exchange and storage for the transition

to a 100 percent renewable energy system in Europe Renewable Energy 139 80ndash101

6 Vgl von Hirschhausen et al (2013) a a O

7 Wolf-Peter Schill et al (2018) Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern DIW

aktuell 11 (online verfuumlgbar)

8 Karlo Hainsch et al (2018) Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe

A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios DIW Discussion Paper 1745 (online verfuumlgbar)

Thorsten Burandt Konstantin Loumlffler und Karlo Hainsch (2018) GENeSYS-MOD v20 ndash Enhancing the

Global Energy System Model Model Improvements Framework Changes and European Data Set DIW

Data Documentation 94 (online verfuumlgbar abgerufen am 16 April 2019)

9 Vgl Alexander Zerrahn Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018) On the economics of electrical

storage for variable renewable energy sources European Economic Review 2018 (online verfuumlgbar)

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie Verkehr Umwelt am

DIW Berlin | ckemfertdiwde

JEL Q13 Q42 O1

Keywords Energy Transition 100 Renewable Energy Climate policy Europe

Abbildung

Anteile erneuerbarer Energien in den EU-Laumlndern und NorwegenIn Prozent

2008 2017

Norwegen

Schweden

Finnland

Lettland

Daumlnemark

Oumlsterreich

Estland

Portugal

Kroatien

Litauen

Rumaumlnien

Slowenien

Bulgarien

Italien

Europaumlische Union ndash 28 Laumlnder

Spanien

Griechenland

Frankreich

Deutschland

Tschechien

Ungarn

Slowakei

Polen

Irland

Vereinigtes Koumlnigreich

Zypern

Belgien

Malta

Niederlande

Luxemburg

0 10 20 30 40 50 60 70 80

Quelle Eurostat

copy DIW Berlin 2019

Die nordeuropaumlischen Laumlnder sind beim Anteil erneuerbaren Energien dem Rest Europas weit voraus

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

324 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsar-men Industrie besteht der groumlszligte Emissionsminderungsbe-darf bei der Herstellung von Grundstoffen Die Produktion von Stahl Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen1 Die sek-torspezifischen Fahrplaumlne der Europaumlischen Kommission2 und andere Studien3 haben gezeigt dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden koumlnnen Das ist aller-dings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehen-den Produktionsprozessen zu erreichen sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen deren effiziente Nutzung und der Wech-sel zu alternativen Materialien sowie verbessertes Recycling4 Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen sind klare regula-torische Rahmenbedingungen notwendig Der Europaumlische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gruumlnden eine wichtige Lenkungswirkung entfalten

Erstens ist der europaumlische Markt ausreichend groszlig um relevant fuumlr international aufgestellte Unternehmen zu sein Zweitens hat die Europaumlische Union inzwischen in vielen Bereichen eine staumlrkere Glaubwuumlrdigkeit fuumlr eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedslaumlnder wie sich am Beispiel der ECO-Design-Direktive5 oder der europaumlischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt Das ist wichtig fuumlr langfris-tige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unter-nehmen Die glaubwuumlrdige Ankuumlndigung dass CO2-inten-sive Optionen europaweit keine laumlngerfristigen Perspektiven haben macht klimafreundliche Ansaumltze zusaumltzlich attraktiv fuumlr Unternehmen Drittens verhindern einheitliche Regulie-rungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU

1 Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017) Energy Technology Perspec-

tives 2017 (online verfuumlgbar abgerufen am 8 April 2019 Dies gilt fuumlr alle anderen Onlinequellen in diesem

Bericht sofern nicht anders vermerkt)

2 Europaumlische Kommission (2011) Fahrplan fuumlr den Uumlbergang zu einer wettbewerbsfaumlhigen CO2-armen

Wirtschaft bis 2050 (online verfuumlgbar)

3 Boston Consulting Group und Prognos (2018) Klimapfade fuumlr Deutschland Studie im Auftrag des

Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfuumlgbar) sowie Deutsche Energieagentur (Dena)

(2018) dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfuumlgbar)

4 Climate Strategies (2018) Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of

Materials (online verfuumlgbar) Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018) Klimafreundliche Herstellung

und Nutzung von Grundstoffen Buumlndel von Politikmaszlignahmen notwendig DIW Wochenbericht Nr 26

( online verfuumlgbar)

5 Richtlinie 201030EU des Europaumlischen Parlaments und des Rates vom 19 Mai 2010 uumlber die An-

gabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte

mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung) Amtsblatt der Europaumlischen Union

(online verfuumlgbar)

ABSTRACT

bull Die Grundstoffindustrie wie Stahl- und Zementherstellung

verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen

bull Europaumlischer Emissionshandel kann eine wichtige Rolle fuumlr

die Staumlrkung von Innovation und Investition in klimafreund-

liche Technologien einnehmen

bull Umfassende Ausnahmeregelungen fuumlr international gehan-

delte Grundstoffe schwaumlchen jedoch den Effekt

bull Ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung von Grundstof-

fen deren Erloumls sich unter allen BuumlrgerInnen aufteilen lieszlige

koumlnnte eine Loumlsung darstellen

Klimapfand fuumlr eine klimafreundlichere IndustrieVon Karsten Neuhoff Joumlrn Richstein und Vera Zipperer

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

325DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 einge-fuumlhrten europaumlischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschoumlpfungskette weitergeben da diese Unternehmen stark im internationa-len Wettbewerb stehen Aus Angst dass Grundstoffherstel-ler wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Pro-duktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko) wer-den ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt Das fuumlhrt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschoumlpfungskette6 Ohne diese Weitergabe entfal-len jedoch die Anreize fuumlr die weiterverarbeitende Indust-rie CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nut-zen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Bei-spiel Holz zu ersetzen Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfaumlllt die wirtschaftliche Perspektive fuumlr klimafreundliche Pro-duktionsprozesse

Um diese Problematik anzugehen sollte der europaumlische Emissionshandel um ein Klimapfand7 auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergaumlnzt werden Darunter ver-steht man eine von den Konsumentinnen und Konsumen-ten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensitaumlt der fuumlr die Her-stellung dieser Produkte benoumltigten Grundstoffe orientiert

Die Einfuumlhrung einer solchen Abgabe ist durch die Kombi-nation von zwei Reformen moumlglich Erstens soll die Zutei-lung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunter-nehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden Damit muumlssen nur diejenigen Unternehmen deren Emis-sionen uumlber den Referenzwert-Emissionen liegen zusaumltzli-che Zertifikate kaufen Unternehmen die weniger als den Referenzwert emittieren profitieren durch die Moumlglichkeit uumlberzaumlhlige Zertifikate zu verkaufen

Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grund-stoffen erhoben Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden Werden zum Beispiel fuumlr pro Tonne Stahl ungefaumlhr zwei Zertifikate (agrave 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf

6 Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten wuumlrde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeintraumlchti-

gen Der Effekt entsteht da die zukuumlnftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau

gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden

das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis faumlllt

7 Karsten Neuhoff et al (2016) Ergaumlnzung des Emissionshandels Anreize fuumlr einen klimafreundliche-

ren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe DIW Wochenbericht Nr 27 (online verfuumlgbar) Analysen

zu oumlkonomischen administrativen und juristischen Detailfragen sind verfuumlgbar auf der Projektseite von

Climate Strategies (online verfuumlgbar)

importierte Grundstoffe und Produkte erhoben waumlhrend Exporte nicht erfasst werden Das vermeidet Wettbewerbs-verzerrungen und Carbon Leakage Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformitaumlt mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Ver-waltungsaufwand minimiert werden

Die Erloumlse koumlnnen teilweise Klimaschutzmaszlignahmen finan-zieren und zu einem groumlszligeren Teil pauschal pro Kopf an alle Buumlrgerinnen und Buumlrger ruumlckerstattet werden ndash daher der Name Klima-bdquoPfandldquo Damit haumltte das Klimapfand ein progressives Element da aumlrmere Haushalte die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte die die gleiche Ruumlckerstat-tung erhalten

Mit der Ergaumlnzung des europaumlischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschoumlpfungskette wiederherge-stellt Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewaumlhrleistet Diese Ergaumlnzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandels-richtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden8

8 Roland Ismer und Manuel Hauszligner (2016) Inclusion of Consumption into the EU ETS The Legal Ba-

sis under European Union Law Review of European Comparative amp International Environmental Law 25

69ndash80

Karsten Neuhoff ist Leiter der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

kneuhoffdiwde

Joumlrn Richstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Klimapolitik am

DIW Berlin | jrichsteindiwde

Vera Zipperer ist Doktorandin der Abteilung Klimapolitik am DIW Berlin |

vzippererdiwde

JEL F18 H23 L51 L78

Keywords Emissions trading scheme climate deposit consumption charge

basic materials sector

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

326 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen Die afrikanische Bevoumllkerung waumlchst wei-ter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr) lebt haumlufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhaumlltnis-sen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunter-schied zu Europa gegenuumlber Die Zahl der Menschen die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika die Migration mittelfristig zu begren-zen die oft bedruumlckende Armut zu bekaumlmpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbar-kontinent zu profitieren

Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschlaumlge zur Entwicklung wie den bdquoMarshallplan mit Afrikaldquo des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder den bdquoCompact with Africaldquo der G20-Laumlnder1 Was ist von diesen Vorschlaumlgen zu halten inwieweit koumlnnen sie wirtschaftliche Entwicklung foumlrdern und Migration wirklich bremsen

Der G20-Compact zielt auf die Foumlrderung privater Investiti-onen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung Dagegen ist der deutsche bdquoMarshallplanldquo brei-ter angelegt Er umfasst die drei (hier verkuumlrzt dargestell-ten) Ziele Beschaumlftigung Stabilitaumlt und Rechtsstaatlich-keit Zu jedem Ziel werden Maszlignahmen vorgeschlagen die in Deutschland Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen Wenn sich dieses Programm breit umsetzen lieszlige waumlre dies mittel- und langfristig eine fantas-tische Voraussetzung fuumlr Entwicklung Doch dies ist kaum zu erwarten

Zunaumlchst leben in Afrika derzeit bereits rund 13 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so groszligen Flaumlche wie Europa Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr aus2 dies ist eher ein Tropfen auf den heiszligen Stein und nicht

1 Bundesministerium fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017) Afrika und Europa ndash

Neue Partnerschaft fuumlr Entwicklung Frieden und Zukunft Eckpunkte fuumlr einen Marshallplan mit Afrika

Informationen zum Compact with Africa unter wwwcompactwithafricaorg

2 Vgl OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4 Maumlrz 2019 Dies gilt fuumlr alle Onlinequellen in diesem Be-

richt sofern nicht anders angegeben)

ABSTRACT

bull Verbesserte Lebensbedingungen in Afrika verringern den

Migrationsdruck auf Europa

bull Der Umfang des deutschen bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo ist zu

gering einzig gebuumlndelte europaumlische Kraumlfte koumlnnten eine

Verbesserung erreichen

bull Ein Finanzsystem das moumlglichst viele Menschen erreicht

koumlnnte ein Schluumlssel fuumlr die zukuumlnftige Entwicklung Afrikas

sein

Europa kann den Migrationsdruck aus Afrika nur mit vereinten Kraumlften lindernVon Lukas Menkhoff und Tobias Stoumlhr

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

327DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans fuumlr Nachkriegseuropa3 Schon von daher wirkt der Anspruch ver-messen dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaft-liche Entwicklung Afrikas voranbringen koumlnnte

Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deut-sche Zusammenarbeit auf Laumlnder die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen ndash sogenannte bdquoReformpartnerschaf-tenldquo Dies ist insofern sinnvoll als die Zielerreichung sich gegenseitig bestaumlrkt oder ndash anders herum betrachtet ndash bei-spielsweise Stabilitaumlt und Rechtssicherheit wichtige Bedin-gungen fuumlr Wachstum und Beschaumlftigung darstellen Aber selbst dafuumlr reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitaumlten aus Vernachlaumlssigt werden Kri-senstaaten wie bdquofailed statesldquo oder Laumlnder die am Rande eines Buumlrgerkriegs stehen Gerade von dort aber koumlnnten kuumlnftig verstaumlrkt MigrantInnen nach Europa kommen Da fuumlr sie kaum legale Migrationskanaumlle existieren werden auch viele die nicht unter individueller Verfolgung leiden ihr Gluumlck als Fluumlchtlinge versuchen

Mehr waumlre moumlglich wenn die EU-Laumlnder ihre Kraumlfte buumlndeln wuumlrden Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe

3 Nach heutigem Wert uumlber 130 Milliarden Dollar fuumlr 16 OECD-Laumlnder in einem Vier-Jahres-Zeitraum

etwa auf dem Niveau von China4 allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte euro-paumlische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Buumlndelung der Kraumlfte in der Bekaumlmpfung von Fluchtursa-chen Dies wird auch dadurch erschwert dass die EU-Laumln-der in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenuumlber den verschiedenen Formen von Migration insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von Asylbewer-berInnen haben

Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken um afrikanische Laumlnder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen Kurzfristig wuumlrde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jaumlhrliche Emigrations-rate nur geringfuumlgig reduzieren5 Man muss also auf mit-tel- und langfristige Effekte durch die Erhoumlhung des Wirt-schaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkun-gen auf die Lebenssituation zielen

Das staumlrkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Laumlndern wo zugleich viele Menschen

4 China gab in den Jahren 2010 bis 2014 jaumlhrlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus davon

etwa fuumlnf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 56 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen

Vgl Axel Dreher et al (2017) Aid China and Growth Evidence from a New Global Development Finance

Dataset AidData Working Paper 46 (online verfuumlgbar)

5 Die Reduktion koumlnnte bei zehn bis 15 Prozent liegen vgl Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018) The

impact of foreign aid on migration revisited World Development 111 59ndash75

Abbildung

Anteil der erwachsenen Bevoumllkerung die eine Emigration in den kommenden zwoumllf Monaten plantIn Prozent jeweils aktuellstes verfuumlgbares Jahr (2015ndash2017)

gt8

gt7

gt6

gt5

gt4

gt3

gt2

lt2

keine Angabe

Quelle Gallup World Poll eigene Berechnungen

copy DIW Berlin 2019

In Afrika ist der Migrationsdruck weltweit am houmlchsten

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

328 DIW Wochenbericht Nr 182019

GLOBALE VERANTWORTUNG

zu arm sind eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung) Zwar reagieren die Aumlrmsten auf uumlberraschend verfuumlgbares Einkommens durchaus mit mehr Migration Sofern ihr Einkommen aber mittel- und laumlngerfristig houmlher ist senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit6 Wichtig ist deshalb der Dreiklang wie er im deutschen bdquoMarshall-plan mit Afrikaldquo anklingt Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestaumlrkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt7

Ein Beispiel fuumlr diesen Dreiklang findet sich in einem Bau-stein des bdquoMarshallplans mit Afrikaldquo dem bdquoinklusiven Finanzsystemldquo So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finan-zen als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher moumlg-lich war In vielen Laumlndern wird zudem die Finanzbildung gefoumlrdert um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nut-zen zu koumlnnen Dies staumlrkt das Sparverhalten das finanzi-elle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen8 Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten koumln-nen bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie gerin-ger Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit Schon allein

6 Samuel Bazzi (2017) Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration American Econo-

mic Journal Applied Economics 9(2) 219ndash255 Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014) Out-migra-

tion wealth constraints and the quality of local amenities Journal of Development Economics 110 52ndash63

7 Esther Ademmer et al (2018) MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Euro-

pe Flexible Solidarity A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfuumlgbar)

8 Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017) Finanzbildung foumlrdert finanzielle Inklusion in armen

und reichen Laumlndern DIW Wochenbericht Nr 41 905ndash913 (online verfuumlgbar)

deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbei-ten die keine repressiven und autokratischen Systeme sind

Effektive Fluchtursachenbekaumlmpfung kann bedeuten dass man statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulaumlrer Migration zu setzen eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss Solche komplexen Abwaumlgungen sollten der europaumlischen Bevoumllkerung auch deutlich vermittelt werden Allerdings werden weder Wachstum finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in groumlszligerem Maszlige umzuset-zen sein wenn die Kraumlfte der EU-Laumlnder nicht gebuumlndelt und koordiniert werden

JEL F22 F35 O15

Keywords Development Aid migration EU-Africa relations

This report is also available in an English version as

DIW Weekly Report 16-17-182019

wwwdiwdediw_weekly

Lukas Menkhoff ist Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am DIW Berlin

|lmenkhoffdiwde

Tobias Stoumlhr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Weltwirtschaft

am DIW Berlin | tstoehrdiwde

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

Das vollstaumlndige Interview zum Anhoumlren finden Sie auf wwwdiwdeinterview

329DIW Wochenbericht Nr 182019

EUROPA

DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-5

1 Herr Kriwoluzky die EU wurde als reine Wirtschaftsge-

meinschaft gegruumlndet inwieweit ist sie heute mehr als

das Selbstverstaumlndlich ist die Wirtschaftsgemeinschaft

immer noch die Klammer die die Europaumlische Union zusam-

menhaumllt Das ist der Binnenmarkt und die Faumlhigkeit dass die

Europaumlische Union eine gemeinsame Handelspolitik betrei-

ben kann Aber im Zuge der letzten Jahrzehnte kam es zu

einer immer tieferen Integration der Europaumlischen Union als

Antwort auf die zunehmenden globalen Herausforderungen

der sich die Europaumlische Union gegenuumlbersieht

2 Das DIW Berlin hat in drei Schwerpunktfeldern 13 Her-

ausforderungen und Loumlsungen identifiziert denen sich

die EU in der naumlchsten Legislaturperiode stellen sollte

Das ist zum einen das Schwerpunktfeld bdquoWettbewerb

und Konvergenzldquo Was sind die wesentlichen Themen

in diesem Bereich In diesem Bereich haben wir uns unter

anderem mit der Fusionskontrolle beschaumlftigt Zum Beispiel

sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dass Groszlig-

konzerne in Europa als Gegengewicht zu den Konzernen in

Amerika und in China fungieren koumlnnten In diesem Teil zei-

gen wir ganz klar dass es nicht gut ist wenn wir nur wenige

groszlige Konzerne haben sondern dass unabhaumlngig vom Wirt-

schaftsministerium daruumlber entschieden werden sollte ob

Unternehmen fusionieren koumlnnen oder nicht Ein zweiter sehr

wichtiger Aspekt ist das Angleichen der Lebensstandards

in den unterschiedlichen Regionen Europas Dazu schlagen

wir unter anderem einen Pakt fuumlr Innovation vor Laumlnder und

Regionen die Strukturreformen durchfuumlhren die langfristig

zu mehr Wohlstand fuumlhren werden kurzfristig belohnt indem

sie Geld aus diesem Pakt fuumlr Innovation bekommen

3 Das zweite Schwerpunktfeld heiszligt bdquoStabiles und soziales

Europaldquo Was muss passieren um Europa eine stabile

und soziale Zukunft zu ermoumlglichen Zum Beispiel muss

der europaumlische Kapitalmarkt weiter integriert werden

US-Studien zeigen dass ein Groszligteil der asymmetrischen

Schocks in den unterschiedlichen Regionen Amerikas durch

den gemeinsamen Kapitalmarkt abgefangen werden Um

einen gemeinsamen Kapitalmarkt in der EU zu haben ist es

notwendig dass die Insolvenzregeln in den Mitgliedslaumlndern

angeglichen werden Das wirkt sich insofern in der naumlchsten

Krise auf die sozialen Verhaumlltnisse in Europa aus als dass die

Folgen laumlngst nicht mehr so langwierig und drastisch sein

wuumlrden wie die Folgen der letzten europaumlischen Schul-

den- und Finanzkrise die jetzt immer noch das Leben vieler

Menschen in Europa bestimmen

4 Warum ist es wichtig dass all diese Dinge auf europaumli-

scher und nicht auf nationaler Ebene geregelt werden

Vieles laumlsst sich uumlberhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene

regeln Fuumlr den Binnenmarkt und die gemeinsame Handels-

politik zum Beispiel benoumltigen wir selbstverstaumlndlich ganz

Europa Die Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht

mehr der Nationalstaat sein sondern beispielsweise wie in ei-

ner Versicherung das Zusammengehen in der Europaumlischen

Union Wir zeigen unter anderem im dritten Schwerpunktfeld

der bdquoglobalen Verantwortungldquo dass der Nationalstaat alleine

nicht genuumlgend gegen den Migrationsdruck aus Afrika oder

fuumlr das Erreichen der Klimaziele tun kann

5 Welche Loumlsungsansaumltze wurden im Bereich der Klima-

politik identifiziert Ein Loumlsungsansatz zeigt inwiefern man

100 Prozent erneuerbare Energien in Europa verwenden

kann Zum anderen schlagen wir ein Klimapfand vor In

diesem Vorschlag geht es darum dass Grundstoffe wie zum

Beispiel Stahl und Beton deren Produktion aus Wettbe-

werbsgruumlnden aktuell weitestgehend von den CO2-Emissi-

onszertifikaten ausgenommen ist in Europa mit einer Abgabe

belegt werden und zwar in dem Moment in dem man sie

verwendet Das heiszligt der Verwender zahlt die Abgabe das

Pfand Dieses Pfand wird dann unter allen Buumlrgern Europas

aufgeteilt So werden Mehrkosten insbesondere fuumlr finanziell

schwaumlchere Haushalte vermieden

Das Gespraumlch fuumlhrte Erich Wittenberg

Prof Dr Alexander Kriwoluzky ist Abteilungsleiter

der Abteilung Makrooumlkonomie am DIW Berlin

bdquoDie Antwort auf viele Herausforderungen kann nicht mehr der Nationalstaat gebenldquo

INTERVIEW MIT ALEXANDER KRIWOLUZKY

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

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SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

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331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

330 DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

SOEP Papers Nr 1003

2018 | Benjamin Scheibehenne Jutta Mata David Richter

Accuracy of Food Preference Predictions in Couples

The goal of this study was to identify and empirically test variables that indicate how well

partners in relationships know each otherrsquos food preferences Participants (n = 2854) lived

in the same household and were part of a large nationally representative panel study in

Germany Each partner independently predicted the otherrsquos preferences for several com-

mon food items Results show that predictive accuracy was higher for likes and for extreme

and stereotypical preferences as compared to dislikes and for moderate and idiosyncratic

preferences Accuracy was also higher for couples with a high similarity in preferences and

with longer relationship duration but was independent of participantsrsquo age after controlling

for relationship duration The data also show that relationship duration was accompanied by higher similarity

in couplesrsquo food preferences There was a small positive correlation between partner knowledge and both

partner similarity and satisfaction with family life but no correlation between partner knowledge and general

life satisfaction The results reconcile both valence and base-rate accounts of preference prediction accuracy

wwwdiwdepublikationensoeppapers

SOEP Papers Nr 1004

2018 | Jens Ruhose Stephan L Thomsen Insa Weilage

The Wider Benefits of Adult Learning Work-Related Training and Social Capital

We propose a regression-adjusted matched difference-in-differences framework to esti-

mate non-pecuniary returns to adult education This approach combines kernel matching

with entropy balancing to account for selection bias and sorting on gains Using data from

the German SOEPwe evaluate the effect of work-related training which represents the

largest portion of adult education in OECD countries on individual social capital Training

increases participation in civic political and cultural activities while not crowding out social

participation Results are robust against a variety of potentially confounding explanations

These findings imply positive externalities from work-related training over and above the well-documented

labor market effects

wwwdiwdepublikationensoeppapers

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

331DIW Wochenbericht Nr 182019

VEROumlFFENTLICHUNGEN DES DIW BERLIN

Discussion Papers Nr 1782

2019 | Dawud Ansari Franziska Holz Hasan Basri Tosun

Global Futures of Energy Climate and Policy Qualitative and Quantitative Foresight towards 2055

Existing long-term energy and climate scenarios are typically a rather simple extrapolation

of past trends Both qualitative and quantitative outlooks co-exist but they often focus

narrowly on individual perspectives which is opposed to the interlinked and complex

nature of energy and climate Therefore this study presents a set of novel and multidisci-

plinary narratives that give insight into four distinct and extreme yet plausible worlds base

case lsquoBusiness-as-usualrsquo worst case lsquoSurvival of the Fittestrsquo best case lsquoGreen Cooperationrsquo

and surprise scenario lsquoClimateTechrsquo Going beyond other outlooks our narratives focus on

changes in the geopolitical landscape and global order social perspectives on climate issues and technolog-

ical progress These holistic scenarios are designed to overcome previous barriers by an innovative bridging

between both qualitative and quantitative methods We start with the generation of qualitative scenario

storylines using techniques of foresight analysis including a facilitated expert workshop Then we calibrate

the numerical energy systems model Multimod to reflect the different storylines Finally we unite and refine

storylines and numerical model results into holistic narratives In addition to the narratives (which include

quantitative results on eg emissions energy consumption and the electricity mix) the study generates

insights on the key uncertainties and drivers of different pathways of (more or less successful) climate change

mitigation Additionally a set of transparent indicators serves as an early-warning system to identify which

of the paths the world might enter Lessons learnt include the dangers from increased isolationism and the

importance of integrating economic and energy-related objectives as well as the large role of public opinion

and social transition

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

Discussion Papers Nr 1783

2019 | Helene Naegele

Where Does the Fairtrade Money Go How Much Consumers Pay Extra for Fairtrade Coffee and How This Value Is Split along the Value Chain

Fairtrade certification aims at transferring wealth from the consumer to the farmer how-

ever coffee passes through many hands before reaching final consumers Bringing togeth-

er retail wholesale and stock market data this study estimates how much more consum-

ers are paying for Fairtrade-certified coffee in US supermarkets and finds estimates around

$1 per lb I then assess how this price premium is split between the different stages of the

value chain most of the premium goes to the roasterrsquos profit margin while the retailer surprisingly makes

smaller absolute profits on Fairtrade-certified coffee compared to conventional coffee The coffee farmer

receives about a fifth of the price premium paid by the consumer but it is unclear how much of this (quantity-

dependent) benefit goes toward the payment of (quantity-independent) license fees

wwwdiwdepublikationendiskussionspapiere

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER

KOMMENTAR

332 DIW Wochenbericht Nr 182019 DOI httpsdoiorg1018723diw_wb2019-18-6

Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahl-

programm einen Dexit einen Austritt Deutschlands aus der

EU Dies mag man fuumlr absurd und weltfremd halten Dabei ist

ein Dexit und gar ein Kollaps der Europaumlischen Union gar nicht

so unwahrscheinlich vor allem wenn Deutschland nicht die

richtigen Lehren aus dem Brexit zieht Denn Groszligbritannien und

Deutschland unterliegen aumlhnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht

Sie unterschaumltzen beide die Bedeutung der Europaumlischen Union

fuumlr die eigene Zukunft

Vor fuumlnf Jahren hat kaum jemand einen Brexit fuumlr moumlglich gehal-

ten Denn Groszligbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft

profitiert Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur

zwei Beispiele Doch Groszligbritannien konnte sich nie wirklich mit

Europa identifizieren Der Grund haumlngt auch mit der Geschichte

des Vereinigten Koumlnigreichs zusammen Viele in Politik und

Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin das Land

sei eine Weltmacht und brauche Europa fuumlr seinen Wohlstand

und seine Zukunftssicherung nicht

Viele in Deutschland unterliegen einer aumlhnlichen Illusion Sie

skandieren Europa sei eine Transferunion in der wir der bdquoZahl-

meisterldquo seien und die unseren Interessen schade Die Rettung

Griechenlands und anderer Laumlnder oder das Zahlungssystem

Target haumltten Deutschland Verluste beschert Dabei ist genau

das Gegenteil der Fall Deutsche Banken und deutsche Investo-

ren wurden durch diese Programme geschuumltzt und somit letzt-

lich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande

Gerne wird in Deutschland auch uumlber die Zuwanderung geklagt

gleichzeitig aber verschwiegen dass ohne die mehr als vier

Millionen europaumlischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom

der vergangenen zehn Jahre gar nicht moumlglich gewesen waumlre

Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik

die zu riesigen Handelsuumlberschuumlssen fuumlhrt gleichzeitig aber

hohe Defizite und Schulden in anderen europaumlischen Laumlndern

erfordert uumlber die sich die deutsche Politik dann wiederum

echauffiert

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europaumlischer Refor-

men geworden und verfolgt zu haumlufig eine Europapolitik des

bdquoNeinldquo Die Bundesregierung hat auf einer Austeritaumltspolitik in

vielen europaumlischen Laumlndern bestanden obwohl diese Politik

verfehlt war und die Krise verschaumlrft hat Ferner hat die deutsche

Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der

Europaumlischen Zentralbank nicht widersprochen Sie verschleppt

seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion die so essen-

ziell fuumlr die wirtschaftliche Gesundung Europas ist Die deutsche

Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europaumlischen

Partner ignoriert die gleichen Regeln jedoch wenn es opportun

erscheint Sie hat immer wieder nationale Alleingaumlnge in Europa

verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst

Aumlhnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden dass

unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist

unser Wohlstand aber gleichzeitig wie fuumlr kaum ein anderes

Land von einem starken geeinten Europa abhaumlngt Dies erfor-

dert die Einsicht dass nationale Souveraumlnitaumlt bei den groszligen

wichtigen Fragen unserer Zeit ndash von der Verteidigungs- Sicher-

heits- und Auszligenpolitik uumlber Klimapolitik bis hin zur Handels-

und Waumlhrungspolitik ndash eine Illusion ist Was fuumlr manche paradox

klingt ist Realitaumlt Die Wahrung nationaler Interessen erfordert

eine staumlrkere europaumlische Integration in vielen Bereichen ohne

das Prinzip der Subsidiaritaumlt aufgeben zu muumlssen

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich

nicht irgendwann enttaumluscht von Europa abwendet ndash wie das

Vereinigte Koumlnigreich es gerade tut ndash muss die deutsche Politik

einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen

und zusammen mit Frankreich eine kluge Integration Europas

vorantreiben Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine

Staumlrkung europaumlischer Institutionen und oumlffentlicher Guumlter wie

in der Sicherheits- und Sozialpolitik Und ja es erfordert auch

dass die Bundesregierung Geld aufbringt fuumlr ein gemeinsames

Budget zur Krisenbekaumlmpfung und fuumlr kluge Investitionen in die

Zukunft Europas und damit auch Deutschlands

Dieser Beitrag ist in einer laumlngeren Version am 23 April 2019 in der Suumlddeutschen Zeitung erschienen

Prof Marcel Fratzscher PhD ist Praumlsident des

DIW Berlin

Der Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder

Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik

MARCEL FRATZSCHER