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Manfred Theisen • Gesucht: Anne Bonny, Piratin

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Page 1: Manfred Theisen • Gesucht: Anne Bonny, Piratin · Anne Bonny. Ihre Geschichte spielt in der Karibik, auf der Insel New Providence. Wer heute als Tourist dorthin fliegt, kann nur

Manfred Theisen • Gesucht: Anne Bonny, Piratin

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Manfred Theisen wurde 1962in Köln geboren. Er studierteGermanistik, Anglistik und Po-litik, forschte zwei Jahre fürdas deutsche Innenministe-rium in der Sowjetunion, grün-dete einen Entwicklungshilfe-Verein in Äthiopien, arbeiteteals Redakteur und leitete eineKölner Zeitungsredaktion. Heu-te lebt er als freier Autor in

Bonn und Köln. Für seine Jugendbücher hat er zahlreiche Sti-pendien und Auszeichnungen erhalten.

Weitere lieferbare Titel von Manfred Theisen:

Amok (30175)Checkpoint Jerusalem (30249)

DER AUTOR

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Manfred Theisen

Gesucht:Anne Bonny, Piratin

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cbt – C. Bertelsmann TaschenbuchDer Taschenbuchverlag für JugendlicheVerlagsgruppe Random House

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchessind chlorfrei und umweltschonend.

1. AuflageErstmals als cbt Taschenbuch Februar 2006Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2001 ELEFANTEN PRESS/C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenUmschlagfoto: AKG, BerlinUmschlagkonzeption:init.büro für gestaltung, Bielefeldlf · Herstellung: CZSatz: Agentur Marina Siegemund, BerlinDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckISBN-10: 3-570-30373-XISBN-13: 978-3-570-30373-3Printed in Germany

www.cbj-verlag.de

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Ein Wort vorab

Piraten haben Handys und tragen Baseballmützenmit der Aufschrift Coca Cola. Sie klemmen sich mor-gens nach dem Frühstück ihr Maschinengewehr unterden Arm, setzen sich ins Schnellboot und überfallenÖltanker. Sie nehmen Geiseln und verlangen Lösegeld.Es gibt heute mehr Piraten denn je, sie kapern Schif-fe im südchinesischen Meer oder beteiligen sich amDrogenhandel in Südamerika und in der Karibik. Oftkommen sie aus armen Familien und haben nie eineSchule besucht.

Die Freibeuter tragen keine Augenklappen, sie ha-ben kein Holzbein und nur selten einen Papagei aufder Schulter. Sie kennen vermutlich nicht einmal dieGeschichte von der Schatzinsel. Nur das Entermesseran ihrem Gürtel erinnert an die Tage, als Klaus Stör-tebeker, Francis Drake und Kapitän Schwarzbart dieWeltmeere unsicher machten.

Einer der wohl ungewöhnlichsten und mutigstenPiraten im 18. Jahrhundert war eine Frau: die PiratinAnne Bonny. Ihre Geschichte spielt in der Karibik, aufder Insel New Providence.

Wer heute als Tourist dorthin fliegt, kann nur ah-nen, was sich vor dreihundert Jahren in diesem Pa-radies abgespielt hat, als hunderte von Piraten dorthausten. Vieles über ihre Zeit wissen wir aus Berich-ten wie dem von Pater Labat. Außerdem widmete

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Daniel Defoe, der Autor des weltberühmten RomansRobinson Crusoe, Anne Bonny ein Kapitel in seinemBuch über die Allgemeine Geschichte der Piraterie.Leider ist es recht kurz geraten, und das vermutlichmit Absicht: Anne Bonny lebte damals noch und Da-niel Defoe wollte ihr wohl nicht schaden. Daher plau-derte er nur wenig über sie aus. Bis heute gibt es aber – neben einigen Forschern – in der Karibik viele Er-zähler und Maler, die von der fintenreichen Seeräu-berin berichten und den Funken historische Wahrheitin ihren Worten und Bildern bewahren.

Wer glaubt, Piraterie sei nur was für Männer, demjedenfalls sei gleich vorweg gesagt: Unter den Kappenund Hüten verbarg so manche Piratin ihr langes Haar.Viele von ihnen nahmen ihr Geheimnis mit ins Grab.

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Bill stand im Ausguck und legte die Hände zueinem Trichter um den Mund. Er rief denMatrosen an Deck etwas zu, was sie sofort in

Aufregung versetzte. Anne war unten in der Kajüteund konnte ihn nicht hören. Aber die Neuigkeit drangschnell durch die offenen Luken hinab ins Schiff, gingvon Mund zu Mund, verbreitete sich in den muffigenGängen, wo die Luft nach Teer und Nässe, Küchen-dunst und Schweiß roch, kroch unter den Türen hin-durch in die Kajüten.

»Land in Sicht!«William Cormac wollte seinen Ohren zuerst nicht

trauen. Doch als er die funkelnd grünen Augen sei-ner Tochter sah, wusste er, dass sie es ebenfalls ge-hört hatte. Anne fiel ihm um den Hals. Dann drehtesie sich zu ihrer Mutter um, die im Bett lag: »Mama,wach auf!«

Ihr Vater hielt sie zurück. »Lass sie schlafen«,meinte er. »Sie hat das Pulver vom Schiffsarzt genom-men. Komm, wir gehen an Deck und sehen uns Ame-rika an. Es ist besser, sie ruht sich aus, bis wir morgenanlegen.«

Die meisten Passagiere drängten sich schon vor-ne an der Reling und sahen rechts und links von derBugspriet hinaus aufs Meer. Die Segel der Wing wa-ren gewölbt wie ein riesiger Bierbauch. Anne Cormac

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rannte zu den anderen Kindern und suchte mit denAugen den Horizont ab. Hinter den Wellenkämmen,die weiß auf dem grünblauen Meer lagen, mussteLand zu sehen sein. Aber sie konnte nichts entdecken:kein Grün, kein Braun, kein Land. Nur Wasser. Wiejeden Abend versank die Sonne am Horizont, nur umam nächsten Morgen gegenüber wieder aus dem nas-sen Bett aufzusteigen.

»Da ist Land! Ich hab’s mit eigenen Augen gese-hen. Es ist grün.«

Bill, der Schiffsjunge, der eben noch im Ausguckgestanden hatte, hockte plötzlich neben Anne undblickte sie schräg von unten an.

Doch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr die scharfeStimme eines Matrosen dazwischen: »Quatschst duschon wieder die Passagiere voll? Wenn du nicht soein Jungspunt wärst, würde ich dir die Hölle zeigen!«

»Ich komme ja«, antwortete Bill. Und Anne flüs-terte er zu: »Wir treffen uns später.«

Sie nickte, obwohl Bill schon verschwunden war.Anne schaute wieder hinaus aufs Meer. Seit sechs

Wochen nichts als Wasser. Das letzte Land waren einpaar bewaldete Inseln vor der portugiesischen Küstegewesen. Anne hatte sich die Überfahrt nach Amerikaanders vorgestellt. Die meiste Zeit verbrachten alleunter Deck in den muffigen Kajüten und starrten aufdie Öllampen, die wie die Pendel einer Uhr hin undher schwangen. Im Unterdeck stand das Wasser, dasdurch die Luken in den Rumpf schwappte, und dieFeuchtigkeit zog wie ein unaufhaltsamer Geist durchdas ganze Schiff. Selbst die Decken für die Nachtwaren klamm wie Scheuerlappen.

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»Ich gehe hinunter. Gleich ist es ohnehin dunkel«,sagte der Vater.

Anne folgte ihm. William Cormac war ein hochgewachsener, vornehmer Mann, der auch währendder Fahrt stets korrekt gekleidet war – er rasierte sichregelmäßig und selbst die Schnüre, mit denen seineHosen unter den Knien zugebunden wurden, warenan den Rändern glatt und nicht aufgeriffelt. Trotz derHitze trug er seine hellbraune Weste über dem wei-ßen Hemd und das Gesicht eines jeden, der mit ihmsprach, spiegelte sich in den blank polierten Messing-knöpfen seiner Jacke.

»Sie schläft noch«, sagte Cormac leise, als sie diegemeinsame Kajüte betraten. Der Raum maß geradezwei Schritte in der Breite und drei in der Länge. DieLuft war erdrückend schwül und schwer.

Für Annes Mutter Mary war die Reise eine Fluchtund ein Fluch zugleich. Wie konnte William glauben,dass es in Charles Town besser würde als in Irland?

»Ab morgen wird sich dein Leben ändern, An-ne.« Cormac setzte sich auf die Bank und betrachteteAnne, die in der Tür stand. »Du wirst Kleider tragen,eine Schule besuchen und Freundinnen haben wieandere Mädchen. Und du wirst Milton lesen und ler-nen, wie man mit dem Fächer umgeht.«

»Kann ich noch mal nach oben?«, fragte Anne,die davon nichts hören wollte.

»Wenn du morgen dein Kleid anziehst.« Cormacstreifte mit einem Blick ihre viel zu weiten grauen Hosen, in denen sie wie ein Junge aussah.

Sie versprach es widerwillig. Kleider und Röckewaren ihr ebenso verhasst wie die schwarzköpfigen

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Maden im Essen. Zwei Jahre lang hatte sie sich wieein Junge benehmen müssen, hatte nicht mit Freun-dinnen, nicht mit Puppen spielen dürfen. Alle hattensie in den vergangenen Jahren Andrew und nicht An-ne genannt, weil niemand wissen durfte, dass sie einMädchen und die uneheliche Tochter des angesehenenAnwalts Cormac war. In der neuen Welt sollte sie einneuer Mensch sein, von einem Tag auf den anderenaus dem Jungen Andrew das feine Mädchen AnneCormac werden. Statt ihren Vater in den Hafen zubegleiten wie früher, würde sie Spinett üben und sichdie Wangen pudern müssen. Es gruselte sie bei dembloßen Gedanken.

Anne stürmte die Stufen hinauf an Deck. Das eng-lische Schiff war ein Dreimaster und besaß siebzehnGeschützpforten. Nur hinter dreien standen tatsäch-lich Kanonen. Kapitän Winter wollte so viele Passa-giere wie nur irgend möglich nach Amerika mitneh-men. Schließlich bekam er von jedem einen BatzenGeld für die Überfahrt. Er hatte daher nicht genügend Matrosen, um die Geschütze zu bedienen. Aber wel-ches Piratenschiff würde schon einen Segler mit einemHaufen Siedler entern? Sie hatten weder Gewürzenoch Gold geladen. Für die paar Pfund im Gepäck derenglischen, schottischen und irischen Auswandererlohnte es sich nicht, das Leben zu riskieren.

»Na, wieder mal auf Entdeckungstour?« Wood war der Steuermann. Er stammte aus Wales

und sein Kinn glich einem Schiffskiel. Anne mochteihn. Vier Jahre war er auf einem Walfänger über dieWeltmeere gefahren und er konnte die spannendstenGeschichten erzählen. Laut Kapitän Winter war er der

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beste Navigator, den es zwischen dem ost- und demwestindischen Wasser gab. Seine Augen wollten nichtmehr so richtig, denn vom Umgang mit dem Quad-ranten hielt er nicht viel. Stattdessen las er die Posi-tion des Schiffes am Stand der Sonne ab. Doch warder göttliche Kompass zu hell und so wurde seineSehkraft immer schlechter.

Anne hockte sich vor ihm auf die Planken, krem-pelte ihre Hosenbeine hoch und sagte keck: »Erzählmir eine Geschichte!«

»Kriegst wohl nie genug, was?«, brummte Wood.»Nie!« Anne liebte nichts mehr, als Wood zuzu-

hören, wenn er am Steuer stand und von Walen undMeerungeheuern, von Stürmen und Piraten berich-tete.

»Kennst du Kidd?«, fragte Wood. »Er war einmieser Pirat.«

Anne hatte ihn hängen sehen, als die Wing vonLondon kommend aus der Themse in den Atlantikgesegelt war. An einem Galgen an Tilbury Point bau-melte der schottische Freibeuter, vom Fluss aus gut zuerkennen. Zur Abschreckung war er in einen stähler-nen Käfig gesperrt worden, der aussah wie eine Fisch-reuse. Jeder sollte sehen, wie es Gesetzlosen erging, diedem König übel mitspielten. Dabei war Kidd jahre-lang im Auftrag der Krone unterwegs gewesen, umspanische Schiffe zu plündern.

»Und Bonnet?«, fragte Anne. »Er soll auch einPirat sein. Bill hat mir von ihm erzählt.«

»Ein Christ ist er und zu gut fürs Leben. MitSchurken wie Kidd kannst du ihn nicht vergleichen.Bonnet ist der einzige Gauner, der Gedichte auswen-

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dig aufsagt, wenn es seiner Mannschaft schwer umsHerz ist.«

»Warum ist er dann Pirat geworden?«»Seine Frau und er haben auf Barbados gelebt, ein

paar hundert Meilen südlich von hier. Sie ist weich-herzig und hatte Mitleid mit den Sklaven.«

»In Charles Town soll es viele Sklaven geben.«»Eins nach dem andern. Bleiben wir erst einmal

auf Barbados. Bonnets Frau Sarah liebte die Insel,aber für sie waren die Sklaven keine Tiere, sondernMenschen. Sie zwang Bonnet, seine Schwarzen frei-zulassen.«

»Und?«»Die Nachbarn hielten ihn natürlich für ver-

rückt und gefährlich. Wer wirft schon sein Gold insMeer? Und Sklaven sind Gold, schwarzes, schwitzen-des Gold auf den Plantagen.«

Anne blickte verträumt in den Himmel hinauf.Oben in der Takelage standen die Matrosen und hiel-ten sich an der Rah fest, wo das Segel aufgehängt war. Es sah alles so romantisch aus. Hätte sich nichtder bestialische Gestank von faulem Fleisch im Schifffestgesetzt wie ein Blutegel, dann hätte das Paradiesgleich hier in der Nähe sein können.

»Hörst du mir zu?« Sie nickte. »Natürlich.« »Tja, und die Sklaven selbst wussten nicht, was

sie mit ihrer Freiheit anfangen sollten. Also kehrten siezu Bonnet zurück. Der kaufte sich eine kleine Scha-luppe und segelte los, ohne einen blassen Schimmervon der Seefahrerei. Ha! Ein Pirat, der sich ein Schiffkauft! Das musst du dir mal vorstellen.«

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Anne lachte mit.»Das Boot taufte er Revenge, Rache. Ein harter

Name für einen weichen Knaben. Seine Mannschaftbestand aus lauter Geächteten.«

»Wie bei Robin Hood.«»Der konnte zumindest mit dem Bogen umgehen.

Bonnet kann weniger als Bill. Er glaubt, ein türkischerKnoten sei eine Art Turban. So heißt es jedenfalls.«

Wo ist Bill eigentlich?, fragte sich Anne im Stillen,während Wood fortfuhr.

»Er überfällt fast nur Sklaventransporte und setztdie Afrikaner irgendwo in Pennsylvania an Land.Aber um aus ihnen freie Menschen zu machen, müssteer ihnen die schwarze Haut abziehen.«

Anne zuckte zusammen, als die Luke hinter Wood von innen aufgestoßen wurde: Kapitän Win-ter. Wie ein Berg baute er sich mit seiner mächtigen Gestalt vor Anne auf und sagte: »Piraten sind Feinde der Menschheit. Man sollte sie alle ohne Gericht amMastbaum aufknüpfen.« Seine Augen waren schmalund grün wie Pistazien, seine Hände breit. Er zog sichden Dreispitz auf dem Kopf gerade, krempte rechtsund links den Hut noch etwas höher und fragte: »Wiestehen die Dinge, Wood?«

»Gut. Die Küste schwimmt uns entgegen. Es wirdgleich dunkel, dann sehen wir das Feuer an Land.«

»Du solltest deiner kleinen Freundin hier nicht soviel von diesen Schurken erzählen. Nachher will sieselbst noch unter blutiger Flagge zur See fahren. Aberauf Piratenschiffen sind keine Frauen erlaubt. Esheißt, sie bringen unter ihren Röcken das Unglück anDeck. Das lass dir gesagt sein.«

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Anne stand unwillkürlich stramm. Sie hatte dieKnie gegeneinander gedrückt und ihre Hände flach andie Oberschenkel gelegt. Eine leichte Brise blähte ihreHosenbeine auf, als wolle sie schon voraussegeln.

Der Kapitän lachte dröhnend. »Steh nicht wie einunterwürfiger Offizier vor mir.«

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Am nächsten Morgen machte die Wing am Piervon Charles Town fest. Charles Town lag aufeiner Landzunge zwischen dem Ashley- und

dem Cooperfluss, die hier ins Meer mündeten. Überallin dieser Stadt schien Wasser zu sein. Selbst die Luftwar feucht, als könnte man sie trinken. Koffer wurdenverladen, Waren von und an Bord gebracht und dieHändler von Charles Town priesen lautstark ihreKöstlichkeiten an. Ausgezehrt von der langen Über-fahrt, zahlten die Neuankömmlinge für ein Reisbäll-chen oder ein paar Bananen in der neuen Welt so vielwie wohl nie wieder in ihrem Leben. Es gab Kokos-nüsse, Zitronen, Mangos und geräucherten Barsch.

Anne trug ein rotes Kleid, oder besser, sie musstees tragen. Als sie über den schmalen Steg von Bordging, sah sie aus wie eine der Feuerquallen, die durchsWasser schwebten. Sie blickte sich immer wieder um.Irgendwo in dem Durcheinander musste Bill sein.

»Du wirst ihn sicher noch mal sehen, bevor erwieder nach London zurücksegelt.« Annes Mutterwar froh, endlich die Schiffsplanken gegen festen Bo-den unter den Füßen eintauschen zu können.

William ging hinter ihnen her. Er scheuchte dreiSchwarze, die unter dem Gewicht der Schrankkofferstöhnten, in denen sich Cormacs Hausstand befand.

Charles Town hatte Anne sich größer vorgestellt.

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Was sie sah, waren ein paar Palmen, Pferdekarren und die Spitze des Kirchturms, die weiß zwischen denBuden hervorlugte. Bis auf die Kirche St. Philip’s be-standen alle Gebäude aus Holz. Hier am Hafen hattensich Fassmacher, Seiler, Schmiede und Netzflicker an-gesiedelt. Vielleicht gab es ja noch einen Uhrmacheram Ort, aber Schnitzer für Galionsfiguren wie in Lon-don würde sie hier umsonst suchen.

»Ich habe Durst«, klagte Anne. Ihr Vater reagierte nicht, denn in diesem Augen-

blick rief eine andere Stimme: »Cormac, William Cor-mac?« Von der Seite kam ein Mann im Gehrock aufsie zu. Ein rollendes Fass mit Hut.

»Gut, dass Sie Ihren Namen auf die Koffer ge-schrieben haben«, japste er und wischte sich mit ei-nem lilafarbenen Spitzentuch den Schweiß von derStirn.

»Dann sind Sie ...«»Mr Ripley«, stellte er sich vor. »Ich hoffe, Sie

hatten eine angenehme Reise, Mr Cormac.«Ripley hatte seine eigenen Sklaven dabei, die auf

einen Wink nach den Koffern griffen. Sie waren nochdunkler als jene Männer, die sich Annes Vater geliehenhatte.

»Mr Cormac, eines müssen Sie gleich lernen: Skla-ven mit einem T auf der Stirn sollten Sie nie IhrGepäck anvertrauen.«

Anne hatte sich schon über die Brandzeichen aufder Stirn der Afrikaner gewundert.

»Das T bedeutet thief, Dieb. Hier leben mehr Ga-noven als Indianer. Die meisten Rothäute haben wirohnehin schon hinter die Berge der Appalachen ge-

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schossen. Das Brandzeichen erleichtert einem jeden-falls den Alltag mit den Kerlen.«

William nickte. »Danke für den Hinweis. In Corkgibt es keine Sklaven.«

»Kommen Sie mit mir. Ich werde Ihnen etwaszeigen«, sagte Ripley und wies einladend auf seinewartende Kutsche.

Er fuhr mit ihnen hinaus zu einer Reisplantage, de-ren Besitzer vor kurzem gestorben war. Zwei Tagespäter kaufte Cormac das Grundstück, samt AufseherCharley Vierfeder, zwei Dutzend Sklaven und einemHerrenhaus.

Obendrein überließ Ripley ihm sein altes Dienst-mädchen. Clara zog eine Woche später ein und ver-stand sich auf Anhieb mit Mrs Cormac. Sie bekam dieKammer gleich neben der Küche.

Anne und ihre Eltern wohnten im oberen Stock.Clara ließ eine der Sklavinnen das Haus schrubbenund die Teppiche einseifen. Schließlich musste dasschwarze Mädchen, das nicht viel älter als Anne war,den Kamin säubern, in dem schon Kletterpflanzenwuchsen und riesige Spinnen hausten. Anfänglichekelte sich Anne noch vor dem langbeinigen Getier.Erst nach Wochen hatte sie sich an die Insekten inCharles Town gewöhnt.

»Das müssen Sie doch nicht machen, das ist zuschwer für Sie, Mrs Cormac«, war einer der Sätze, diein diesen Tagen ständig durchs Haus schwirrten. Cla-ras zweiter Lieblingsspruch: »Kein Gang ist umsonst,wenn man etwas in den Händen trägt.« Sie selbst sorg-te sich am liebsten um die Einrichtung, kaufte eine

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Holztruhe mit Eisenbeschlag und einen neuen Kamin-tisch. Schließlich holte sie noch von Ripleys Anwe-sen einen mächtigen Schrank für den Wohnraum. Diegoldbemalten Griffe der Türen waren kleine speckigeEngel ohne Flügel. Diese Putten erinnerten Anne sofortan Clara, nur wirkten die Gesichter zu freundlich.Nach nicht einmal einer Woche sah es bei den Cor-macs genauso aus wie in Ripleys Haus und in denHäusern ihrer Nachbarn. Die meisten wohlhabendenFamilien von Charles Town unterschieden sich kaumvoneinander – höchstens in der Zahl ihrer Kinder. Unddie sollte Anne nun alle in der Schule kennen lernen.

Als Charley Vierfeder das erste Mal mit dem Wagenan der Schule vorfuhr, lebten Anne und ihre Elternschon fast drei Wochen in Charles Town.

»Komm, Anne.« Charley nahm ihre Bücher undhalf ihr auf den Kutschbock. Er war ein Siouan-India-ner, einer der letzten Überlebenden seines Stamms.

»Und? Hast du schon neue Sklaven ausgesucht fürDaddy?«

»Nein. Es sind kaum Frauen bei der neuen La-dung dabei gewesen. Ich verstehe nicht, warum deinVater nur Frauen will. Bei den Männern kenne ichmich aus. Die besten sind schwarz, pechschwarz, mei-ne ich.«

»Und die Frauen?«Charley zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen.«Anne wusste nichts über Sklaven. Warum alle von

ihnen wie von Tieren redeten, konnte sie erst rechtnicht verstehen. Clara meinte, Schwarze hätten keineSeele, nur Christen. Und deshalb müsse Anne beten

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und zur Kirche gehen, sonst würde auch sie ihre Seeleverlieren.

»Werde ich schwarz, wenn ich nicht bete?«Charley sah sie erstaunt an, dann lächelte sein

breiter Mund.»Das würde ich lieber nicht ausprobieren.«Er schnalzte mit der Zunge und streichelte die

Rücken der Pferde mit der Spitze der Peitsche. Sofortfielen die beiden Schecken in Trab.

»Wo bleibt ihr so lange?« Clara rückte gerade denTisch auf der Veranda zurecht. »Mr Hines ist da,Anne. Beeil dich.«

»Aber ich denke, ich darf mit Charley ...«»Anne!« Die Stimme ihrer Mutter kam von oben

aus dem Fenster. »Ich fühle mich nicht wohl. Wenn dirClara etwas sagt, dann höre bitte auf sie.«

Der Spinett-Unterricht bei Mr Hines war Anne soverhasst wie Claras schrille Stimme. Wenn sie zumin-dest hätte Piano lernen dürfen. Aber diese spritzen-den hohen Töne des Spinetts klangen so nervös, alswollten sie sich gegenseitig überholen. Missmutigkletterten Annes Finger fast zwei Stunden lang dieTonleitern auf der Tastatur auf und ab. Sie versuch-te, mit ihren Gedanken auszubüchsen, stellte sich vor,wie sie in kurzen Hosen mit Charley die Gegenddurchstreifte.

Erst am späten Nachmittag konnte Anne endlichnach draußen.

»Bevor es dunkel wird, bist du zurück!« WilliamCormac hatte sich nach dem Kaffee von ihr überre-den lassen. Eigentlich hätte sie noch Französisch ler-

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nen sollen, doch nun lief sie schnurstracks der Sonneentgegen. Dort, im Westen von Cormacs Anwesen,stand Charleys Hütte. Er lebte allein. Pfarrer AtkinWilliamson hatte ihn getauft. Als Anne davon hörte,war sie mächtig stolz auf Charley. Immerhin hatte Atkin schon einen Schwarzbären zum Christentumbekehrt.

Die Tür der Hütte stand offen. Ihr Blick fiel alsErstes auf das armlange Messingkreuz über dem Bett.Der Tomahawk, der sonst daneben am Nagel hing,fehlte.

»Charley!«»Hier!«Er saß hinter der Hütte auf dem Boden, angelehnt

an das Fass, in dem er sein Trinkwasser aufbewahrte. »Üben wir heute wieder?«Charley stand auf und zog den Tomahawk aus

dem Gürtel. Er packte ihn knapp unter der Klinge.»Wenn du nicht damit kämpfst, dann ist er dein

Feind. Dann musst du darauf achten, dass er dichnicht verletzt. Hart und eindeutig musst du ihn an-fassen. Kämpfst du mit ihm, so ist er dein Freund unddu musst ihn locker halten, damit er sich bewegenkann.« Er ließ den Stiel durch die Finger seiner Rech-ten gleiten, umschloss ihn noch einmal kurz und festund schleuderte ihn im selben Augenblick nach vorn.Der Tomahawk wirbelte durch die Luft und krachtenach zahllosen Umdrehungen in die Rinde des Ban-yans. Der mächtige Baum mit seinen dicken Ästen, diesich gegenseitig stützten, hatte eine Wunde mehr.

»Ich hole ihn«, sagte sie.Der Tomahawk zischte nun ein ums andere Mal

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durch die Luft und die Kerben im Baum wurden mehrund mehr.

»Wie lange darfst du denn heute bleiben? DieSonne geht gleich unter.«

Anne zuckte mit den Schultern. »Meine Elternsind unterwegs, eine Einladung bei Richter Fielding.«

»Sind sie zusammen gegangen?«»Ja. Aber sie haben sich natürlich gestritten. Mut-

ter wollte wieder nicht mit.«»Sie sagte, sie habe Kopfschmerzen.«Anne verdrehte die Augen. »Sie hat Heimweh,

keine Kopfschmerzen.«Der Indianer griff nach dem Tomahawk und sag-

te verschmitzt: »Der ist eigentlich viel zu schwer fürdich.«

»Wieso?«Charley ging zum Fass, bückte sich und griff da-

hinter. Was nun zum Vorschein kam, ließ Anne strah-len.

Es war schon dunkel, als Anne nach Hause kam. Eigentlich hatte sie unbemerkt über den Efeu hinauf-klettern wollen, aber die Fensterläden waren geschlos-sen. Nun wurde es schwierig, denn die Verandatürquietschte. Also ging sie hinters Haus. In der Küchebrannte noch Licht. Die Öllampe pendelte hin undher. Für einen Moment stiegen in ihr wieder die Bil-der von der muffigen Kajüte an Bord der Wing hoch.Tag und Nacht hatte sie wie eine Gefangene auf dieseLampe geguckt.

Clara lauerte am Küchentisch. Die Tischschubla-de hatte sie wie immer ein Stück herausgezogen und

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ein Kissen hineingelegt, auf das sie ihren Arm stützte.In der anderen Hand hielt sie ein Buch. Irgendetwasmit Rittern. Sie liebte Rittergeschichten. Ihre Lippenbewegten sich stumm zum Text.

»Na«, sagte sie plötzlich laut. »Anne, du bist esdoch!«

Gesehen haben konnte sie sie nicht, schließlichhatte sie ihr den Rücken zugewandt.

»Hast dich wieder mit Charley herumgetrieben?Du solltest endlich lernen, dass du dich hier nichtmehr wie ein Junge aufführen kannst!«

Anne drückte die Fliegennetztür auf und starrteClara an: »Woher ...?«

»Ich kenne euer Geheimnis, eure ganze Vergan-genheit«, sagte Clara triumphierend. »Deine Mutterhat mir alles erzählt.«

Anne durchschritt die Küche, den Blick auf ihreSchuhspitzen und die dunkelbraunen Dielen geheftet.

»Wenn das rauskommt, kann das deinen VaterKopf und Kragen kosten.«

»Lassen Sie uns in Ruhe«, sagte Anne und wandtesich um. Claras Gesicht war zerfurcht von Falten, ihreAugen aber waren wach und falsch.

»Ich kann schweigen. Deine Mutter wird nichtnoch einmal ins Gefängnis gehen müssen.« Aus jedemihrer beschwichtigenden Worte hörte Anne das Ge-genteil heraus. »Mach dir keine Sorgen um deine El-tern. Genieße die Zeit mit ihnen. Solange sie mich gutbezahlen, braucht ihr keine Angst zu haben.«

In Anne brodelte es. Der Tomahawk, den Charleyihr eben geschenkt hatte, glühte unter ihrem Kleid.Ein gezielter Wurf und ...

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