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Léo Bardon VAT C A C Der lange Abschied der Annie Girardot

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Annie Girardot prägte den Stil einer ganzen Generation selbstbewusster Frauen: Sie trat seit 1955 in mehr als 170 Filmen auf und war über Jahrzehnte hinweg eine der beliebtesten Schauspielerinnen Frankreichs und Europas. 2001 und 2005 spielte sie in zwei erfolgreichen Filmen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke, darunter der César-prämierte Thriller »Caché« – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwer an Alzheimer erkrankt und konnte nur spielen, weil ihr die Texte ständig per Funk souffliert wurden. Eine kleine Gruppe von Vertrauten hatte beschlossen, die Krankheit sowohl vor ihr als auch vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Annie Girardot starb am 28. Februar 2011 in Paris in einem Hospiz. Ihr engster Vertrauter, Léo Bardon, erzählt von der schrecklichen Entdeckung, dem Kampf darum, das Geheimnis zu wahren, den Reaktionen von Familie, Freunden und Kollegen sowie der Öffentlichkeit – und schließlich vom Scheitern in Würde.

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Page 1: Léo Bardon, Caché

Annie Girardot prägte den Stil einer gan-zen Generation selbstbewusster Frauen:Sie trat seit 1955 in mehr als 170 Filmenauf und war über Jahrzehnte hinweg eineder beliebtesten Schauspielerinnen Frank-reichs und Europas.

2001 und 2005 spielte sie in zwei erfolg-reichen Filmen des österreichischen Regis-seurs Michael Haneke mit – zu diesemZeitpunkt war sie bereits schwer anAlzheimer erkrankt. 2006 verkörperte siedann ihre letzte große Rolle: Im Rahmendes Dokumentarfilms »Ainsi va la vie«trat sie mit ihrer Krankheit an die Öffent-lichkeit und brach damit das Tabu, mitdem Alzheimer belegt ist.

Annie Girardot starb am 28. Februar 2011in einem Pariser Hospiz.

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Annie Girardot (1931-2011) war berühmt für ihre berührendeSchauspielkunst, ihre große Liebesfähigkeit und ihr grandiosesGedächtnis. Als sie Ende der neunziger Jahre an Alzheimererkrankt, beginnt ein belastendes Versteckspiel. Denn das Risikoeiner kranken Schauspielerin würde kein Filmproduzent auf sichnehmen wollen.

Léo Bardon gehörte zu dem kleinen Kreis enger Vertrauter, dievon dem Leiden der Schauspielerin wussten und sie durch dieseschwierige Zeit begleiteten. Er berichtet von der schrecklichenEntdeckung, dem Kampf darum, das Geheimnis zu wahren, undden Reaktionen von Familie, Freunden, Kollegen und am Endeder Öffentlichkeit.

Léo Bardon, geboren 1965 in Paris,fran zösischer Schauspieler und Autor, warvon 1995 bis 2007 persönlicher Assistentund Vertrauter der Schauspielerin AnnieGirardot (1931-2011). Er bemerkte anihr die ersten Anzeichen von Alzheimerund versuchte, mit allen Mitteln gegendas Unabwendbare anzukämpfen.

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19.90 EUR [D] Inklusive eBookISBN 978-3-95518-002-7

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CACHÉ–Der lange Abschied der Annie Girardot

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Der lange Abschied derAnnie Girardot

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Léo Bardon

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Der lange Abschied der Annie Girardot

Aus dem Französischenvon Sabine Carolin Richter

Verlag andré Thiele

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Zweite, überarbeitete auflage, März 2013

In Zusammenarbeit mit Sophie Blandinières.aus dem Französischen von Sabine Carolin Richter.© für die Originalausgabe: Michel Lafon Publishing, annie te souviens-tu …, 2009© für die deutsche ausgabe: VaT Verlag andré iele, 2013alle Rechte am deutschen Text vorbehalten.Umschlag: Inka heerde, Foto: ©Sunset Boulevard/corbis.Satz: Felix Bartels, OsakaDruck: anrop Ltd., JerusalemPrinted in Israel.

isbn 978-3-95518-002-7

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PROLOg

Sie fehlt mir. Warum sie mir fehlt, möchte ich Ihnenerzählen. Um gegen die Stille anzukämpfen, dieeingezogen ist. Um nichts zu vergessen, vor allemnicht, wie viel Mut sie hatte und wie groß ihr herzwar. Um zu sagen, wie sehr ich sie liebe und wieunverzeihlich der Zynismus dieser Krankheit ist,deren Namen auszusprechen mir noch immerschwerfällt. Ein Name, den ich gerne vergessenwürde. alzheimer. Ein verfluchter Name, ein häss-licher Name.

als ich dieses Buch schrieb, war sie noch von dieserWelt. Und doch nicht mehr. Sie war noch amLeben. annie lebte, war aber auch schon ein biss-chen gestorben. Sie war ins »Vergessen gefallen«.

Im Februar 2011 verließ sie nach vielen JahrenEinsamkeit die Welt. Das Buch ist mein Nachruf.

Ich fühle mich jetzt allein, doch mir bleibt, was sieverloren hat, die Erinnerung. Ich erinnere mich andie Zeit, als das schreckliche Weiß noch nicht dawar, und an das Danach, als alles anfing, sich zuverschlechtern, als alles begann, sich aufzulösen.an die Zeit, als sich das Ende schon abzeichnete,die Leere.

Normalerweise geht man von einer leeren Seite hinzu einer beschriebenen. aber alzheimer hat es sich

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zur aufgabe gemacht, das ins gegenteil zu ver -kehren. Man geht von einer vollen zu einer leerenSeite, bis hin zur vollständigen Leere. Von Schwarzzu Weiß. Von Farbe ins Dunkle. Das kann nur alz-heimer. Ich will Ihnen davon erzählen, und dannwerde ich verstummen. Wie annie verstummte.

Paris,Dezember 2011

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– 1 –»sie da, wer sind sie?«

annie und Léo sitzen im Wohnzimmer bei annie.Sie sitzen da schon eine Weile und schauen fern.

annie »guten abend, geht es Ihnen gut?«léo »aber annie, ich bin es doch! Ich bin es,Léo!«

annie »ah, Sie kennen Léo? Wissen Sie, Léo,das ist mein Freund, und er ist wirklich groß-artig.«

léo »…«

am liebsten hätte ich keine Ohren, am liebstenwäre ich taub. Für gewöhnlich bin ich Léo, dieQuasselstrippe, der Zuhörer. aber in diesem augen -blick fühle ich nichts mehr. Weder meine Ohrennoch meine Stimme. alles in mir ist erstarrt. Mankennt mich als Léo, den Lebenslustigen, den Witzi -gen, nun sitze ich hier in diesem kleinen Sessel,traurig und stumm.

annie kennt mich so gut, und trotzdem erkenntsie mich nicht. Für sie bin ich irgendein Besucher,irgendein Typ, dem sie erzählt, wie viel ihr dieserLéo bedeutet. Sie hat mir einmal, zu einer Zeit, alssie mich noch nicht für einen Fremden hielt, gesagt:»Ohne euch«, und damit meinte sie mich und Va-léra, »wäre ich längst tot.« Ich bin mir bewusst,dass man an Einsamkeit zerbrechen kann.

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annie, Léo, Léo, annie. Eine alte, sehr müde ge-schichte. Längst erloschen für alle anderen, nurnicht für mich. all die Bilder, die wie ein Film inmeinem müden gehirn ablaufen und die sich un-entwegt wiederholen, habe ich vollständig bewahrt.Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich fürzwei.

Nachdem annie ins Pflegeheim gebracht werdenmusste, konnte ich mir, gleich einem Trauma, ei-nem schwarzen Loch, merkwürdigerweise nichtsmehr ins gedächtnis rufen. Doch dann, über eineart Umweg, begann ich die Vergangenheit zu sehenund zu hören. annie, Léo, Léo, annie. annie, Léo,die Krankheit. annie, Léo, Valéra, anne, dieKrankheit. annie. Die Krankheit.

»Sie da, wer sind Sie?«»Mein Name ist alzheimer. Man braucht nicht

nach mir zu rufen, ich bin einfach da. Und ichwarne Sie, ich bin boshaft. Ich komme mit derabsicht, alles zu zerstören, bis es keine Erinnerungmehr gibt: keine annie, kein Lachen, keinen Léo,keine Worte. Bis es nicht einmal mehr genugSchweigen gibt.«

Das Problem ist annies Berühmtheit, und sie istsogar sehr berühmt. Noch vor annie ist sie die gi-rardot, die große französische Schauspielerin mitfünfzig Jahren Karriere und mehr als einhundert-fünfzig Filmen. Es ist diese zierliche Silhouette,dieses offene gesicht, diese Stimme und das be-

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sondere Lachen, das den Franzosen so vertraut ist.Sie ist nahezu jedem bekannt und für viele die be-liebteste Schauspielerin. Wo auch immer ich mitihr erscheine, sie wird stets von allen erkannt. Nunja, von fast allen. Der herr jedenfalls, der nebenihr im Zug nach Paris sitzt, scheint sich vollkom-men sicher zu sein: »Oh, guten Tag, Madame! Ichkenne Sie. Sie sind wirklich eine großartige Schau-spielerin. Ich bin sehr froh, Ihnen zu begegnen,Madame Moreau!« Ich beobachte annie, ihre Re-aktion hinter ihrer großen Sonnenbrille. Ich weißgenau, dass sie etwas antworten wird. Sie hat immereine gute Entgegnung parat. Niemals bissig, stetshumorvoll. Manchmal ein bisschen derb. Im au-diardschen Slang sozusagen, einer Mischung ausPariser Original und Straßenjargon. Sie dankt alsodem herrn höflich und sagt: »Oh, Sie sind sehrfreundlich, Monsieur. Und ja, ich stimme Ihnenzu, Madame Moreau ist auch großartig, aber ich,Monsieur, ich bin die girardot!«

Fakt ist, dass es sie nicht im geringsten kümmert,wenn man sie nicht erkennt. Das Wichtigste fürsie ist geliebt zu werden. Sie fragt mich andauernd:»Mein Léo, liebst du mich noch?« als ob sie sichder antwort niemals sicher wäre oder diese nur füreinen bestimmten Zeitraum gültig sein könnte.

Madame girardot ist ein Star. Ich bewundere sie.Ja, ich kann sagen, ich verehre sie für all das groß-artige, das sie im Kino und auf der Bühne getanhat. aber das, was mich mit ihr wirklich verbindet,

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ist sie selbst. Ich habe immer geglaubt, sie wäreeine zu starke Frau, um sich lieben zu lassen. Dochletztendlich war sie es, die es peu à peu verstand,mich nah an sich zu binden und mich bei ihr zuhalten. als was? Das ist die Frage, und sie ist nichteinfach zu beantworten. Meine Position lässt sichschwer definieren. auf jeden Fall passe ich in keineSchublade. als es mit annie begann, existierte ichoffiziell nicht. Es gab demzufolge in den erstenJahren nicht selten Fragen zu der dauerhaften Prä-senz des jungen Typen an annies Seite. Sollte dasetwa ihr Liebhaber sein? Der Verdacht, dass ichmit ihr ins Bett gehe, ist lächerlich. Ich bin schwul.Und ich werde nicht einfach für die girardot dasUfer wechseln.

»Vielleicht ist er ihr Dealer?« Man hatte mir dieseFrage nie direkt gestellt, bis mich eines Nachts beieinem Fest ein Typ fragte, ob ich nicht Koks oderEcstasy zu verkaufen hätte. Ich dachte bis datonicht, dass ich den anschein erwecke, ein Dealerzu sein. Über diesen Verdacht war ich fassungslosund entgegnete empört: »Sagen Sie, für wen haltenSie mich denn?« Er fuhr mich schroff an: »Ich hieltdich für den Dealer der girardot!« Ich war absolutsprachlos.

Bin ich ein Schmarotzer? Das wäre wohl dasSchlimmste. aber nein, ich habe kein Entgelt er-halten. annie entlohnte mich für meine arbeit als»persönlicher assistent«, indem sie mir eine kleineWohnung bereitstellte. Wäre ich ein Parasit, wäre

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es leicht gewesen, mich an annie zu bereichern,und ich hätte ausgesorgt. aber das gegenteil istder Fall. Ich habe alles verloren.

Obwohl mich annie sehr schnell überall als ihrenVertrauten vorstellte, als Léo, der sich um sie küm-mert und der ihre geschäfte führt, haben die LeuteZeit gebraucht, um mich offiziell anzuerkennen.Das bin ich gewöhnt. Ich bin ein Nobody, einerunter vielen. Léo Bardon. Dieser Name sagt keinemetwas, und das ist nicht gerade lustig, weil ich docheigentlich Schauspieler bin. gut, man hat michbisher nur in kleinen Kinorollen sehen können.Nicht groß genug also, um dem Publikum im ge-dächtnis zu bleiben. Es ist somit eigentlich nichtsBefremdliches, wenn sich jemand nach meinemNamen erkundigt und fragt, was ich mit annie zuschaffen habe. Ich nehme ihm das nicht übel. Dasverletzt mich nur wenig. Viel unangenehmer istes, sich wie ein Eindringling zu fühlen. So wie beiPatrick Sébastien. Das ereignete sich noch ganz amanfang, im Jahre 1999, während der Dreharbeitenzu dem Film T’aime. Es war nicht zwingend nötig,dass ich anwesend war, aber Framboise, eine be-freundete Sängerin der gruppe La Bande à Basile,über die die Begegnung mit Sébastien entstandenist, bat mich mit stoischer Beharrlichkeit, unbe-dingt zu kommen. Sie rief mich jeden Tag an, undimmer beklagte sie sich über annie. Sie behauptete,dass sie abscheulich und ihr Charakter nicht zu er-tragen sei. Um diese Klagen zu beenden, fügte ichmich schließlich, und weil vor Ort kein einziges

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hotel mehr über freie Zimmer verfügte, legte an-nie ohne zu zögern fest: »Er schläft bei mir.«

Um von den Menschen, die mich anfangs nochnicht kennen, akzeptiert zu werden, komme ichstets mit geschenken beladen an. Zu jener Zeit be-sitze ich Unmengen an Spielzeug der Marke ActionMan, weil ich kurz zuvor auf einer Werbetour ge-wesen bin. Trotz der vielen Mitbringsel fühle ichmich nicht wohl. Ich verbringe meine erste Nachtim haus von Patrick Sébastien und schlafe sehrschlecht. Früh am Morgen trinkt der Meister imFreien seinen Kaffee. Seine Jungs sind auch da undamüsieren sich mit den Spielsachen. Während erihnen zuschaut, sagt er so laut, dass ich es gut ver-nehmen kann: »Wer also ist der große Prinz, der soviele Präsente mitbringt?« Ich werde immer kleinerin meinem Stuhl. Ein paar Monate später sieht michPatrick Sébastien beim abendessen zur Vorpremiereseines Films T’aime mit kalten, verächtlichen augenan, als ich gerade versuche abzutauchen, und fragt:»Sie da, wer sind Sie eigentlich?«

Ich bin nicht in der Lage, zu antworten, obwohldoch die antwort so einfach wäre. annie war janicht die Erste, die auf die Unterstützung einesPrivatsekretärs vertraute. Die Wahrheit ist, dass ichnicht antworten kann, weil ich selbst nicht genauweiß, wer ich bin.

Im Laufe der Monate habe ich mich in meinerRolle verloren. Mein ganzes Sein hat sich in derneuen Funktion aufgelöst. Nach und nach war ich

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nichts anderes mehr als der Léo, der sich mit anniebeschäftigte. Wenn man einmal gelernt hat, denMund zu halten, ist es später schwierig zu reden.als mir Sébastien an diesem abend also diese töd-liche Frage stellte, brachte ich kein Wort heraus.Die antwort war eigentlich eine Frage, die ich mirselbst stellen musste: »Wer bin ich eigentlich?«

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– 2 –»wer bin ich?«

Früher war ich ein kleiner Star. Das sagten jeden-falls die Erwachsenen über mich. Die Sorte kleinerJungen, die man beachtet, weil sie viel gestikulierenund Dummheiten machen. Ich war einer von denTeenagern, die auf die Nerven gehen oder begeis-tern, je nach Situation. hauptsache, es passierteetwas. Ich war schon immer anders. So habe ichmich selbst wie den Duracellhasen aus der Werbunggesehen, der einfach weiter winkt, auch wenn dieWerbung schon vorbei ist. Ich war neugierig undziemlich verrückt und habe schon immer das Ko-mische dem Ernsten vorgezogen. Es sei denn, mirblieb keine Möglichkeit mehr, mich über alles undjeden lustig zu machen. Vor allem über mich selbst.So, wie es auch annie mit vielen Dingen und mitsich selbst machte. Sogar über ihre Krankheit habenwir anfangs viel gelacht.

Ich glaube, dass schon sehr früh mein Talentzum Schauspiel deutlich wurde. allerdings am fal-schen Ort, in der Schule. genau da, wo man esnicht versteht, Klassenclowns zu fördern, sondernwo sie abgelehnt werden. Doch das habe ich zuspät begriffen, nämlich erst, als sie mich in eine»Klasse für auffällige Kinder« gesteckt hatten. Manhatte die absicht, mich aus dem allgemeinen Un-terricht herauszunehmen, um mir eine ausbildungals Fliesenleger anzubieten. Diese Idee empfand

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ich jedoch als komplett lebensfremd. Das war zu-dem alles andere als einleuchtend. Sie lobten meineQualitäten in Französisch, aber schlugen mir zeit-gleich vor, den Beruf des Fliesenlegers zu erlernen.Ich bekam weder den Bericht über mich zu sehen,noch fragte mich irgendjemand wirklich nach mei-ner Meinung. In null Komma nichts fand ich michgeistesabwesend mit einem hammer auf Fliesenklopfend wieder. Man kann wahrlich nicht be-haupten, dass mich das aufblühen ließ.

glücklicherweise war das nicht von langer Dauer.Meine Eltern akzeptierten, dass ich mich an derPariser Schauspielschule anmeldete und am CoursSimon teilnahm. Dort war ich endlich unter gleich-gesinnten in meinem Element. Wenn ich nicht ge-rade als Possenreißer auf der Bühne des Cours Si-mon agierte, hockte ich unter dem großen Tischim Wohnzimmer, um alle Schwarz-Weiß-Filme an-zuschauen, die damals im Fernsehen liefen. Filmeanschauen und Schlafen, das waren die einzigenaktivitäten, die ich lautlos praktizierte. Der Flim-merkasten faszinierte mich, ich war hingerissen.Bei meinen Eltern in Levallois oder bei meiner ge-liebten großmutter, die ein großer Fernsehfan war,verbrachte ich auch später Stunden damit, laufendeBilder aufzusaugen. Dabei verschlang ich unter an-derem auch den Film Dr. Françoise Gailland, dar-gestellt von annie girardot. Sie spielte darin einemoderne, kämpferische Frau. Ich bewunderte dieseTV-heldin, weil sie mich mit ihrem altruismusund ihrer Rebellion gegen Ungerechtigkeit berührte.

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Sie erinnerte mich zudem an meine Mutter, einebeherzte gastwirtin, und an meine großmutter, eineemanzipierte grande Dame, die im arbeitsminis-terium ihren Dienst tat. Meine kleine, liebe groß-mutter. Durch sie weiß ich, was Freiheit und Le-bensfreude bedeuten.

Für den theoretischen Unterricht gehe ich in denCours Simon. Wieder einmal gelte ich als Faxen-macher, und das seit meinem ersten Vorsprechen.Ich trage der Direktorin das berühmte gedicht Lepont Mirabeau von apollinaire vor. Die klopft aufeinen Metallaschenbecher, um Ordnung in dieKlasse zu bekommen. Kaum begonnen, geht meineDarbietung auch schon schief. Die Unerfahrenheitspielt mir einen Streich und es folgt ein Blackout.Ich bin absolut nicht mehr in der Lage, mich andas Wichtigste zu erinnern, nämlich daran, wasunter der Brücke Mirabeau fließt. also sage ich,dass es mir leider entfallen ist, und besitze gleich-zeitig die Kühnheit, mein amüsiertes Publikum zubefragen: »Nun sagt schon, was fließt unter derBrücke Mirabeau? gute Frage, nicht wahr? Könntihr mir nicht helfen? Ich habe leider absolut keineahnung mehr!« Die Klasse ist vergnügt und dieDirektorin regt sich an ihrem aschenbecher ab.Ich jedoch bin enthusiastisch, weil ich solchenQuatsch liebe und schließlich gerade als König derClowns gefeiert werde. Etwas weniger vergnügt binich dann, als die Direktorin mich von der Bühnescheucht und mir den Spitznamen »de Funès nu-méro 2« gibt. Ich bin sehr strebsam zu jener Zeit

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und jung. Ich habe also absolut nicht vor, die Num-mer 2 von irgendjemandem zu sein, auch nichtvon de Funès, selbst wenn ich ihn unendlich be-wundere. Ich besitze noch den Stolz eines an -fängers und bin überzeugt, dass der Tag kommenwird, an dem man mein Talent als Schauspieler er-kennen und feiern wird.

Dieser Tag kam jedoch nicht, weil der Film nichtso verlaufen ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.Oder besser gesagt, es wurde ein ganz anderer Film.Der Film von annies Leben. Es ist ihr eigenerFilm, in dem ich eine denkwürdige Rolle spiele.aber es sollten noch einige Jahre ins Land gehen,bevor man das überall erkannte. Bis auf wenigeSituationen war das nicht weiter tragisch, denn ichwusste ja, dass ich der Prinzipal war. Ich kanntemeinen Nutzen, die Bedeutung meiner anwesen-heit an annies Seite. am Ende ausgelaugt und ab-gehetzt, überkamen mich dann doch Zweifel, dasgestehe ich. Die Erschöpfung gab mir flüsterndden gnadenstoß: »hey, Don Quichotte, du kannstjetzt nichts mehr ausrichten. Du kämpfst gegenWindmühlen. Kannst du denn nicht erkennen,dass du verlierst? Man kann nichts mehr für sietun. Es ist vollkommen nutzlos, was du da machst!«

abgesehen von annies Dankbarkeit selbst wurdemir erst viel später anerkennung von anderen zu-teil. Erst, als Nicolas Baulieus TV-DokumentationAnnie Girardot – ainsi va la vie, im Jahre 2008 aus-gestrahlt wurde. Erst an diesem Tag habe ich end-

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lich gefühlt, dass ich mich nie mehr rechtfertigenmuss. Der Film zeigt all das, was wir mit annie er-lebt haben. Er erklärt das, was ich Patrick Sébastieneinige Zeit vorher nicht erklären konnte: anniesLiebe, ihre Zuneigung, unsere Zärtlichkeit, meineaufmerksamkeiten, ihre Wunden, meine Liebes-bezeugungen. Wir haben uns immer verstanden,auch dann, wenn es gelegentlich ziemlich stürmischzuging. annie hatte ihre gründe, mich gern zu ha-ben. Sie verabscheute Stillstand, hatte UnmengenLiebe zu geben – und ich ebenso. alle beide besa-ßen wir ein Übermaß an Zärtlichkeit.

Bei der Wahl ihrer Rollen hatte annie girardotein festes Prinzip: Sie lehnte es ab, bösartige Rollenzu spielen. Die hätten ihr Schmerzen bereitet. Des-wegen weigerte sie sich beharrlich, derartige an-gebote anzunehmen. Es war also völlig sinnlos, siezu bitten, im Film jemanden umzubringen. auchfür Darstellung von Betrügern stand annie nichtzur Verfügung. Wenn ich ihr das Ende eines Dreh-buchs vorlas, in dem vorgesehen war, sie zu einerMörderin zu machen, rebellierte sie konsequent.»Oh nein, niemals! Ich bringe niemanden um. Ichhabe in keinem einzigen Film jemals jemandemetwas zuleide getan, und ich werde heute ganz be-stimmt nicht damit anfangen! Entweder sie änderndas Ende oder ich mache es nicht. Punkt.« Sowurde dann eine Kugel zu einem herzinfarkt oderzu einem autounfall. Ich lächelte schon im Vorfeld,weil ich ihre Reaktion bereits auswendig kannte.Oft sah ich, wie sie sich vor dem Fernseher auf-regte, wenn in den Nachrichten wieder gewalt-

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szenen zu sehen waren. annie war gegen Kriegund jegliche Form von Leid. Das geballte Bösemachte sie unendlich wütend, sie verstand dasnicht. Sie wünschte niemandem den Tod, nichteinmal dem miesesten Typen. Das Schlimmste,was sie sagen konnte, war: »Den sollte man weg-sperren.« Sie selbst war es auch, die sich fortwäh-rend zu helfen wußte, wenn es darum ging, sichan die guten Dinge zu erinnern. Und zwar aus-schließlich an die guten.

Freude bereiten, glück verschenken – annie tat esunentwegt. am anfang unserer Freundschaft ver-suchte sie oft, mich zum Lachen zu bringen. Sowusste sie beispielsweise von meiner Bewunderungfür Muriel Robin. also organisierte sie heimlicheine Begegnung. Sie bat mich ganz nebenbei, zumCafé Banana zu kommen, wo eine kleine Überra-schung auf mich warten würde. Nichtsahnendblieb ich also gekleidet, wie ich war, völlig zerknit-tert und verschwitzt. Wie hätte ich auch vorherse-hen sollen, dass ich gleich meinem Idol begegnenwürde.

als ich dort ankomme, entdecke ich Muriel Robinsofort. Sie ist mit annie auf der Tanzfläche, unddie Damen amüsieren sich. Ich nähere mich denbeiden, aber die Komikerin hält mich für einenStörenfried und stellt sich schützend vor den Star.Ich bleibe wie ein Idiot angewurzelt stehen undverhasple mich in einem anfall von Schüchtern-heit. Dabei fühle ich mich sehr ungeschickt, und

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dieses gefühl löst sich auch nicht wieder auf. Derganze abend ist furchtbar. auf dem Rückweg werfeich annie vor, mich nicht gewarnt zu haben. Ichwerfe ihr an den Kopf, dass ich Muriel doch eingeschenk mitgebracht hätte, wenn ich gewussthätte, dass sie da ist. annie nimmt mir meine Kom-mentare ziemlich übel. Sie wird wütend:

annie »aha, du bist also der Meinung, dassich Mist gebaut habe. habe ich das jetztrichtig verstanden?«

léo »Nein, das wollte ich nicht sagen. Ichfreue mich natürlich sehr über deine Über-raschung, aber du hättest mir doch wenigs-tens sagen können, dass es gut wäre, wennich mich umziehen würde.«

annie »ach, ich habe es satt. Jedes Mal, wennich dir eine Freude machen will, geht esschief!«

léo »Das ist nicht der Punkt, annie. Wenndu es mir nur ein bisschen angedeutet hät-test, hätte ich mich auch gefreut.«

In ihrem Zorn beschimpft annie alles, was sichauf dem Tisch befindet. Wütend schmeißt sieSkripte, Bücher, akten und anderes umher. EinTornado tobt. Mit einem Male fliegt der ganzeKram über meinen Kopf. Ich bin fassungslos undunterbreche kurz ihren Wutausbruch: »Okay, dannhaue ich jetzt ab, und ich habe keine ahnung, werdas alles wieder aufheben wird.« Ich halte Wortund verschwinde kurzerhand. Vor dem haus, als

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ich gerade mein Moped besteigen will, klingelt dashandy. Es ist annie. »hallo, mein Lieber, hast dumich noch gern?« Ich sage, dass ich sie natürlichnoch gern habe und sie sich jetzt beruhigen undschlafen gehen soll. aber zu dieser Zeit muss wohlschon diese kleine zwanghafte Seite von ihr Besitzergriffen haben. Sie ruft mich noch einmal undnoch einmal an, um mir immer dieselbe Frage zustellen. Die Frage, die sie ängstigt und die ihr keineRuhe lässt. annie will absolut sicher sein, dass ichihr nicht böse bin, damit sie ruhig schlafen kann.

Sie lacht und wirft ihren Kopf zurück. Ihr grünerSchal flattert im Wind. annie ruft: »Ich liebe dasLeben, ich liebe das Kino!« Ich beginne zu träumen.In meinem Traum entführe ich sie. Mit neuen Klei-dern gehe ich zu ihr ins Pflegeheim. Wir lachenbeide, als ich den Raum betrete. Rasch helfe ichihr, sich umzuziehen, und dann machen wir unsheimlich davon. Wir sind überglücklich und neh-men uns vor, all das zu tun, was wir als Kinderschon immer tun wollten; wie zwei Verrückte, dieentkommen sind. Wir würden essen, lachen, ge-schichten erzählen, spazieren gehen und streiten.Wir würden alles tun, so wie früher. Weil mir dasso wichtig ist, würden wir zum Meer fahren, dennich bin noch immer Bretone. Und wir würdenauch den himmel bestaunen, der für annie sowichtig ist, den sie betrachtet, wann immer es nurgeht. Im auto, im Flugzeug … überall. anniewürde nie und nimmer ins heim zurückkehrenwollen, das ist mir klar. außerdem würde ich sie

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niemals zurückbringen können, das brächte ich nieübers herz.

annie »Sag mir, Léo …«léo »Ja, annie?«annie »Du lässt mich nie im Stich, nichtwahr?«

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2001 und 2005 spielte sie in zwei erfolg-reichen Filmen des österreichischen Regis-seurs Michael Haneke mit – zu diesemZeitpunkt war sie bereits schwer anAlzheimer erkrankt. 2006 verkörperte siedann ihre letzte große Rolle: Im Rahmendes Dokumentarfilms »Ainsi va la vie«trat sie mit ihrer Krankheit an die Öffent-lichkeit und brach damit das Tabu, mitdem Alzheimer belegt ist.

Annie Girardot starb am 28. Februar 2011in einem Pariser Hospiz.

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Léo Bardon gehörte zu dem kleinen Kreis enger Vertrauter, dievon dem Leiden der Schauspielerin wussten und sie durch dieseschwierige Zeit begleiteten. Er berichtet von der schrecklichenEntdeckung, dem Kampf darum, das Geheimnis zu wahren, undden Reaktionen von Familie, Freunden, Kollegen und am Endeder Öffentlichkeit.

Léo Bardon, geboren 1965 in Paris,fran zösischer Schauspieler und Autor, warvon 1995 bis 2007 persönlicher Assistentund Vertrauter der Schauspielerin AnnieGirardot (1931-2011). Er bemerkte anihr die ersten Anzeichen von Alzheimerund versuchte, mit allen Mitteln gegendas Unabwendbare anzukämpfen.

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19.90 EUR [D] Inklusive eBookISBN 978-3-95518-002-7

Léo Bardon

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Léo Bardon

CACHÉ–Der lange Abschied der Annie Girardot

C A C H É

Der lange Abschied derAnnie Girardot

SU_Bardon_AG_Bardon Caché 23.01.13 12:52 Seite 1