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Kant-W Bd. 7 105 Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kant Kritik der praktischen Vernunft Digitale Bibliothek Sonderband: Kant: Werke

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Page 1: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 105Kritik der praktischen Vernunft

ImmanuelKant

Kritik derpraktischenVernunft

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Page 2: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 107Vorrede

Vorrede

Warum dieseKritik nicht eine Kritik der reinenpraktischen,sondernschlechthinderpraktischenVer-nunftüberhauptbetiteltwird, obgleichderParallelismderselbenmit derspekulativendasersterezu erfodernscheint,darübergibt dieseAbhandlunghinreichendenAufschluß.Sie soll bloß dartun,daßesreine prakti-scheVernunft gebe, und kritisiert in dieserAbsichtihr ganzespraktischesVermögen. Wennesihr hiemitgelingt,sobedarfsiedasreineVermögenselbstnichtzu kritisieren,um zu sehen,ob sich die Vernunft miteinem solchen, als einer bloßen Anmaßung,nichtübersteige(wie es wohl mit der spekulativenge-schieht).Dennwennsie,als reineVernunft,wirklichpraktischist, so beweisetsie ihre und ihrer BegriffeRealität durch die Tat, und alles Vernünfteln widerdieMöglichkeit,eszusein,ist vergeblich.

Mit diesemVermögenstehtauchdie transzenden-tale Freiheit nunmehrofest, und zwar in derjenigenabsolutenBedeutunggenommen,worin die spekula-tive Vernunft beim GebrauchedesBegriffs der Kau-salität sie bedurfte,um sich wider die Antinomie zuretten,darin sie unvermeidlichgerät,wennsie in derReihe der Kausalverbindungsich das Unbedingtedenkenwill, welchenBegriff sie abernur problema-

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Kant-W Bd. 7 107Vorrede

tisch,alsnicht unmöglichzu denken,aufstellenkonn-te, ohneihm seineobjektiveRealitätzu sichern,son-dern allein, um nicht durch vorgeblicheUnmöglich-keit dessen,wassiedochwenigstensalsdenkbargel-ten lassenmuß, in ihrem Wesenangefochtenund ineinenAbgrunddesSkeptizismusgestürztzuwerden.

Der Begriff der Freiheit, so fern dessenRealitätdurch ein apodiktischesGesetzder praktischenVer-nunft bewiesenist, machtnun den SchlußsteinvondemganzenGebäudeeinesSystemsderreinen,selbstder spekulativen,Vernunft aus,und alle andereBe-griffe (die von Gott und Unsterblichkeit),welche,alsbloßeIdeen,in dieserohneHaltung bleiben,schlie-ßensich nun an ihn an,und bekommenmit ihm unddurch ihn Bestandund objektive Realität, d.i. dieMöglichkeit derselbenwird dadurchbewiesen, daßFreiheitwirklich ist; denndieseIdeeoffenbaretsichdurchsmoralischeGesetz.

Freiheit ist aberauchdie einzigeunterallen Ideender spek. Vernunft, wovon wir die Möglichkeit apriori wissen, ohnesie docheinzusehen,weil sie dieBedingung1 des moralischenGesetzesist, welcheswir wissen.Die Ideenvon Gott und Unsterblichkeitsind abernicht BedingungendesmoralischenGeset-zes,sondernnur BedingungendesnotwendigenOb-jekts einesdurch diesesGesetzbestimmtenWillens,d.i. des bloß praktischenGebrauchsunsererreinen

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Kant-W Bd. 7 108Vorrede

Vernunft; alsokönnenwir von jenenIdeenauch,ichwill nicht bloßsagen,nicht die Wirklichkeit, sondernauchnicht einmal die Möglichkeit zu erkennenundeinzusehenbehaupten.Gleichwohl abersind sie dieBedingungenderAnwendungdesmoralischbestimm-ten Willens auf sein ihm a priori gegebenesObjekt(dashöchsteGut). Folglich kannund mußihre Mög-lichkeit in dieser praktischenBeziehungangenom-menwerden,ohnesie doch theoretischzu erkennenundeinzusehen.Für die letztereFoderungist in prak-tischerAbsicht genug,daßsie keine innereUnmög-lichkeit (Widerspruch)enthalten.Hier ist nun ein, inVergleichung mit der spekulativenVernunft, bloßsubjektiverGrunddesFürwahrhaltens,derdocheinereben so reinen, aber praktischenVernunft objektivgültig ist, dadurchden Ideenvon Gott und Unsterb-lichkeit vermittelstdesBegriffs derFreiheitobjektiveRealität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit(Bedürfnisder reinenVernunft) sieanzunehmenver-schafftwird, ohnedaßdadurchdochdie Vernunft imtheoretischenErkenntnisseerweitert,sondernnur dieMöglichkeit, die vorhernur Problemwar,hier Asser-tion wird, gegeben,und so der praktischeGebrauchder Vernunft mit den Elementendes theoretischenverknüpft wird. Und diesesBedürfnis ist nicht etwaein hypothetisches,einerbeliebigenAbsichtderSpe-kulation,daßmanetwasannehmenmüsse,wennman

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Kant-W Bd. 7 109Vorrede

zur VollendungdesVernunftgebrauchsin derSpeku-lation hinaufsteigenwill , sondernein gesetzliches,etwas anzunehmen,ohne welches nicht geschehenkann,wasmansichzur AbsichtseinesTunsundLas-sensunnachlaßlichsetzensoll.

Eswäreallerdingsbefriedigenderfür unserespeku-lative Vernunft, ohnediesenUmschweifjeneAufga-ben für sich aufzulösen,und sie als Einsicht zumpraktischenGebraucheaufzubewahren;allein es isteinmalmit unseremVermögender Spekulationnichtso gut bestellt.Diejenige,welchesich solcherhohenErkenntnisserühmen,sollten damit nicht zurückhal-ten, sondernsie öffentlich zur Prüfung und Hoch-schätzungdarstellen.Sie wollen beweisen; wohlan!so mögen sie denn beweisen,und die Kritik legtihnen, als Siegern, ihre ganze Rüstung zu Füßen.Quid statis?Nolint. Atqui licet essebeatis.– Da siealsoin derTat nicht wollen, vermutlichweil sienichtkönnen,so müssenwir jene doch nur wiederumzurHandnehmen,umdieBegriffevonGott,FreiheitundUnsterblichkeit, für welchedie Spekulationnicht hin-reichendeGewährleistungihrer Möglichkeitfindet, inmoralischemGebraucheder Vernunft zu suchenundaufdemselbenzugründen.

Hier erklärt sich auchallererstdasRätselder Kri-tik, wie mandemübersinnlichenGebraucheder Ka-tegorien in der Spekulationobjektive Realität ab-

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Kant-W Bd. 7 109Vorrede

sprechen, und ihnendoch, in Ansehungder Objekteder reinenpraktischenVernunft,dieseRealitätzuge-stehenkönne;dennvorhermußdiesesnotwendigin-konsequentaussehen,so lange man einen solchenpraktischenGebrauchnur dem Namennach kennt.Wird manaberjetzt durcheinevollständigeZerglie-derungder letztereninne, daßgedachteRealitäthiergarauf keinetheoretischeBestimmungder Kategori-enundErweiterungdesErkenntnisseszumÜbersinn-lichenhinausgehe,sondernnurhiedurchgemeinetsei,daßihnenin dieserBeziehungüberallein Objektzu-komme;weil sie entwederin der notwendigenWil-lensbestimmunga priori enthalten,odermit demGe-genstandederselbenunzertrennlichverbundensind,so verschwindetjene Inkonsequenz;weil maneinenandernGebrauchvon jenenBegriffenmacht,alsspe-kulative Vernunft bedarf.Dagegeneröffnetsich nuneinevorherkaumzuerwartendeundsehrbefriedigen-de Bestätigungder konsequentenDenkungsartderspekulativenKritik darin, daß,da diesedie Gegen-ständeder Erfahrung,als solche,und darunterselbstunsereigenesSubjekt,nur für Erscheinungengeltenzu lassen,ihnenabergleichwohlDingeansichselbstzum Grundezu legen,alsonicht allesÜbersinnlichefür ErdichtungunddessenBegriff für leeranInhaltzuhalten,einschärfte:praktischeVernunft jetzt für sichselbst,und ohne mit der spekulativenVerabredung

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Kant-W Bd. 7 110Vorrede

getroffenzu haben,einemübersinnlichenGegenstan-dederKategoriederKausalität,nämlichderFreiheit,Realitätverschafft(obgleich,als praktischemBegrif-fe, auchnur zumpraktischenGebrauche),alsodasje-nige,wasdort bloßgedachtwerdenkonnte,durcheinFaktumbestätigt.Hiebei erhält nun zugleichdie be-fremdliche,obzwarunstreitige,Behauptungder spe-kulativenKritik, daßsogardasdenkendeSubjektihmselbst, in der inneren Anschauung,bloß Erschei-nungsei, in derKritik derpraktischenVernunftauchihre volle Bestätigung,so gut, daßmanauf sie kom-menmuß,wenndie ersterediesenSatzauchgarnichtbewiesenhätte.2

Hiedurchversteheich auch,warumdie erheblich-stenEinwürfe wider die Kritik, die mir bishernochvorgekommensind,sichgeradeum diesezwei Angeldrehen:nämlich,einerseits, im theoretischenErkennt-nis geleugneteundim praktischenbehaupteteobjekti-ve Realitätderauf NoumenenangewandtenKategori-en,andererseitsdie paradoxeFoderung,sichalsSub-jekt der FreiheitzumNoumen,zugleichaberauchinAbsichtauf die NaturzumPhänomenin seinemeige-nen empirischenBewußtseinzu machen.Denn, solange man sich noch keine bestimmteBegriffe vonSittlichkeit undFreiheitmachte,konntemannicht er-raten,was man einerseitsder vorgeblichenErschei-nungalsNoumenzumGrundelegenwolle, undande-

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Kant-W Bd. 7 111Vorrede

rerseits,ob esüberallauchmöglichsei,sichnochvonihm einenBegriff zu machen,wennmanvorheralleBegriffe desreinenVerstandesim theoretischenGe-braucheschonausschließungsweiseden bloßenEr-scheinungengewidmethätte. Nur eine ausführlicheKritik der praktischenVernunft kannalle dieseMiß-deutung heben,und die konsequenteDenkungsart,welcheebenihren größtenVorzug ausmacht,in einhellesLicht setzen.

So viel zur Rechtfertigung, warum in diesemWerkedie Begriffe undGrundsätzederreinenspeku-lativen Vernunft, welchedoch ihre besondereKritikschonerlitten haben,hier hin und wieder nochmalsderPrüfungunterworfenwerden,welchesdemsyste-matischenGangeeinerzu errichtendenWissenschaftsonstnichtwohl geziemet(daabgeurteilteSachenbil-lig nurangeführtundnichtwiederumin Anregungge-bracht werdenmüssen),doch hier erlaubt, ja nötigwar; weil die Vernunft mit jenenBegriffen im Über-gangezu einemganzanderenGebrauchebetrachtetwird, als densie dort von ihnenmachte.Ein solcherÜbergangmachtabereine Vergleichungdesälterenmit demneuernGebrauchenotwendig,um dasneueGleisvondemvorigenwohl zuunterscheidenundzu-gleich den Zusammenhangderselbenbemerkenzulassen.Manwird alsoBetrachtungendieserArt, unteranderndiejenige,welchenochmalsaufdenBegriff der

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Kant-W Bd. 7 111Vorrede

Freiheit, aber im praktischenGebraucheder reinenVernunft, gerichtet worden, nicht wie Einschiebselbetrachten,die etwanur dazudienensollen,um Lük-kendeskritischenSystemsderspekulativenVernunftauszufüllen(denn diesesist in seinerAbsicht voll-ständig),und, wie esbei einemübereiltenBaueher-zugehenpflegt, hintennachnochStützenund Strebe-pfeiler anzubringen,sondernals wahre Glieder, diedenZusammenhangdesSystemsbemerklichmachen,und Begriffe, die dort nur problematischvorgestelltwerdenkonnten,jetzt in ihrer realenDarstellungein-sehenzu lassen.DieseErinnerunggehtvornehmlichdenBegriff derFreiheitan,vondemmanmit Befrem-dungbemerkenmuß,daßnochsoviele ihn ganzwohleinzusehenunddieMöglichkeit derselbenerklärenzukönnensich rühmen,indemsie ihn bloß in psycholo-gischerBeziehungbetrachten,indessendaß,wennsieihn vorher in transzendentalergenauerwogenhätten,sie so wohl seineUnentbehrlichkeit, als problemati-schenBegriffs, in vollständigemGebraucheder spe-kulativen Vernunft, als auch die völlige Unbegreif-lichkeit desselbenhätten erkennen,und, wenn sienachhermit ihm zumpraktischenGebrauchegingen,geradeauf die nämlicheBestimmungdesletztereninAnsehungseinerGrundsätzevon selbsthättenkom-menmüssen,zu welchersiesichsonstsoungernver-stehenwollen. Der Begriff der Freiheit ist der Stein

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Kant-W Bd. 7 112Vorrede

des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch derSchlüsselzu den erhabenstenpraktischenGrundsät-zen für kritische Moralisten, die dadurcheinsehen,daß sie notwendig rational verfahrenmüssen.Umdeswillen ersuche ich den Leser, das, was zumSchlusseder Analytik über diesen Begriff gesagtwird, nichtmit flüchtigemAugezuübersehen.

Ob ein solchesSystem,als hier von der reinenpraktischenVernunft ausderKritik der letzterenent-wickelt wird, viel oder wenig Mühe gemachthabe,um vornehmlichdenrechtenGesichtspunkt,ausdemdas Ganze derselbenrichtig vorgezeichnetwerdenkann,nicht zu verfehlen,mußich denKennerneinerdergleichenArbeit zu beurteilenüberlassen.Es setztzwar die Grundlegungzur Metaphysikder Sittenvoraus,abernur in so fern, alsdiesemit demPrinzipder Pflicht vorläufige Bekanntschaftmachtund einebestimmteFormelderselbenangibtund rechtfertigt;3sonstbestehtesdurchsichselbst.Daßdie Einteilungaller praktischenWissenschaftenzur Vollständigkeitnicht mit beigefügtworden,wie esdie Kritik derspe-kulativen Vernunft leistete, dazu ist auch gültigerGrund in der BeschaffenheitdiesespraktischenVer-nunftvermögensanzutreffen.Denndie besondereBe-stimmungder Pflichten, als Menschenpflichten,umsieeinzuteilen,ist nur möglich,wennvorherdasSub-jekt dieserBestimmung(der Mensch),nachder Be-

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Kant-W Bd. 7 113Vorrede

schaffenheit,mit der er wirklich ist, obzwar nur soviel als in Beziehungauf Pflicht überhauptnötig ist,erkanntworden;dieseabergehörtnicht in eineKritikderpraktischenVernunftüberhaupt,die nur die Prin-zipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfangesund Gren-zen vollständig ohne besondereBeziehungauf diemenschlicheNatur angebensoll. Die Einteilung ge-hört also hier zum Systemder Wissenschaft,nichtzumSystemderKritik.

Ich habeeinem gewissen,wahrheitliebendenundscharfen,dabei also doch immer achtungswürdigenRezensentenjener Grundlegungzur Met. d. S. aufseinenEinwurf, daßder Begriff desGutendort nicht(wie esseinerMeinungnachnötiggewesenwäre)vordem moralischen Prinzip festgesetztworden,4 indemzweitenHauptstückederAnalytik, wie ich hoffe,Genügegetan;ebenso auchauf mancheandereEin-würfe Rücksichtgenommen,die mir von MännernzuHändengekommensind, die denWillen blicken las-sen,daßdie WahrheitauszumittelnihnenamHerzenliegt (denn die, so nur ihr altes Systemvor Augenhaben,und bei denenschonvorher beschlossenist,was gebilligt oder mißbilligt werdensoll, verlangendoch keine Erörterung, die ihrer Privatabsicht imWegeseinkönnte);und so werdeich esauchferner-hin halten.

Wenn es um die Bestimmungeines besonderen

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Kant-W Bd. 7 114Vorrede

Vermögens der menschlichenSeele, nach seinenQuellen,InhalteundGrenzenzu tun ist, sokannmanzwar,nachderNaturdesmenschlichenErkenntnisses,nicht andersals von den Teilen derselben,ihrer ge-nauenund(soviel alsnachder jetzigenLageunsererschon erworbenenElementederselbenmöglich ist)vollständigenDarstellunganfangen.Aber esist nocheinezweiteAufmerksamkeit,die mehrphilosophischund architektonischist; nämlich,die Idee desGan-zenrichtig zufassen,undausderselbenalle jeneTeilein ihrer wechselseitigenBeziehungauf einander,ver-mittelst der Ableitung derselbenvon dem BegriffejenesGanzen,in einemreinenVernunftvermögeninsAuge zu fassen.DiesePrüfungund Gewährleistungist nur durchdie innigsteBekanntschaftmit demSy-stemmöglich,unddie,welchein Ansehungdererste-ren Nachforschungverdrossengewesen,also dieseBekanntschaftzu erwerbennicht der Mühe wert ge-achtethaben,gelangennicht zur zweitenStufe,näm-lich der Übersicht,welcheeinesynthetischeWieder-kehr zu demjenigenist, wasvorher analytischgege-benworden,und esist kein Wunder,wennsie aller-wärts Inkonsequenzenfinden, obgleich die Lücken,die diese vermutenlassen,nicht im Systemselbst,sondernbloß in ihrem eigenenunzusammenhängen-denGedankengangeanzutreffensind.

Ich besorgein AnsehungdieserAbhandlungnichts

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Kant-W Bd. 7 115Vorrede

von demVorwurfe, eine neueSpracheeinführenzuwollen,weil die Erkenntnisartsichhier von selbstderPopularitätnähert.DieserVorwurf konnteauchnie-mandenin AnsehungderersterenKritik beifallen,dersie nicht bloß durchgeblättert,sonderndurchgedachthatte.NeueWortezu künsteln,wo die SpracheschonsoanAusdrückenfür gegebeneBegriffekeinenMan-gel hat, ist einekindischeBemühung,sich unter derMenge,wennnicht durchneueundwahreGedanken,dochdurcheinenneuenLappenauf demaltenKleideauszuzeichnen.Wenn daherdie Leser jener SchriftpopulärereAusdrückewissen,die doch demGedan-ken ebenso angemessensein, als mir jene zu seinscheinen,oderetwadie Nichtigkeit dieserGedankenselbst,mithin zugleich jedesAusdrucks,der ihn be-zeichnet,darzutunsich getrauen:so würdensie michdurch dasersteresehrverbinden,denn ich will nurverstandensein; in Ansehungdeszweitenabersichein Verdienstum die Philosophieerwerben.So langeaber jene Gedankennoch stehen,zweifele ich sehr,daß ihnen angemesseneund doch gangbarereAus-drückedazuaufgefundenwerdendürften.5

Auf dieseWeisewärendennnunmehrdie Prinzipi-en a priori zweier Vermögendes Gemüts,des Er-kenntnis- und Begehrungsvermögensausgemittelt,und,nachdenBedingungen,demUmfangeundGren-zenihresGebrauchs,bestimmt,hiedurchaberzueiner

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Kant-W Bd. 7 116Vorrede

systematischen,theoretischensowohlals praktischenPhilosophie,alsWissenschaft,sichererGrundgelegt.

WasSchlimmereskönnteaberdiesenBemühungenwohl nicht begegnen,alswennjemanddieunerwarte-te Entdeckungmachte,daß es überall gar kein Er-kenntnisa priori gebe,noch gebenkönne.Allein eshathiemit keineNot. Eswäreebensoviel, alsob je-manddurch Vernunft beweisenwollte, daßes keineVernunft gebe.Denn wir sagennur, daß wir etwasdurchVernunfterkennen,wennwir unsbewußtsind,daßwir es auchhättenwissenkönnen,wenn es unsauchnicht so in der Erfahrungvorgekommenwäre;mithin ist VernunfterkenntnisundErkenntnisa priorieinerlei. Aus einem ErfahrungssatzeNotwendigkeit(ex pumice aquam) auspressenwollen, mit dieserauch wahre Allgemeinheit (ohne welche kein Ver-nunftschluß,mithin auch nicht der Schluß aus derAnalogie,welcheeinewenigstenspräsumierteAllge-meinheitund objektive Notwendigkeitist, und diesealsodochimmervoraussetzt)einemUrteile verschaf-fen wollen, ist geraderWiderspruch.SubjektiveNot-wendigkeit,d.i. Gewohnheit,stattder objektiven,dienur in Urteilen a priori stattfindet, unterschieben,heißt der Vernunft das Vermögenabsprechen,überdenGegenstandzu urteilen,d.i. ihn, undwasihm zu-komme,zu erkennen,und z. B. von dem,wasöftersund immer auf einengewissenvorhergehendenZu-

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Kant-W Bd. 7 117Vorrede

stand folgte, nicht sagen,daß man aus diesemaufjenes schließenkönne (denn das würde objektiveNotwendigkeitund Begriff von einer Verbindungapriori bedeuten),sondernnur ähnlicheFälle (mit denTierenauf ähnlicheArt) erwartendürfe,d.i. denBe-griff der Ursacheim Grundeals falsch und bloßenGedankenbetrugverwerfen.DiesemMangel der ob-jektivenunddarausfolgendenallgemeinenGültigkeitdadurchabhelfenwollen,daßmandochkeinenGrundsähe,andernvernünftigenWeseneineandereVorstel-lungsartbeizulegen,wenndaseinengültigenSchlußabgäbe,so würde uns unsere UnwissenheitmehrDienstezuErweiterungunsererErkenntnisleisten,alsallesNachdenken.Dennbloßdeswegen,weil wir an-derevernünftigeWesenaußerdem Menschennichtkennen,würdenwir ein Rechthaben,sie als so be-schaffenanzunehmen,wie wir unserkennen,d.i. wirwürdensie wirklich kennen.Ich erwähnehier nichteinmal,daßnicht die AllgemeinheitdesFürwahrhal-tens die objektive Gültigkeit eines Urteils (d.i. dieGültigkeit desselbenalsErkenntnisses)beweise,son-dern,wennjeneauchzufälligerWeisezuträfe,diesesdochnochnicht einenBeweisder Übereinstimmungmit demObjektabgebenkönne;vielmehrdie objekti-ve Gültigkeit allein denGrundeinernotwendigenall-gemeinenEinstimmungausmache.

Humewürdesichbei diesemSystemdesallgemei-

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Kant-W Bd. 7 118Vorrede

nenEmpirismsin Grundsätzenauchsehrwohl befin-den;denner verlangte,wie bekannt,nichtsmehr,alsdaß,stattaller objektivenBedeutungder Notwendig-keit im Begriffe der Ursache,eine bloß subjektive,nämlich Gewohnheit,angenommenwerde, um derVernunftallesUrteil überGott,FreiheitundUnsterb-lichkeit abzusprechen;und er verstandsich gewißsehrgut darauf,um,wennmanihm nur diePrinzipienzugestand,Schlüssemit aller logischenBündigkeitdarauszu folgern.Aber soallgemeinhatselbstHumedenEmpirismnicht gemacht,um auchdie Mathema-tik darineinzuschließen.Er hielt ihre Sätzefür analy-tisch, und, wenndasseineRichtigkeit hätte,würdensie in der Tat auchapodiktischsein,gleichwohlaberdarauskein Schlußauf ein Vermögender Vernunft,auchin derPhilosophieapodiktischeUrteile,nämlichsolche,die synthetischwären(wie der Satzder Kau-salität), zu fällen, gezogenwerdenkönnen.NähmemanaberdenEmpirismder Prinzipienallgemeinan,sowäreauchMathematikdamiteingeflochten.

Wennnundiesemit derVernunft,die bloßempiri-scheGrundsätzezuläßt,in Widerstreitgerät,wie die-sesin der Antinomie, da Mathematikdie unendlicheTeilbarkeit desRaumesunwidersprechlichbeweiset,der Empirism abersie nicht verstattenkann, unver-meidlich ist: so ist die größtemöglicheEvidenzderDemonstration,mit den vorgeblichenSchlüssenaus

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Page 17: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 119Vorrede

Erfahrungsprinzipien,in offenbarem Widerspruch,undnunmußman,wie derBlinde desCheseldenfra-gen: was betrügt mich, das Gesicht oder Gefühl?(DennderEmpirismgründetsichauf einergefühlten,derRationalismaberauf einereingesehenenNotwen-digkeit.)Und sooffenbaretsichderallgemeineEmpi-rism als denechtenSkeptizism, denmandemHumefälschlich in so unbeschränkterBedeutungbeilegte,6da er wenigstenseinensicherenProbiersteinder Er-fahrungan der Mathematikübrig ließ, stattdaßjenerschlechterdingskeinen Probiersteinderselben(derimmer nur in Prinzipiena priori angetroffenwerdenkann)verstattet,obzwardiesedochnicht ausbloßenGefühlen,sondernauchausUrteilenbesteht.

Doch, da es in diesemphilosophischenund kriti-schenZeitalterschwerlichmit jenemEmpirismErnstseinkann,und er vermutlichnur zur Übungder Ur-teilskraft,und,umdurchdenKontrastdieNotwendig-keit rationalerPrinzipiena priori in ein helleresLichtzu setzen,aufgestelletwird: so kann man es denendoch Dank wissen,die sich mit dieser sonst ebennichtbelehrendenArbeit bemühenwollen.

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Page 18: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 120Einleitung: Von der Idee einer Kritik der praktischen

Einleitung

Von derIdeeeinerKritik derpraktischenVernunft

DertheoretischeGebrauchderVernunftbeschäftig-te sich mit GegenständendesbloßenErkenntnisver-mögens,undeineKritik derselben,in Absichtaufdie-senGebrauch,betrafeigentlichnurdasreineErkennt-nisvermögen,weil diesesVerdachterregte,der sichauch hernachbestätigte,daß es sich leichtlich überseineGrenzen,unterunerreichbareGegenstände,odergar einanderwiderstreitendeBegriffe, verlöre. Mitdem praktischenGebraucheder Vernunft verhält essichschonanders.In diesembeschäftigtsichdie Ver-nunft mit BestimmungsgründendesWillens, welcherein Vermögenist, den VorstellungenentsprechendeGegenständeentwederhervorzubringen,oder dochsich selbst zu Bewirkung derselben(das physischeVermögenmagnunhinreichendsein,odernicht), d.i.seineKausalitätzu bestimmen.Denndakannwenig-stensdie Vernunft zur Willensbestimmungzulangen,und hat so fern immer objektive Realität,als es nurauf das Wollen ankommt. Hier ist also die ersteFrage:obreineVernunftzurBestimmungdesWillensfür sichallein zulange,oderob sienur alsempirisch-

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Page 19: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 120Einleitung: Von der Idee einer Kritik der praktischen

bedingte ein Bestimmungsgrundderselben seinkönne.Nun tritt hier ein durch die Kritik der reinenVernunft gerechtfertigter,obzwarkeinerempirischenDarstellungfähiger Begriff der Kausalität,nämlichder der Freiheit, ein, und wenn wir anjetzt Gründeausfindigmachenkönnen,zu beweisen,daßdieseEi-genschaftdemmenschlichenWillen (undsoauchdemWillen aller vernünftigen Wesen) in der Tat zu-komme,so wird dadurchnicht allein dargetan,daßreineVernunft praktischseinkönne,sonderndaßsieallein, und nicht die empirisch-beschränkte,unbe-dingterweisepraktischsei.Folglich werdenwir nichteine Kritik der reinen praktischen, sondernnur derpraktischenVernunft überhauptzu bearbeitenhaben.DennreineVernunft,wennallererstdargetanworden,daßeseinesolchegebe,bedarfkeinerKritik. Sie istes,welcheselbstdieRichtschnurzurKritik allesihresGebrauchsenthält. Die Kritik der praktischenVer-nunft überhaupthat alsodie Obliegenheit,die empi-risch bedingteVernunft von der Anmaßungabzuhal-ten,ausschließungsweisedenBestimmungsgrunddesWillens allein abgebenzu wollen. Der GebrauchderreinenVernunft,wenn,daßeseinesolchegebe,aus-gemachtist, ist allein immanent;der empirisch-be-dingte,dersichdie Alleinherrschaftanmaßt,ist dage-gentranszendent,undäußertsichin ZumutungenundGeboten,die ganzüber ihr Gebiethinausgehen,wel-

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Page 20: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 121Einleitung: Von der Idee einer Kritik der praktischen

chesgeradedasumgekehrteVerhältnisvon demist,wasvon derreinenVernunft im spekulativenGebrau-chegesagtwerdenkonnte.

Indessen,da es immer noch reine Vernunft ist,deren Erkenntnis hier dem praktischenGebrauchezum Grundeliegt, so wird dochdie EinteilungeinerKritik derpraktischenVernunft,demallgemeinenAb-risse nach, der der spekulativengemäßangeordnetwerden müssen.Wir werden also eine Elementar-lehreundMethodenlehrederselben,in jener,alsdemerstenTeile, eine Analytik, als Regel der Wahrheit,und eine Dialektik, als Darstellungund Auflösungdes Scheins in Urteilen der praktischenVernunfthabenmüssen.Allein die Ordnungin derUnterabtei-lung der Analytik wird wiederumdas Umgewandtevonderin derKritik derreinenspekulativenVernunftsein. Denn in der gegenwärtigenwerden wir vonGrundsätzenanfangendzu Begriffenund von diesenallererst,wo möglich, zu den Sinnengehen;da wirhingegenbei der spekulativenVernunft von denSin-nenanfingen,undbei denGrundsätzenendigenmuß-ten.Hievon liegt derGrundnunwiederumdarin:daßwir es jetzt mit einemWillen zu tun haben,und dieVernunft nicht im Verhältnisauf Gegenstände,son-dern auf diesenWillen und dessenKausalitätzu er-wägenhaben,da denndie Grundsätzeder empirischunbedingtenKausalitätden Anfang machenmüssen,

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Page 21: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 121Einleitung: Von der Idee einer Kritik der praktischen

nachwelchemderVersuchgemachtwerdenkann,un-sereBegriffe von demBestimmungsgrundeeinessol-chenWillens, ihrer Anwendungauf Gegenstände,zu-letzt auf dasSubjektunddessenSinnlichkeit,allererstfestzusetzen.DasGesetzder KausalitätausFreiheit,d.i. irgend ein reiner praktischerGrundsatz,machthierunvermeidlichdenAnfang,undbestimmtdieGe-genstände,worauferalleinbezogenwerdenkann.

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Page 22: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1231. Erklärung

DerKritik derpraktischenVernunftersterTeil

ElementarlehrederreinenpraktischenVernunft

ErstesBuch.Die Analytik derreinenpraktischenVernunft

ErstesHauptstück.Von denGrundsätzender reinen praktischen

Vernunft

§ 1. Erklärung

PraktischeGrundsätzesind Sätze,welcheeineall-gemeineBestimmungdesWillens enthalten,die meh-rerepraktischeRegelnuntersichhat.Siesindsubjek-tiv, oder Maximen, wenn die Bedingungnur als fürden Willen des Subjektsgültig von ihm angesehenwird; objektiv aber, oder praktischeGesetze, wennjeneals objektiv, d.i. für denWillen jedesvernünfti-genWesensgültig erkanntwird.

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Page 23: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1251. Erklärung

Anmerkung

Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einenpraktisch,d.i. zur WillensbestimmunghinreichendenGrund in sich enthaltenkönne,so gibt espraktischeGesetze;wo aber nicht, so werden alle praktischeGrundsätzebloße Maximen sein. In einempatholo-gisch-affiziertenWillen eines vernünftigen Wesenskannein WiderstreitderMaximen,wider die von ihmselbsterkanntepraktischeGesetze,angetroffenwer-den.Z.B. eskann sich jemandzur Maxime machen,keineBeleidigungungerächetzu erdulden,und dochzugleicheinsehen,daßdieseskeinpraktischesGesetz,sondernnur seineMaximesei,dagegen,alsRegelfürdenWillen einesjedenvernünftigenWesens,in einerund derselbenMaxime, mit sich selbstnicht zusam-menstimmenkönne.In der Naturerkenntnissind diePrinzipiendessen,wasgeschieht(z.B. dasPrinzipderGleichheit der Wirkung und Gegenwirkungin derMitteilung der Bewegung), zugleich GesetzederNatur;dennderGebrauchderVernunft ist dort theo-retischund durchdie BeschaffenheitdesObjektsbe-stimmt.In derpraktischenErkenntnis,d.i. derjenigen,welcheesbloßmit BestimmungsgründendesWillenszu tun hat, sind Grundsätze,die man sich macht,

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Kant-W Bd. 7 1261. Erklärung

darumnochnicht Gesetze,daruntermanunvermeid-lich stehe,weil die Vernunft im Praktischenes mitdemSubjektezu tun hat, nämlich demBegehrungs-vermögen,nach dessenbesondererBeschaffenheitsich die Regelvielfältig richten kann. – Die prakti-scheRegelist jederzeiteinProduktderVernunft,weilsie Handlung, als Mittel zur Wirkung, als Absichtvorschreibt.DieseRegel ist aberfür ein Wesen,beidem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrunddes Willens ist, ein Imperativ, d.i. eine Regel, diedurchein Sollen,welchesdie objektiveNötigungderHandlungausdrückt,bezeichnetwird, und bedeutet,daß,wenndie Vernunft denWillen gänzlichbestim-mete,die HandlungunausbleiblichnachdieserRegelgeschehenwürde.Die Imperativengeltenalsoobjek-tiv, undsindvon Maximen,alssubjektivenGrundsät-zen,gänzlichunterschieden.Jenebestimmenaberent-wederdie Bedingungender Kausalitätdesvernünfti-gen Wesens,als wirkender Ursache,bloß in Anse-hung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben,odersie bestimmennur denWillen, er magzur Wir-kung hinreichendseinodernicht. Die ersterewürdenhypothetischeImperativensein,undbloßeVorschrif-ten der Geschicklichkeitenthalten;die zweitenwür-dendagegenkategorischundallein praktischeGeset-ze sein. Maximen sind also zwar Grundsätze, abernicht Imperativen. Die Imperativenselberaber,wenn

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Kant-W Bd. 7 1261. Erklärung

sie bedingtsind,d.i. nicht denWillen schlechthinalsWillen, sondernnur in Ansehungeiner begehrtenWirkung bestimmen,d.i. hypothetischeImperativensind, sind zwar praktischeVorschriften, aber keineGesetze. Die letzternmüssendenWillen als Willen,nocheheich frage,ob ich gardaszu einerbegehrtenWirkungerforderlicheVermögenhabe,oder,wasmir,umdiesehervorzubringen,zu tun sei,hinreichendbe-stimmen,mithin kategorischsein,sonstsind eskeineGesetze;weil ihnendie Notwendigkeitfehlt, welche,wennsiepraktischseinsoll, von pathologischen,mit-hin dem Willen zufällig anklebendenBedingungenunabhängigseinmuß.Sagetjemanden,z.B.,daßer inder Jugendarbeitenund sparenmüsse,um im Alternicht zu darben:so ist dieseseine richtige und zu-gleich wichtige praktischeVorschrift des Willens.Man sieht aber leicht, daßder Wille hier auf etwasanderesverwiesenwerde, wovon man voraussetzt,daßeresbegehre,unddiesesBegehrenmußmanihm,dem Täter selbst, überlassen,ob er noch andereHülfsquellen,außerseinemselbsterworbenenVer-mögen,vorhersehe,oderob er gar nicht hoffe, alt zuwerden,oder sich denkt im Falle der Not dereinstschlechtbehelfenzu können.Die Vernunft, ausderallein alle Regel, die Notwendigkeit enthaltensoll,entspringenkann, legt in dieseihre Vorschrift zwarauchNotwendigkeit(dennohnedaswäresiekein Im-

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Kant-W Bd. 7 1271. Erklärung

perativ),aberdieseist nur subjektivbedingt,undmankann sie nicht in allen Subjektenin gleichemGradevoraussetzen.Zu ihrer Gesetzgebungaberwird erfo-dert,daßsiebloß sichselbstvorauszusetzenbedürfe,weil die Regel nur alsdennobjektiv und allgemeingültig ist, wennsie ohnezufällige,subjektiveBedin-gungengilt, die ein vernünftigWesenvon demande-ren unterscheiden.Nun sagt jemanden:er solle nie-malslügenhaftversprechen,soist dieseineRegel,diebloß seinenWillen betrifft; die Absichten, die derMenschhabenmag,mögendurchdenselbenerreichtwerdenkönnen,odernicht; dasbloßeWollen ist das,wasdurchjeneRegelvöllig a priori bestimmtwerdensoll. Findetsich nun, daßdieseRegelpraktischrich-tig sei,soist sieein Gesetz,weil sieein kategorischerImperativ ist. Also beziehensich praktischeGesetzealleinauf denWillen, unangesehendessen,wasdurchdie Kausalitätdesselbenausgerichtetwird, und mankannvon derletztern(alszurSinnenweltgehörig)ab-strahieren,umsiereinzuhaben.

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Kant-W Bd. 7 1272. Lehrsatz I

§ 2. LehrsatzI

Alle praktischePrinzipien,die einObjekt(Materie)des Begehrungsvermögens,als BestimmungsgrunddesWillens, voraussetzen,sind insgesamtempirischundkönnenkeinepraktischeGesetzeabgeben.

Ich versteheunterderMateriedesBegehrungsver-mögenseinen Gegenstand,dessenWirklichkeit be-gehretwird. Wenndie BegierdenachdiesemGegen-standenunvor derpraktischenRegelvorhergeht,unddie Bedingungist, sie sich zum Prinzip machen,sosageich (erstlich): diesesPrinzipist alsdennjederzeitempirisch.Dennder Bestimmungsgrundder Willkürist alsdenndie VorstellungeinesObjekts,und dasje-nige Verhältnisderselbenzum Subjekt,wodurchdasBegehrungsvermögenzur Wirklichmachungdessel-benbestimmtwird. Ein solchesVerhältnisaberzumSubjektheißtdie Lust an der Wirklichkeit einesGe-genstandes.Also müßte diese als Bedingung derMöglichkeit der Bestimmungder Willkür vorausge-setztwerden.Eskannabervon keinerVorstellungir-gendeinesGegenstandes,welchesieauchsei,apriorierkanntwerden,ob sie mit Lust oderUnlust verbun-den, oder indifferent sein werde. Also muß in sol-chemFallederBestimmungsgrundderWillkür jeder-zeit empirischsein,mithin auchdaspraktischemate-

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Kant-W Bd. 7 1283. Lehrsatz II

rialePrinzip,welchesihn alsBedingungvoraussetzte.Da nun (zweitens) ein Prinzip,dassichnur auf die

subjektiveBedingungderEmpfänglichkeiteinerLustoderUnlust (die jederzeitnur empirischerkannt,undnicht für allevernünftigeWesenin gleicherArt gültigseinkann)gründet,zwarwohl für dasSubjekt,dassiebesitzt,zu ihrer Maxime, aberauch für dieseselbst(weil esihm anobjektiverNotwendigkeit,die a priorierkanntwerdenmuß,mangelt)nicht zumGesetzedie-nen kann, so kann ein solchesPrinzip niemalseinpraktischesGesetzabgeben.

§ 3. LehrsatzII

Alle materialepraktischePrinzipiensind, als sol-che, insgesamtvon einerund derselbenArt, und ge-hören unter das allgemeinePrinzip der Selbstliebe,odereigenenGlückseligkeit.

Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einerSache,so fern sieein BestimmungsgrunddesBegeh-rensdieserSacheseinsoll, gründetsichauf derEmp-fänglichkeit des Subjekts,weil sie von dem DaseineinesGegenstandesabhängt; mithin gehört sie demSinne(Gefühl) und nicht demVerstandean,der eineBeziehungder Vorstellungauf ein Objekt, nachBe-griffen, aber nicht auf das Subjekt, nach Gefühlen,

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Kant-W Bd. 7 1293. Lehrsatz II

ausdrückt.Sie ist also nur so fern praktisch,als dieEmpfindungderAnnehmlichkeit,die dasSubjektvonder Wirklichkeit desGegenstandeserwartet,dasBe-gehrungsvermögenbestimmt.Nun ist aber das Be-wußtsein eines vernünftigen Wesensvon der An-nehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochenseinganzesDaseinbegleitet,die Glückseligkeit, und dasPrinzip,diesesichzumhöchstenBestimmungsgrundeder Willkür zu machen,dasPrinzip der Selbstliebe.Also sind alle materialePrinzipien,die den Bestim-mungsgrundder Willkür in der,ausirgendeinesGe-genstandesWirklichkeit zu empfindenden,Lust oderUnlust setzen,so fern gänzlichvon einerlei Art, daßsie insgesamtzumPrinzip der Selbstliebe,odereige-nenGlückseligkeitgehören.

Folgerung

Alle materiale praktischeRegelnsetzenden Be-stimmungsgrunddes Willens im unteren Begeh-rungsvermögen, und,gäbeesgar keinebloß formaleGesetzedesselben,die den Willen hinreichendbe-stimmeten,so würde auchkein oberesBegehrungs-vermögeneingeräumtwerdenkönnen.

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Kant-W Bd. 7 1293. Lehrsatz II

AnmerkungI

Man muß sich wundern,wie sonst scharfsinnigeMännereinenUnterschiedzwischendemunterenundoberenBegehrungsvermögendarin zu finden glau-ben können,ob die Vorstellungen, die mit demGe-fühl der Lust verbundensind, in den Sinnen, oderdem Verstande ihren Ursprung haben. Denn eskommt, wenn man nach den BestimmungsgründendesBegehrensfragt undsiein einervon irgendetwaserwartetenAnnehmlichkeitsetzt,gar nicht daraufan,wo die VorstellungdiesesvergnügendenGegenstan-des herkomme,sondernnur, wie sehrsie vergnügt.Wenn eine Vorstellung, sie mag immerhin im Ver-standeihren Sitz und Ursprunghaben,die Willkürnurdadurchbestimmenkann,daßsieeinGefühleinerLust im Subjektevoraussetzet,so ist, daßsieein Be-stimmungsgrundder Willkür sei, gänzlich von derBeschaffenheitdesinnerenSinnesabhängig,daßdie-sernämlichdadurchmit Annehmlichkeitaffiziert wer-denkann.Die VorstellungenderGegenständemögennochso ungleichartig,sie mögenVerstandes-,selbstVernunftvorstellungenim GegensatzederVorstellun-gender Sinnesein,so ist dochdasGefühl der Lust,wodurchjenedocheigentlichnur denBestimmungs-grund des Willens ausmachen(die Annehmlichkeit,

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Kant-W Bd. 7 1303. Lehrsatz II

dasVergnügen,dasmandavonerwartet,welchesdieTätigkeit zur Hervorbringungdes Objekts antreibt),nicht allein so fern von einerleiArt, daßesjederzeitbloßempirischerkanntwerdenkann,sondernauchsofern,alser eineunddieselbeLebenskraft,die sichimBegehrungsvermögenäußert,affiziert, und in dieserBeziehungvon jedemanderenBestimmungsgrundeinnichts, als dem Grade,verschiedensein kann. WiewürdemansonstenzwischenzweiderVorstellungsartnach gänzlich verschiedenenBestimmungsgründeneineVergleichungder Größenachanstellenkönnen,umden,derammeistendasBegehrungsvermögenaf-fiziert, vorzuziehen?EbenderselbeMenschkanneinihm lehrreichesBuch,dasihm nur einmalzu Händenkommt,ungelesenzurückgeben,um die Jagdnicht zuversäumen,in der Mitte einer schönenRedewegge-hen,um zur Mahlzeit nicht zu spätzu kommen,eineUnterhaltung durch vernünftige Gespräche,die ersonstsehrschätzt,verlassen,um sich an den Spiel-tisch zu setzen,so gar einenArmen,demwohlzutunihm sonst Freudeist, abweisen,weil er jetzt ebennicht mehrGeld in derTaschehat,alser braucht,umden Eintritt in die Komödiezu bezahlen.Beruht dieWillensbestimmungauf dem Gefühle der Annehm-lichkeit oder Unannehmlichkeit,die er aus irgendeinerUrsacheerwartet,soist esihm gänzlicheinerlei,durch welcheVorstellungsarter affiziert werde.Nur

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Kant-W Bd. 7 1303. Lehrsatz II

wie stark,wie lange,wie leicht erworbenundoft wie-derholtdieseAnnehmlichkeitsei,daranliegt esihm,um sich zur Wahl zu entschließen.So wie demjeni-gen,der Gold zur Ausgabebraucht,gänzlicheinerleiist, ob die Materiedesselben,dasGold, ausdemGe-birge gegraben,oder ausdem Sandegewaschenist,wenn es nur allenthalbenfür denselbenWert ange-nommenwird, so fragt kein Mensch,wenn es ihmbloß an der AnnehmlichkeitdesLebensgelegenist,ob Verstandes-oder Sinnesvorstellungen,sondernnur, wie viel und großesVergnügensie ihm auf dielängsteZeit verschaffen.Nur diejenigen,welchederreinenVernunft dasVermögen,ohneVoraussetzungirgendeinesGefühlsdenWillen zu bestimmen,gerneabstreitenmöchten,könnensichsoweit von ihrer ei-genenErklärungverirren,das,was sie selbstvorherauf ein und eben dasselbePrinzip gebrachthaben,dennochhernachfür ganzungleichartigzu erklären.So findet sichz.B., daßmanauchanbloßerKraftan-wendung, an demBewußtseinseinerSeelenstärkeinÜberwindungderHindernisse,die sichunseremVor-satzeentgegensetzen,an der Kultur der Geistestalen-te, u.s.w.,Vergnügenfinden könne,und wir nennendasmit RechtfeinereFreudenundErgötzungen,weilsie mehr, wie andere,in unsererGewalt sind, sichnicht abnutzen,dasGefühlzu nochmehreremGenußderselbenvielmehrstärken,und, indemsie ergötzen,

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Kant-W Bd. 7 1313. Lehrsatz II

zugleichkultivieren.Allein siedarumfür eineandereArt, den Willen zu bestimmen,als bloß durch denSinn, auszugeben,da sie doch einmal,zur Möglich-keit jener Vergnügen,ein darauf in uns angelegtesGefühle als erste BedingungdiesesWohlgefallens,voraussetzen,ist geradeso,alswennUnwissende,diegernein der Metaphysikpfuschernmöchten,sichdieMaterie so fein, so überfein,daß sie selbstdarüberschwindligwerdenmöchten,denken,und dannglau-ben,auf dieseArt sichein geistigesund dochausge-dehntesWesenerdachtzu haben.Wenn wir es,mitdem Epikur, bei der Tugendaufs bloße Vergnügenaussetzen,dassie verspricht,um den Willen zu be-stimmen:sokönnenwir ihn hernachnicht tadeln,daßer diesesmit denen der gröbstenSinne für ganzgleichartighält; dennman hat gar nicht Grund, ihmaufzubürden,daßer die Vorstellungen,wodurchdie-sesGefühl in unserregtwürde,bloßdenkörperlichenSinnenbeigemessenhätte.Er hatvonvielenderselbendenQuell, so viel manerratenkann,ebensowohl indemGebrauchdeshöherenErkenntnisvermögensge-sucht;aberdashinderteihn nichtundkonnteihn auchnichthindern,nachgenanntemPrinzipdasVergnügenselbst,das uns jene allenfalls intellektuelle Vorstel-lungen gewähren,und wodurch sie allein Bestim-mungsgründedesWillens sein können,gänzlich fürgleichartig zu halten. Konsequentzu sein, ist die

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Kant-W Bd. 7 1323. Lehrsatz II

größte Obliegenheit eines Philosophen,und wirddochamseltenstenangetroffen.Die altengriechischenSchulengebenuns davonmehrBeispiele,als wir inunseremsynkretistischenZeitalter antreffen,wo eingewissesKoalitionssystemwidersprechenderGrund-sätzevoll Unredlichkeit und Seichtigkeit erkünsteltwird, weil essich einemPublikumbesserempfiehlt,das zufrieden ist, von allem etwas,und im ganzennichtszuwissen,unddabeiin allenSättelngerechtzusein.DasPrinzip der eigenenGlückseligkeit,so vielVerstandund Vernunft bei ihm auchgebrauchtwer-denmag,würdedochfür denWillen keineandereBe-stimmungsgründe,als die dem unterenBegehrungs-vermögenangemessensind, in sich fassen,und esgibt also entweder gar kein Begehrungsvermögenoder reine Vernunft muß für sich allein praktischsein, d.i. ohne Voraussetzungirgend einesGefühls,mithin ohneVorstellungendesAngenehmenoderUn-angenehmen,als der MateriedesBegehrungsvermö-gens, die jederzeit eine empirischeBedingung derPrinzipienist, durch die bloßeForm der praktischenRegeldenWillen bestimmenkönnen.Alsdennalleinist Vernunftnur, sofern siefür sichselbstdenWillenbestimmt(nicht im Diensteder Neigungenist), einwahresoberesBegehrungsvermögen,demdaspatho-logischbestimmbareuntergeordnetist, und wirklich,ja spezifischvon diesemunterschieden,so daßsogar

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Kant-W Bd. 7 1323. Lehrsatz II

diemindesteBeimischungvondenAntriebenderletz-terenihrer Stärkeund VorzugeAbbruch tut, so wiedasmindesteEmpirische,alsBedingungin einerma-thematischenDemonstration,ihre Würde und Nach-druck herabsetztund vernichtet. Die Vernunft be-stimmt in einempraktischenGesetzeunmittelbardenWillen, nicht vermittelsteinesdazwischenkommen-denGefühlsderLust und Unlust,selbstnicht andie-sem Gesetze,und nur, daß sie als reine Vernunftpraktischseinkann,machtes ihr möglich, gesetzge-bendzusein.

AnmerkungII

Glücklich zu sein, ist notwendig das VerlangenjedesvernünftigenaberendlichenWesens,und alsoein unvermeidlicherBestimmungsgrundseinesBe-gehrungsvermögens.Denndie Zufriedenheitmit sei-nemganzenDaseinist nicht etwaein ursprünglicherBesitz,undeineSeligkeit,welcheeinBewußtseinsei-ner unabhängigenSelbstgenugsamkeitvoraussetzenwürde,sondernein durchseineendlicheNatur selbstihm aufgedrungenesProblem,weil es bedürftig ist,und diesesBedürfnisbetrifft die Materie seinesBe-gehrungsvermögens,d.i. etwas,wassichauf ein sub-jektiv zum Grunde liegendesGefühl der Lust oder

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Kant-W Bd. 7 1333. Lehrsatz II

Unlustbezieht,dadurchdas,waseszur Zufriedenheitmit seinemZustandebedarf, bestimmt wird. Aberebendarum,weil diesermaterialeBestimmungsgrundvon dem Subjekte bloß empirisch erkannt werdenkann,ist esunmöglich,dieseAufgabeals ein Gesetzzu betrachten,weil diesesalsobjektiv in allenFällenund für alle vernünftigeWesenebendenselbenBe-stimmungsgrunddesWillens enthaltenmüßte.Dennobgleich der Begriff der Glückseligkeit der prakti-schenBeziehungderObjekteaufsBegehrungsvermö-gen allerwärts zum Grundeliegt, so ist er doch nurder allgemeineTitel der subjektivenBestimmungs-gründe, und bestimmt nichts spezifisch, darum esdoch in dieserpraktischenAufgabeallein zu tun ist,undohnewelcheBestimmungsiegarnicht aufgelösetwerdenkann.Worin nämlichjederseineGlückselig-keit zu setzenhabe,kommtauf jedesseinbesonderesGefühl der Lust und Unlust an, und selbstin einemund demselbenSubjekt auf die VerschiedenheitderBedürfnis, nach den AbänderungendiesesGefühls,und ein subjektivnotwendigesGesetz(als Naturge-setz) ist also objektiv ein gar sehrzufälligesprakti-schesPrinzip, das in verschiedenenSubjektensehrverschiedensein kann und muß, mithin niemalseinGesetzabgebenkann,weil es,bei der BegierdenachGlückseligkeit,nicht auf die Form der Gesetzmäßig-keit, sondern lediglich auf die Materie ankommt,

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Page 37: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1343. Lehrsatz II

nämlichob undwie viel Vergnügenich in derBefol-gung desGesetzeszu erwartenhabe.PrinzipienderSelbstliebekönnenzwar allgemeineRegelnder Ge-schicklichkeit(Mittel zu Absichtenauszufinden)ent-halten,alsdennsind esaberbloß theoretischePrinzi-pien7, (z.B. wie derjenige, der gerne Brot essenmöchte,sich eine Mühle auszudenkenhabe).AberpraktischeVorschriften,diesichaufsiegründen,kön-nen niemalsallgemeinsein,dennder Bestimmungs-grund desBegehrungsvermögensist auf dasGefühlder Lust und Unlust, dasniemalsals allgemein,aufdieselbenGegenständegerichtet,angenommenwer-denkann,gegründet.

Aber gesetzt,endlichevernünftigeWesendächtenauchin Ansehungdessen,was sie für ObjekteihrerGefühledesVergnügensoder Schmerzensanzuneh-menhätten,imgleichensogarin AnsehungderMittel,derensiesichbedienenmüssen,um die ersternzu er-reichen,dieandernabzuhalten,durchgehendseinerlei,so würde das Prinzip der Selbstliebedennochvonihnendurchausfür kein praktischesGesetzausgege-ben werden können; denn diese Einhelligkeit wäreselbstdochnur zufällig. DerBestimmungsgrundwäreimmerdochnur subjektivgültig und bloß empirisch,undhättediejenigeNotwendigkeitnicht, die in einemjedenGesetzegedachtwird, nämlichdieobjektiveausGründena priori; manmüßtedenndieseNotwendig-

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Kant-W Bd. 7 1343. Lehrsatz II

keit garnicht für praktisch,sondernfür bloßphysischausgeben,nämlich daß die Handlung durch unsereNeigung uns eben so unausbleiblich abgenötigtwürde, als das Gähnen,wenn wir anderegähnensehen.Man würdeeherbehauptenkönnen,daßesgarkeinepraktischeGesetzegebe,sondernnur Anratun-genzum Behuf unsererBegierden,als daßbloß sub-jektive PrinzipienzumRangepraktischerGesetzeer-hobenwürden,die durchausobjektiveundnicht bloßsubjektiveNotwendigkeithaben,und durchVernunfta priori, nicht durch Erfahrung(so empirischallge-mein diese auch sein mag) erkannt sein müssen.Selbstdie RegelneinstimmigerErscheinungenwer-den nur Naturgesetze(z.B. die mechanischen)ge-nannt,wenn man sie entwederwirklich a priori er-kennt,oderdoch(wie bei denchemischen)annimmt,sie würdena priori ausobjektivenGründenerkanntwerden,wennunsereEinsichttiefer ginge.Allein beibloßsubjektivenpraktischenPrinzipienwird dasaus-drücklich zur Bedingunggemacht,daß ihnen nichtobjektive,sondernsubjektiveBedingungender Will-kür zumGrundeliegenmüssen;mithin, daßsiejeder-zeit nur als bloßeMaximen,niemalsaberals prakti-sche Gesetze,vorstellig gemacht werden dürfen.DieseletztereAnmerkungscheintbeimerstenAnblik-ke bloße Wortklaubereizu sein; allein die Wortbe-stimmungdesallerwichtigstenUnterschiedes,dernur

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Page 39: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1354. Lehrsatz III

in praktischenUntersuchungenin Betrachtungkom-menmag.

§ 4. LehrsatzIII

Wennein vernünftigesWesensichseineMaximenals praktischeallgemeineGesetzedenken soll, sokann es sich dieselbenur als solchePrinzipienden-ken, die, nicht der Materie, sondernbloß der Formnach,denBestimmungsgrunddesWillensenthalten.

Die MaterieeinespraktischenPrinzipsist der Ge-genstanddesWillens.Dieserist entwederderBestim-mungsgrunddesletzteren,oder nicht. Ist er der Be-stimmungsgrunddesselben,so würde die RegeldesWillens einer empirischenBedingung(demVerhält-nissederbestimmendenVorstellungzumGefühlederLust und Unlust) unterworfen,folglich kein prakti-schesGesetzsein. Nun bleibt von einem Gesetze,wenn man alle Materie, d.i. jeden GegenstanddesWillens (als Bestimmungsgrund)davon absondert,nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinenGesetzgebung.Also kann ein vernünftiges Wesensich seinesubjektiv-praktischePrinzipien,d.i. Maxi-men,entwedergar nicht zugleichals allgemeineGe-setzedenken,oder esmußannehmen,daßdie bloßeForm derselben,nachder jene sich zur allgemeinen

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Page 40: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1364. Lehrsatz III

Gesetzgebungschicken, sie für sich allein zumprak-tischenGesetzemache.

Anmerkung

WelcheForm in der Maxime sich zur allgemeinenGesetzgebungschicke,welchenicht,daskannderge-meinsteVerstandohneUnterweisungunterscheiden.Ich habez.B. esmir zur Maximegemacht,meinVer-mögendurchalle sichereMittel zu vergrößern.Jetztist ein Depositumin meinenHänden,dessenEigentü-merverstorbenist und keineHandschriftdarüberzu-rückgelassenhat. Natürlicherweiseist dies der Fallmeiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen,ob jeneMaximeauchalsallgemeinespraktischesGesetzgel-tenkönne.Ich wendejenealsoaufgegenwärtigenFallan, und frage,ob sie wohl die Form einesGesetzesannehmen,mithin ich wohl durchmeineMaximezu-gleich ein solchesGesetzgebenkönnte: daß jeder-mannein Depositumableugnendürfe,dessenNieder-legungihm niemandbeweisenkann.Ich werdesofortgewahr, daß ein solchesPrinzip, als Gesetz,sichselbstvernichtenwürde,weil esmachenwürde,daßesgar kein Depositumgäbe.Ein praktischesGesetz,wasich dafürerkenne,mußsichzur allgemeinenGe-setzgebungqualifizieren;diesist ein identischerSatz

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Kant-W Bd. 7 1364. Lehrsatz III

undalsofür sichklar. Sageich nun,meinWille stehtunter einempraktischenGesetze, so kann ich nichtmeineNeigung (z.B. im gegenwärtigenFalle meineHabsucht)als denzu einemallgemeinenpraktischenGesetzeschicklichen Bestimmungsgrunddesselbenanführen;denndiese,weit gefehlt, daßsie zu einerallgemeinenGesetzgebungtauglich sein sollte, somußsie vielmehrin der FormeinesallgemeinenGe-setzessichselbstaufreiben.

Es ist daherwunderlich,wie, da die BegierdezurGlückseligkeit,mithin auchdieMaxime, dadurchsichjeder dieseletzterezum BestimmungsgrundeseinesWillens setzt,allgemeinist, esverständigenMännernhabein denSinn kommenkönnen,esdarumfür einallgemeinpraktischesGesetzauszugeben.Denn dasonst ein allgemeinesNaturgesetzalles einstimmigmacht,sowürdehier,wennmanderMaximedie All-gemeinheiteinesGesetzesgebenwollte, gradedasäu-ßersteWiderspielderEinstimmung,derärgsteWider-streit und die gänzliche Vernichtung der Maximeselbst und ihrer Absicht erfolgen. Denn der Willealler hat alsdennnicht ein und dasselbeObjekt, son-dernein jederhat dasseinige(seineigenesWohlbe-finden),welchessich zwar,zufälligerweise,auchmitandererihren Absichten,die sie gleichfalls auf sichselbstrichten, vertragenkann, aber langenicht zumGesetzehinreichendist, weil dieAusnahmen,dieman

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Page 42: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1374. Lehrsatz III

gelegentlichzu machenbefugt ist, endlossind, undgar nicht bestimmtin eine allgemeineRegel befaßtwerdenkönnen.Eskommtauf dieseArt eineHarmo-nie heraus,die derjenigenähnlich ist, welcheein ge-wissesSpottgedichtauf die Seeleneintrachtzweiersichzu GrunderichtendenEheleuteschildert:O wun-dervolle Harmonie,was er will, will auch sie etc.,oder was von der AnheischigmachungKönig Franzdes Ersten gegenKaiser Karl den Fünften erzähltwird: was mein Bruder Karl habenwill (Mailand),das will ich auch haben.EmpirischeBestimmungs-gründetaugenzu keinerallgemeinenäußerenGesetz-gebung,aber auch ebenso wenig zur innern; dennjeder legt sein Subjekt,ein andereraberein anderesSubjektderNeigungzumGrunde,und in jedemSub-jekt selberist bald die, bald eineandereim VorzugedesEinflusses.Ein Gesetzausfindigzu machen,dassieinsgesamtunterdieserBedingung,nämlichmit al-lerseitigerEinstimmung,regierte,ist schlechterdingsunmöglich.

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Page 43: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1385. Aufgabe I

§ 5. AufgabeI

Vorausgesetzt,daßdie bloßegesetzgebendeFormder Maximen allein der zureichendeBestimmungs-grund einesWillens sei: die Beschaffenheitdesjeni-genWillens zu finden,derdadurchallein bestimmbarist.

Da die bloßeForm desGesetzeslediglich von derVernunft vorgestellt werdenkann, und mithin keinGegenstandderSinneist, folglich auchnichtunterdieErscheinungengehört:so ist die Vorstellungdersel-benalsBestimmungsgrunddesWillens von allenBe-stimmungsgründender Begebenheitenin der NaturnachdemGesetzeder Kausalitätunterschieden,weilbei diesendie bestimmendenGründeselbstErschei-nungensein müssen.Wenn aber auch kein andererBestimmungsgrunddesWillens für diesenzum Ge-setzdienenkann,als bloß jeneallgemeinegesetzge-bendeForm: so muß ein solcherWille als gänzlichunabhängigvon demNaturgesetzderErscheinungen,nämlichdemGesetzederKausalität,beziehungsweiseauf einander,gedachtwerden.Eine solcheUnabhän-gigkeit aber heißt Freiheit im strengsten,d.i. trans-zendentalenVerstande.Also ist ein Wille, dem diebloße gesetzgebendeForm der Maxime allein zumGesetzedienenkann,ein freierWille.

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Kant-W Bd. 7 1386. Aufgabe II

§ 6. AufgabeII

Vorausgesetzt,daßein Wille frei sei:dasGesetzzufinden, welchesihn allein notwendigzu bestimmentauglichist.

Da die Materie despraktischenGesetzes,d.i. einObjektderMaxime,niemalsandersalsempirischge-gebenwerdenkann,der freie Wille aber,alsvon em-pirischen(d.i. zur Sinnenweltgehörigen)Bedingun-gen unabhängig,dennochbestimmbarsein muß: somußein freierWille, unabhängigvon derMateriedesGesetzes,dennocheinenBestimmungsgrundin demGesetzeantreffen.Es ist aber,außerder MateriedesGesetzes,nichtsweiter in demselben,als die gesetz-gebendeForm enthalten.Also ist die gesetzgebendeForm,sofernsiein derMaximeenthaltenist, dasein-zige, waseinenBestimmungsgrunddesWillens aus-machenkann.

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Kant-W Bd. 7 1396. Aufgabe II

Anmerkung

FreiheitundunbedingtespraktischesGesetzweisenalsowechselsweiseaufeinanderzurück.Ich fragehiernun nicht: ob sie auch in der Tat verschiedensein,und nicht vielmehr ein unbedingtesGesetzbloß dasSelbstbewußtseineiner reinenpraktischenVernunft,dieseaber ganz einerlei mit dem positiven BegriffederFreiheitsei;sondernwovonunsereErkenntnisdesunbedingt-Praktischenanhebe, ob von der Freiheit,oderdempraktischenGesetze.Von derFreiheitkannesnicht anheben;dennderenkönnenwir unswederunmittelbarbewußtwerden,weil sein ersterBegriffnegativist, nochdaraufausder Erfahrungschließen,dennErfahrunggibt unsnur dasGesetzder Erschei-nungen,mithin denMechanismderNatur,dasgeradeWiderspielder Freiheit,zu erkennen.Also ist esdasmoralischeGesetz, dessenwir uns unmittelbar be-wußt werden(so bald wir unsMaximendesWillensentwerfen),welchessich uns zuerst darbietet,und,indemdieVernunftjenesalseinendurchkeinesinnli-cheBedingungenzu überwiegenden,ja davongänz-lich unabhängigenBestimmungsgrunddarstellt,gera-de auf den Begriff der Freiheit führt. Wie ist aberauch das Bewußtsein jenes moralischenGesetzesmöglich?Wir könnenunsreinerpraktischerGesetze

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Kant-W Bd. 7 1396. Aufgabe II

bewußtwerden,ebenso,wie wir unsreinertheoreti-scherGrundsätzebewußtsind,indemwir aufdieNot-wendigkeit,womit sie uns die Vernunft vorschreibt,undaufAbsonderungallerempirischenBedingungen,dazu uns jene hinweiset, Acht haben.Der BegriffeinesreinenWillens entspringtausdenersteren,wiedasBewußtseineinesreinenVerstandesausdemletz-teren.DaßdiesesdiewahreUnterordnungunsererBe-griffe sei, und Sittlichkeit unszuerstdenBegriff derFreiheit entdecke,mithin praktischeVernunftzuerstderspekulativendasunauflöslichsteProblemmit die-semBegriffe aufstelle,um siedurchdenselbenin diegrößteVerlegenheitzu setzen,erhelletschondaraus:daß,daausdemBegriffe derFreiheitin denErschei-nungen nichts erklärt werden kann, sondern hierimmer Naturmechanismden Leitfaden ausmachenmuß, überdemauch die Antinomie der reinen Ver-nunft,wennsiezumUnbedingtenin derReihederUr-sachenaufsteigenwill, sich,beieinemsosehrwie beidemandern,in Unbegreiflichkeitenverwickelt,indes-sen daß doch der letztere (Mechanism)wenigstensBrauchbarkeitin Erklärung der Erscheinungenhat,man niemals zu dem Wagstückegekommenseinwürde,Freiheitin dieWissenschafteinzuführen,wärenicht das Sittengesetzund mit ihm praktischeVer-nunft dazugekommen,und hätteuns diesenBegriffnichtaufgedrungen.AberauchdieErfahrungbestätigt

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Kant-W Bd. 7 1406. Aufgabe II

dieseOrdnungderBegriffe in uns.Setzet,daßjemandvon seinerwollüstigenNeigungvorgibt, siesei,wennihm der beliebte Gegenstandund die Gelegenheitdazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich:ob,wenneinGalgenvor demHause,daerdieseGelegen-heit trifft, aufgerichtetwäre,umihn sogleichnachge-nossenerWollust daranzu knüpfen,er alsdennnichtseine Neigung bezwingen würde. Man darf nichtlangeraten,waser antwortenwürde.Fragt ihn aber,ob, wennseinFürst ihm, unterAndrohungderselbenunverzögertenTodesstrafe,zumutete, ein falschesZeugniswider einen ehrlichenMann, den er gerneunterscheinbarenVorwändenverderbenmöchte,ab-zulegen,ob er da, so groß auch seine Liebe zumLebenseinmag,siewohl zu überwindenfür möglichhalte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er viel-leicht sich nicht getrauenzu versichern;daßes ihmabermöglich sei,mußer ohneBedenkeneinräumen.Er urteilet also, daß er etwaskann, darum,weil ersichbewußtist, daßer essoll, underkenntin sichdieFreiheit, die ihm sonstohne das moralischeGesetzunbekanntgebliebenwäre.

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Page 48: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1407. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

§ 7. Grundgesetzder reinenpraktischenVernunft

Handleso, daßdie Maxime deinesWillens jeder-zeit zugleichals Prinzip einerallgemeinenGesetzge-bunggeltenkönne.

Anmerkung

Die reine Geometriehat Postulateals praktischeSätze,die abernichts weiter enthalten,als die Vor-aussetzung,daßmanetwastun könne, wennetwage-fodertwürde,mansolleestun,unddiesesinddieein-zigen Sätzederselben,die ein Daseinbetreffen.Essind also praktischeRegelnunter einer problemati-schen Bedingung des Willens. Hier aber sagt dieRegel:mansolle schlechthinauf gewisseWeisever-fahren.Die praktischeRegelist alsounbedingt,mit-hin, als kategorischpraktischerSatz,a priori vorge-stellt, wodurchder Wille schlechterdingsund unmit-telbar(durchdie praktischeRegelselbst,die alsohierGesetzist) objektiv bestimmtwird. Denn reine, ansich praktischeVernunft ist hier unmittelbargesetz-gebend.Der Wille wird als unabhängigvon empiri-schenBedingungen,mithin, als reiner Wille, durchdie bloßeForm desGesetzesals bestimmtgedacht,

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Page 49: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1417. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

und dieserBestimmungsgrundals die obersteBedin-gung aller Maximen angesehen.Die Sacheist be-fremdlichgenug,undhatihresgleichenin derganzenübrigenpraktischenErkenntnisnicht. Denn der Ge-dankea priori von einermöglichenallgemeinenGe-setzgebung,der also bloß problematischist, wird,ohnevon der Erfahrungoder irgend einemäußerenWillen etwaszu entlehnen,als Gesetzunbedingtge-boten. Es ist aber auch nicht eine Vorschrift, nachwelchereineHandlunggeschehensoll, dadurcheinebegehrteWirkung möglich ist (denn da wäre dieRegelimmer physischbedingt),sonderneineRegel,die bloß den Willen, in Ansehungder Form seinerMaximen, a priori bestimmt,und da ist ein Gesetz,welchesbloß zum Behuf der subjektivenForm derGrundsätzedient, als Bestimmungsgrunddurch dieobjektiveFormeinesGesetzesüberhaupt,wenigstenszu denken,nicht unmöglich.Man kanndasBewußt-sein diesesGrundgesetzesein Faktumder Vernunftnennen,weil manesnicht ausvorhergehendenDatisderVernunft,z.B. demBewußtseinderFreiheit(denndiesesist uns nicht vorher gegeben),herausvernünf-telnkann,sondernweil essichfür sichselbstunsauf-dringt als synthetischerSatza priori, der auf keiner,wederreinennochempirischenAnschauunggegrün-det ist, ob er gleichanalytischseinwürde,wennmandie FreiheitdesWillens voraussetzte,wozu aber,als

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Kant-W Bd. 7 1427. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

positivemBegriffe,eineintellektuelleAnschauunger-fodert werdenwürde,die manhier gar nicht anneh-men darf. Doch muß man, um diesesGesetzohneMißdeutungals gegebenanzusehen,wohl bemerken:daßeskein empirisches,sonderndaseinzigeFaktumder reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ur-sprünglichgesetzgebend(sic volo, sic iubeo)ankün-digt.

Folgerung

Reine Vernunft ist für sich allein praktisch,undgibt (demMenschen)einallgemeinesGesetz,welcheswir dasSittengesetznennen.

Anmerkung

Das vorher genannteFaktum ist unleugbar.Mandarfnur dasUrteil zergliedern,welchesdieMenschenüberdie Gesetzmäßigkeitihrer Handlungenfällen: sowird manjederzeitfinden,daß,wasauchdieNeigungdazwischensprechenmag,ihreVernunftdennoch,un-bestechlichunddurchsichselbstgezwungen,dieMa-xime desWillens bei einerHandlungjederzeitandenreinenWillen halte,d.i. ansichselbst,indemsiesich

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Page 51: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1427. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

als a priori praktischbetrachtet.DiesesPrinzip derSittlichkeit nun, ebenum der Allgemeinheitder Ge-setzgebungwillen, die eszumformalenoberstenBe-stimmungsgrundedes Willens, unangesehenallersubjektivenVerschiedenheitendesselben,macht,er-klärt die Vernunft zugleichzu einemGesetzefür allevernünftigeWesen,so fern sie überhaupteinenWil-len, d.i. ein Vermögenhaben,ihre Kausalitätdurchdie Vorstellungvon Regelnzu bestimmen,mithin sofern sie der HandlungennachGrundsätzen,folglichauchnachpraktischenPrinzipiena priori (denndiesehabenalleindiejenigeNotwendigkeit,welchedieVer-nunft zumGrundsatzefodert),fähig sein.Esschränktsich alsonicht bloß auf Menschenein, sonderngehtauf alle endliche Wesen,die Vernunft und Willenhaben,ja schließtsogardas unendlicheWesen,alsobersteIntelligenz,mit ein. Im ersterenFalleaberhatdasGesetzdie Form einesImperativs,weil man anjenemzwar, als vernünftigemWesen,einen reinen,aber,alsmit BedürfnissenundsinnlichenBewegursa-chenaffiziertemWesen,keinenheiligen Willen, d.i.einen solchen,der keiner dem moralischenGesetzewiderstreitendenMaximen fähig wäre, voraussetzenkann.Das moralischeGesetzist daherbei jeneneinImperativ, der kategorischgebietet,weil dasGesetzunbedingtist; dasVerhältniseinessolchenWillenszudiesemGesetzeist Abhängigkeit, unter dem Namen

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Page 52: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1437. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

der Verbindlichkeit, welche eine Nötigung, obzwardurch bloßeVernunft und dessenobjektivesGesetz,zu einerHandlungbedeutet,die darumPflicht heißt,weil eine pathologischaffizierte (obgleich dadurchnicht bestimmte,mithin auch immer freie) WillküreinenWunschbei sich führt, der aussubjektivenUr-sachenentspringt,daherauchdemreinenobjektivenBestimmungsgrundeoft entgegenseinkann,undalsoeinesWiderstandesder praktischenVernunft,der eininnerer,aber intellektueller,Zwang genanntwerdenkann, als moralischerNötigung bedarf.In der aller-gnugsamstenIntelligenzwird die Willkür, als keinerMaximefähig,die nicht zugleichobjektiv Gesetzseinkonnte, mit Recht vorgestellt, und der Begriff derHeiligkeit, der ihr um deswillen zukommt,setzt siezwar nicht über alle praktische,aberdoch über allepraktisch-einschränkendeGesetze,mithin Verbind-lichkeit undPflicht weg.DieseHeiligkeit desWillensist gleichwohleinepraktischeIdee,welchenotwendigzumUrbilde dienenmuß,welchemsich ins Unendli-chezunäherndaseinzigeist, wasallenendlichenver-nünftigenWesenzusteht,undwelchedasreineSitten-gesetz,dasdarumselbstheilig heißt,ihnenbeständigundrichtig vor Augenhält,vonwelcheminsUnendli-che gehendenProgressusseinerMaximen und Un-wandelbarkeitderselbenzumbeständigenFortschrei-ten sicherzu sein,d.i. Tugend,dasHöchsteist, was

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Page 53: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1448. Lehrsatz IV

endliche praktische Vernunft bewirken kann, dieselbstwiederumwenigstensals natürlicherworbenesVermögennievollendetseinkann,weil dieSicherheitin solchem Falle niemals apodiktische Gewißheitwird, undalsÜberredungsehrgefährlichist.

§ 8. LehrsatzIV

Die AutonomiedesWillens ist dasalleinige Prin-zip aller moralischenGesetzeundder ihnengemäßenPflichten; alle Heteronomieder Willkür gründetda-gegennicht allein gar keineVerbindlichkeit,sondernist vielmehr demPrinzip derselbenund der Sittlich-keit des Willens entgegen.In der Unabhängigkeitnämlich von aller Materie des Gesetzes(nämlicheinembegehrtenObjekte)undzugleichdochBestim-mungderWillkür durchdie bloßeallgemeinegesetz-gebendeForm, dereneine Maxime fähig sein muß,bestehtdasalleinigePrinzipderSittlichkeit. JeneUn-abhängigkeitaberist Freiheit im negativen, dieseei-geneGesetzgebungaberder reinen,und, als solche,praktischenVernunft ist Freiheit im positivenVer-stande.Also drückt dasmoralischeGesetznichtsan-ders aus, als die Autonomieder reinen praktischenVernunft,d.i. derFreiheit,unddieseist selbstdie for-male Bedingungaller Maximen,unter der sie allein

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Page 54: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1448. Lehrsatz IV

mit demoberstenpraktischenGesetzezusammenstim-men können.Wenn daherdie Materie desWollens,welchenichts anders,als dasObjekt einer Begierdeseinkann,die mit demGesetzverbundenwird, in daspraktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeitdesselbenhineinkommt,so wird darausHeteronomieder Willkür, nämlich Abhängigkeitvom Naturgeset-ze, irgend einemAntriebe oder Neigung zu folgen,und der Wille gibt sich nicht selbstdasGesetz,son-dern nur die Vorschrift zur vernünftigenBefolgungpathologischerGesetze;die Maximeaber,die auf sol-cheWeiseniemalsdieallgemein-gesetzgebendeFormin sichenthaltenkann,stiftetaufdieseWeisenichtal-lein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst demPrinzipeinerreinenpraktischenVernunft,hiemitalsoauchder sittlichenGesinnungentgegen,wenngleichdie Handlung,die darausentspringt,gesetzmäßigseinsollte.

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Page 55: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1458. Lehrsatz IV

AnmerkungI

Zum praktischenGesetzemuß also niemalseinepraktischeVorschrift gezähltwerden,die einemate-riale (mithin empirische)Bedingungbei sich führt.DenndasGesetzdesreinenWillens,der frei ist, setztdiesenin eineganzandereSphäre,alsdie empirische,unddie Notwendigkeit,die esausdrückt,dasiekeineNaturnotwendigkeitsein soll, kann also bloß in for-malenBedingungender Möglichkeit einesGesetzesüberhauptbestehen.Alle MateriepraktischerRegelnberuht immer auf subjektivenBedingungen,die ihrkeineAllgemeinheitfür vernünftigeWesen,alsledig-lich die bedingte(im Falle ich diesesoder jenesbe-gehre, wasich alsdenntun müsse,um eswirklich zumachen)verschaffen,und sie drehensich insgesamtum dasPrinzip der eigenenGlückseligkeit. Nun istfreilich unleugbar,daßalles Wollen aucheinenGe-genstand,mithin eine Materie haben müsse;aberdieseist darumnichtebenderBestimmungsgrundundBedingungderMaxime;denn,ist siees,so läßtdiesesich nicht in allgemeingesetzgebenderForm darstel-len, weil die Erwartungder ExistenzdesGegenstan-des alsdenndie bestimmendeUrsacheder Willkürseinwürde,unddieAbhängigkeitdesBegehrungsver-mögensvon der Existenz irgend einer Sachedem

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Page 56: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1458. Lehrsatz IV

Wollen zum Grunde gelegt werden müßte,welcheimmernur in empirischenBedingungengesuchtwer-den,unddaherniemalsdenGrundzu einernotwendi-gen und allgemeinenRegel abgebenkann. So wirdfremderWesenGlückseligkeitdasObjektdesWillenseines vernünftigen Wesenssein können. Wäre sieaber der Bestimmungsgrundder Maxime, so müßtemanvoraussetzen,daßwir in demWohlseinanderernicht allein ein natürlichesVergnügen,sondernauchein Bedürfnisfinden,so wie die sympathetischeSin-nesartbei Menschenes mit sich bringt. Aber diesesBedürfnis kann ich nicht bei jedem vernünftigenWesen(bei Gott gar nicht) voraussetzen.Also kannzwar die Materie der Maxime bleiben,sie mußabernicht die Bedingungderselbensein,dennsonstwürdediesenicht zumGesetzetaugen.Also die bloßeFormeinesGesetzes,welchesdie Materieeinschränkt,mußzugleich ein Grund sein, dieseMaterie zum Willenhinzuzufügen,abersienicht vorauszusetzen.Die Ma-terie sei z.B. meine eigene Glückseligkeit. Diese,wennich siejedembeilege(wie ich esdennin derTatbei endlichenWesentun darf), kannnur alsdenneinobjektivespraktischesGesetzwerden,wennich ande-rer ihre in dieselbemit einschließe.Also entspringtdasGesetz,andererGlückseligkeitzubefördern,nichtvon der Voraussetzung,daß diesesein Objekt fürjedesseineWillkür sei,sondernbloß daraus,daßdie

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Page 57: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1468. Lehrsatz IV

Form der Allgemeinheit,die die Vernunft als Bedin-gungbedarf,einerMaximederSelbstliebedie objek-tive Gültigkeit einesGesetzeszu geben,der Bestim-mungsgrunddesWillens wird, und alsowar dasOb-jekt (andererGlückseligkeit)nicht der Bestimmungs-grunddesreinenWillens, sonderndie bloßegesetzli-che Form war es allein, dadurchich meineauf Nei-gung gegründeteMaxime einschränkte,um ihr dieAllgemeinheiteinesGesetzeszu verschaffen,und sieso der reinen praktischenVernunft angemessenzumachen,auswelcherEinschränkung,und nicht demZusatzeineräußerenTriebfeder,alsdennder Begriffder Verbindlichkeit, die Maxime meinerSelbstliebeauchauf die Glückseligkeitandererzu erweitern,al-lein entspringenkönnte.

AnmerkungII

DasgeradeWiderspieldesPrinzipsderSittlichkeitist: wenndasdereigenenGlückseligkeitzumBestim-mungsgrundedesWillens gemachtwird, wozu, wieich obengezeigthabe,allesüberhauptgezähltwerdenmuß, was den Bestimmungsgrund,der zum Gesetzedienensoll, irgendworin anders,als in der gesetzge-bendenFormderMaximesetzt.DieserWiderstreitistabernicht bloß logisch,wie der zwischenempirisch-

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Page 58: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1468. Lehrsatz IV

bedingtenRegeln,die mandochzu notwendigenEr-kenntnisprinzipienerhebenwollte, sondernpraktisch,und würde, wäre nicht die Stimmeder Vernunft inBeziehungauf den Willen so deutlich, so unüber-schreibar,selbstfür dengemeinstenMenschensover-nehmlich,die Sittlichkeit gänzlichzu Grunderichten;soaberkannsiesichnur nochin denkopfverwirren-den Spekulationender Schulenerhalten,die dreistgenugsein,sich gegenjenehimmlischeStimmetaubzu machen,um eine Theorie,die kein Kopfbrechenkostet,aufrechtzuerhalten.

Wenn ein dir sonstbeliebterUmgangsfreundsichbei dir wegeneinesfalschenabgelegtenZeugnissesdadurchzurechtfertigenvermeinete,daßerzuerstdie,seinemVorgebennach, heilige Pflicht der eigenenGlückseligkeitvorschützte,alsdenndie Vorteile her-zählte,dieersichalledadurcherworben,dieKlugheitnamhaftmachte,dieerbeobachtet,umwideralleEnt-deckungsicherzu sein, selbstwider die von Seitendeinerselbst,demer dasGeheimnisdarumallein of-fenbaret,damit er es zu aller Zeit ableugnenkönne;dann aber im ganzenErnst vorgäbe,er habe einewahreMenschenpflichtausgeübt:so würdestdu ihmentwedergeradeinsGesichtlachen,odermit Abscheudavonzurückbeben,ob du gleich,wennjemandbloßauf eigeneVorteile seineGrundsätzegesteuerthat,wider dieseMaßregelnnicht dasmindesteeinzuwen-

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Page 59: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1478. Lehrsatz IV

den hättest.Oder setzet,es empfehleeuch jemandeinenMannzumHaushalter,demihr alle eureAnge-legenheitenblindlings anvertrauenkönnet, und, umeuchZutraueneinzuflößen,rühmeteer ihn als einenklugenMenschen,dersichauf seineneigenenVorteilmeisterhaftverstehe,auch als einen rastloswirksa-men,derkeineGelegenheitdazuungenutztvorbeige-hen ließe, endlich, damit auch ja nicht Besorgnissewegen eines pöbelhaftenEigennutzesdesselbenimWegestünden,rühmeteer, wie er rechtfein zu lebenverstünde,nicht im Geldsammelnoder brutalerÜp-pigkeit,sondernin derErweiterungseinerKenntnisse,einem wohlgewähltenbelehrendenUmgange,selbstim Wohltun der Dürftigen, sein Vergnügensuchte,übrigensaberwegender Mittel (die dochihren Wertoder Unwert nur vom Zwecke entlehnen)nicht be-denklichwäre,und fremdesGeldundGut ihm hiezu,so bald er nur wisse,daßer esunentdecktund unge-hindert tun könne,so gut wie sein eigeneswäre: sowürdet ihr entwederglauben,der Empfehlendehabeeuchzum besten,oder er habeden Verstandverlo-ren. – So deutlich und scharf sind die GrenzenderSittlichkeit und der Selbstliebeabgeschnitten,daßselbstdasgemeinsteAugedenUnterschied,ob etwaszu dereinenoderderanderngehöre,garnicht verfeh-len kann. Folgende wenige Bemerkungenkönnenzwar bei einer so offenbarenWahrheit überflüssig

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Page 60: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1488. Lehrsatz IV

scheinen,alleinsiedienendochwenigstensdazu,demUrteile der gemeinenMenschenvernunftetwasmehrDeutlichkeitzuverschaffen.

Das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maxi-men, aberniemalssolcheabgeben,die zu GesetzendesWillens tauglichwären,selbstwennmansichdieallgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte.Denn, weil dieser ihre Erkenntnisauf lauter Erfah-rungsdatisberuht,weil jedesUrteil darübergar sehrvon jedesseinerMeinung,die nochdazuselbstsehrveränderlichist, abhängt,so kanneswohl generelle,aber niemalsuniverselleRegeln,d.i. solche,die imDurchschnitteam öfterstenzutreffen,nicht abersol-che,die jederzeitund notwendiggültig seinmüssen,geben,mithin könnenkeinepraktischeGesetzedaraufgegründetwerden.Ebendarum,weil hier ein Objektder Willkür der Regelderselbenzum Grundegelegtund alsovor dieservorhergehenmuß,so kanndiesenicht worauf anders,als auf das,wasmanempfiehlt,undalsoaufErfahrungbezogenunddaraufgegründetwerden,und da mußdie VerschiedenheitdesUrteilsendlossein. DiesesPrinzip schreibtalso nicht allenvernünftigenWesenebendieselbepraktischeRegelnvor, obsiezwaruntereinemgemeinsamenTitel, näm-lich dem der Glückseligkeit,stehen.Das moralischeGesetzwird abernur darumals objektiv notwendiggedacht,weil es für jedermanngeltensoll, der Ver-

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Page 61: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1488. Lehrsatz IV

nunft undWillen hat.Die MaximederSelbstliebe(Klugheit) rät bloßan;

dasGesetzder Sittlichkeit gebietet. Es ist aberdochein großerUnterschiedzwischendem,wozumanunsanrätig ist, unddem,wozuwir verbindlichsind.

WasnachdemPrinzip der Autonomieder Willkürzu tun sei,ist für dengemeinstenVerstandganzleichtundohneBedenkeneinzusehen;wasunterVorausset-zung der Heteronomiederselbenzu tun sei, schwer,und erfodertWeltkenntnis;d.i. wasPflicht sei,bietetsich jedermannvon selbstdar;wasaberwahrendau-erhaftenVorteil bringe, ist allemal,wenn dieseraufdasganzeDaseinerstrecktwerdensoll, in undurch-dringlichesDunkeleingehüllt,underfodertviel Klug-heit, um die praktischedaraufgestimmteRegeldurchgeschickteAusnahmenauch nur auf erträglicheArtdenZweckendesLebensanzupassen.Gleichwohlge-bietet das sittliche Gesetzjedermann,und zwar diepünktlichste,Befolgung.Esmußalsozu derBeurtei-lung dessen,wasnachihm zu tun sei,nicht soschwersein, daßnicht der gemeinsteund ungeübtesteVer-stand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehenwüßte.

DemkategorischenGebotederSittlichkeit Genügezu leisten,ist in jedesGewaltzu aller Zeit, derempi-risch-bedingtenVorschrift derGlückseligkeitnur sel-ten,undbeiweitemnicht,auchnur in Ansehungeiner

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Page 62: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1498. Lehrsatz IV

einzigenAbsicht, für jedermannmöglich. Die Ursa-cheist, weil esbei demersterennur auf die Maximeankommt,dieechtundreinseinmuß,beiderletzterenaberauchauf die Kräfte und dasphysischeVermö-gen,einenbegehrtenGegenstandwirklich zumachen.Ein Gebot,daßjedermannsich glücklich zu machensuchensollte,wäretöricht;dennmangebietetniemalsjemandendas,waser schonunausbleiblichvon selbstwill. Man müßteihm bloß die Maßregelngebieten,odervielmehrdarreichen,weil ernichtallesdaskann,was er will. Sittlichkeit aber gebieten,unter demNamender Pflicht, ist ganz vernünftig; denn derenVorschrift will erstlich ebennicht jedermanngernegehorchen,wenn sie mit Neigungenim Widerstreiteist, undwasdie Maßregelnbetrifft, wie er diesesGe-setzbefolgenkönne,sodürfendiesehiernichtgelehrtwerden;denn,was er in dieserBeziehungwill, daskannerauch.

Der im Spiel verloren hat, kann sich wohl übersichselbstundseineUnklugheitärgern, aberwennersich bewußtist, im Spiel betrogen(obzwardadurchgewonnen)zu haben,somußersichselbstverachten,so bald er sich mit demsittlichenGesetzevergleicht.Diesesmuß also doch wohl etwasanderes,als dasPrinzipdereigenenGlückseligkeitsein.Dennzu sichselbersagenzu müssen:ich bin ein Nichtswürdiger,ob ich gleich meinenBeutel gefüllt habe,mußdoch

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Page 63: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1508. Lehrsatz IV

ein anderesRichtmaß des Urteils haben, als sichselbstBeifall zu geben,undzu sagen:ich bin ein klu-gerMensch,dennich habemeineKassebereichert.

Endlich ist noch etwasin der Idee unsererprakti-schenVernunft, welchesdie Übertretungeinessittli-chenGesetzesbegleitet,nämlichihreStrafwürdigkeit.Nun läßtsichmit demBegriffe einerStrafe,alseinersolchen, doch gar nicht das Teilhaftigwerden derGlückseligkeitverbinden.Denn obgleich der, so dastraft, wohl zugleichdie gütige Absicht habenkann,dieseStrafeauchaufdiesenZweckzurichten,somußsiedochzuvoralsStrafe,d.i. alsbloßesÜbel für sichselbstgerechtfertigtsein,so daßder Gestrafte,wennesdabeibliebe,under auchauf keinesichhinterdie-serHärteverbergendeGunsthinaussähe,selbstgeste-henmuß,esseiihm rechtgeschehen,undseinLosseiseinemVerhaltenvollkommenangemessen.In jederStrafe,alssolcher,mußzuerstGerechtigkeitsein,unddiesemachtdasWesentlichediesesBegriffs aus.Mitihr kannzwarauchGütigkeitverbundenwerden,aberauf diesehat der Strafwürdige,nachseinerAuffüh-rung, nicht die mindesteUrsachesich Rechnungzumachen.Also ist Strafeein physischesÜbel,welches,wennesauchnicht alsnatürlicheFolgemit demmo-ralisch-Bösenverbundenwäre, doch als Folge nachPrinzipien einer sittlichen Gesetzgebungverbundenwerden müßte. Wenn nun alles Verbrechen,auch

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Page 64: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1508. Lehrsatz IV

ohneauf die physischenFolgenin AnsehungdesTä-terszu sehen,für sich strafbarist, d.i. Glückseligkeit(wenigstenszum Teil) verwirkt, so wäreesoffenbarungereimtzu sagen:dasVerbrechenhabedarin ebenbestanden,daß er sich eine Strafe zugezogenhat,indem er seinereigenenGlückseligkeitAbbruch tat(welchesnachdemPrinzipderSelbstliebedereigent-liche Begriff allesVerbrechensseinmüßte).Die Stra-fe würdeauf dieseArt derGrundsein,etwasein Ver-brechenzu nennen,unddie Gerechtigkeitmüßteviel-mehr darin bestehen,alle Bestrafungzu unterlassenundselbstdie natürlichezu verhindern;dennalsdennwäre in der Handlungnichts Bösesmehr, weil dieÜbel, die sonstdarauffolgeten,und um derenwillendie Handlungallein bösehieß,nunmehroabgehaltenwären.VollendsaberallesStrafenund Belohnennurals das Maschinenwerkin der Hand einer höherenMacht anzusehen,welches vernünftige Wesen da-durchzu ihrer Endabsicht(derGlückseligkeit)in Tä-tigkeit zu setzenallein dienensollte, ist gar zu sicht-bar ein alle Freiheit aufhebenderMechanismihresWillens, als daßes nötig wäre,uns hiebei aufzuhal-ten.

Feinernoch,obgleichebensounwahr,ist dasVor-gebenderer,die einengewissenmoralischenbeson-dernSinnannehmen,der,undnicht die Vernunft,dasmoralischeGesetzbestimmete,nachwelchemdasBe-

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Page 65: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1518. Lehrsatz IV

wußtseinder Tugendunmittelbarmit Zufriedenheitund Vergnügen,dasdesLastersabermit Seelenun-ruheundSchmerzverbundenwäre,undsoallesdochauf VerlangennacheigenerGlückseligkeitaussetzen.Ohnedashieherzu ziehen,wasobengesagtworden,will ich nur die Täuschungbemerken,die hiebeivor-geht.Um denLasterhaftenals durchdasBewußtseinseinerVergehungenmit Gemütsunruhegeplagtvorzu-stellen,müssensie ihn, der vornehmstenGrundlageseinesCharaktersnach,schonzumvorausals,wenig-stensin einigemGrade,moralischgut, so wie den,welchendasBewußtseinpflichtmäßigerHandlungenergötzt,vorher schonals tugendhaftvorstellen.Alsomußtedochder Begriff der Moralität und Pflicht voraller Rücksichtauf dieseZufriedenheitvorhergehenundkannvon diesergarnicht abgeleitetwerden.Nunmuß man doch die Wichtigkeit dessen,was wirPflicht nennen,dasAnsehendesmoralischenGeset-zesund den unmittelbarenWert, den die Befolgungdesselbender Personin ihren eigenenAugen gibt,vorher schätzen,um jene Zufriedenheit indem Be-wußtseinseinerAngemessenheitzuderselbenunddenbitterenVerweis,wennmansich dessenÜbertretungvorwerfenkann,zu fühlen.Man kannalsodieseZu-friedenheitoderSeelenunruhenicht vor der Erkennt-nis der Verbindlichkeit fühlen und sie zum Grundeder letzterenmachen.Man mußwenigstensauf dem

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Page 66: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1528. Lehrsatz IV

halbenWegeschonein ehrlicherMannsein,um sichvon jenenEmpfindungenauchnur eine Vorstellungmachenzu können.Daß übrigens,so wie, vermögederFreiheit,dermenschlicheWille durchsmoralischeGesetzunmittelbar bestimmbarist, auch die öftereAusübung,diesemBestimmungsgrundegemäß,sub-jektiv zuletzt ein Gefühl der Zufriedenheitmit sichselbstwirkenkönne,bin ich garnicht in Abrede;viel-mehrgehörtesselbstzur Pflicht, dieses,welchesei-gentlichalleindasmoralischeGefühlgenanntzuwer-denverdient,zu gründenundzu kultivieren; aberderBegriff der Pflicht kann davonnicht abgeleitetwer-den,sonstmüßtenwir unsein Gefühl einesGesetzesals einessolchendenken,und daszum GegenstandederEmpfindungmachen,wasnur durchVernunftge-dachtwerdenkann;welches,wennesnicht einplatterWiderspruchwerden soll, allen Begriff der Pflichtganzaufheben,und an derenStattbloß ein mechani-schesSpiel feinerer,mit den gröberenbisweilen inZwist geratender,Neigungensetzenwürde.

Wenn wir nun unserenformalenoberstenGrund-satzder reinenpraktischenVernunft (als einerAuto-nomie des Willens) mit allen bisherigenmaterialenPrinzipienderSittlichkeit vergleichen,sokönnenwirin einerTafelalleübrige,alssolche,dadurchwirklichzugleichalle möglicheandereFälle,außereinemein-zigenformalen,erschöpftsind,vorstelligmachen,und

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Page 67: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1528. Lehrsatz IV

so durchdenAugenscheinbeweisen,daßesvergeb-lich sei,sichnacheinemandernPrinzip,alsdemjetztvorgetragenen,umzusehen.– Alle möglicheBestim-mungsgründedesWillenssindnämlichentwederbloßsubjektivund alsoempirisch,oderauchobjektivundrational;beideaberentwederäußereoderinnere.

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Page 68: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1538. Lehrsatz IV

PraktischematerialeBestimmungsgründeim PrinzipderSittlichkeitsind

Subjektive

äußereDerErziehung(nachMontaigne)DerbürgerlichenVerfassung(nachMandeville)

innereDesphysischenGefühls(nachEpikur)DesmoralischenGefühls(nachHutcheson)

Objektive

innereDerVollkommenheit(nachWolff unddenStoikern)

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Page 69: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 1538. Lehrsatz IV

äußereDesWillens Gottes(nachCrusiusundanderntheolo-gischenMoralisten)

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Kant-W Bd. 7 1548. Lehrsatz IV

Die auf der linken Seitestehendesind insgesamtempirischund taugenoffenbargar nicht zum allge-meinenPrinzipderSittlichkeit.Aber die auf derrech-ten Seitegründensich auf der Vernunft (dennVoll-kommenheit,als Beschaffenheitder Dinge, und diehöchsteVollkommenheit,in Substanzvorgestellt,d.i.Gott, sind beidenur durch Vernunftbegriffezu den-ken).Allein dererstereBegriff, nämlichderVollkom-menheit, kann entwederin theoretischerBedeutunggenommenwerden, und da bedeuteter nichts, alsVollständigkeit eines jeden Dinges in seiner Art(transzendentale),odereinesDingesbloß als Dingesüberhaupt(metaphysische),unddavonkannhiernichtdie Redesein. Der Begriff der Vollkommenheit inpraktischerBedeutungaberist die Tauglichkeit,oderZulänglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken.DieseVollkommenheit,als BeschaffenheitdesMen-schen,folglich innerliche, ist nichts anders,als Ta-lent, und, was diesesstärkt oder ergänzt,Geschick-lichkeit. Die höchsteVollkommenheit in Substanz,d.i. Gott, folglich äußerliche(in praktischerAbsichtbetrachtet),ist die Zulänglichkeit diesesWesenszuallenZweckenüberhaupt.WennnunalsounsZweckevorher gegebenwerden müssen,in Beziehungaufwelcheder Begriff der Vollkommenheit(einer inne-ren,anunsselbst,odereineräußeren,anGott) alleinBestimmungsgrunddes Willens werden kann, ein

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Kant-W Bd. 7 1548. Lehrsatz IV

Zweck aber,als Objekt, welchesvor der Willensbe-stimmungdurch eine praktischeRegel vorhergehenund denGrundderMöglichkeit einersolchenenthal-tenmuß,mithin die MateriedesWillens, alsBestim-mungsgrunddesselbengenommen,jederzeit empi-risch ist, mithin zumepikurischenPrinzipderGlück-seligkeitslehre,niemals aber zum reinen Vernunft-prinzip der Sittenlehreund der Pflicht dienenkann(wie dennTalenteund ihre Beförderungnur, weil siezu Vorteilen des Lebensbeitragen,oder der WilleGottes,wenn Einstimmungmit ihm, ohnevorherge-hendesvon dessenIdee unabhängigespraktischesPrinzip,zumObjektedesWillensgenommenworden,nur durchdie Glückseligkeit, die wir davonerwarten,Bewegursachedesselbenwerden können), so folgterstlich, daßalle hier aufgestelltePrinzipienmaterialsind,zweitens, daßsiealle möglichematerialePrinzi-pien befassen,und darausendlich der Schluß:daß,weil materialePrinzipien zum oberstenSittengesetzganzuntauglichsind(wie bewiesenworden),dasfor-male praktischePrinzip der reinen Vernunft, nachwelchemdiebloßeFormeinerdurchunsereMaximenmöglichen allgemeinenGesetzgebungden oberstenund unmittelbarenBestimmungsgrunddes Willensausmachenmuß,daseinzigemöglichesei,welcheszukategorischenImperativen,d.i. praktischenGesetzen(welcheHandlungenzur Pflicht machen),und über-

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Kant-W Bd. 7 155I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

hauptzumPrinzip der Sittlichkeit, sowohl in der Be-urteilung,alsauchderAnwendungauf denmenschli-chenWillen, in Bestimmungdesselben,tauglichist.

I. VonderDeduktionderGrundsätzeder reinenpraktischenVernunft

Diese Analytik tut dar, daß reine Vernunft prak-tischsein.d.i. für sich,unabhängigvon allemEmpiri-schen,den Willen bestimmenkönne – und dieseszwardurchein Faktum,worin sichreineVernunftbeiuns in der Tat praktischbeweiset,nämlichdie Auto-nomie in dem Grundsatzeder Sittlichkeit, wodurchsiedenWillen zur Tat bestimmt.– Siezeigtzugleich,daßdiesesFaktummit demBewußtseinder FreiheitdesWillens unzertrennlichverbunden,ja mit ihm ei-nerlei sei,wodurchderWille einesvernünftigenWe-sens,das,alszur Sinnenweltgehörig,sich,gleichan-derenwirksamenUrsachen,notwendigdenGesetzender Kausalität unterworfenerkennt, im Praktischendochzugleichsichauf einerandernSeite,nämlichalsWesenan sich selbst,seinesin einer intelligibelenOrdnung der Dinge bestimmbarenDaseinsbewußtist, zwar nicht einer besondernAnschauungseinerselbst, sondern gewissen dynamischen Gesetzengemäß,die die Kausalitätdesselbenin derSinnenwelt

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Kant-W Bd. 7 155I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

bestimmenkönnen;denn,daßFreiheit,wennsie unsbeigelegtwird, uns in eine intelligibele OrdnungderDinge versetze,ist anderwärtshinreichendbewiesenworden.

Wennwir nundamitdenanalytischenTeil derKri-tik der reinenspekulativenVernunft vergleichen,sozeigt sich ein merkwürdigerKontrast beider gegeneinander.Nicht Grundsätze,sondernreine sinnlicheAnschauung(Raumund Zeit) war daselbstdasersteDatum,welchesErkenntnisa priori und zwarnur fürGegenständeder Sinnemöglich machte.– Syntheti-scheGrundsätzeausbloßenBegriffenohneAnschau-ung warenunmöglich,vielmehrkonntendiesenur inBeziehungauf jene,welchesinnlichwar,mithin auchnur auf GegenständemöglicherErfahrungstattfinden,weil die BegriffedesVerstandes,mit dieserAnschau-ung verbunden,allein dasjenigeErkenntnismöglichmachen,welcheswir Erfahrungnennen.– Über dieErfahrungsgegenständehinaus,also von Dingen alsNoumenen,wurdederspekulativenVernunftallesPo-sitiveeinerErkenntnismit völligemRechteabgespro-chen.– Dochleistetediesesoviel, daßsiedenBegriffder Noumenen,d.i. die Möglichkeit, ja Notwendig-keit, dergleichenzu denken,in Sicherheitsetzte,undz.B. die Freiheit,negativbetrachtet,anzunehmen,alsganz verträglich mit jenen Grundsätzenund Ein-schränkungender reinen theoretischenVernunft,

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Kant-W Bd. 7 156I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

wider alle Einwürfe rettete,ohne doch von solchenGegenständenirgend etwasBestimmtesund Erwei-terndeszuerkennenzugeben,indemsievielmehralleAussichtdahingänzlichabschnitt.

Dagegengibt dasmoralischeGesetz,wenn gleichkeineAussicht, dennochein schlechterdingsausallenDatisderSinnenweltunddemganzenUmfangeunse-res theoretischenVernunftgebrauchsunerklärlichesFaktuman die Hand,dasauf eine reineVerstandes-welt Anzeige gibt, ja dieseso gar positiv bestimmtund unsetwasvon ihr, nämlichein Gesetz,erkennenläßt.

DiesesGesetzsoll derSinnenwelt,alseinersinnli-chenNatur (wasdie vernünftigenWesenbetrifft), dieForm einerVerstandeswelt,d.i. einerübersinnlichenNatur verschaffen,ohnedochjenerihremMechanismAbbruchzu tun. Nun ist Natur im allgemeinstenVer-standedie Existenzder Dinge unter Gesetzen.DiesinnlicheNatur vernünftigerWesenüberhauptist dieExistenzderselbenunter empirischbedingtenGeset-zen,mithin für die Vernunft Heteronomie. Die über-sinnliche Natur eben derselbenWesenist dagegenihre Existenz nach Gesetzen,die von aller empiri-schenBedingungunabhängigsind, mithin zur Auto-nomieder reinenVernunft gehören.Und, da die Ge-setze,nachwelchendasDaseinder Dinge vom Er-kenntnisabhängt,praktischsind:soist die übersinnli-

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Kant-W Bd. 7 157I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

cheNatur,so weit wir unseinenBegriff von ihr ma-chenkönnen,nichtsanders,als eineNatur unter derAutonomieder reinenpraktischenVernunft. DasGe-setzdieserAutonomieaberist dasmoralischeGesetz;welchesalso das Grundgesetzeiner übersinnlichenNatur und einerreinenVerstandesweltist, derenGe-genbild in der Sinnenwelt,aberdoch zugleichohneAbbruch der Gesetzederselben,existierensoll. Mankönntejenedieurbildliche (naturaarchetypa),diewirbloßin derVernunfterkennen,dieseaber,weil siediemöglicheWirkung der Ideeder ersteren,als Bestim-mungsgrundesdesWillens,enthält,die nachgebildete(naturaectypa)nennen.Dennin der Tat versetztunsdasmoralischeGesetz,der Ideenach,in eineNatur,in welcherreineVernunft,wennsiemit demihr ange-messenenphysischenVermögenbegleitetwäre, dashöchsteGut hervorbringenwürde,und bestimmtun-serenWillen, die Form der Sinnenwelt,als einemGanzenvernünftigerWesen,zuerteilen.

Daß diese Idee wirklich unserenWillensbestim-mungen gleichsam als Vorzeichnung zum Musterliege, bestätigt die gemeinsteAufmerksamkeitaufsichselbst.

Wenndie Maxime,nachder ich ein Zeugnisabzu-legengesonnenbin, durchdiepraktischeVernunftge-prüft wird, so seheich immer darnach,wie sie seinwürde,wennsiealsallgemeinesNaturgesetzgölte.Es

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Kant-W Bd. 7 157I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

ist offenbar, in dieserArt würde es jedermannzurWahrhaftigkeitnötigen.Denn es kann nicht mit derAllgemeinheit einesNaturgesetzesbestehen,Aussa-gen für beweisendund dennochals vorsätzlichun-wahr geltenzu lassen.Ebensowird die Maxime,dieich in Ansehungder freien Disposition über meinLebennehme,sofort bestimmt,wennich mich frage,wie sieseinmüßte,damitsicheineNaturnacheinemGesetzederselbenerhalte.Offenbarwürdeniemandineiner solchenNatur sein Leben willkürlich endigenkönnen, denn eine solche Verfassungwürde keinebleibendeNaturordnungsein,undso in allenübrigenFällen.Nun ist aberin der wirklichen Natur, so wiesie ein Gegenstandder Erfahrungist, der freie Willenicht von selbstzu solchenMaximen bestimmt,diefür sich selbsteineNatur nachallgemeinenGesetzengründenkönnten,oderauchin einesolche,die nachihnenangeordnetwäre,von selbstpasseten:vielmehrsind es Privatneigungen,die zwar ein Naturganzesnach pathologischen(physischen) Gesetzen,abernicht eineNatur,die allein durchunsernWillen nachreinen praktischenGesetzenmöglich wäre, ausma-chen. Gleichwohl sind wir uns durch die VernunfteinesGesetzesbewußt,welchem,als ob durchunse-ren Willen zugleich eine Naturordnungentspringenmüßte,alle unsereMaximen unterworfensind. Alsomußdiesesdie Ideeeinernicht empirisch-gegebenen

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Kant-W Bd. 7 158I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

und dennochdurchFreiheitmöglichen,mithin über-sinnlichenNatur sein,der wir, wenigstensin prakti-scherBeziehung,objektive Realitätgeben,weil wirsiealsObjektunseresWillens,alsreinervernünftigerWesenansehen.

Der UnterschiedalsozwischendenGesetzeneinerNatur, welcherder Wille unterworfenist, und einerNatur, die einemWillen (in Ansehungdessen,wasBeziehungdesselbenauf seinefreie Handlungenhat)unterworfenist, beruhtdarauf,daßbei jenerdie Ob-jekte Ursachender Vorstellungensein müssen,diedenWillen bestimmen,bei dieseraberder Wille Ur-sachevon denObjektenseinsoll, sodaßdie Kausali-tät desselbenihren Bestimmungsgrundlediglich inreinemVernunftvermögenliegenhat,welchesdeshalbaucheine reine praktischeVernunft genanntwerdenkann.

Die zwei Aufgabenalso:wie reineVernunfteiner-seitsa priori Objekteerkennen, und wie sieanderer-seitsunmittelbarein BestimmungsgrunddesWillens,d.i. der KausalitätdesvernünftigenWesensin Anse-hung der Wirklichkeit der Objekte (bloß durch denGedankender Allgemeingültigkeitihrer eigenenMa-ximen als Gesetzes)sein könne,sind sehrverschie-den.

Die erste,als zur Kritik der reinen spekulativenVernunft gehörig,erfodert,daßzuvor erklärt werde,

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Kant-W Bd. 7 158I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

wie Anschauungen,ohnewelcheunsüberallkeinOb-jekt gegebenundalsoauchkeinessynthetischerkanntwerdenkann,a priori möglich sind, und ihre Auflö-sung fällt dahin aus,daßsie insgesamtnur sinnlichsein,daherauchkeinspekulativesErkenntnismöglichwerdenlassen,dasweiter ginge,als möglicheErfah-rung reicht, und daßdaheralle Grundsätzejenerrei-nenpraktischenVernunftnichtsweiterausrichten,alsErfahrung,entwedervon gegebenenGegenständen,oder denen, die ins Unendliche gegebenwerdenmögen,niemalsabervollständiggegebensind, mög-lich zumachen.

Die zweite,alszur Kritik derpraktischenVernunftgehörig,fodert keineErklärung,wie die ObjektedesBegehrungsvermögensmöglichsind,denndasbleibt,alsAufgabedertheoretischenNaturkenntnis,derKri-tik derspekulativenVernunftüberlassen,sondernnur,wie Vernunft die Maxime des Willens bestimmenkönne,ob esnur vermittelstempirischerVorstellung,alsBestimmungsgründe,geschehe,oderobauchreineVernunft praktischund ein Gesetzeiner möglichen,gar nicht empirischerkennbaren,Naturordnungseinwürde.Die Möglichkeit einersolchenübersinnlichenNatur,derenBegriff zugleichderGrundderWirklich-keit derselbendurchunserenfreienWillen seinkönne,bedarfkeiner Anschauunga priori (einer intelligibe-len Welt), die in diesemFalle, als übersinnlich,für

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Kant-W Bd. 7 159I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

unsauchunmöglichseinmüßte.DenneskommtnuraufdenBestimmungsgrunddesWollensin denMaxi-men desselbenan, ob jener empirisch,oder ein Be-griff der reinen Vernunft (von der Gesetzmäßigkeitderselbenüberhaupt)sei, und wie er letzteresseinkönne.Ob die KausalitätdesWillens zur Wirklich-keit der Objektezulange,odernicht, bleibt dentheo-retischenPrinzipiender Vernunft zu beurteilenüber-lassen,alsUntersuchungderMöglichkeit derObjektedes Wollens, derenAnschauungalso in der prakti-schenAufgabegarkein Momentderselbenausmacht.Nur auf die Willensbestimmungund den Bestim-mungsgrundder Maxime desselben,als einesfreienWillens, kommt es hier an, nicht auf den Erfolg.Denn,wennder Wille nur für die reineVernunft ge-setzmäßigist, so mages mit demVermögendessel-ben in der Ausführungstehen,wie eswolle, esmagnachdiesenMaximenderGesetzgebungeinermögli-chenNatur eine solchewirklich darausentspringen,oder nicht, darumbekümmertsich die Kritik, die dauntersucht,ob und wie reineVernunft praktisch,d.i.unmittelbarwillenbestimmend,seinkönne,garnicht.

In diesemGeschäftekannsie alsoohneTadelundmuß sie von reinenpraktischenGesetzenund derenWirklichkeit anfangen.Statt der Anschauungaberlegt siedenselbendenBegriff ihresDaseinsin der in-telligibelenWelt, nämlichder Freiheit,zum Grunde.

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Kant-W Bd. 7 160I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

Denndieserbedeutetnichtsanders,und jeneGesetzesind nur in Beziehungauf FreiheitdesWillens mög-lich, unter Voraussetzungderselbenabernotwendig,oder,umgekehrt,dieseist notwendig,weil jeneGeset-ze,alspraktischePostulate,notwendigsind.Wie nundiesesBewußtseinder moralischenGesetze,oder,welcheseinerleiist, dasderFreiheit,möglichsei,läßtsichnicht weitererklären,nur die Zulässigkeitdersel-benin dertheoretischenKritik garwohl verteidigen.

Die ExpositiondesoberstenGrundsatzesderprak-tischenVernunft ist nun geschehen,d.i. erstlich,waser enthalte,daßer gänzlicha priori und unabhängigvon empirischenPrinzipien für sich bestehe,unddann, worin er sich von allen anderenpraktischenGrundsätzenunterscheide,gezeigt worden. Mit derDeduktion, d.i. der RechtfertigungseinerobjektivenundallgemeinenGültigkeitundderEinsichtderMög-lichkeit einessolchensynthetischenSatzesa priori,darfmannichtsogut fortzukommenhoffen,alsesmitdenGrundsätzendesreinentheoretischenVerstandesanging. Denn diese bezogensich auf GegenständemöglicherErfahrung,nämlichaufErscheinungen,undmankonntebeweisen,daßnur dadurch,daßdieseEr-scheinungennach Maßgabejener Gesetzeunter dieKategoriengebrachtwerden,dieseErscheinungenalsGegenständeder Erfahrungerkanntwerdenkönnen,folglich alle möglicheErfahrungdiesenGesetzenan-

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Kant-W Bd. 7 160I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

gemessensein müsse.Einen solchenGangkann ichaber mit der Deduktion des moralischenGesetzesnicht nehmen.Denn es betrifft nicht dasErkenntnisvon derBeschaffenheitderGegenstände,die derVer-nunft irgend wodurch anderwärtsgegebenwerdenmögen,sondernein Erkenntnis,so fern esder Grundvon derExistenzderGegenständeselbstwerdenkannund die Vernunft durchdieselbeKausalitätin einemvernünftigenWesenhat, d.i. reine Vernunft, die alsein unmittelbardenWillen bestimmendesVermögenangesehenwerdenkann.

Nun ist aberalle menschlicheEinsichtzu Ende,sobaldwir zuGrundkräftenoderGrundvermögengelan-get sind; dennderenMöglichkeit kann durch nichtsbegriffen,darf aberauchebenso wenig beliebig er-dichtetundangenommenwerden.DaherkannunsimtheoretischenGebraucheder Vernunft nur Erfahrungdazuberechtigen,sie anzunehmen.DiesesSurrogat,statteinerDeduktion,ausErkenntnisquellena priori,empirischeBeweiseanzuführen,ist uns hier aber inAnsehungdesreinenpraktischenVernunftvermögensauchbenommen.Denn,wasdenBeweisgrundseinerWirklichkeit von der Erfahrung herzuholenbedarf,mußdenGründenseinerMöglichkeit nachvonErfah-rungsprinzipienabhängigsein, für dergleichenaberreine und doch praktischeVernunft schonihres Be-griffs wegenunmöglichgehaltenwerdenkann.Auch

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Kant-W Bd. 7 161I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

ist dasmoralischeGesetzgleichsamals ein Faktumder reinenVernunft, dessenwir uns a priori bewußtsindund welchesapodiktischgewißist, gegeben,ge-setzt,daßmanauchin derErfahrungkeinBeispiel,daesgenaubefolgt wäre,auftreibenkonnte.Also kanndie objektiveRealitätdesmoralischenGesetzesdurchkeineDeduktion,durchalleAnstrengungdertheoreti-schen,spekulativenoderempirischunterstütztenVer-nunft, bewiesen,und also, wenn man auch auf dieapodiktischeGewißheitVerzichttunwollte, durchEr-fahrungbestätigtund so a posteriori bewiesenwer-den,undstehtdennochfür sichselbstfest.

Etwasanderesaberund ganzWidersinnischestrittan die Stelle dieservergeblichgesuchtenDeduktiondesmoralischenPrinzips,nämlich,daßesumgekehrtselbstzum Prinzip der Deduktioneinesunerforschli-chenVermögensdient, welcheskeineErfahrungbe-weisen,die spekulativeVernunftaber(umunterihrenkosmologischenIdeendasUnbedingteseinerKausali-tät nachzu finden, damit sie sich selbstnicht wider-spreche)wenigstensals möglich annehmenmußte,nämlichdasder Freiheit,von derdasmoralischeGe-setz, welchesselbstkeiner rechtfertigendenGründebedarf,nicht bloßdie Möglichkeit, sonderndie Wirk-lichkeit anWesenbeweiset,die diesGesetzalsfür sieverbindenderkennen.Das moralischeGesetzist inder Tat ein Gesetzder KausalitätdurchFreiheit,und

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Kant-W Bd. 7 162I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

also der Möglichkeit einer übersinnlichenNatur, sowie dasmetaphysischeGesetzder Begebenheiteninder Sinnenweltein Gesetzder Kausalitätder sinnli-chen Natur war, und jenesbestimmtalso das, wasspekulative Philosophie unbestimmt lassen mußte,nämlichdasGesetzfür eineKausalität,derenBegriffin derletzterennurnegativwar,undverschafftdiesemalsozuerstobjektiveRealität.

DieseArt von Kreditiv desmoralischenGesetzes,da es selbstals ein Prinzip der Deduktionder Frei-heit, als einer Kausalitätder reinenVernunft, aufge-stellt wird, ist, da die theoretischeVernunft wenig-stensdie Möglichkeit einerFreiheitanzunehmenge-nötigt war, zu ErgänzungeinesBedürfnissesdersel-ben, statt aller Rechtfertigunga priori völlig hinrei-chend.Denn das moralischeGesetzbeweisetseineRealitätdadurchauchfür die Kritik der spekulativenVernunft genugtuend,daßes einer bloß negativge-dachtenKausalität, deren Möglichkeit jener unbe-greiflich unddennochsieanzunehmennötig war, po-sitive Bestimmung,nämlich den Begriff einer denWillen unmittelbar(durchdie Bedingungeinerallge-meinengesetzlichenForm seinerMaximen) bestim-mendenVernunfthinzufügt,undsoderVernunft,diemit ihrenIdeen,wennsiespekulativverfahrenwollte,immer überschwenglichwurde, zum erstenmaleob-jektive,obgleichnur praktischeRealitätzugebenver-

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Kant-W Bd. 7 162I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

magund ihren transzendentenGebrauchin einenim-manenten(im FeldederErfahrungdurchIdeenselbstwirkendeUrsachenzusein)verwandelt.

Die Bestimmungder Kausalitätder Wesenin derSinnenwelt,als einer solchen,konnteniemalsunbe-dingt sein,unddennochmußeszuallerReihederBe-dingungennotwendigetwasUnbedingtes,mithin aucheinesichgänzlichvon selbstbestimmendeKausalitätgeben.Daherwar die IdeederFreiheit,alseinesVer-mögensabsoluterSpontaneität,nicht ein Bedürfnis,sondern,was derenMöglichkeit betrifft, ein analyti-scherGrundsatzderreinenspekulativenVernunft.Al-lein, da es schlechterdingsunmöglichist, ihr gemäßein Beispielin irgendeinerErfahrungzu geben,weilunter den Ursachender Dinge, als Erscheinungen,keineBestimmungderKausalität,die schlechterdingsunbedingtwäre,angetroffenwerdenkann,sokonntenwir nurdenGedankenvoneinerfreihandelndenUrsa-che, wenn wir diesenauf ein Wesenin der Sinnen-welt, so fern esandererseitsauchals Noumenonbe-trachtetwird, anwenden,verteidigen, indemwir zeig-ten, daßessich nicht widerspreche,alle seineHand-lungenals physischbedingt,so fern sie Erscheinun-gensind,unddochzugleichdie Kausalitätderselben,soferndashandelndeWeseneinVerstandeswesenist,alsphysischunbedingtanzusehen,undsodenBegriffder Freiheitzum regulativenPrinzip der Vernunft zu

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Kant-W Bd. 7 163I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

machen,wodurchich zwardenGegenstand,demder-gleichenKausalitätbeigelegtwird, garnicht erkenne,wasersei,aberdochdasHinderniswegnehme,indemich einerseitsin derErklärungderWeltbegebenheiten,mithin auchderHandlungenvernünftigerWesen,demMechanismusder Naturnotwendigkeit,vom Beding-ten zur Bedingung ins Unendliche zurückzugehen,Gerechtigkeitwiderfahrenlasse,andererseitsaberderspekulativenVernunft den für sie leerenPlatz offenerhalte,nämlichdasIntelligibele,um dasUnbedingtedahinzu versetzen.Ich konnteaberdiesenGedankennicht realisieren, d.i. ihn nicht in ErkenntniseinessohandelndenWesens,auch nur bloß seinerMöglich-keit nach,verwandeln.DiesenleerenPlatz füllt nunreinepraktischeVernunft, durchein bestimmtesGe-setzder Kausalitätin einerintelligibelenWelt (durchFreiheit), nämlich das moralischeGesetz,aus. Hie-durchwächstnun zwar der spekulativenVernunft inAnsehungihrerEinsichtnichtszu,aberdochin Anse-hung der Sicherungihres problematischenBegriffsderFreiheit,welchemhier objektiveundobgleichnurpraktische,dennochunbezweifelteRealitätverschafftwird. Selbstden Begriff der Kausalität,dessenAn-wendung,mithin auch Bedeutung,eigentlich nur inBeziehungauf Erscheinungen,umsiezu Erfahrungenzu verknüpfen,stattfindet(wie die Kritik der reinenVernunftbeweiset,)erweitertsienicht so,daßsiesei-

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Kant-W Bd. 7 164I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

nenGebrauchübergedachteGrenzenausdehne.Dennwennsiedaraufausginge,somüßtesiezeigenwollen,wie das logische Verhältnis des Grundesund derFolgebei eineranderenArt von Anschauung,alsdiesinnlicheist, synthetischgebrauchtwerdenkönne,d.i.wie causanoumenonmöglich sei; welchessie garnicht leistenkann,woraufsieaberauchalspraktischeVernunft gar nicht Rücksichtnimmt, indem sie nurdenBestimmungsgrundderKausalitätdesMenschen,alsSinnenwesens,(welchegegebenist) in der reinenVernunft (die darumpraktischheißt) setzt,und alsoden Begriff der Ursacheselbst,von dessenAnwen-dung auf Objektezum Behuf theoretischerErkennt-nissesie hier gänzlichabstrahierenkann(weil dieserBegriff immer im Verstande,auch unabhängigvonallerAnschauung,apriori angetroffenwird), nichtumGegenständezu erkennen,sonderndie KausalitätinAnsehungderselbenüberhauptzu bestimmen,alsoinkeiner andernals praktischenAbsicht braucht,unddaherden BestimmungsgrunddesWillens in die in-telligibele Ordnungder Dinge verlegenkann, indemsie zugleichgernegesteht,das,was der Begriff derUrsachezur ErkenntnisdieserDingefür eineBestim-munghabenmöge,garnichtzuverstehen.Die Kausa-lität in Ansehungder HandlungendesWillens in derSinnenweltmuß sie allerdingsauf bestimmteWeiseerkennen,denn sonst könnte praktische Vernunft

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Kant-W Bd. 7 164I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen

wirklich keine Tat hervorbringen.Aber den Begriff,den sie von ihrer eigenenKausalitätals Noumenonmacht,brauchtsie nicht theoretischzum Behuf derErkenntnisihrer übersinnlichenExistenzzu bestim-men,und alsoihm so fern Bedeutunggebenzu kön-nen.DennBedeutungbekommter ohnedem,obgleichnur zumpraktischenGebrauche,nämlichdurchsmo-ralischeGesetz.Auch theoretischbetrachtetbleibt erimmereinreinerapriori gegebenerVerstandesbegriff,der auf Gegenständeangewandtwerden kann, siemögensinnlich oder nicht sinnlich gegebenwerden;wiewohl er im letzterenFallekeinebestimmtetheore-tischeBedeutungund Anwendunghat, sondernbloßein formaler, aber doch wesentlicherGedankedesVerstandesvon einemObjekteüberhauptist. Die Be-deutung,die ihm die VernunftdurchsmoralischeGe-setzverschafft,ist lediglich praktisch,danämlichdieIdee des Gesetzeseiner Kausalität (des Willens)selbstKausalitäthat,oderihr Bestimmungsgrundist.

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Kant-W Bd. 7 165II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im

II. VondemBefugnisseder reinenVernunft,impraktischenGebrauche,zueinerErweiterung,die

ihr im spekulativenfür sichnichtmöglichist

An demmoralischenPrinzip habenwir ein GesetzderKausalitätaufgestellt,welchesdenBestimmungs-grundderletzterenüberalleBedingungenderSinnen-welt wegsetzt,unddenWillen, wie er alszu einerin-telligibelen Welt gehörigbestimmbarsei, mithin dasSubjektdiesesWillens (denMenschen)nicht bloßalszu einer reinenVerstandesweltgehörig,obgleich indieserBeziehungals unsunbekannt(wie esnachderKritik der reinen spekulativenVernunft geschehenkonnte)gedacht, sondernihn auchin Ansehungsei-nerKausalität,vermittelsteinesGesetzes,welcheszugarkeinemNaturgesetzederSinnenweltgezähltwer-den kann, bestimmt, also unserErkenntnisüber dieGrenzendes letzterenerweitert, welche AnmaßungdochdieKritik derreinenVernunftin allerSpekulati-on für nichtig erklärte.Wie ist nun hier praktischerGebrauchder reinenVernunft mit demtheoretischenebenderselben,in Ansehungder GrenzbestimmungihresVermögenszuvereinigen?

David Hume, von demmansagenkann,daßer alleAnfechtungderRechteeinerreinenVernunft,welcheeine gänzliche Untersuchungderselbennotwendig

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Kant-W Bd. 7 166II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im

machten,eigentlichanfing,schloßso.Der Begriff derUrsache ist ein Begriff, der die NotwendigkeitderVerknüpfung der Existenz des Verschiedenen,undzwar, so fern es verschiedenist, enthält, so: daß,wenn A gesetztwird, ich erkenne,daßetwasdavonganz Verschiedenes,B, notwendig auch existierenmüsse.Notwendigkeitkannabernur einerVerknüp-fung beigelegtwerden,so fern sie a priori erkanntwird; denn die Erfahrungwürde von einer Verbin-dungnur zu erkennengeben,daßsie sei, abernicht,daßsie so notwendigerweisesei. Nun ist es,sagter,unmöglich, die Verbindung, die zwischen einemDinge und einem anderen(oder einer Bestimmungundeineranderen,ganzvon ihr verschiedenen),wennsie nicht in der Wahrnehmunggegebenwerden, apriori undalsnotwendigzuerkennen.Also ist derBe-griff einerUrsacheselbstlügenhaftundbetrügerisch,und ist, am gelindestendavonzu reden,eineso fernnochzu entschuldigendeTäuschung,dadie Gewohn-heit (einesubjektiveNotwendigkeit),gewisseDinge,oderihre Bestimmungen,öftersneben,odernachein-anderihrer Existenznach,als sich beigesellet,wahr-zunehmen,unvermerktfür eineobjektiveNotwendig-keit, in denGegenständenselbsteinesolcheVerknüp-fung zu setzen,genommen,und so der Begriff einerUrsacheerschlichenund nicht rechtmäßigerworbenist, ja auchniemalserworbenoderbeglaubigtwerden

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Kant-W Bd. 7 166II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im

kann,weil er einean sich nichtige,chimärische,vorkeinerVernunfthaltbareVerknüpfungfodert,dergarkein Objekt jemalskorrespondierenkann.– So wardnun zuerstin Ansehungalles Erkenntnisses,dasdieExistenzderDingebetrifft (dieMathematikbliebalsodavonnoch ausgenommen),der Empirismusals dieeinzigeQuellederPrinzipieneingeführt,mit ihm aberzugleichder härtesteSkeptizismselbstin AnsehungderganzenNaturwissenschaft(alsPhilosophie).Dennwir können,nachsolchenGrundsätzen,niemalsausgegebenenBestimmungender Dinge ihrer Existenznachauf eineFolgeschließen(denndazuwürdederBegriff einer Ursache,der die Notwendigkeit einersolchenVerknüpfungenthält,erfodertwerden),son-dernnur, nachder Regelder Einbildungskraft,ähnli-cheFälle,wie sonst,erwarten,welcheErwartungaberniemalssicherist, siemagauchnochsooft eingetrof-fensein.JabeikeinerBegebenheitkönntemansagen:esmüsseetwasvor ihr vorhergegangensein,woraufsie notwendig folgte, d.i. sie müsseeine Ursachehaben,undalso,wennmanauchnochsoöftereFällekennete, wo dergleichenvorherging, so daß eineRegel davon abgezogenwerden konnte, so könntemandarumesnicht alsimmerundnotwendigsichaufdie Art zutragendannehmen,und somüssemandemblindenZufalle, bei welchemaller Vernunftgebrauchaufhört, auch sein Recht lassen,welchesdenn den

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Kant-W Bd. 7 167II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im

Skeptizism,in AnsehungdervonWirkungenzuUrsa-chenaufsteigendenSchlüsse,fest gründetund unwi-derleglichmacht.

Die Mathematikwar solangenochgut weggekom-men,weil Humedafürhielt, daßihre Sätzealleanaly-tisch wären,d.i. von einer Bestimmungzur andern,um der Identität willen, mithin nachdem SatzedesWiderspruchsfortschritten (welchesaber falsch ist,indem sie vielmehr alle synthetischsind, und, ob-gleich z.B. die Geometriees nicht mit der Existenzder Dinge, sondernnur ihrer Bestimmunga priori ineiner möglichen Anschauungzu tun hat, dennochebensogut, wie durchKausalbegriffe,von einerBe-stimmungA zu einerganzverschiedenenB, als den-nochmit jenernotwendigverknüpft,übergeht).Aberendlich muß jenewegenihrer apodiktischenGewiß-heit sohochgeprieseneWissenschaftdochdemEmpi-rismus in Grundsätzen, aus demselbenGrunde,warumHume, an der Stelle der objektivenNotwen-digkeit in demBegriffe derUrsache,die Gewohnheitsetzte,auchunterliegen,und sich, unangesehenallesihresStolzes,gefallenlassen,ihrekühne,apriori Bei-stimmung gebietendeAnsprüche herabzustimmen,und den Beifall für die Allgemeingültigkeit ihrerSätzevon derGunstderBeobachtererwarten,die alsZeugenes doch nicht weigernwürdenzu gestehen,daß sie das,was der Geometerals Grundsätzevor-

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trägt, jederzeitauchso wahrgenommenhätten,folg-lich, ob es gleich ebennicht notwendigwäre, dochfernerhin,essoerwartenzu dürfen,erlaubenwürden.Auf dieseWeiseführt HumensEmpirismin Grund-sätzenauchunvermeidlichauf denSkeptizism,selbstin Ansehungder Mathematik,folglich in allem wis-senschaftlichentheoretischenGebraucheder Ver-nunft (denndiesergehörtentwederzur Philosophie,oder zur Mathematik).Ob der gemeineVernunftge-brauch(bei einemsoschrecklichenUmsturz,alsmanden Häupternder Erkenntnisbegegnensieht) besserdurchkommen,und nicht vielmehr, noch unwieder-bringlicher, in ebendieseZerstörungalles Wissenswerde verwickelt werden, mithin ein allgemeinerSkeptizismnicht aus denselbenGrundsätzenfolgenmüsse(der freilich aber nur die Gelehrtentreffenwürde),daswill jedenseihstbeurteilenlassen.

Wasnun meineBearbeitungin der Kritik der rei-nenVernunft betrifft, die zwar durch jeneHumischeZweifellehre veranlaßtward, doch viel weiter ging,unddasganzeFeldderreinentheoretischenVernunftim synthetischenGebrauche,mithin auchdesjenigen,was man Metaphysiküberhauptnennt,befassete:soverfuhr ich, in AnsehungderdenBegriff derKausali-tätbetreffendenZweifeldesschottischenPhilosophen,auf folgendeArt. Daß Hume, wenn er (wie es dochauchfast überall geschieht)die Gegenständeder Er-

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fahrungfür Dinge an sich selbstnahm,den Begriffder Ursachefür trüglich und falschesBlendwerker-klärte, darantat er ganzrecht; dennvon Dingen ansichselbstundderenBestimmungenalssolchenkannnichteingesehenwerden,wie darum,weil etwasA ge-setztwird, etwasanderesB auchnotwendiggesetztwerdenmüsse,und also konnte er eine solcheEr-kenntnisa priori von Dingenan sich selbstgar nichteinräumen.Einen empirischenUrsprungdiesesBe-griffs konnte der scharfsinnigeMann noch wenigerverstatten,weil diesergeradezuderNotwendigkeitderVerknüpfung widerspricht,welche das WesentlichedesBegriffsderKausalitätausmacht;mithin wardderBegriff in die Acht erklärt,und in seineStelletrat dieGewohnheitim BeobachtendesLaufs der Wahrneh-mungen.

Aus meinenUntersuchungenaber ergabes sich,daßdie Gegenstände,mit denenwir es in der Erfah-rungzu tun haben,keineswegesDingeansichselbst,sondernbloß Erscheinungensind, und daß,obgleichbei Dingen an sich selbstgar nicht abzusehenist, jaunmöglichist einzusehen,wie, wennA gesetztwird,eswidersprechendseinsolle.B, welchesvon A ganzverschiedenist, nicht zu setzen(die Notwendigkeitder VerknüpfungzwischenA als Ursacheund B alsWirkung), essich dochganzwohl denkenlasse,daßsiealsErscheinungenin einerErfahrungauf gewisse

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Weise (z.B. in Ansehungder Zeitverhältnisse)not-wendig verbundensein müssenund nicht getrenntwerdenkönnen,ohnederjenigenVerbindungzu wi-dersprechen, vermittelstderendieseErfahrungmög-lich ist, in welchersieGegenständeundunsallein er-kennbarsind.Und sofandessichauchin derTat: so,daßich denBegriff derUrsachenicht allein nachsei-nerobjektivenRealitätin AnsehungderGegenständederErfahrungbeweisen,sondernihn auch,alsBegriffa priori, wegender Notwendigkeitder Verknüpfung,die er bei sich führt, deduzieren, d.i. seineMöglich-keit ausreinemVerstande,ohneempirischeQuellen,dartun,und so, nachWegschaffungdesEmpirismusseinesUrsprungs,die unvermeidlicheFolge dessel-ben,nämlichdenSkeptizism,zuerstin AnsehungderNaturwissenschaft,dannauch,wegendesganzvoll-kommenausdenselbenGründenFolgendenin Anse-hungderMathematik,beiderWissenschaften,die aufGegenständemöglicher Erfahrungbezogenwerden,undhiemitdentotalenZweifel anallem,wastheoreti-scheVernunfteinzusehenbehauptet,ausdemGrundehebenkonnte.

Aber wie wird esmit derAnwendungdieserKate-gorie der Kausalität(und so auchaller übrigen;dennohnesie läßt sich kein ErkenntnisdesExistierendenzu Standebringen)auf Dinge,die nicht Gegenständemöglicher Erfahrungsind, sondernüber dieser ihre

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Grenzehinausliegen?Denn ich habedie objektiveRealitätdieserBegriffe nur in Ansehungder Gegen-stände möglicher Erfahrung deduzieren können.Aberebendieses,daßich sieauchnur in diesemFallegerettethabe,daßich gewiesenhabe,es lassensichdadurchdochObjektedenken, obgleichnicht a prioribestimmen:diesesist es, was ihnen einen Platz imreinenVerstandegibt, von demsieauf Objekteüber-haupt (sinnliche,oder nicht sinnliche)bezogenwer-den.Wennetwasnochfehlt, so ist esdie Bedingungder Anwendungdieser Kategorien,und namentlichderderKausalität,auf Gegenstände,nämlichdie An-schauung,welche,wo sie nicht gegebenist, die An-wendung zum Behuf der theoretischenErkenntnisdesGegenstandes,als Noumenon,unmöglichmacht,diealso,wennesjemanddaraufwagt(wie auchin derKritik der reinenVernunft geschehen),gänzlichver-wehrt wird, indessen,daßdoch immer die objektiveRealitätdesBegriffs bleibt, auchvon Noumenenge-brauchtwerdenkann,aberohnediesenBegriff theore-tisch im mindestenbestimmenund dadurchein Er-kenntnisbewirkenzu können.Denn,daßdieserBe-griff auchin BeziehungaufeinObjektnichtsUnmög-liches enthalte,war dadurchbewiesen,daßihm seinSitz im reinen Verstandebei aller AnwendungaufGegenständederSinnegesichertwar,undobergleichhernachetwa,auf Dingeansichselbst(die nicht Ge-

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genständederErfahrungseinkönnen)bezogen,keinerBestimmung,zur Vorstellung einesbestimmtenGe-genstandes, zum Behuf einer theoretischenErkennt-nis, fähig ist, sokonnteer dochimmernochzu irgendeinem anderen(vielleicht dem praktischen)Behufeiner Bestimmungzur Anwendungdesselbenfähigsein, welchesnicht sein würde, wenn, nach Hume,dieser Begriff der Kausalität etwas,das überall zudenkenunmöglichist, enthielte.

Um nun dieseBedingungder Anwendungdesge-dachtenBegriffs auf Noumenenausfindigzu machen,dürfenwir nur zurücksehen,weswegenwir nicht mitder Anwendung desselbenauf Erfahrungsgegen-ständezufriedensind, sondernihn auch gern vonDingen an sich selbst brauchenmöchten.Denn dazeigtsichbald,daßesnichteinetheoretische,sondernpraktischeAbsicht sei, welche uns dieseszur Not-wendigkeitmacht.Zur Spekulationwürdenwir, wennes uns damit auchgelänge,doch keinenwahrenEr-werb in Naturkenntnisund überhauptin Ansehungder Gegenstände,die uns irgend gegebenwerdenmögen, machen, sondern allenfalls einen weitenSchritt vom Sinnlichbedingten(bei welchemzu blei-benund die Kette der Ursachenfleißig durchzuwan-dernwir soschongenugzu tunhaben)zumÜbersinn-lichen tun und unser Erkenntnisvon der Seite derGründezu vollendenundzu begrenzen,indessendaß

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immer eine unendlicheKluft zwischenjener Grenzeund dem,waswir kennen,unausgefülltübrig bliebe,undwir mehreinereitelnFragsucht,alseinergründli-chenWißbegierde,Gehörgegebenhätten.

Außer dem Verhältnisseaber,darin der Verstandzu Gegenständen(im theoretischenErkenntnisse)steht, hat er auch eineszum Begehrungsvermögen,das darumder Wille heißt, und der reine Wille, sofernderreineVerstand(derin solchemFalleVernunftheißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzespraktischist. Die objektiveRealitäteinesreinenWil-lens, oder, welcheseinerlei ist, einer reinen prakti-schenVernunft ist im moralischenGesetzea priorigleichsamdurch ein Faktumgegeben;dennso kannmaneineWillensbestimmungnennen,dieunvermeid-lich ist, ob siegleichnicht auf empirischenPrinzipienberuht.Im Begriffe einesWillens aberist derBegriffder Kausalitätschonenthalten,mithin in dem einesreinenWillens der Begriff einer Kausalitätmit Frei-heit, d.i. die nicht nach Naturgesetzenbestimmbar,folglich keiner empirischenAnschauung,als Bewei-sesseinerRealität,fähig ist, dennochaber,in demrei-nenpraktischenGesetzea priori, seineobjektiveRea-lität, doch (wie leicht einzusehen)nicht zum Behufedes theoretischen,sondern bloß praktischen Ge-brauchsder Vernunft vollkommenrechtfertigt.Nunist der Begriff einesWesens,das freien Willen hat,

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derBegriff einercausanoumenonund,daßsichdieserBegriff nicht selbstwiderspreche,dafürist manschondadurchgesichert,daßder Begriff einerUrsache,alsgänzlichvom reinenVerstandeentsprungen,zugleichauchseinerobjektivenRealitätin Ansehungder Ge-genständeüberhauptdurch die Deduktiongesichert,dabei seinemUrsprungenach von allen sinnlichenBedingungenunabhängig,alsofür sichauf Phänome-ne nicht eingeschränkt(essei denn,wo ein theoreti-scher bestimmterGebrauchdavon gemachtwerdenwollte), auf Dinge als reine Verstandeswesenaller-dingsangewandtwerdenkönne.Weil aberdieserAn-wendung keine Anschauung,als die jederzeit nursinnlich sein kann, untergelegtwerdenkann, so istcausanoumenon,in AnsehungdestheoretischenGe-brauchsder Vernunft, obgleichein möglicher,denk-barer,dennochleererBegriff. Nun verlangeich aberauchdadurchnicht die BeschaffenheiteinesWesens,so fern es einen reinen Willen hat, theoretischzukennen; es ist mir genug,esdadurchnur als ein sol-cheszu bezeichnen,mithin nur denBegriff der Kau-salität mit dem der Freiheit (und, was davonunzer-trennlich ist, mit dem moralischenGesetze,als Be-stimmungsgrundederselben)zu verbinden; welcheBefugnismir, vermögedesreinen,nicht empirischenUrsprungsdes Begriffs der Ursache,allerdingszu-steht,indemich davonkeinenanderenGebrauch,als

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in Beziehungauf das moralischeGesetz,das seineRealität bestimmt, d.i. nur einen praktischenGe-brauchzumachenmichbefugthalte.

Hätteich, mit Humen, demBegriffe derKausalitätdie objektiveRealitätim praktischenGebrauchenichtallein in Ansehungder Sachenan sich selbst (desÜbersinnlichen),sondernauchin Ansehungder Ge-genständeder Sinnegenommen:so wäreer aller Be-deutungverlustigundalsein theoretischunmöglicherBegriff für gänzlichunbrauchbarerklärtworden;und,da von nichtssich auchkein Gebrauchmachenläßt,der praktischeGebraucheinestheoretisch-nichtigenBegriffs ganzungereimtgewesen.Nun aberder Be-griff einer empirischunbedingtenKausalitättheore-tischzwarleer(ohnedaraufsichschickendeAnschau-ung), aber immer doch möglich ist und sich auf einunbestimmtObjektbezieht,stattdiesesaberihm dochan dem moralischenGesetze,folglich in praktischerBeziehung,Bedeutunggegebenwird, so habe ichzwarkeineAnschauung,die ihm seineobjektivetheo-retischeRealitätbestimmte,aberer hat nichts destowenigerwirkliche Anwendung,diesichin concretoinGesinnungenoderMaximendarstellenläßt,d.i. prak-tischeRealität,die angegebenwerdenkann;welchesdenn zu seiner Berechtigungselbst in Absicht aufNoumenenhinreichendist.

Aber diese einmal eingeleiteteobjektive Realität

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Kant-W Bd. 7 173II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im

einesreinen Verstandesbegriffsim Felde des Über-sinnlichen gibt nunmehr allen übrigen Kategorien,obgleich immer nur, so fern sie mit dem Bestim-mungsgrundedes reinen Willens (dem moralischenGesetze)in notwendigerVerbindungstehen,auchob-jektive, nur keineandereals bloß praktisch-anwend-bareRealität, indessensie auf theoretischeErkennt-nisse dieser Gegenstände,als Einsicht der Naturderselbendurch reineVernunft, nicht denmindestenEinfluß hat, um dieselbezu erweitern.Wie wir dennauchin der Folge finden werden,daßsie immer nurauf Wesenals Intelligenzen, und an diesenauchnurauf dasVerhältnisder Vernunftzum Willen, mithinimmernur aufsPraktischeBeziehunghabenundwei-ter hinaussich kein Erkenntnisderselbenanmaßen,wasabermit ihnenin Verbindungnochsonstfür Ei-genschaften,diezur theoretischenVorstellungsartsol-cher übersinnlichenDinge gehören,herbeigezogenwerdenmöchten,dieseinsgesamtalsdenngar nichtzumWissen,sondernnur zur Befugnis(in praktischerAbsichtabergarzur Notwendigkeit),sieanzunehmenund vorauszusetzen,gezählt werden,selbst da, womanübersinnlicheWesen(als Gott) nacheinerAna-logie, d.i. dem reinen Vernunftverhältnisse,dessenwir in Ansehungder sinnlichenunspraktischbedie-nen,und so der reinentheoretischenVernunft durchdie AnwendungaufsÜbersinnliche,abernur in prak-

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Kant-W Bd. 7 173II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im

tischerAbsicht, zumSchwärmenins Überschwengli-chenichtdenmindestenVorschubgibt.

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Kant-W Bd. 7 174Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

Der Analytik der praktischen Vernunft zweitesHauptstück

VondemBegriffeeinesGegenstandesder reinenpraktischenVernunft

UntereinemBegriffederpraktischenVernunftver-steheich die VorstellungeinesObjektsalseinermög-lichen Wirkung durch Freiheit. Ein GegenstandderpraktischenErkenntnis,alseinersolchen,zu sein,be-deutet also nur die Beziehungdes Willens auf dieHandlung,dadurcher, oderseinGegenteil,wirklich-gemachtwürde, und die Beurteilung,ob etwaseinGegenstandder reinenpraktischenVernunftsei,odernicht, ist nurdieUnterscheidungderMöglichkeitoderUnmöglichkeit, diejenigeHandlung zu wollen, wo-durch,wennwir dasVermögendazuhätten(worüberdie Erfahrung urteilen muß), ein gewissesObjektwirklich werdenwürde.WenndasObjektalsderBe-stimmungsgrundunseresBegehrungsvermögensange-nommenwird, somußdiephysischeMöglichkeitdes-selbendurch freien GebrauchunsererKräfte vor derBeurteilung, ob es ein Gegenstandder praktischenVernunft sei odernicht, vorangehen.Dagegen,wenndas Gesetza priori als der BestimmungsgrundderHandlung, mithin diese als durch reine praktische

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Kant-W Bd. 7 174Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

Vernunftbestimmt,betrachtetwerdenkann,soist dasUrteil, ob etwasein Gegenstandder reinen prakti-schenVernunft sei odernicht, von der Vergleichungmit unseremphysischenVermögenganzunabhängig,und die Frageist nur, ob wir eineHandlung,die aufdie ExistenzeinesObjektsgerichtetist, wollen dür-fen, wenndiesesin unsererGewaltwäre,mithin mußdie moralischeMöglichkeit der Handlungvorange-hen; dennda ist nicht der Gegenstand,sonderndasGesetzdesWillensderBestimmungsgrundderselben.

Die alleinigenObjekteeiner praktischenVernunftsind alsodie vom Gutenund Bösen. Denndurchdaserstereverstehtman einennotwendigenGegenstanddesBegehrungs-,durch daszweite desVerabscheu-ungsvermögens,beidesabernacheinemPrinzip derVernunft.

Wennder Begriff desGutennicht von einemvor-hergehendenpraktischenGesetzeabgeleitetwerden,sonderndiesemvielmehrzumGrundedienensoll, sokann er nur der Begriff von etwassein,dessenExi-stenzLust verheißtundsodie KausalitätdesSubjektszur Hervorbringungdesselben,d.i. dasBegehrungs-vermögenbestimmt.Weil es nun unmöglich ist, apriori einzusehen,welcheVorstellungmit Lust, wel-che hingegenmit Unlust werde begleitet sein, sokämeeslediglich auf Erfahrungan,esauszumachen,was unmittelbargut oder bösesei. Die Eigenschaft

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des Subjekts,worauf in BeziehungdieseErfahrungallein angestelltwerdenkann,ist dasGefühlderLustund Unlust, als eine dem innerenSinne angehörigeRezeptivitätund so würdeder Begriff von dem,wasunmittelbar gut ist, nur auf das gehen,womit dieEmpfindungdesVergnügensunmittelbarverbundenist, und der von demschlechthin-Bösenauf das,wasunmittelbar Schmerzerregt, allein bezogenwerdenmüssen.Weil aberdasdem Sprachgebraucheschonzuwiderist, der dasAngenehmevom Guten, dasUn-angenehmevom Bösenunterscheidet,und verlangt,daßGutesundBösesjederzeitdurchVernunft,mithindurch Begriffe, die sich allgemeinmitteilen lassen,und nicht durch bloßeEmpfindung,welchesich aufeinzelne Objekte und deren Empfänglichkeit ein-schränkt,beurteilt werde, gleichwohl aber für sichselbstmit keiner Vorstellung einesObjekts a priorieineLust oderUnlust unmittelbarverbundenwerdenkann, so würde der Philosoph, der sich genötigtglaubte,ein GefühlderLust seinerpraktischenBeur-teilung zum Grundezu legen, gut nennen,was einMittel zumAngenehmen,undBöses, wasUrsachederUnannehmlichkeitund desSchmerzensist; denndieBeurteilungdesVerhältnissesder Mittel zu Zweckengehört allerdingszur Vernunft. Obgleich aber Ver-nunft,alleinvermögendist, dieVerknüpfungderMit-tel mit ihren Absichteneinzusehen(sodaßmanauch

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denWillen durchdasVermögenderZweckedefinie-ren könnte, indem sie jederzeitBestimmungsgründedesBegehrungsvermögensnachPrinzipiensind), sowürdendochdie praktischenMaximen,die ausdemobigenBegriffe desGutenbloßalsMittel folgten,nieetwas für sich selbst–, sondernimmer nur irgendwozu – Guteszum GegenstandedesWillens enthal-ten:dasGutewürdejederzeitbloßdasNützlichesein,unddas,wozuesnutzt,müßteallemalaußerhalbdemWillen in der Empfindungliegen. Wenn diesenun,als angenehmeEmpfindung,vom Begriffe desGutenunterschiedenwerden müßte, so würde es überallnichtsunmittelbarGutesgeben,sonderndasGutenurin denMitteln zu etwasanderm,nämlichirgendeinerAnnehmlichkeit,gesuchtwerdenmüssen.

Es ist eine alte Formel der Schulen:nihil appeti-mus,nisi sub rationeboni; nihil aversamur,nisi subrationemali; undsiehateinenoft richtigen,aberauchder Philosophieoft sehrnachteiligenGebrauch,weildie Ausdrückedesboni undmali eineZweideutigkeitenthalten, daran die Einschränkung der Spracheschuld ist, nach welcher sie einesdoppeltenSinnesfähig sind, und daherdie praktischenGesetzeunver-meidlich auf Schraubenstellen,und die Philosophie,die im Gebrauchederselbengar wohl der Verschie-denheitdesBegriffs bei demselbenWorte inne wer-den,aberdochkeinebesondereAusdrückedafür fin-

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denkann,zu subtilenDistinktionennötigen,überdiemansich nachhernicht einigenkann,indemder Un-terschieddurch keinenangemessenenAusdruck un-mittelbarbezeichnetwerdenkonnte.8

Die deutscheSprachehat dasGlück, die Ausdrük-ke zu besitzen,welche dieseVerschiedenheitnichtübersehenlassen.Für das,wasdie Lateinermit einemeinzigenWorte bonum benennen,hat sie zwei sehrverschiedeneBegriffe,undauchebensoverschiedeneAusdrücke.Für bonumdasGute und dasWohl, fürmalumdasBöseund dasÜbel (oderWeh): sodaßeszwei ganz verschiedeneBeurteilungensind, ob wirbei einer Handlung das Gute und Böse derselben,oderunserWohlund Weh(Übel) in Betrachtungzie-hen.Hierausfolgt schon,daßobigerpsychologischerSatzwenigstensnoch sehrungewißsei, wenn er soübersetztwird: wir begehrennichts,als in Rücksichtauf unserWohloderWeh; dagegener, wennmanihnso gibt: wir wollen, nach Anweisungder Vernunft,nichts,alsnur sofern wir esfür gut oderbösehalten,ungezweifeltgewiß und zugleich ganz klar ausge-drücktwird.

DasWohl oderÜbel bedeutetimmer nur eineBe-ziehungaufunserenZustandderAnnehmlichkeitoderUnannehmlichkeit, desVergnügensundSchmerzens,und,wennwir darumein Objekt begehren,oderver-abscheuen,so geschiehtes,nur so fern esauf unsere

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Kant-W Bd. 7 177Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

SinnlichkeitunddasGefühlderLust undUnlust,dasesbewirkt,bezogenwird. DasGuteoderBösebedeu-tet aber jederzeiteine Beziehungauf den Willen, soferndieserdurchsVernunftgesetzbestimmtwird, sichetwas zu seinemObjekte zu machen;wie er denndurchdasObjektunddessenVorstellungniemalsun-mittelbar bestimmtwird, sondernein Vermögenist,sicheineRegelderVernunftzur BewegursacheeinerHandlung(dadurchein Objekt wirklichwerdenkann)zu machen.DasGuteoderBösewird alsoeigentlichauf Handlungen,nicht auf den Empfindungszustandder Personbezogen,und, sollte etwas schlechthin(und in aller Absicht und ohne weitereBedingung)gut oder bösesein, oder dafür gehaltenwerden,sowürdeesnur die Handlungsart,die MaximedesWil-lensundmithin die handelndePersonselbst,alsguteroderböserMensch,nicht abereineSachesein,die sogenanntwerdenkönnte.

Man mochtealsoimmerdenStoikerauslachen,derin den heftigstenGichtschmerzenausrief: Schmerz,du magstmich nochso sehrfoltern, ich werdedochnie gestehen,daß du etwas Böses(kakon, malum)seist!er hattedochrecht.Ein Übel war es,dasfühlteer, und dasverriet sein Geschrei:aberdaß ihm da-durch ein Bösesanhinge,hatteer gar nicht Ursacheeinzuräumen;dennder SchmerzverringertdenWertseinerPersonnicht im mindesten,sondernnur den

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Wert seinesZustandes.Eine einzigeLüge, derenersich bewußtgewesenwäre,hätteseinenMut nieder-schlagenmüssen;aber der Schmerzdiente nur zurVeranlassung,ihn zu erheben,wenn er sich bewußtwar, daßer sie durch keine unrechteHandlungver-schuldetundsichdadurchstrafwürdiggemachthabe.

Waswir gut nennensollen,mußin jedesvernünfti-genMenschenUrteil einGegenstanddesBegehrungs-vermögenssein,und dasBösein denAugenvon je-dermannein GegenstanddesAbscheues;mithin be-darf es,außerdemSinne,zu dieserBeurteilungnochVernunft.So ist esmit derWahrhaftigkeitim Gegen-satzmit derLüge,somit derGerechtigkeitim Gegen-satz der Gewalttätigkeitetc. bewandt.Wir könnenaberetwasein Übel nennen,welchesdochjedermannzugleich für gut, bisweilen mittelbar, bisweilen garfür unmittelbarerklärenmuß. Der eine chirurgischeOperationansichverrichtenläßt,fühlt sieohneZwei-fel als ein Übel; aberdurchVernunft erklärt er, undjedermann,sie für gut. Wennaberjemand,der fried-liebendeLeute gerneneckt und beunruhigt,endlicheinmalanläuftundmit einertüchtigenTrachtSchlägeabgefertigtwird: so ist diesesallerdings ein Übel,aberjedermanngibt dazuseinenBeifall undhältesansichfür gut,wennauchnichtsweiterdarausentsprän-ge; ja selbstder,dersieempfängt,mußin seinerVer-nunft erkennen,daßihm Rechtgeschehe,weil er die

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Proportionzwischendem Wohlbefindenund Wohl-verhalten,welche die Vernunft ihm unvermeidlichvorhält,hiergenauin Ausübunggebrachtsieht.

Es kommt allerdingsauf unserWohl und Weh inderBeurteilungunsererpraktischenVernunftgarsehrviel, und, wasunsereNatur als sinnlicherWesenbe-trifft, alles auf unsereGlückseligkeitan,wenndiese,wie Vernunftesvorzüglichfodert,nichtnachdervor-übergehendenEmpfindung,sondernnach dem Ein-flusse,den dieseZufälligkeit auf unsereganzeExi-stenzund die Zufriedenheitmit derselbenhat, beur-teilt wird; aberalles überhauptkommt daraufdochnicht an. Der Menschist ein bedürftigesWesen,sofern er zur Sinnenweltgehörtund so fern hat seineVernunft allerdingseinennicht abzulehnendenAuf-trag, von Seitender Sinnlichkeit, sich um das Inte-ressederselbenzu bekümmernund sich praktischeMaximen,auchin Absichtauf die Glückseligkeitdie-ses,und,wo möglich,aucheineszukünftigenLebens,zu machen.Aber er ist doch nicht so ganzTier, umgegenalles,wasVernunft für sichselbstsagt,gleich-gültig zu sein, und diesebloß zum WerkzeugederBefriedigungseinesBedürfnisses,als Sinnenwesens,zu gebrauchen.Denn im Werteüber die bloßeTier-heit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat,wennsie ihm nur zum Behuf desjenigendienensoll,was bei Tieren der Instinkt verrichtet; sie wäre als-

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dennnur einebesondereManier,derensichdie Naturbedienthätte,umdenMenschenzu demselbenZwek-ke,dazusieTierebestimmthat,auszurüsten,ohneihnzu einemhöherenZweckezu bestimmen.Er bedarfalso freilich, nachdiesereinmalmit ihm getroffenenNaturanstalt,Vernunft,umseinWohl undWehjeder-zeit in Betrachtungzu ziehen,aberer hatsieüberdemnochzu einemhöherenBehuf,nämlichauchdas,wasansichgut oderböseist, undworüberreine,sinnlichgar nicht interessierteVernunft nur allein urteilenkann,nicht allein mit in Überlegungzu nehmen,son-dern dieseBeurteilungvon jener gänzlichzu unter-scheiden,und sie zur oberstenBedingungdesletzte-renzumachen.

In dieserBeurteilungdesansichGutenundBösen,zumUnterschiedevon dem,wasnur beziehungsweiseauf Wohl oderÜbel sogenanntwerdenkann,kommtes auf folgendePunktean. Entwederein Vernunft-prinzip wird schonansichalsderBestimmungsgrunddes Willens gedacht,ohne Rücksicht auf möglicheObjektedesBegehrungsvermögens(also bloß durchdie gesetzlicheForm der Maxime), alsdennist jenesPrinzip praktischesGesetza priori, und reine Ver-nunft wird für sich praktischzu sein angenommen.Das Gesetzbestimmtalsdennunmittelbar den Wil-len, die ihm gemäßeHandlungist an sich selbstgut,ein Wille, dessenMaxime jederzeitdiesemGesetze

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Kant-W Bd. 7 180Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

gemäßist, ist schlechterdings,in aller Absicht,gut,und die obersteBedingungalles Guten; oderesgehtein Bestimmungsgrunddes Begehrungsvermögensvor der Maxime desWillens vorher, der ein Objektder Lust und Unlust voraussetzt,mithin etwas,dasvergnügtoder schmerzt, und die Maxime der Ver-nunft, jene zu befördern,diese zu vermeiden,be-stimmtdie Handlungen,wie sie beziehungsweiseaufunsereNeigung, mithin nur mittelbar (in Rücksichtauf einenanderweitigenZweck,alsMittel zu demsel-ben) gut sind, und dieseMaximen könnenalsdennniemals Gesetze,dennochaber vernünftige, prakti-scheVorschriftenheißen.Der Zweckselbst,dasVer-gnügen,daswir suchen,ist im letzterenFalle nichtein Gutes, sondernein Wohl, nicht ein Begriff derVernunft,sondernein empirischerBegriff von einemGegenstandeder Empfindung; allein der GebrauchdesMittels dazu,d.i. die Handlung(weil dazuver-nünftigeÜberlegungerfodertwird) heißtdennochgut,abernicht schlechthin,sondernnur in BeziehungaufunsereSinnlichkeit, in Ansehungihres Gefühls derLust und Unlust; der Wille aber,dessenMaxime da-durchaffiziert wird, ist nicht ein reinerWille, dernurauf das geht, wobei reine Vernunft für sich selbstpraktischseinkann.

Hier ist nunderOrt, dasParadoxonderMethodeineinerKritik derpraktischenVernunftzuerklären:daß

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nämlich der Begriff desGutenund Bösennicht vordem moralischen Gesetze(dem es dem Anscheinnachsogar zumGrundegelegtwerdenmüßte), son-dern nur (wie hier auch geschieht)nach demselbenund durch dasselbebestimmtwerdenmüsse. Wennwir nämlich auchnicht wüßten,daßdasPrinzip derSittlichkeit ein reinesa priori denWillen bestimmen-desGesetzsei, so müßtenwir doch, um nicht ganzumsonst(gratis)Grundsätzeanzunehmen,esanfäng-lich wenigstensunausgemachtlassen,ob der Willebloßempirische,oderauchreineBestimmungsgründea priori habe;dennesist wider alle GrundregelndesphilosophischenVerfahrens,das,worübermanaller-erstentscheidensoll, schonzum vorausals entschie-den anzunehmen.Gesetzt,wir wollten nun vom Be-griffe desGutenanfangen,um davondie GesetzedesWillens abzuleiten, so würde dieser Begriff voneinemGegenstande(alseinemguten)zugleichdiesen,alsdeneinigenBestimmungsgrunddesWillens,ange-ben.Weil nun dieserBegriff kein praktischesGesetza priori zu seinerRichtschnurhatte: so könnte derProbiersteindesGutenoder Bösenin nichts anders,alsin derÜbereinstimmungdesGegenstandesmit un-seremGefühleder Lust oder Unlust gesetztwerden,und der Gebrauchder Vernunft könntenur darin be-stehen,teilsdieseLustoderUnlustim ganzenZusam-menhangemit allen EmpfindungenmeinesDaseins,

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Kant-W Bd. 7 181Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

teils die Mittel, mir denGegenstandderselbenzu ver-schaffen,zu bestimmen.Da nun, was dem Gefühleder Lust gemäßsei,nur durchErfahrungausgemachtwerdenkann,daspraktischeGesetzaber,derAngabenach,dochdarauf,als Bedingung,gegründetwerdensoll, so würde geradezudie Möglichkeit praktischerGesetzea priori ausgeschlossen;weil man vorhernötig zu finden meinte, einen Gegenstandfür denWillen auszufinden,davon der Begriff, als einesGuten,denallgemeinen,obzwarempirischenBestim-mungsgrunddesWillens ausmachenmüsse.Nun aberwar doch vorher nötig zu untersuchen,ob es nichtauch einen Bestimmungsgrunddes Willens a priorigebe(welcherniemalsirgendwoanders,alsaneinemreinenpraktischenGesetze,und zwar so fern diesesdie bloßegesetzlicheForm,ohneRücksichtauf einenGegenstand,den Maximen vorschreibt,wäre gefun-denworden).Weil manaberschoneinenGegenstandnach Begriffen des Guten und Bösen zum GrundeallespraktischenGesetzeslegte,jeneraberohnevor-hergehendesGesetznur nachempirischenBegriffengedachtwerdenkonnte,so hattemansich die Mög-lichkeit, ein reines praktischesGesetzauch nur zudenken,schonzumvorausbenommen;damanim Ge-genteil, wenn man dem letzterenvorher analytischnachgeforschthätte,gefundenhabenwürde,daßnichtder Begriff des Guten, als einesGegenstandes,das

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Kant-W Bd. 7 182Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

moralischeGesetz,sondernumgekehrtdasmoralischeGesetzallererstdenBegriff desGuten,sofern esdie-senNamenschlechthinverdient,bestimmeund mög-lich mache.

Diese Anmerkung,welche bloß die MethodederoberstenmoralischenUntersuchungenbetrifft, ist vonWichtigkeit. Sie erklärt auf einmal den veranlassen-denGrundaller Verirrungender Philosophenin An-sehungdes oberstenPrinzips der Moral. Denn siesuchteneinenGegenstanddesWillensauf,umihn zurMaterie und demGrundeeinesGesetzeszu machen(welchesalsdennnicht unmittelbar,sondernvermit-telst jenesan das Gefühl der Lust oder Unlust ge-brachtenGegenstandes,der BestimmungsgrunddesWillens seinsollte,anstattdaßsie zuerstnacheinemGesetzehättenforschensollen,dasa priori und un-mittelbardenWillen, unddiesemgemäßallererstdenGegenstandbestimmete).NunmochtensiediesenGe-genstandderLust,derdenoberstenBegriff desGutenabgebensollte,in derGlückseligkeit,in derVollkom-menheit, im moralischenGesetze,oder im WillenGottessetzen,so war ihr GrundsatzallemalHetero-nomie,sie mußtenunvermeidlichauf empirischeBe-dingungenzueinemmoralischenGesetzestoßen:weilsie ihren Gegenstand,als unmittelbaren Bestim-mungsgrunddesWillens, nur nachseinemunmittel-barenVerhaltenzum Gefühl, welchesallemalempi-

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Kant-W Bd. 7 182Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

risch ist, gut oderbösenennenkonnten.Nur ein for-malesGesetz,d.i. ein solches,welchesder Vernunftnichtsweiter als die Form ihrer allgemeinenGesetz-gebungzur oberstenBedingungder Maximen vor-schreibt, kann a priori ein BestimmungsgrundderpraktischenVernunft sein.Die Alten verrietenindes-sendiesenFehlerdadurchunverhohlen,daßsie ihremoralischeUntersuchunggänzlich auf die Bestim-mung des Begriffs vom höchstenGut, mithin einesGegenstandessetzten,welchensie nachherzum Be-stimmungsgrundedesWillens im moralischenGeset-ze zu machtengedachten:ein Objekt, welchesweithinterher,wenn das moralischeGesetzallererst fürsich bewährt und als unmittelbarer Bestimmungs-grunddesWillensgerechtfertigtist, demnunmehrsei-nerFormnacha priori bestimmtenWillen alsGegen-stand vorgestellt werden kann, welcheswir in derDialektik der reinenpraktischenVernunft unsunter-fangenwollen.Die Neueren,beidenendieFrageüberdashöchsteGutaußerGebrauchgekommen,zumwe-nigsten nur Nebensachegewordenzu sein scheint,versteckenobigenFehler(wie in vielenandernFällen)hinter unbestimmtenWorten, indessen,daßman ihngleichwohlausihrenSystemenhervorblickensieht,daer alsdennallenthalbenHeteronomieder praktischenVernunft verrät,darausnimmermehrein a priori all-gemeingebietendesmoralischesGesetzentspringen

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Kant-W Bd. 7 183Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

kann.Da nundie Begriffe desGutenundBösen,alsFol-

gender Willensbestimmunga priori, auchein reinespraktischesPrinzip,mithin eineKausalitätder reinenVernunft voraussetzen:so beziehen sie sich, ur-sprünglich,nicht (etwaalsBestimmungendersynthe-tischen Einheit des Mannigfaltigen gegebenerAn-schauungenin einemBewußtsein)auf Objekte,wiedie reinen Verstandesbegriffe,oder Kategoriendertheoretisch-gebrauchtenVernunft, sie setzen diesevielmehrals gegebenvoraus;sondernsie sind insge-samtModi einereinzigenKategorie,nämlichder derKausalität,so fern der Bestimmungsgrundderselbenin der VernunftvorstellungeinesGesetzesderselbenbesteht,welches,alsGesetzderFreiheit,dieVernunftsichselbstgibt unddadurchsicha priori alspraktischbeweiset. Da indessendie Handlungen einerseitszwaruntereinemGesetze,daskein Naturgesetz,son-dernein GesetzderFreiheitist, folglich zu demVer-halten intelligibeler Wesen,andererseitsaber dochauch,alsBegebenheitenin derSinnenwelt,zudenEr-scheinungengehören,so werdendie BestimmungeneinerpraktischenVernunft nur in Beziehungauf dieletztere,folglich zwardenKategoriendesVerstandesgemäß,abernicht in der Absicht einestheoretischenGebrauchsdesselben,um das Mannigfaltige der(sinnlichen) Anschauungunter ein Bewußtsein a

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Kant-W Bd. 7 184Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

priori zu bringen,sondernnur, um dasMannigfaltigeder Begehrungender Einheit desBewußtseinseinerim moralischenGesetzegebietendenpraktischenVer-nunft, odereinesreinenWillens a priori zu unterwer-fen,Statthabenkönnen.

DieseKategoriender Freiheit, dennsowollen wirsie, statt jener theoretischenBegriffe, als Kategoriender Natur, benennen,habeneinenaugenscheinlichenVorzug vor den letzteren,daß,da diesenur Gedan-kenformen sind, welche nur unbestimmt Objekteüberhauptfür jede uns möglicheAnschauungdurchallgemeineBegriffe bezeichnen,diesehingegen,dasie auf die Bestimmungeiner freien Willkür gehen(derzwarkeineAnschauung,völlig korrespondierend,gegebenwerdenkann, die aber,welchesbei keinenBegriffen des theoretischenGebrauchsunseresEr-kenntnisvermögensstattfindet,ein reinespraktischesGesetzapriori zumGrundeliegenhat),alspraktischeElementarbegriffestatt der Form der Anschauung(Raum und Zeit), die nicht in der Vernunft selbstliegt, sondernanderwärts,nämlichvon der Sinnlich-keit, hergenommenwerdenmuß,die Form einesrei-nen Willens in ihr, mithin dem Denkungsvermögenselbst, als gegebenzum Grunde liegen haben;da-durchesdenngeschieht,daß,daesin allenVorschrif-ten der reinenpraktischenVernunft nur um die Wil-lensbestimmung, nicht umdieNaturbedingungen(des

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Kant-W Bd. 7 184Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

praktischenVermögens)derAusführungseiner Ab-sicht zu tun ist, die praktischenBegriffe a priori inBeziehungauf das oberstePrinzip der Freiheit so-gleichErkenntnissewerdenundnichtaufAnschauun-genwartendürfen,umBedeutungzu bekommen,undzwar ausdiesemmerkwürdigenGrunde,weil sie dieWirklichkeit dessen,worauf sie sich beziehen(dieWillensgesinnung),selbsthervorbringen,welchesgarnicht die SachetheoretischerBegriffe ist. Nur mußman wohl bemerken,daß dieseKategoriennur diepraktischeVernunft überhauptangehen,und so inihrer Ordnung,von den moralischnoch unbestimm-ten, und sinnlich-bedingten,zu denen,die, sinnlich-unbedingt,bloß durchsmoralischeGesetzbestimmtsind,fortgehen.

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Kant-W Bd. 7 185Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

TafelderKategorienderFreiheit in AnsehungderBegriffedesGutenundBösen

1.Der Quantität

Subjektiv,nachMaximen(WillensmeinungendesIndividuum)

Objektiv,nachPrinzipien(Vorschriften)A priori objektivesowohlalssubjektivePrinzipien

derFreiheit(Gesetze)

2. 3.Der Qualität Der RelationPraktischeRegelndes Auf diePersönlichkeitBegehens(praeceptivae) Auf denZustandPraktischeRegelndesUn- derPersonterlassens(prohibitivae) WechselseitigeinerPraktischeRegelnderAus- PersonaufdenZustandnahmen(exceptivae) deranderen

4.Modalität

DasErlaubteundUnerlaubteDie Pflicht unddasPflichtwidrige

VollkommeneundunvollkommenePflicht

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Kant-W Bd. 7 185Zweites Hauptstück. Von dem Begriffe eines

Man wird hier bald gewahr,daß, in dieserTafel,die Freiheit,alseineArt von Kausalität,die aberem-pirischenBestimmungsgründennicht unterworfenist,in AnsehungderdurchsiemöglichenHandlungen,alsErscheinungenin der Sinnenwelt,betrachtetwerde,folglich sich auf die Kategorienihrer Naturmöglich-keit beziehe,indessendaßdochjedeKategoriesoall-gemeingenommenwird, daßder Bestimmungsgrundjener Kausalität auch außerder Sinnenwelt in derFreiheit als Eigenschafteines intelligibelen Wesensangenommenwerden kann, bis die KategorienderModalität den Übergangvon praktischenPrinzipienüberhauptzu denender Sittlichkeit, abernur proble-matisch, einleiten,welchenachherdurchsmoralischeGesetzallererstdogmatischdargestelltwerdenkön-nen.

Ich füge hier nichtsweiter zur Erläuterunggegen-wärtiger Tafel bei, weil sie für sich verständlichgenugist. DergleichennachPrinzipienabgefaßteEin-teilung ist aller Wissenschaft,ihrer Gründlichkeitso-wohl als Verständlichkeithalber,sehrzuträglich.Soweißman,z.B.,ausobigerTafel unddererstenNum-mer derselbensogleich,wovon man in praktischenErwägungenanfangenmüsse:von denMaximen,diejederaufseineNeigunggründet,denVorschriften,diefür eine GattungvernünftigerWesen,so fern sie ingewissen Neigungen übereinkommen,gelten, und

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Kant-W Bd. 7 186Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

endlich demGesetze,welchesfür alle, unangesehenihrer Neigungen,gilt, u.s.w. Auf dieseWeiseüber-siehtmandenganzenPlan,von dem,wasmanzu lei-stenhat, so gar jede Frageder praktischenPhiloso-phie, die zu beantworten,und zugleichdie Ordnung,diezubefolgenist.

VonderTypikder reinenpraktischenUrteilskraft

Die Begriffe desGutenundBösenbestimmendemWillen zuerstein Objekt.Siestehenselbstaberuntereiner praktischenRegelder Vernunft, welche,wennsie reine Vernunft ist, den Willen a priori in Anse-hungseinesGegenstandesbestimmt.Ob nuneineunsin der Sinnlichkeit möglicheHandlungder Fall sei,der unter der Regel stehe,oder nicht, dazu gehörtpraktischeUrteilskraft,wodurchdasjenige,wasin derRegelallgemein(in abstracto)gesagtwurde,auf eineHandlungin concretoangewandtwird. Weil abereinepraktischeRegel der reinen Vernunft erstlich, alspraktisch, die Existenz eines Objekts betrifft, undzweitens, als praktischeRegel der reinen VernunftNotwendigkeit in Ansehungdes Daseinsder Hand-lung bei sich führt, mithin praktischesGesetzist, undzwar nicht Naturgesetz,durch empirischeBestim-mungsgründe,sondernein Gesetzder Freiheit,nach

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Kant-W Bd. 7 186Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

welchemder Wille, unabhängigvon allem Empiri-schen (bloß durch die Vorstellung eines Gesetzesüberhauptund dessenForm) bestimmbarsein soll,alle vorkommendeFälle zu möglichenHandlungenabernur empirisch,d.i. zur Erfahrungund Natur ge-hörig seinkönnen:soscheinteswidersinnisch,in derSinnenwelteinenFall antreffenzu wollen, der,da erimmersofern nur unterdemNaturgesetzesteht,dochdie AnwendungeinesGesetzesder Freiheit auf sichverstatte,und auf welchendie übersinnlicheIdeedesSittlichguten,dasdarinin concretodargestelltwerdensoll, angewandtwerdenkönne.Also ist die Urteils-kraft der reinenpraktischenVernunft ebendenselbenSchwierigkeitenunterworfen,alsdie der reinentheo-retischen,welcheletzteregleichwohl, ausdenselbenzu kommen,ein Mittel zur Handhatte;nämlich,daesin Ansehungdes theoretischenGebrauchsauf An-schauungenankam,darauf reine Verstandesbegriffeangewandtwerdenkönnten,dergleichenAnschauun-gen(obzwarnur von GegenständenderSinne)dochapriori, mithin, wasdie VerknüpfungdesMannigfalti-genin denselbenbetrifft, denreinenVerstandesbegrif-fen a priori gemäß(als Schemate) gegebenwerdenkönnen.Hingegenist dassittlich-GuteetwasdemOb-jektenachÜbersinnliches,für dasalsoin keinersinn-lichenAnschauungetwasKorrespondierendesgefun-denwerdenkann,unddie UrteilskraftunterGesetzen

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Kant-W Bd. 7 187Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

der reinenpraktischenVernunft scheintdaherbeson-derenSchwierigkeitenunterworfenzusein,diedaraufberuhen,daßein GesetzderFreiheitauf Handlungen,als Begebenheiten,die in der Sinnenweltgeschehen,und alsoso fern zur Natur gehören,angewandtwer-densoll.

Allein hier eröffnetsichdochwiedereinegünstigeAussicht für die reine praktischeUrteilskraft. Es istbei derSubsumtioneinermir in derSinnenweltmög-lichen HandlunguntereinemreinenpraktischenGe-setzenicht um die Möglichkeit der Handlung, alseinerBegebenheitin derSinnenwelt,zu tun; denndiegehört für die Beurteilung des theoretischenGe-brauchsderVernunft,nachdemGesetzederKausali-tät, einesreinen Verstandesbegriffs,für den sie einSchemain dersinnlichenAnschauunghat.Die physi-sche Kausalität,oder die Bedingung,unter der siestattfindet,gehörtunterdieNaturbegriffe,derenSche-ma transzendentaleEinbildungskraft entwirft. Hieraberist esnicht umdasSchemaeinesFallesnachGe-setzen,sondernum das Schema(wenn diesesWorthier schicklich ist) einesGesetzesselbstzu tun, weildie Willensbestimmung(nicht derHandlungin Bezie-hung auf ihren Erfolg) durchs Gesetzallein, ohneeinen anderenBestimmungsgrund,den Begriff derKausalität an ganz andereBedingungenbindet, alsdiejenigesind, welchedie Naturverknüpfungausma-

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Kant-W Bd. 7 188Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

chen.Dem Naturgesetze,als Gesetze,welchemdie Ge-

genständesinnlicher Anschauung,als solche,unter-worfen sind, muß ein Schema,d.i. ein allgemeinesVerfahrender Einbildungskraft(den reinenVerstan-desbegriff,den das Gesetzbestimmt,den Sinnenapriori darzustellen),korrespondieren.Aber dem Ge-setzederFreiheit(alseinergarnicht sinnlichbeding-ten Kausalität),mithin auchdemBegriffe desunbe-dingt-Guten, kann keine Anschauung,mithin keinSchemazumBehufseinerAnwendungin concretoun-tergelegtwerden.Folglich hat dasSittengesetzkeinanderes,die Anwendungdesselbenauf GegenständederNatur vermittelndesErkenntnisvermögen,alsdenVerstand(nicht die Einbildungskraft),welchereinerIdeeder Vernunft nicht ein Schemader Sinnlichkeit,sondernein Gesetz,aberdochein solches,dasanGe-genständender Sinnein concretodargestelltwerdenkann, mithin ein Naturgesetz,aber nur seinerFormnach,als Gesetzzum Behuf der Urteilskraft unterle-genkann,unddieseskönnenwir daherdenTypusdesSittengesetzesnennen.

Die Regelder Urteilskraft unter Gesetzender rei-nenpraktischenVernunft ist diese:Fragedich selbst,obdieHandlung,dieduvorhast,wennsienacheinemGesetzeder Natur,von der du selbstein Teil wärest,geschehensollte,sieduwohl, alsdurchdeinenWillen

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Kant-W Bd. 7 188Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

möglich, ansehenkönntest.Nach dieserRegelbeur-teilt in derTat jedermannHandlungen,ob siesittlich-gut oder böse sind. So sagt man: Wie, wenn einjeder, wo er seinenVorteil zu schaffenglaubt, sicherlaubte,zu betrügen,oder befugt hielte, sich dasLebenabzukürzen,sobald ihn ein völliger Überdrußdesselbenbefällt, oder anderer Not mit völligerGleichgültigkeitansähe,unddugehörtestmit zueinersolchenOrdnungder Dinge, würdestdu darin wohlmit EinstimmungdeinesWillens sein?Nun weiß einjeder wohl: daß,wenn er sich in GeheimBetruger-laubt, darumebennicht jedermannesauchtue, oderwenner unbemerktlieblos ist, nicht sofort jedermannauchgegenihn esseinwürde;daherist dieseVerglei-chungder MaximeseinerHandlungenmit einemall-gemeinenNaturgesetzeauchnicht der Bestimmungs-grund seinesWillens. Aber dasletztereist doch einTypus der Beurteilung der ersterennach sittlichenPrinzipien.Wenndie Maximeder Handlungnicht sobeschaffenist, daßsieanderFormeinesNaturgeset-zes überhauptdie Probehält, so ist sie sittlich-un-möglich. So urteilt selbst der gemeinsteVerstand;denndasNaturgesetzliegt allen seinengewöhnlich-sten,selbstdenErfahrungsurteilenimmerzumGrun-de.Er hatesalsojederzeitbei derHand,nur daßer inFällen, wo die KausalitätausFreiheit beurteilt wer-densoll, jenesNaturgesetzbloßzumTypuseinesGe-

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Kant-W Bd. 7 189Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

setzesder Freiheit macht,weil er,ohneetwas,waserzumBeispieleim Erfahrungsfallemachenkönnte,beiHandzu haben,demGesetzeeinerreinenpraktischenVernunftnicht denGebrauchin derAnwendungver-schaffenkönnte.

Es ist alsoaucherlaubt,die Natur der Sinnenweltals Typuseiner intelligibelen Natur zu brauchen,solangeich nur nichtdieAnschauungen,undwasdavonabhängigist, auf dieseübertrage,sondernbloß dieForm der Gesetzmäßigkeitüberhaupt(derenBegriffauchim reinstenVernunftgebrauchestattfindet,aberin keineranderenAbsicht,alsbloßzumreinenprakti-schenGebraucheder Vernunft, a priori bestimmter-kanntwerdenkann)daraufbeziehe.DennGesetze,alssolche,sind so fern einerlei,sie mögenihre Bestim-mungsgründehernehmen,wohersiewollen.

Übrigens,da von allem Intelligibelen schlechter-dings nichts als (vermittelstdes moralischenGeset-zes)die Freiheit,und auchdiesenur, so fern sieeinevon jenemunzertrennlicheVoraussetzungist, undfer-neralle intelligibeleGegenstände,auf welcheunsdieVernunft, nachAnleitung jenesGesetzes,etwanochführenmöchte,wiederumfür unskeineRealitätwei-ter haben,alszumBehufdesselbenGesetzesunddesGebrauchesder reinen praktischenVernunft, dieseaberzumTypusderUrteilskraftdie Natur(derreinenVerstandesformderselbennach) zu gebrauchenbe-

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Kant-W Bd. 7 190Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

rechtigtundauchbenötigtist: sodientdie gegenwär-tige Anmerkungdazu,um zu verhüten,daß,wasbloßzur Typik der Begriffe gehört,nicht zu denBegriffenselbstgezähltwerde.Diese also, als Typik der Ur-teilskraft,bewahrtfür demEmpirismder praktischenVernunft,derdie praktischenBegriffe,desGutenundBösen, bloß in Erfahrungsfolgen(der sogenanntenGlückseligkeit)setzt,obzwardieseund die unendli-chen nützlichenFolgen einesdurch Selbstliebebe-stimmtenWillens, wenn diesersich selbstzugleichzum allgemeinen Naturgesetzemachte, allerdingszum ganz angemessenenTypus für das Sittlichgutedienenkann,abermit diesemdochnicht einerlei ist.EbendieselbeTypik bewahrtauchvor demMystizismder praktischenVernunft, welchedas,was nur zumSymboldienete,zum Schemamacht,d.i. wirkliche,und doch nicht sinnliche, Anschauungen(einesun-sichtbarenReichsGottes)derAnwendungdermorali-schenBegriffe unterlegt und ins Überschwenglichehinausschweift.DemGebrauchedermoralischenBe-griffe ist bloß der Rationalismder Urteilskraft ange-messen,der von der sinnlichenNatur nichts weiternimmt, als wasauchreine Vernunft für sich denkenkann,d.i. die Gesetzmäßigkeit,und in die übersinnli-chenichtshineinträgt,als wasumgekehrtsich durchHandlungenin der Sinnenwelt nach der formalenRegeleinesNaturgesetzesüberhauptwirklich darstel-

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Kant-W Bd. 7 190Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

len läßt. Indessenist die Verwahrungvor demEmpi-rism der praktischenVernunft viel wichtiger und an-ratungswürdiger,womit derMystizismsichdochnochmit der Reinigkeit und ErhabenheitdesmoralischenGesetzeszusammenverträgtund außerdemes nichtebennatürlich und der gemeinenDenkungsartange-messenist, seineEinbildungskraftbis zu übersinnli-chen Anschauungenanzuspannen,mithin auf dieserSeite die Gefahr nicht so allgemeinist; dahingegender Empirismdie Sittlichkeit in Gesinnungen(worindoch,und nicht bloß in Handlungen,der hoheWertbesteht,densichdieMenschheitdurchsieverschaffenkannundsoll) mit derWurzelausrottet,und ihr ganzetwas anderes,nämlich ein empirischesInteresse,womit die Neigungenüberhauptunter sich Verkehrtreiben,statt der Pflicht unterschiebt,überdemauch,eben darum, mit allen Neigungen,die (sie mögeneinen Zuschnitt bekommen,welchen sie wollen),wennsie zur WürdeeinesoberstenpraktischenPrin-zips erhobenwerden, die Menschheitdegradieren,und da sie gleichwohl der Sinnesartaller so günstigsind, aus der Ursacheweit gefährlicherist, als alleSchwärmerei,die niemalseinen daurendenZustandvielerMenschenausmachenkann.

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Kant-W Bd. 7 191Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

Drittes Hauptstück.Von denTriebfedern der reinen praktischen

Vernunft

Das Wesentlichealles sittlichen Werts der Hand-lungenkommtdaraufan,daßdasmoralischeGesetzunmittelbardenWillen bestimme. Geschiehtdie Wil-lensbestimmungzwargemäßdemmoralischenGeset-ze,abernur vermittelsteinesGefühls,welcherArt esauchsei,dasvorausgesetztwerdenmuß,damit jenesein hinreichenderBestimmungsgrunddes Willenswerde,mithin nicht um desGesetzeswillen: so wirddie Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralitätenthalten.Wenn nun unter Triebfeder(elateranimi)der subjektiveBestimmungsgrunddesWillens einesWesens verstandenwird, dessen Vernunft nicht,schonvermögeseinerNatur,demobjektivenGesetzenotwendiggemäßist, so wird erstlichdarausfolgen:daßmandemgöttlichenWillen garkeineTriebfedernbeilegenkönne,dieTriebfederdesmenschlichenWil-lensaber(unddesvon jedemerschaffenenvernünfti-gen Wesen)niemalsetwasanderes,als das morali-scheGesetzseinkönne,mithin derobjektiveBestim-mungsgrundjederzeit und ganz allein zugleich dersubjektiv-hinreichendeBestimmungsgrundderHand-lung seinmüsse,wenndiesenicht bloß denBuchsta-

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Kant-W Bd. 7 192Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

bendesGesetzes,ohnedenGeist9 desselbenzu ent-halten,erfüllensoll.

Da manalsozumBehufdesmoralischenGesetzes,und um ihm Einfluß auf den Willen zu verschaffen,keine anderweitigeTriebfeder,dabeidie desmorali-schenGesetzesentbehrtwerdenkönnte,suchenmuß,weil dasalleslauterGleisnerei,ohneBestand,bewir-ken würde, und so gar es bedenklichist, auch nurnebendem moralischenGesetzenoch einige andereTriebfedern(als die desVorteils) mitwirken zu las-sen:so bleibt nichtsübrig, als bloß sorgfältigzu be-stimmen,aufwelcheArt dasmoralischeGesetzTrieb-feder werde, und was, indem sie es ist, mit demmenschlichen Begehrungsvermögen,als Wirkungjenes Bestimmungsgrundesauf dasselbevorgehe.Dennwie einGesetzfür sichundunmittelbarBestim-mungsgrunddes Willens sein könne (welchesdochdasWesentlichealler Moralität ist), dasist ein für diemenschlicheVernunftunauflöslichesProblemundmitdem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei. Alsowerdenwir nicht den Grund, woher dasmoralischeGesetzin sich eine Triebfederabgebe,sondernwas,sofern eseinesolcheist, sieim Gemütewirkt (besserzusagen,wirkenmuß),apriori anzuzeigenhaben.

Das Wesentlichealler Bestimmungdes WillensdurchssittlicheGesetzist: daßeralsfreierWille, mit-hin nicht bloß ohneMitwirkung sinnlicherAntriebe,

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Kant-W Bd. 7 192Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

sondernselbst,mit Abweisungaller derselben,undmit Abbruch aller Neigungen,so fern sie jenemGe-setzezuwider sein könnten,bloß durchsGesetzbe-stimmtwerde.Soweit ist alsodie Wirkung desmora-lischenGesetzesals Triebfedernur negativ,und alssolchekanndieseTriebfedera priori erkanntwerden.Dennalle NeigungundjedersinnlicheAntrieb ist aufGefühlgegründet,unddienegativeWirkung aufsGe-fühl (durch den Abbruch, der den Neigungenge-schieht)ist selbstGefühl.Folglich könnenwir a prio-ri einsehen,daß das moralischeGesetzals Bestim-mungsgrunddesWillens dadurch,daßesallen unse-ren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirkenmüsse,welchesSchmerzgenanntwerdenkann, undhier habenwir nun denersten,vielleicht aucheinzi-genFall, dawir ausBegriffena priori dasVerhältniseinesErkenntnisses(hier ist es einer reinen prakti-schenVernunft)zumGefühlderLust oderUnlustbe-stimmen konnten. Alle Neigungenzusammen(dieauchwohl in einerträglichesSystemgebrachtwerdenkönnen, und deren Befriedigung alsdenn eigeneGlückseligkeitheißt)machendie Selbstsucht(solipsi-mus)aus.Dieseist entwederdiederSelbstliebe, einesüber alles gehendenWohlwollensgegensich selbst(philautia),oderdie desWohlgefallensan sich selbst(arrogantia).Jeneheißt besondersEigenliebe, dieseEigendünkel. Die reine praktischeVernunft tut der

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Kant-W Bd. 7 193Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

EigenliebebloßAbbruch, indemsiesolche,alsnatür-lich, und noch vor demmoralischenGesetze,in unsrege,nuraufdieBedingungderEinstimmungmit die-semGesetzeeinschränkt;da sie alsdennvernünftigeSelbstliebegenannt wird. Aber den Eigendünkelschlägt sie gar nieder, indem alle AnsprüchederSelbstschätzung,die vor der ÜbereinstimmungmitdemsittlichenGesetzevorhergehen,nichtig undohnealle Befugnis sind, indem ebendie GewißheiteinerGesinnung,die mit diesemGesetzeübereinstimmt,die ersteBedingungalles Werts der Personist (wiewir bald deutlichermachenwerden)und alle Anma-ßungvor derselbenfalschund gesetzwidrigist. NungehörtderHangzur Selbstschätzungmit zu denNei-gungen,denendasmoralischeGesetzAbbruchtut, sofern jenebloßauf derSittlichkeit beruht.Also schlägtdas moralischeGesetzden Eigendünkelnieder. DadiesesGesetzaberdoch etwasan sich Positivesist,nämlichdie FormeinerintellektuellenKausalität,d.i.der Freiheit, so ist es, indem es im GegensatzemitdemsubjektivenWiderspiele,nämlichdenNeigungenin uns,den Eigendünkelschwächt, zugleichein Ge-genstandder Achtung, und, indemes ihn sogarnie-derschlägt, d.i. demütigt,ein GegenstanddergrößtenAchtung, mithin auchder GrundeinespositivenGe-fühls, das nicht empirischenUrsprungs ist, und apriori erkanntwird. Also ist Achtungfürs moralische

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Kant-W Bd. 7 194Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

GesetzeinGefühl,welchesdurcheinenintellektuellenGrundgewirkt wird, und diesesGefühl ist daseinzi-ge, welcheswir völlig a priori erkennen,und dessenNotwendigkeitwir einsehenkönnen.

Wir habenim vorigen Hauptstückegesehen:daßalles,wassichalsObjektdesWillens vor demmora-lischenGesetzedarbietet,von denBestimmungsgrün-den des Willens, unter dem Namendes unbedingt-Guten,durchdiesesGesetzselbst,alsdie obersteBe-dingung der praktischenVernunft, ausgeschlossenwerde,und daßdie bloßepraktischeForm,die in derTauglichkeitderMaximenzur allgemeinenGesetzge-bungbesteht,zuerstdas,wasan sich und schlechter-dings-gutist, bestimme,unddie MaximeeinesreinenWillens gründe,der allein in aller Absicht gut ist.Nun finden wir aber unsereNatur, als sinnlicherWesenso beschaffen,daß die Materie des Begeh-rungsvermögens(GegenständederNeigung,esseiderHoffnung, oder Furcht) sich zuerst aufdringt, undunserpathologischbestimmbaresSelbst,ob esgleichdurchseineMaximenzur allgemeinenGesetzgebungganzuntauglichist, dennoch,gleich als ob es unserganzesSelbstausmachte,seineAnsprüchevorherundals die erstenund ursprünglichengeltendzu machenbestrebtsei.Man kanndiesenHang,sich selbstnachdensubjektivenBestimmungsgründenseinerWillkürzum objektiven Bestimmungsgrundedes Willens

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überhauptzumachen,dieSelbstliebenennen,welche,wenn sie sich gesetzgebendund zum unbedingtenpraktischenPrinzipmacht,Eigendünkelheißenkann.Nun schließtdas moralischeGesetz,welchesalleinwahrhaftig(nämlichin aller Absicht)objektiv ist, denEinfluß der Selbstliebeauf das oberstepraktischePrinzip gänzlich aus,und tut dem Eigendünkel,derdie subjektivenBedingungendesersterenalsGesetzevorschreibt,unendlichenAbbruch.Wasnun unseremEigendünkelin unseremeigenenUrteil Abbruch tut,das demütigt.Also demütigt das moralischeGesetzunvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mitdemselbenden sinnlichen Hang seiner Natur ver-gleicht. Dasjenige,dessenVorstellung, als Bestim-mungsgrundunseresWillens, unsin unseremSelbst-bewußtseindemütigt,erweckt,so fern als es positivundBestimmungsgrundist, für sichAchtung. Also istdasmoralischeGesetzauchsubjektiv ein Grund derAchtung.Da nun alles,was in der Selbstliebeange-troffen wird, zur Neigunggehört,alle Neigungaberauf Gefühlen beruht, mithin, was allen Neigungeninsgesamtin der SelbstliebeAbbruch tut, ebenda-durch notwendigauf dasGefühl Einfluß hat, so be-greifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen,daßdasmoralischeGesetz,indemesdie Neigungenund den Hang, sie zur oberstenpraktischenBedin-gungzu machen,d.i. die Selbstliebe,von allem Bei-

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tritte zur oberstenGesetzgebungausschließt,eineWürkung aufs Gefühl ausübenkönne,welcheeiner-seitsbloß negativist, andererseitsund zwar in Anse-hungdeseinschränkendenGrundesder reinenprakti-schenVernunftpositiv ist, undwozugarkeinebeson-dereArt von Gefühle,unterdemNameneinesprakti-schen,odermoralischen,alsvor demmoralischenGe-setzevorhergehendundihm zumGrundeliegend,an-genommenwerdendarf.

Die negativeWirkung auf Gefühl (derUnannehm-lichkeit) ist, so wie aller Einfluß auf dasselbe,undwie jedesGefühl überhaupt,pathologisch. Als Wir-kungabervomBewußtseindesmoralischenGesetzes,folglich in Beziehungauf eine intelligibele Ursache,nämlichdasSubjektder reinenpraktischenVernunft,als oberstenGesetzgeberin,heißtdiesesGefühleinesvernünftigenvonNeigungenaffiziertenSubjektszwarDemütigung(intellektuelleVerachtung),aber in Be-ziehungauf den positivenGrund derselben,dasGe-setz,zugleichAchtungfür dasselbe,für welchesGe-setz gar kein Gefühl stattfindet,sondernim Urteileder Vernunft, indem es den Widerstandaus demWege schafft, die Wegräumungeines Hindernisseseiner positivenBeförderungder Kausalitätgleichge-schätztwird. DarumkanndiesesGefühlnunaucheinGefühl der Achtungfürs moralischeGesetz,ausbei-denGründenzusammenaberein moralischesGefühl

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Kant-W Bd. 7 195Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

genanntwerden.DasmoralischeGesetzalso,sowie esformalerBe-

stimmungsgrundder Handlungist, durch praktischereineVernunft, so wie eszwar auchmaterialer,abernur objektiver Bestimmungsgrundder Gegenständeder Handlung, unter dem Namen des Guten undBösen,ist, so ist es auchsubjektiverBestimmungs-grund,d.i. Triebfeder,zu dieserHandlung,indemesauf die Sittlichkeit desSubjektsEinfluß hat, und einGefühl bewirkt, welchesdemEinflussedesGesetzesauf denWillen beförderlichist. Hier gehtkein Gefühlim Subjektvorher, dasauf Moralität gestimmtwäre.Denn das ist unmöglich, weil alles Gefühl sinnlichist; die Triebfederder sittlichenGesinnungabermußvon aller sinnlichenBedingungfrei sein.Vielmehristdas sinnliche Gefühl, was allen unserenNeigungenzum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigenEmpfindung,die wir Achtungnennen,aberdie Ursa-che der Bestimmungdesselbenliegt in der reinenpraktischenVernunft, und diese Empfindung kanndaher, ihres Ursprungeswegen,nicht pathologisch,sondernmuß praktisch-gewirktheißen; indem da-durch,daßdie VorstellungdesmoralischenGesetzesder Selbstliebeden Einfluß, und dem EigendünkeldenWahnbenimmt,dasHindernisder reinenprakti-schenVernunft vermindert,und die VorstellungdesVorzugesihres objektivenGesetzesvor den Antrie-

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benderSinnlichkeit,mithin dasGewichtdesersterenrelativ (in Ansehungeinesdurchdie letztereaffizier-ten Willens) durch die WegschaffungdesGegenge-wichts,im Urteile derVernunft,hervorgebrachtwird.Und so ist die Achtung fürs Gesetznicht Triebfederzur Sittlichkeit, sondernsie ist die Sittlichkeit selbst,subjektiv als Triebfederbetrachtet,indem die reinepraktischeVernunft dadurch,daßsie der Selbstliebe,im Gegensatzemit ihr, alleAnsprücheabschlägt,demGesetze,das jetzt allein Einfluß hat, Ansehenver-schafft.Hiebei ist nun zu bemerken:daß,so wie dieAchtung eine Wirkung aufs Gefühl, mithin auf dieSinnlichkeit einesvernünftigenWesensist, es dieseSinnlichkeit, mithin auch die Endlichkeit solcherWesen,denendasmoralischeGesetzAchtungaufer-legt, voraussetze,unddaßeinemhöchsten,oderaucheinemvon aller Sinnlichkeit freien Wesen,welchemdiesealso auchkein Hindernisder praktischenVer-nunft seinkann,Achtungfürs Gesetznicht beigelegtwerdenkönne.

DiesesGefühl (unterdemNamendesmoralischen)ist also lediglich durch Vernunft bewirkt. Es dientnicht zu Beurteilungder Handlungen,oderwohl garzur Gründungdes objektiven Sittengesetzesselbst,sondernbloß zur Triebfeder,um diesesin sich zurMaximezumachen.Mit welchemNamenaberkönnteman diesessonderbareGefühl, welchesmit keinem

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pathologischenin Vergleichung gezogen werdenkann,schicklicherbelegen?Es ist so eigentümlicherArt, daßeslediglich derVernunft,undzwarderprak-tischenreinenVernunft,zuGebotezustehenscheint.

Achtunggeht jederzeitnur auf Personen,niemalsauf Sachen.Die letzterekönnenNeigung, und,wennesTiere sind (z.B. Pferde,Hundeetc.),so gar Liebe,oder auch Furcht, wie das Meer, ein Vulkan, einRaubtier, niemals aber Achtung in uns erwecken.Etwas,was diesemGefühl schonnähertritt, ist Be-wunderung, und diese, als Affekt, das Erstaunen,kannauchaufSachengehen,z.B.himmelhoheBerge,die Größe, Menge und Weite der Weltkörper, dieStärke und GeschwindigkeitmancherTiere, u.s.w.Aber allesdiesesist nicht Achtung.Ein Menschkannmir auchein Gegenstandder Liebe,der Furcht,oderderBewunderung,sogarbiszumErstaunenunddochdarum kein Gegenstandder Achtung sein. SeinescherzhafteLaune,seinMut undStärke,seineMacht,durchseinenRang,dener unteranderenhat,könnenmir dergleichenEmpfindungeneinflößen, es fehltaberimmernochaninnererAchtunggegenihn. Fon-tenellesagt:vor einemVornehmenbückeich mich,abermeinGeistbücktsichnicht. Ich kannhinzuset-zen:vor einemniedrigen,bürgerlich-gemeinenMann,an demich eineRechtschaffenheitdesCharaktersineinem gewissenMaße, als ich mir von mir selbst

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nicht bewußtbin, wahrnehme,bücktsichmeinGeist,ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch sohochtragen,um ihn meinenVorrangnicht übersehenzu lassen.

Warumdas?SeinBeispielhält mir ein Gesetzvor,dasmeinenEigendünkelniederschlägt,wenn ich esmit meinemVerhaltenvergleiche,und dessenBefol-gung,mithin die Tunlichkeitdesselben,ich durchdieTat bewiesenvor mir sehe.Nun mag ich mir sogareinesgleichenGradesder Rechtschaffenheitbewußtsein, und die Achtung bleibt doch. Denn, da beimMenschenimmerallesGutemangelhaftist, soschlägtdasGesetz,durch ein Beispiel anschaulichgemacht,dochimmermeinenStolznieder,wozuderMann,denich vor mir sehe,dessenUnlauterkeit,die ihm immernochanhängenmag,mir nicht so,wie mir die meini-ge, bekanntist, der mir also in reineremLichte er-scheint,einen Maßstababgibt. Achtung ist ein Tri-but, denwir demVerdienstenichtverweigernkönnen,wir mögenwollen oder nicht; wir mögenallenfallsäußerlichdamit zurückhalten,so können wir dochnicht verhüten,sieinnerlichzuempfinden.

Die Achtungist sowenigein GefühlderLust, daßmansichihr in AnsehungeinesMenschennur ungernüberläßt.Man suchtetwasausfindigzu machen,wasunsdieLastderselbenerleichternkönne,irgendeinenTadel,um unswegenderDemütigung,die unsdurch

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ein solchesBeispiel widerfährt, schadloszu halten.SelbstVerstorbenesind, vornehmlichwenn ihr Bei-spiel unnachahmlichscheint,vor dieserKritik nichtimmergesichert.SogardasmoralischeGesetzselbst,in seinerfeierlichenMajestät, ist diesemBestreben,sich der Achtung dagegenzu erwehren,ausgesetzt.Meint manwohl, daßeseineranderenUrsachezuzu-schreibensei,weswegenmanesgernzu unsererver-traulichenNeigungherabwürdigenmöchte,und sichausanderenUrsachenallessobemühe,um eszur be-liebtenVorschrift unsereseigenenwohlverstandenenVorteils zu machen,alsdaßmander abschreckendenAchtung, die uns unsere eigene Unwürdigkeit sostrenge vorhält, loswerden möge? Gleichwohl istdarin doch auch wiederum so wenig Unlust: daß,wenn man einmal den Eigendünkelabgelegt,undjenerAchtungpraktischenEinfluß verstattethat,mansich wiederum an der Herrlichkeit diesesGesetzesnicht sattsehenkann,unddieSeelesichin demMaßeselbstzu erhebenglaubt, als sie das heilige Gesetzübersich und ihre gebrechlicheNatur erhabensieht.Zwar könnengroßeTalenteundeineihnenproportio-nierteTätigkeitauchAchtung,oderein mit derselbenanalogischesGefühl, bewirken,es ist auchganzan-ständig,esihnenzu widmen,unddascheintes,alsobBewunderungmit jenerEmpfindungeinerleisei.Al-lein, wennmannäherzusieht,sowird manbemerken,

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daß,da es immer ungewißbleibt, wie viel dasange-borneTalentundwie viel Kultur durcheigenenFleißan der GeschicklichkeitTeil habe,so stellt uns dieVernunft die letzteremutmaßlichals Fruchtder Kul-tur, mithin alsVerdienstvor, welchesunserenEigen-dünkelmerklichherabstimmt,undunsdarüberentwe-der Vorwürfe macht,oder uns die Befolgung einessolchenBeispiels,in der Art, wie esunsangemessenist, auferlegt.Sie ist also nicht bloßeBewunderung,dieseAchtung,die wir einersolchenPerson(eigent-lich demGesetze,wasunsseinBeispielvorhält) be-weisen;welchessich auchdadurchbestätigt,daßdergemeineHaufederLiebhaber,wenner dasSchlechtedesCharakterseinessolchenMannes(wie etwaVol-taire) sonst woher erkundigt zu habenglaubt, alleAchtung gegenihn aufgibt, der wahreGelehrteabersie nochimmerwenigstensim GesichtspunkteseinerTalentefühlt, weil er selbstin einemGeschäfteundBerufeverwickelt ist, welchesdie Nachahmungdes-selbenihm gewissermaßenzumGesetzemacht.

Achtungfürs moralischeGesetzist alsodie einzigeundzugleichunbezweifeltemoralischeTriebfeder,sowie diesesGefühlauchauf kein Objektanders,alsle-diglich aus diesemGrundegerichtet ist. Zuerst be-stimmtdasmoralischeGesetzobjektiv und unmittel-bar den Willen im Urteile der Vernunft; Freiheit,derenKausalitätbloß durchsGesetzbestimmbarist,

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bestehtaberebendarin,daßsie alle Neigungen,mit-hin die Schätzungder Personselbstauf die Bedin-gung der Befolgung ihres reinen Gesetzesein-schränkt.DieseEinschränkungtut nun eineWirkungaufsGefühl, und bringt Empfindungder Unlust her-vor, die ausdemmoralischenGesetzeapriori erkanntwerdenkann.Da sie aberbloß so fern einenegativeWirkung ist, die, als ausdemEinflusseeiner reinenpraktischenVernunft entsprungen,vornehmlich derTätigkeitdesSubjekts,sofernNeigungendieBestim-mungsgründedesselbensind,mithin derMeinungsei-nes persönlichenWerts Abbruch tut (der ohne Ein-stimmungmit dem moralischenGesetzeauf nichtsherabgesetztwird), so ist die Wirkung diesesGeset-zesaufs Gefühl bloß Demütigung,welcheswir alsozwara priori einsehen,aberanihr nicht die Kraft desreinen praktischenGesetzesals Triebfeder,sondernnur denWiderstandgegenTriebfedernder Sinnlich-keit erkennenkönnen. Weil aber dasselbeGesetzdochobjektiv, d.i. in der Vorstellungder reinenVer-nunft, ein unmittelbarerBestimmungsgrunddesWil-lensist, folglich dieseDemütigungnur relativ auf dieReinigkeit desGesetzesstattfindet,so ist die Herab-setzungder Ansprücheder moralischenSelbstschät-zung, d.i. die Demütigungauf der sinnlichenSeite,eine Erhebungder moralischen,d.i. der praktischenSchätzungdesGesetzesselbst,auf derintellektuellen,

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mit einemWorteAchtungfürs Gesetz,alsoauchein,seinerintellektuellenUrsachenach,positivesGefühl,dasa priori erkanntwird. DenneinejedeVerminde-rung der HindernisseeinerTätigkeit ist BeförderungdieserTätigkeit selbst.Die Anerkennungdesmorali-schenGesetzesaberist dasBewußtseineiner Tätig-keit der praktischenVernunft aus objektiven Grün-den,die bloß darumnicht ihre Wirkung in Handlun-genäußert,weil subjektiveUrsachen(pathologische)sie hindern.Also muß die Achtung fürs moralischeGesetzauchals positiveaberindirekteWirkung des-selbenaufsGefühl,sofern jenesdenhinderndenEin-fluß derNeigungendurchDemütigungdesEigendün-kels schwächt,mithin als subjektiverGrund der Tä-tigkeit, d.i. als Triebfederzu Befolgung desselben,und als Grund zu Maximen einesihm gemäßenLe-benswandelsangesehenwerden.Aus dem Begriffeeiner Triebfederentspringtder einesInteresse; wel-chesniemalseinemWesen,alswasVernunfthat,bei-gelegtwird, und eineTriebfederdesWillens bedeu-tet, so fern sie durch Vernunft vorgestelltwird. Dadas Gesetzselbst in einem moralisch-gutenWillendie Triebfedersein muß,so ist dasmoralischeInte-resse ein reines sinnenfreiesInteresseder bloßenpraktischenVernunft. Auf dem Begriffe einesInte-ressegründetsich auchder einer Maxime. Dieseistalso nur alsdennmoralischecht, wenn sie auf dem

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bloßenInteresse,dasmanan der BefolgungdesGe-setzesnimmt, beruht. Alle drei Begriffe aber, dereiner Triebfeder, einesInteresseund einer Maxime,könnennur auf endlicheWesenangewandtwerden.DennsiesetzeninsgesamteineEingeschränktheitderNatur eines Wesensvoraus, da die subjektive Be-schaffenheitseinerWillkür mit demobjektivenGeset-ze einer praktischenVernunft nicht von selbstüber-einstimmt;ein Bedürfnis,irgend wodurchzur Tätig-keit angetriebenzuwerden,weil ein inneresHindernisderselbenentgegensteht.Auf den göttlichen Willenkönnensiealsonichtangewandtwerden.

Es liegt so etwasBesonderesin der grenzenlosenHochschätzungdesreinen,von allemVorteil entblöß-ten, moralischenGesetzes,so wie espraktischeVer-nunft unszur Befolgungvorstellt,derenStimmeauchden kühnstenFrevler zittern macht,und ihn nötigt,sichvor seinemAnblicke zu verbergen:daßmansichnichtwunderndarf,diesenEinflußeinerbloßintellek-tuellenIdeeaufsGefühl für spekulativeVernunftun-ergründlichzu finden, und sich damit begnügenzumüssen,daßmana priori dochnochsoviel einsehenkann: ein solchesGefühl sei unzertrennlichmit derVorstellungdesmoralischenGesetzesin jedemendli-chenvernünftigenWesenverbunden.WärediesesGe-fühl der Achtung pathologischund alsoein auf deminnerenSinnegegründetesGefühlderLust, sowürde

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esvergeblichsein,eineVerbindungderselbenmit ir-gendeinerIdeeapriori zuentdecken.Nunaberist einGefühl, wasbloß aufsPraktischegeht,und zwar derVorstellung eines Gesetzeslediglich seiner Formnach,nicht irgendeinesObjektsdesselbenwegen,an-hängt, mithin weder zum Vergnügen, noch zumSchmerzegerechnetwerdenkann, und dennocheinInteressean der Befolgung desselbenhervorbringt,welcheswir dasmoralischenennen;wie dennauchdie Fähigkeit, ein solchesInteresseam Gesetzezunehmen(oder die Achtung fürs moralischeGesetzselbst)eigentlichdasmoralischeGefühlist.

Das Bewußtseineiner freien Unterwerfung desWillens unterdasGesetz,dochals mit einemunver-meidlichenZwange,der allen Neigungen,aber nurdurch eigeneVernunft angetanwird, verbunden,istnun die Achtung fürs Gesetz.DasGesetz,wasdieseAchtungfodert und aucheinflößt, ist, wie mansieht,kein anderes,als dasmoralische(dennkein anderesschließtalle Neigungenvon derUnmittelbarkeitihresEinflussesauf den Willen aus). Die Handlung,dienach diesemGesetze,mit Ausschließungaller Be-stimmungsgründeausNeigung,objektiv praktischist,heißt Pflicht, welche,um dieserAusschließungwil-len, in ihrem Begriffe praktischeNötigung, d.i. Be-stimmungzu Handlungen,so ungerne, wie sie auchgeschehenmögen,enthält.DasGefühl, dasausdem

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BewußtseindieserNötigung entspringt,ist nicht pa-thologisch,alseinsolches,wasvoneinemGegenstan-dederSinnegewirkt würde,sondernallein praktisch,d.i. durcheinevorhergehende(objektive)Willensbe-stimmungund Kausalitätder Vernunft, möglich. Esenthältalso,als Unterwerfungunter ein Gesetz,d.i.als Gebot(welchesfür dassinnlich-affizierteSubjektZwangankündigt),keineLust, sondern,so fern, viel-mehrUnlust an der Handlungin sich.Dagegenaber,da dieserZwangbloß durchGesetzgebungder eige-nen Vernunft ausgeübtwird, enthält es auch Erhe-bung, und die subjektive Wirkung aufs Gefühl, soferndavonreinepraktischeVernunftdie alleinigeUr-sacheist, kannalsobloßSelbstbilligungin Ansehungder letzterenheißen,indemmansichdazu,ohneallesInteresse,bloß durchsGesetzbestimmterkennt,undsichnunmehroeinesganzanderen,dadurchsubjektivhervorgebrachten,Interesse,welches rein praktischund frei ist, bewußtwird, welchesaneinerpflichtmä-ßigenHandlungzu nehmennicht etwaeineNeigunganrätig ist, sonderndie Vernunft durchs praktischeGesetzschlechthingebietetundauchwirklich hervor-bringt,darumabereinenganzeigentümlichenNamen,nämlichdenderAchtung,führt.

DerBegriff derPflicht fodertalsoanderHandlung,objektiv, Übereinstimmungmit demGesetze,an derMaxime derselbenaber,subjektiv,Achtung fürs Ge-

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setz, als die alleinige Bestimmungsartdes Willensdurch dasselbe.Und darauf beruht der Unterschiedzwischen dem Bewußtsein,pflichtmäßig und ausPflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz,gehandeltzuhaben,davondaserstere(die Legalität)auchmöglichist, wenn Neigungenbloß die BestimmungsgründedesWillens gewesenwären,daszweiteaber(die Mo-ralität), der moralischeWert, lediglich darin gesetztwerdenmuß,daßdie HandlungausPflicht, d.i. bloßumdesGesetzeswillen geschehe.10

Es ist von der größtenWichtigkeit in allenmorali-schenBeurteilungen,auf dassubjektivePrinzip allerMaximen mit der äußerstenGenauigkeit Acht zuhaben,damit alle Moralität der Handlungenin derNotwendigkeitderselbenausPflicht undausAchtungfürs Gesetz,nicht ausLiebe und Zuneigungzu dem,was die Handlungenhervorbringensollen, gesetztwerde.FürMenschenundalleerschaffenevernünftigeWesenist die moralischeNotwendigkeit Nötigung,d.i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründeteHandlung als Pflicht, nicht aber als eine uns vonselbstschonbeliebte,oder beliebt werdenkönnendeVerfahrungsartvorzustellen.Gleich als ob wir esdahinjemalsbringenkönnten,daßohneAchtungfürsGesetz,welchemit FurchtoderwenigstensBesorgnisvor Übertretungverbundenist, wir, wie die überalleAbhängigkeit erhabeneGottheit, von selbst,gleich-

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samdurcheineunszur Naturgewordene,niemalszuverrückendeÜbereinstimmungdesWillens mit demreinen Sittengesetze(welchesalso, da wir niemalsversuchtwerdenkönnen,ihm untreuzu werden,wohlendlichgar aufhörenkönnte,für unsGebotzu sein),jemals in den Besitz einer Heiligkeit des Willenskommenkönnten.

DasmoralischeGesetzist nämlich für denWilleneines allervollkommenstenWesensein GesetzderHeiligkeit, für denWillen jedesendlichenvernünfti-gen Wesensaberein Gesetzder Pflicht, der morali-schenNötigungundderBestimmungderHandlungendesselbendurchAchtungfür diesGesetzundausEhr-furcht für seinePflicht. Ein anderessubjektivesPrin-zip muß zur Triebfedernicht angenommenwerden,dennsonstkannzwar die Handlung,wie dasGesetzsievorschreibt,ausfallen,aber,dasiezwarpflichtmä-ßig ist, abernicht ausPflicht geschieht,so ist die Ge-sinnungdazunicht moralisch,auf die esdochin die-serGesetzgebungeigentlichankömmt.

Es ist sehrschön,ausLiebezu Menschenund teil-nehmendemWohlwollenihnenGuteszu tun,oderausLiebe zur Ordnunggerechtzu sein,aberdasist nochnicht dieechtemoralischeMaximeunsersVerhaltens,die unsermStandpunkte,unter vernünftigenWesen,als Menschen, angemessenist, wenn wir uns anma-ßen,gleichsamals Volontäre,unsmit stolzerEinbil-

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dung über den Gedankenvon Pflicht wegzusetzen,und uns,als vom Geboteunabhängig,bloß auseige-ner Lust dastun zu wollen, wozu für unskein Gebotnötig wäre.Wir stehenuntereinerDisziplin derVer-nunft, undmüssenin allenunserenMaximenderUn-terwürfigkeit unter derselbennicht vergessen,ihrnichtszu entziehen,oderdemAnsehendesGesetzes(ob es gleich unsereeigeneVernunft gibt) durch ei-genliebigenWahn dadurchetwasabkürzen,daßwirdenBestimmungsgrundunseresWillens,wenngleichdemGesetzegemäß,dochworin anders,alsim Geset-ze selbst,und in der Achtungfür diesesGesetzsetz-ten. Pflicht und Schuldigkeitsind die Benennungen,die wir allein unseremVerhältnissezummoralischenGesetzegebenmüssen.Wir sindzwargesetzgebendeGliedereinesdurchFreiheitmöglichen,durchprakti-scheVernunft uns zur Achtung vorgestelltenReichsder Sitten,aberdoch zugleichUntertanen,nicht dasOberhauptdesselben,und die VerkennungunsererniederenStufe,alsGeschöpfe,undWeigerungdesEi-gendünkelsgegendasAnsehendesheiligenGesetzes,ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben,demGeistenach,wenngleichderBuchstabedesselbener-füllt würde.

Hiemit stimmt aberdie Möglichkeit einessolchenGebots,als: LiebeGott über alles und deinenNäch-stenals dich selbst,11 ganzwohl zusammen.Dennes

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fodert doch, als Gebot,Achtung für ein Gesetz,dasLiebe befiehlt, und überläßtes nicht der beliebigenWahl, sichdiesezumPrinzipzu machen.Aber Liebezu Gott alsNeigung(pathologischeLiebe)ist unmög-lich; denner ist kein GegenstandderSinne.Ebendie-selbegegenMenschenist zwar möglich, kann abernicht gebotenwerden;dennes steht in keinesMen-schenVermögen,jemandenbloßaufBefehlzu lieben.Also ist es bloß die praktischeLiebe, die in jenemKern aller Gesetzeverstandenwird. Gott lieben,heißtin dieser Bedeutung,seine Gebotegerne tun; denNächstenlieben, heißt, alle Pflicht gegenihn gerneausüben.DasGebotaber,dasdieseszur Regelmacht,kann auch nicht dieseGesinnungin pflichtmäßigenHandlungenzu haben, sondernbloß darnachzu stre-bengebieten.Dennein Gebot,daßmanetwasgernetun soll, ist in sich widersprechend,weil, wenn wir,was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen,wennwir unsüberdemauchbewußtwären,esgernezu tun, ein Gebotdarüberganzunnötig,und, tun wireszwar,aberebennicht gerne,sondernnur ausAch-tung fürs Gesetz,ein Gebot,welchesdieseAchtungebenzurTriebfederderMaximemacht,geradederge-botenenGesinnungzuwiderwirken würde.JenesGe-setzaller Gesetzestellt also,wie alle moralischeVor-schrift desEvangelii,die sittliche Gesinnungin ihrerganzenVollkommenheitdar, so wie sie als ein Ideal

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derHeiligkeit von keinemGeschöpfeerreichbar,den-noch das Urbild ist, welchemwir uns zu näheren,und, in einem ununterbrochenen,aber unendlichenProgressus,gleich zu werdenstrebensollen.Könntenämlich ein vernünftig Geschöpfjemalsdahin kom-men,alle moralischeGesetzevöllig gernezu tun, sowürdedasso viel bedeuten,als,esfändesich in ihmauchnicht einmaldie Möglichkeit einerBegierde,dieihn zur Abweichungvon ihnenreizte;denndie Über-windung einer solchen kostet dem Subjekt immerAufopferung,bedarfalsoSelbstzwang,d.i. innereNö-tigungzudem,wasmannichtganzgerntut. Zu dieserStufe der moralischenGesinnungaber kann es einGeschöpfniemalsbringen.Denndaesein Geschöpf,mithin in Ansehungdessen,waserzurgänzlichenZu-friedenheitmit seinemZustandefodert,immerabhän-gig ist, so kann es niemalsvon Begierdenund Nei-gungenganzfrei sein,die,weil sieaufphysischenUr-sachenberuhen,mit dem moralischenGesetze,dasganz andereQuellen hat, nicht von selbststimmen,mithin es jederzeitnotwendigmachen,in Rücksichtauf dieselbe,die GesinnungseinerMaximenauf mo-ralische Nötigung, nicht auf bereitwillige Ergeben-heit, sondernauf Achtung,welchedie BefolgungdesGesetzes,obgleichsieungernegeschähe,fodert, nichtauf Liebe, die keine innere Weigerungdes Willensgegendas Gesetzbesorgt,zu gründen,gleichwohl

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aberdieseletztere,nämlichdie bloßeLiebe zumGe-setze(da esalsdennaufhörenwürde,Gebotzu sein,und Moralität, die nun subjektiv in Heiligkeit über-ginge,aufhörenwürde,Tugendzu sein)sichzumbe-ständigen,obgleich unerreichbarenZiele seinerBe-strebungzu machen.Denn an dem, was wir hoch-schätzen,aberdoch(wegendesBewußtseinsunsererSchwächen)scheuen,verwandeltsich,durchdiemeh-rere Leichtigkeit, ihm Gnügezu tun, die ehrfurchts-volle Scheuin Zuneigung,undAchtungin Liebe,we-nigstenswürdeesdie VollendungeinerdemGesetzegewidmetenGesinnungsein, wenn es jemalseinemGeschöpfemöglichwäre,siezuerreichen.

DieseBetrachtungist hier nicht so wohl dahinab-gezweckt, das angeführteevangelischeGebot aufdeutliche Begriffe zu bringen, um der Religions-schwärmereiin Ansehungder Liebe Gottes,sonderndie sittliche Gesinnung,auch unmittelbar in Anse-hungderPflichtengegenMenschen,genauzubestim-men,und einerbloß moralischenSchwärmerei,wel-cheviel Köpfeansteckt,zusteuren,oder,wo möglich,vorzubeugen.Die sittliche Stufe,worauf der Mensch(aller unsererEinsicht nach auch jedesvernünftigeGeschöpf)steht,ist Achtungfürs moralischeGesetz.Die Gesinnung,die ihm, dieseszu befolgen,obliegt,ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigungund auchallenfallsunbefohlenervon selbstgernun-

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ternommenerBestrebungzu befolgen,undseinmora-lischer Zustand,darin er jedesmalsein kann, ist Tu-gend, d.i. moralischeGesinnung im Kampfe, undnicht Heiligkeit im vermeintenBesitzeeinervölligenReinigkeitderGesinnungendesWillens. Es ist lautermoralischeSchwärmereiund Steigerungdes Eigen-dünkels,wozumandieGemüterdurchAufmunterungzu Handlungen,alsedler,erhabenerundgroßmütiger,stimmt, dadurchman sie in den Wahn versetzt,alswäreesnicht Pflicht, d.i. AchtungfürsGesetz,dessenJoch(dasgleichwohl,weil esunsVernunftselbstauf-erlegt,sanftist) sie,wenngleichungern,tragenmüß-ten, was den Bestimmungsgrundihrer Handlungenausmachte,und welchessie immer noch demütigt,indem sie es befolgen(ihm gehorchen), sondernalsob jene Handlungennicht aus Pflicht, sondernalsbarerVerdienstvon ihnenerwartetwürde.Dennnichtallein, daß sie durch Nachahmungsolcher Taten,nämlichaussolchemPrinzip,nicht im mindestendemGeistedesGesetzesein Genügegetanhätten,welcherin der demGesetzesich unterwerfendenGesinnung,nicht in derGesetzmäßigkeitderHandlung(dasPrin-zip mögesein,welchesauchwolle), besteht,und dieTriebfederpathologisch(in derSympathieoderauchPhilautie), nicht moralisch (im Gesetze)setzen,sobringensieauf dieseArt einewindige,überfliegende,phantastischeDenkungsarthervor,sichmit einerfrei-

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willigen GutartigkeitihresGemüts,daswederSpornsnochZügel bedürfe,für welchesgarnicht einmaleinGebot nötig sei, zu schmeicheln,und darüberihrerSchuldigkeit,anwelchesiedocheherdenkensollten,als an Verdienst,zu vergessen.Es lassensich wohlHandlungenanderer,diemit großerAufopferung,undzwar bloß um der Pflicht willen, geschehensind,unterdemNamenedlerunderhabenerTatenpreisen,unddochauchnursofernSpurendasind,welchever-muten lassen,daß sie ganz aus Achtung für seinePflicht, nicht aus Herzensaufwallungengeschehensind. Will man jemandenaber sie als BeispielederNachfolgevorstellen,so muß durchausdie Achtungfür Pflicht (als daseinzigeechte,moralischeGefühl)zur Triebfedergebrauchtwerden:dieseernste,heiligeVorschrift, die es nicht unserereitelen Selbstliebeüberläßt,mit pathologischenAntrieben (so fern siederMoralität analogischsind)zu tändeln,undunsaufverdienstlichenWert waszu Gutezu tun. Wennwirnur wohl nachsuchen,so werdenwir zu allen Hand-lungen,die anpreisungswürdigsind,schonein Gesetzder Pflicht finden, welchesgebietetund nicht aufunserBeliebenankommenläßt, wasunseremHangegefällig seinmöchte.Dasist die einzigeDarstellungs-art, welchedie Seelemoralischbildet, weil sie alleinfesterundgenaubestimmterGrundsätzefähig ist.

WennSchwärmereiin der allergemeinstenBedeu-

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tung eine nach GrundsätzenunternommeneÜber-schreitungder Grenzender menschlichenVernunftist, so ist moralischeSchwärmereidieseÜberschrei-tung der Grenzen,die die praktischereine Vernunftder Menschheitsetzt,dadurchsie verbietet,densub-jektiven BestimmungsgrundpflichtmäßigerHandlun-gen,d.i. die moralischeTriebfederderselben,irgendworin anders,als im Gesetzeselbst,und die Gesin-nung,die dadurchin die Maximengebrachtwird, ir-gendanderwärts,als in der Achtungfür diesGesetz,zu setzen,mithin denalle ArroganzsowohlalseitelePhilautie niederschlagendenGedankenvon Pflichtzum oberstenLebensprinzipaller Moralität im Men-schenzumachengebietet.

Wenn demalso ist, so habennicht allein Roman-schreiber,oder empfindelndeErzieher(ob sie gleichnochso sehrwider Empfindeleieifern), sondernbis-weilen selbst Philosophen,ja die strengstenunterallen, die Stoiker, moralische Schwärmerei, stattnüchterner,aber weiser Disziplin der Sitten, einge-führt, wenngleichdieSchwärmereiderletzterenmehrheroisch,der ersterenvon schalerund schmelzenderBeschaffenheitwar, und mankann es,ohnezu heu-cheln,der moralischenLehredesEvangeliimit allerWahrheitnachsagen:daßeszuerst,durchdie Reinig-keit desmoralischenPrinzips,zugleichaberdurchdieAngemessenheitdesselbenmit denSchrankenendli-

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Kant-W Bd. 7 209Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

cher Wesen,alles WohlverhaltendesMenschenderZucht einerihnenvor AugengelegtenPflicht, die sienicht untermoralischengeträumtenVollkommenhei-tenschwärmenläßt,unterworfenund demEigendün-kel sowohl als der Eigenliebe,die beide gerneihreGrenzenverkennen,Schrankender Demut (d.i. derSelbsterkenntnis)gesetzthabe.

Pflicht! du erhabenergroßerName,der du nichtsBeliebtes,wasEinschmeichelungbei sichführt, in dirfassest,sondernUnterwerfungverlangst,doch auchnichtsdrohest,wasnatürlicheAbneigungim Gemüteerregteund schreckte,um den Willen zu bewegen,sondernbloßein Gesetzaufstellst,welchesvon selbstim GemüteEingangfindet,unddochsichselbstwiderWillen Verehrung(wenn gleich nicht immer Befol-gung) erwirbt, vor demalle Neigungenverstummen,wennsiegleichin Geheimihm entgegenwirken,wel-chesist der deinerwürdigeUrsprung,und wo findetman die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alleVerwandtschaftmit Neigungenstolz ausschlägt,undvon welcherWurzelabzustammendieunnachlaßlicheBedingungdesjenigenWerts ist, densich Menschenalleinselbstgebenkönnen?

Es kann nichts Minderessein, als was den Men-schenübersichselbst(alseinenTeil derSinnenwelt)erhebt,was ihn an eine Ordnungder Dinge knüpft,die nur der Verstanddenkenkann,und die zugleich

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Kant-W Bd. 7 209Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

die ganzeSinnenwelt,mit ihr dasempirisch-bestimm-bareDaseindesMenschenin derZeit unddasGanzealler Zwecke (welches allein solchen unbedingtenpraktischenGesetzen,alsdasmoralische,angemessenist) untersichhat.Esist nichtsandersalsdie Persön-lichkeit, d.i. dieFreiheitundUnabhängigkeitvondemMechanismder ganzenNatur, doch zugleichals einVermögeneinesWesensbetrachtet,welcheseigen-tümlichen,nämlichvonseinereigenenVernunftgege-benenreinenpraktischenGesetzen,die Personalso,als zur Sinnenweltgehörig,ihrer eigenenPersönlich-keit unterworfenist, so fern siezugleichzur intelligi-belenWelt gehört;da es dennnicht zu verwundernist, wennder Mensch,als zu beidenWeltengehörig,sein eigenesWesen,in Beziehungauf seinezweiteundhöchsteBestimmung,nichtanders,alsmit Vereh-rungunddieGesetzederselbenmit derhöchstenAch-tungbetrachtenmuß.

Auf diesen Ursprung gründen sich nun mancheAusdrücke,welcheden Wert der GegenständenachmoralischenIdeenbezeichnen.DasmoralischeGesetzist heilig (unverletzlich).Der Menschist zwarunhei-lig genug,aberdie Menschheitin seinerPersonmußihm heilig sein.In der ganzenSchöpfungkannalles,wasmanwill, und worübermanetwasvermag,auchbloß als Mittel gebrauchtwerden;nur der Mensch,undmit ihm jedesvernünftigeGeschöpf,ist Zweckan

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Kant-W Bd. 7 210Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des morali-schenGesetzes,welchesheilig ist, vermögederAuto-nomieseinerFreiheit.Ebenum dieserwillen ist jederWille, selbstjeder Personihr eigener,auf sie selbstgerichteterWille, aufdieBedingungderEinstimmungmit der Autonomiedes vernünftigenWesenseinge-schränkt,es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen,die nicht nacheinemGesetze,welchesausdemWil-len desleidendenSubjektsselbstentspringenkönnte,möglich ist; alsodiesesniemalsbloß als Mittel, son-dernzugleichselbstals Zweck zu gebrauchen.DieseBedingunglegenwir mit RechtsogardemgöttlichenWillen, in Ansehungder vernünftigenWesenin derWelt, als seiner Geschöpfe,bei, indem sie auf derPersönlichkeitderselbenberuht, dadurchallein sieZweckeansichselbstsind.

DieseAchtungerweckendeIdeederPersönlichkeit,welcheunsdie ErhabenheitunsererNatur (ihrer Be-stimmungnach)vor Augen stellt, indemsie uns zu-gleich denMangelder AngemessenheitunseresVer-haltensin Ansehungderselbenbemerkenläßt,undda-durch den Eigendünkelniederschlägt,ist selbstdergemeinstenMenschenvernunftnatürlichundleichtbe-merklich.Hat nicht jederauchnur mittelmäßigehrli-cherMann bisweilengefunden,daßer einesonstun-schädlicheLüge,dadurcher sich entwederselbstauseinemverdrießlichenHandel ziehen,oder wohl gar

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Kant-W Bd. 7 211Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

einemgeliebtenund verdienstvollenFreundeNutzenschaffenkonnte,bloßdarumunterließ,umsichin Ge-heimin seineneigenenAugennicht verachtenzudür-fen?Hält nicht einenrechtschaffenenMann im größ-ten UnglückedesLebens,daser vermeidenkonnte,wennersichnurhätteüberdiePflicht wegsetzenkön-nen, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er dieMenschheitin seinerPersondochin ihrer Würdeer-halten und geehrthabe,daß er sich nicht vor sichselbst zu schämenund den inneren Anblick derSelbstprüfungzuscheuenUrsachehabe?DieserTrostist nicht Glückseligkeit,auchnicht der mindesteTeilderselben.Denn niemandwird sich die Gelegenheitdazu,auchvielleicht nicht einmal ein Lebenin sol-chenUmständenwünschen.Aber er lebt,undkannesnicht erdulden,in seineneigenenAugendesLebensunwürdig zu sein. Diese innereBeruhigungist alsobloß negativ, in Ansehung alles dessen,was dasLebenangenehmmachenmag;nämlichsieist dieAb-haltungderGefahr,im persönlichenWertezu sinken,nachdemder seinesZustandesvon ihm schongänz-lich aufgegebenworden. Sie ist die Wirkung voneinerAchtungfür etwasganzanderes,alsdasLeben,womit in Vergleichung und EntgegensetzungdasLebenvielmehr,mit aller seinerAnnehmlichkeit,garkeinenWert hat. Er lebt nur noch ausPflicht, nichtweil eramLebendenmindestenGeschmackfindet.

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Kant-W Bd. 7 211Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

So ist die echteTriebfederder reinenpraktischenVernunftbeschaffen;sieist keineandere,alsdasreinemoralischeGesetzselber,sofern esunsdie Erhaben-heit unserereigenenübersinnlichenExistenzspürenläßt, und subjektiv, in Menschen,die sich zugleichihressinnlichenDaseinsund der damit verbundenenAbhängigkeitvon ihrer sofernsehrpathologischaffi-ziertenNatur bewußtsind, Achtung für ihre höhereBestimmungwirkt. Nun lassensich mit dieserTrieb-federgar wohl so viele Reizeund AnnehmlichkeitendesLebensverbinden,daßauchum dieserwillen al-lein schondie klügsteWahl einesvernünftigenundüber das größte Wohl des Lebens nachdenkendenEpikureerssichfür dassittlicheWohlverhaltenerklä-ren würde,und eskannauchratsamsein,dieseAus-sichtaufeinenfröhlichenGenußdesLebensmit jeneroberstenundschonfür sichallein hinlänglich-bestim-mendenBewegursachezuverbinden;abernurumdenAnlockungen,die dasLasterauf der Gegenseitevor-zuspiegelnnicht ermangelt,dasGegengewichtzuhal-ten,nicht um hierin die eigentlichebewegendeKraft,auchnichtdemmindestenTeilenach,zusetzen,wennvon Pflicht die Redeist. Denndaswürdesoviel sein,alsdiemoralischeGesinnungin ihrerQuelleverunrei-nigenwollen.Die EhrwürdigkeitderPflicht hatnichtsmit Lebensgenußzu schaffen;sie hat ihr eigentümli-ches Gesetz,auch ihr eigentümlichesGericht, und

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Kant-W Bd. 7 212Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen

wennmanauchbeidenochso sehrzusammenschüt-teln wollte, um sie vermischt,gleichsamalsArzenei-mittel, derkrankenSeelezuzureichen,soscheidensiesichdochalsbaldvon selbst,und, tun sieesnicht, sowirkt daserstegar nicht, wennaberauchdasphysi-scheLeben hiebei einige Kraft gewönne,so würdedochdasmoralischeohneRettungdahinschwinden.

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Kant-W Bd. 7 212Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

KritischeBeleuchtungderAnalytikder reinenpraktischenVernunft

Ich versteheunterderkritischenBeleuchtungeinerWissenschaft,odereinesAbschnittsderselben,derfürsich ein System ausmacht,die UntersuchungundRechtfertigung,warumsiegeradedieseundkeinean-deresystematischeFormhabenmüsse,wennmansiemit einemanderenSystemvergleicht,dasein ähnli-chesErkenntnisvermögenzum Grundehat. Nun hatpraktischeVernunft mit der spekulativenso fern ei-nerlei Erkenntnisvermögenzum Grunde, als beidereine Vernunft sind. Also wird der UnterschieddersystematischenForm der einen, von der anderen,durch Vergleichung beider bestimmt und Grunddavonangegebenwerdenmüssen.

Die Analytik der reinen theoretischenVernunfthattees mit dem Erkenntnisseder Gegenstände,diedemVerstandegegebenwerdenmögen,zu tun, undmußtealso von der Anschauung, mithin (weil diesejederzeitsinnlich ist) von der Sinnlichkeit anfangen,von da aberallererstzu Begriffen (der GegenständedieserAnschauung)fortschreiten,unddurfte,nurnachbeider Voranschickung,mit Grundsätzenendigen.Dagegen,weil praktischeVernunft es nicht mit Ge-genständen,siezu erkennen, sondernmit ihremeige-

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Kant-W Bd. 7 213Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

nenVermögen,jene(derErkenntnisderselbengemäß)wirklich zu machen, d.i. esmit einemWillen zu tunhat,welchereineKausalitätist, so fern Vernunft denBestimmungsgrundderselbenenthält,da sie folglichkein Objekt der Anschauung,sondern(weil der Be-griff der Kausalität jederzeitdie Beziehungauf einGesetzenthält,welchesdie ExistenzdesMannigfalti-genim Verhältnissezu einanderbestimmt),als prak-tischeVernunft,nur ein Gesetzderselbenanzugebenhat: so muß eine Kritik der Analytik derselben,sofern sie eine praktischeVernunft sein soll (welchesdie eigentliche Aufgabe ist), von der Möglichkeitpraktischer Grundsätzea priori anfangen.Von dakonntesie allein zu Begriffender GegenständeeinerpraktischenVernunft,nämlichdenendesschlechthin-Gutenund Bösenfortgehen,um sie jenenGrundsät-zen gemäßallererstzu geben(denn diesesind vorjenenPrinzipienals Gutesund Bösesdurchgar keinErkenntnisvermögenzu gebenmöglich),und nur als-dennkonnteallererstdasletzteHauptstück,nämlichdasvon demVerhältnissederreinenpraktischenVer-nunft zur Sinnlichkeitundihremnotwendigen,aprio-ri zu erkennendenEinflusse auf dieselbe,d.i. vommoralischenGefühle, denTeil beschließen.Soteiletedenn die Analytik der praktischenreinen Vernunftganz analogischmit der theoretischenden ganzenUmfangaller Bedingungenihres Gebrauchs,aberin

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Kant-W Bd. 7 214Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

umgekehrterOrdnung.Die Analytik dertheoretischenreinen Vernunft wurde in transzendentaleÄsthetikund transzendentaleLogik eingeteilt,die der prakti-schenumgekehrtin Logik und Ästhetik der reinenpraktischenVernunft (wenn es mir erlaubt ist, diesesonstgar nicht angemesseneBenennungen,bloß derAnalogiewegen,hier zu gebrauchen),die Logik wie-derumdort in die Analytik der Begriffe und die derGrundsätze,hier in die der Grundsätzeund Begriffe.Die Ästhetik hattedort noch zwei Teile, wegenderdoppeltenArt einersinnlichenAnschauung;hier wirddie Sinnlichkeit gar nicht als Anschauungsfähigkeit,sondernbloß als Gefühl (dasein subjektiverGrunddesBegehrensseinkann)betrachtet,undin Ansehungdessenverstattetdie reinepraktischeVernunft keineweitereEinteilung.

Auch, daßdieseEinteilungin zwei Teile mit derenUnterabteilungnicht wirklich (so wie man wohl imAnfangedurchdasBeispielderersterenverleitetwer-denkonnte,zu versuchen)hier vorgenommenwurde,davon läßt sich auchder Grund gar wohl einsehen.Denn weil es reine Vernunft ist, die hier in ihrempraktischenGebrauche,mithin von Grundsätzenapriori und nicht von empirischenBestimmungsgrün-den ausgehend,betrachtetwird: so wird die Eintei-lung der Analytik der r. pr. V. der einesVernunft-schlussesähnlichausfallenmüssen,nämlichvomAll-

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Kant-W Bd. 7 214Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

gemeinenim Obersatze(dem moralischenPrinzip),durcheineim UntersatzevorgenommeneSubsumtionmöglicher Handlungen(als guter oder böser)unterjenen,zu dem Schlußsatze, nämlich der subjektivenWillensbestimmung(einem Interessean dem prak-tisch-möglichenGuten und der darauf gegründetenMaxime)fortgehend.Demjenigen,dersichvondeninder Analytik vorkommendenSätzenhat überzeugenkönnen, werden solche VergleichungenVergnügenmachen;dennsie veranlassenmit Rechtdie Erwar-tung,esvielleicht dereinstbis zur EinsichtderEinheitdesganzenreinenVernunftvermögens(destheoreti-schensowohlals praktischen)bringen,und allesauseinemPrinzipableitenzu können;welchesdasunver-meidliche Bedürfnis der menschlichenVernunft ist,die nur in einer vollständig systematischenEinheitihrerErkenntnissevöllige Zufriedenheitfindet.

Betrachtenwir nun aller auch den Inhalt der Er-kenntnis,die wir von einer reinen praktischenVer-nunft, und durchdieselbe,habenkönnen,so wie ihndie Analytik derselbendarlegt, so finden sich, beieiner merkwürdigenAnalogie zwischenihr und dertheoretischen,nichtwenigermerkwürdigeUnterschie-de.In AnsehungdertheoretischenkönntedasVermö-gen eines reinen Vernunfterkenntnissesa prioridurchBeispieleausWissenschaften(bei denenman,dasieihrePrinzipienaufsomancherleiArt durchme-

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Kant-W Bd. 7 215Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

thodischenGebrauchauf die Probestellen,nicht soleicht, wie im gemeinenErkenntnisse,geheimeBei-mischungempirischerErkenntnisgründezu besorgenhat) ganzleicht und evidentbewiesenwerden.Aberdaß reine Vernunft, ohneBeimischungirgend einesempirischen Bestimmungsgrundes,für sich alleinauchpraktischsei, dasmußtemanausdemgemein-sten praktischenVernunftgebrauchedartun können,indem man den oberstenpraktischenGrundsatz,alseinensolchen,denjedenatürlicheMenschenvernunft,alsvöllig a priori, von keinensinnlichenDatisabhän-gend,für dasobersteGesetzseinesWillens erkennt,beglaubigte.Man mußte ihn zuerst, der ReinigkeitseinesUrsprungsnach,selbst im Urteile dieserge-meinenVernunftbewährenundrechtfertigen,eheihnnochdie Wissenschaftin die Händenehmenkonnte,um Gebrauchvon ihm zu machen,gleichsamals einFaktum,dasvor allem Vernünftelnüber seineMög-lichkeit und allen Folgerungen,die darauszu ziehensein möchten,vorhergeht.Aber dieserUmstandläßtsichauchausdemkurz vorherAngeführtengarwohlerklären; weil praktischereine Vernunft notwendigvon Grundsätzenanfangenmuß, die also aller Wis-senschaft,als ersteData,zum Grundegelegtwerdenmüssen,und nicht allererstausihr entspringenkön-nen.DieseRechtfertigungdermoralischenPrinzipien,als Grundsätzeeiner reinen Vernunft, konnte aber

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Kant-W Bd. 7 216Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

auchdarumgar wohl, und mit gnugsamerSicherheit,durch bloße Berufung auf das Urteil des gemeinenMenschenverstandesgeführetwerden,weil sich allesEmpirische,wassichalsBestimmungsgrunddesWil-lensin unsereMaximeneinschleichenmöchte,durchdasGefühldesVergnügensoderSchmerzens,dasihmsofern,alsesBegierdeerregt,notwendiganhängt,so-fort kenntlichmacht,diesemaber jene reine prakti-scheVernunft geradezuwidersteht, esin ihr Prinzip,als Bedingung,aufzunehmen.Die Ungleichartigkeitder Bestimmungsgründe(der empirischenund ratio-nalen) wird durch dieseWiderstrebungeiner prak-tisch-gesetzgebendenVernunft, wider alle sich ein-mengendeNeigung,durcheineeigentümlicheArt vonEmpfindung, welcheabernicht vor derGesetzgebungder praktischenVernunft vorhergeht,sondernviel-mehr durch dieselbeallein und zwar als ein Zwanggewirkt wird, nämlich durch dasGefühl einer Ach-tung,dergleichenkein Menschfür Neigungenhat,siemögensein, welcherArt sie wollen, wohl aber fürsGesetz,so kenntlich gemachtund so gehobenundhervorstechend,daßkeiner,auchdergemeinsteMen-schenverstand,in einemvorgelegtenBeispielenichtdenAugenblickinnewerdensollte,daßdurchempiri-scheGründedesWollensihm zwarihrenAnreizenzufolgengeraten,niemalsabereinemanderen,alsledig-lich demreinenpraktischenVernunftgesetze,zu ge-

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Kant-W Bd. 7 216Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

horchenzugemutetwerdenkönne.Die Unterscheidungder Glückseligkeitsichrevon

der Sittenlehre, in dererersterenempirischePrinzipi-en dasganzeFundament,von der zweitenaberauchnicht denmindestenBeisatzderselbenausmachen,istnun in der Analytik der reinenpraktischenVernunftdieersteundwichtigsteihr obliegendeBeschäftigung,in der sie so pünktlich, ja, wennesauchhieße,pein-lich, verfahrenmuß, als je der Geometerin seinemGeschäfte.EskommtaberdemPhilosophen,derhier(wie jederzeit im Vernunfterkenntnissedurch bloßeBegriffe, ohneKonstruktionderselben)mit größererSchwierigkeitzukämpfenhat,weil erkeineAnschau-ung (reinemNoumen)zumGrundelegenkann,dochauchzu statten:daßer, beinahewie der Chemist,zualler Zeit ein Experimentmit jedesMenschenprakti-scherVernunft anstellenkann, um den moralischen(reinen)Bestimmungsgrundvom empirischenzu un-terscheiden;wenner nämlichzu demempirisch-affi-zierten Willen (z.B. desjenigen,der gerne lügenmöchte,weil er sichdadurchwaserwerbenkann)dasmoralischeGesetz(als Bestimmungsgrund)zusetzt.Es ist, als ob der Scheidekünstlerder Solution derKalkerde in SalzgeistAlkali zusetzt;der Salzgeistverläßtsofort denKalk, vereinigtsichmit demAlka-li, und jener wird zu Bodengestürzt.Ebenso haltetdem,dersonstein ehrlicherMann ist (odersichdoch

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Kant-W Bd. 7 217Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

diesmalnur in Gedankenin die StelleeinesehrlichenMannesversetzt),dasmoralischeGesetzvor, andemerdieNichtswürdigkeiteinesLügnerserkennt,sofortverläßtseinepraktischeVernunft (im Urteil überdas,wasvon ihm geschehensollte) denVorteil, vereinigtsich mit dem,was ihm die Achtung für seineeigenePersonerhält (der Wahrhaftigkeit),und der Vorteilwird nun von jedermann,nachdemer von allemAn-hängselder Vernunft (welche nur gänzlich auf derSeitederPflicht ist) abgesondertundgewaschenwor-den,gewogen,um mit derVernunftnochwohl in an-derenFällenin Verbindungzu treten,nur nicht,wo erdemmoralischenGesetze,welchesdie Vernunft nie-malsverläßt,sondernsichinnigstdamitvereinigt,zu-widerseinkönnte.

Aber diese Unterscheidungdes Glückseligkeits-prinzips von dem der Sittlichkeit ist darumnicht sofort Entgegensetzungbeider,unddie reinepraktischeVernunft will nicht, man solle die AnsprücheaufGlückseligkeit aufgeben, sondernnur, so bald vonPflicht die Redeist, daraufgar nicht Rücksichtneh-men.Eskannsogarin gewissemBetrachtPflicht sein,für seine Glückseligkeit zu sorgen; teils weil sie(wozu Geschicklichkeit,Gesundheit,Reichtum ge-hört) Mittel zu Erfüllung seinerPflicht enthält, teilsweil der Mangel derselben(z.B. Armut) Versuchun-gen enthält, seine Pflicht zu übertreten.Nur, seine

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Kant-W Bd. 7 217Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

Glückseligkeit zu befördern,kann unmittelbar nie-mals Pflicht, noch weniger ein Prinzip aller Pflichtsein. Da nun alle Bestimmungsgründedes Willens,außerdemeinigenreinenpraktischenVernunftgesetze(demmoralischen),insgesamtempirischsind,alssol-chealsozumGlückseligkeitsprinzipgehören,somüs-sensie insgesamtvom oberstensittlichenGrundsatzeabgesondert,und ihm nie als Bedingungeinverleibtwerden,weil diesesebensosehrallensittlichenWert,alsempirischeBeimischungzugeometrischenGrund-sätzenalle mathematischeEvidenz,dasVortrefflich-ste,was(nachPlatosUrteile) die Mathematikansichhat, und dasselbstallem Nutzenderselbenvorgeht,aufhebenwürde.

Statt der DeduktiondesoberstenPrinzipsder rei-nenpraktischenVernunft,d.i. derErklärungderMög-lichkeit einerdergleichenErkenntnisa priori, konnteaber nichts weiter angeführtwerden,als daß,wennmandie Möglichkeit derFreiheiteinerwirkendenUr-sacheeinsähe,man auch,nicht etwa bloß die Mög-lichkeit, sonderngar die Notwendigkeitdesmorali-schen Gesetzes,als oberstenpraktischenGesetzesvernünftigerWesen,denenmanFreiheitderKausali-tät ihresWillens beilegt,einsehenwürde;weil beideBegriffe so unzertrennlichverbundensind, daßmanpraktischeFreiheit auch durch UnabhängigkeitdesWillens,von jedemanderen,außerallein demmorali-

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Kant-W Bd. 7 218Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

schenGesetze,definierenkönnte.Allein die FreiheiteinerwirkendenUrsache,vornehmlichin derSinnen-welt, kannihrer Möglichkeit nachkeineswegeseinge-sehenwerden;glücklich! wennwir nur, daßkein Be-weisihrer Unmöglichkeitstattfindet,hinreichendver-sichertwerdenkönnen,und nun, durchsmoralischeGesetz,welchesdieselbepostuliert,genötigt,ebenda-durchauchberechtigtwerden,sie anzunehmen.Weiles indessennoch viele gibt, welche diese FreiheitnochimmerglaubennachempirischenPrinzipien,wiejedesandereNaturvermögen,erklärenzukönnen,undsie als psychologischeEigenschaft,derenErklärunglediglichaufeinergenauerenUntersuchungderNaturder Seeleund der Triebfeder des Willens ankäme,nicht als transzendentalesPrädikat der KausalitäteinesWesens,daszurSinnenweltgehört(wie esdochhieraufwirklich allein ankommt),betrachten,und sodie herrlicheEröffnung, die uns durch reine prakti-scheVernunft vermittelst des moralischenGesetzeswiderfährt,nämlichdie EröffnungeinerintelligibelenWelt, durch Realisierungdes sonst transzendentenBegriffs der Freiheit und hiemit dasmoralischeGe-setzselbst,welchesdurchauskeinenempirischenBe-stimmungsgrundannimmt,aufheben:sowird esnötigsein, hier noch etwaszur Verwahrungwider diesesBlendwerk,und der Darstellungdes EmpirismusinderganzenBlößeseinerSeichtigkeitanzuführen.

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Kant-W Bd. 7 219Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

Der Begriff der Kausalität, als Naturnotwendig-keit, zumUnterschiedederselben,alsFreiheit, betrifftnur die ExistenzderDinge,sofern sie in der Zeit be-stimmbarist, folglich als Erscheinungen,im Gegen-satze ihrer Kausalität, als Dinge an sich selbst.Nimmt mannun die Bestimmungender ExistenzderDinge in der Zeit für Bestimmungender Dinge ansich selbst(welchesdie gewöhnlichsteVorstellungs-art ist), so läßt sich die Notwendigkeitin Kausalver-hältnissemit derFreiheitauf keinerleiWeisevereini-gen;sondernsiesindeinanderkontradiktorischentge-gengesetzt.Dennausderersterenfolgt: daßeinejedeBegebenheit,folglich auch jede Handlung, die ineinemZeitpunktevorgeht,unter der Bedingungdes-sen,wasin der vorhergehendenZeit war, notwendigsei.Da nundie vergangeneZeit nicht mehrin meinerGewalt ist, so muß jede Handlung,die ich ausübe,durchbestimmendeGründe,die nicht in meinerGe-walt sein, notwendigsein, d.i. ich bin in dem Zeit-punkte,darin ich handle,niemalsfrei. Ja, wenn ichgleichmeinganzesDaseinalsunabhängigvon irgendeiner fremdenUrsache(etwavon Gott) annähme,sodaßdieBestimmungsgründemeinerKausalität,sogarmeinerganzenExistenz,gar nicht außermir wären:so würde diesesjeneNaturnotwendigkeitdochnichtim mindestenin Freiheitverwandeln.Dennin jedemZeitpunktesteheich doch immer unter der Notwen-

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Kant-W Bd. 7 219Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

digkeit, durch das zum Handeln bestimmtzu sein,wasnicht in meinerGewaltist, unddie a parteprioriunendlicheReiheder Begebenheiten,die ich immernur, nach einer schon vorherbestimmtenOrdnung,fortsetzen,nirgendvon selbstanfangenwürde,wäreeinestetigeNaturkette,meineKausalitätalsoniemalsFreiheit.

Will manalsoeinemWesen,dessenDaseinin derZeit bestimmtist, Freiheitbeilegen:so kannmanes,sofernwenigstens,vomGesetzederNaturnotwendig-keit aller Begebenheitenin seiner Existenz,mithinauchseinerHandlungen,nicht ausnehmen;denndaswäresoviel, alsesdemblindenUngefährübergeben.Da diesesGesetzaberunvermeidlichalle Kausalitätder Dinge,so fern ihr Daseinin der Zeit bestimmbarist, betrifft, sowürde,wenndiesesdie Art wäre,wor-nachmansichauchdasDaseindieserDingean sichselbstvorzustellenhätte,die Freiheit,alseinnichtigerund unmöglicherBegriff verworfenwerdenmüssen.Folglich, wenn man sie noch retten will, so bleibtkein Wegübrig, alsdasDaseineinesDinges,so fernesin derZeit bestimmbarist, folglich auchdieKausa-lität nachdemGesetzeder Naturnotwendigkeit,bloßder Erscheinung, die Freiheit aber ebendemselbenWesen,als Dingean sichselbst, beizulegen.Soist esallerdingsunvermeidlich,wenn man beide einanderwiderwärtigeBegriffe zugleicherhaltenwill; allein in

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Kant-W Bd. 7 220Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

derAnwendung,wennmansiealsin einerunddersel-ben Handlungvereinigt,und also dieseVereinigungselbsterklärenwill, tun sich doch großeSchwierig-keitenhervor,die einesolcheVereinigunguntunlichzumachenscheinen.

Wenn ich von einemMenschen,der einen Dieb-stahlverübt,sage:dieseTat seinachdemNaturgeset-ze der Kausalitätaus den BestimmungsgründendervorhergehendenZeit ein notwendigerErfolg, so wares unmöglich,daßsie hat unterbleibenkönnen;wiekanndenndie BeurteilungnachdemmoralischenGe-setzehierineineÄnderungmachen,undvoraussetzen,daßsie doch habeunterlassenwerdenkönnen,weildasGesetzsagt,sie hätteunterlassenwerdensollen,d.i. wie kann derjenige,in demselbenZeitpunkte,inAbsicht auf dieselbeHandlung,ganzfrei heißen,inwelchem,und in derselbenAbsicht, er doch untereinerunvermeidlichenNaturnotwendigkeitsteht?EineAusfluchtdarinsuchen,daßmanbloßdie Art derBe-stimmungsgründeseinerKausalitätnachdemNatur-gesetzeeinemkomparativenBegriffevonFreiheitan-paßt (nach welchem das bisweilen freie Wirkungheißt, davon der bestimmendeNaturgrundinnerlichim wirkendenWesenliegt, z.B. das,waseingeworfe-nerKörperverrichtet,wenner in freierBewegungist,da mandasWort Freiheit braucht,weil er, währenddaßer im Flugeist, nicht von außenwodurchgetrie-

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benwird, oderwie wir die BewegungeinerUhr aucheine freie Bewegungnennen,weil sie ihren Zeigerselbsttreibt, der alsonicht äußerlichgeschobenwer-dendarf, ebenso die HandlungendesMenschen,obsie gleich,durchihre Bestimmungsgründe,die in derZeit vorhergehen,notwendigsind, dennochfrei nen-nen,weil esdoch inneredurchunsereeigeneKräftehervorgebrachteVorstellungen,dadurchnachveran-lassendenUmständenerzeugteBegierdenund mithinnachunseremeigenenBeliebenbewirkteHandlungensind), ist ein elenderBehelf,womit sich nochimmereinigehinhaltenlassen,undsojenesschwereProblemmit einerkleinenWortklaubereiaufgelösetzu habenmeinen,andessenAuflösungJahrtausendevergeblichgearbeitethaben,die daherwohl schwerlichso ganzaufderOberflächegefundenwerdendürfte.Eskommtnämlich bei der FragenachderjenigenFreiheit, dieallen moralischenGesetzenund der ihnen gemäßenZurechnungzum Grundegelegtwerdenmuß,daraufgar nicht an, ob die nach einem Naturgesetzebe-stimmteKausalitätdurchBestimmungsgründe,die imSubjekte,oderaußerihm liegen,undim ersterenFall,ob siedurchInstinkt odermit Vernunft gedachteBe-stimmungsgründenotwendigsei; wenndiesebestim-mendeVorstellungen,nach dem GeständnisseebendieserMännerselbst,denGrundihrer Existenzdochin der Zeit und zwar dem vorigen Zustandehaben,

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dieseraberwieder in einemvorhergehendenetc., somögen sie, diese Bestimmungen,immer innerlichsein, sie mögenpsychologischeund nicht mechani-scheKausalitäthaben,d.i. durchVorstellungen,undnicht durchkörperlicheBewegung,Handlunghervor-bringen, so sind es immer BestimmungsgründederKausalitäteinesWesens,so fern sein Daseinin derZeit bestimmbarist, mithin unternotwendigmachen-den Bedingungender vergangenenZeit, die also,wenndasSubjekthandelnsoll, nicht mehr in seinerGewalt sind, die also zwar psychologischeFrei-heit(wennmanja diesesWort von einerbloß innerenVerkettung der Vorstellungen der Seele brauchenwill), aberdochNaturnotwendigkeitbei sich führen,mithin keine transzendentaleFreiheit übrig lassen,welche als Unabhängigkeitvon allem Empirischenund also von der Natur überhauptgedachtwerdenmuß, sie mag nun Gegenstanddes innerenSinnes,bloß in derZeit, oderauchäußerenSinne,im RaumeundderZeit zugleichbetrachtetwerden,ohnewelcheFreiheit(in der letztereneigentlichenBedeutung),dieallein a priori praktisch ist, kein moralischGesetz,keineZurechnungnachdemselben,möglichist. Ebenum deswillenkannmanauchalle NotwendigkeitderBegebenheitenin derZeit, nachdemNaturgesetzederKausalität,den Mechanismusder Natur nennen,obman gleich darunternicht versteht,daß Dinge, die

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ihm unterworfensind, wirkliche materielleMaschi-nenseinmüßten.Hier wird nuraufdieNotwendigkeitder Verknüpfung der Begebenheitenin einer Zeit-reihe,sowie siesichnachdemNaturgesetzeentwik-kelt, gesehen,manmagnun dasSubjekt,in welchemdieserAblauf geschieht,automatonmateriale,da dasMaschinenwesendurch Materie, oder mit Leibnizenspirituale,da esdurchVorstellungenbetriebenwird,nennen,und wenndie FreiheitunseresWillens keineandereals die letztere(etwadie psychologischeundkomparative,nicht transzendentale,d.i. absolutezu-gleich) wäre,so würde sie im Grundenichts besser,als die Freiheit einesBratenwenderssein, der auch,wenner einmalaufgezogenworden,von selbstseineBewegungenverrichtet.

Um nun den scheinbarenWiderspruchzwischenNaturmechanismusund Freiheit in ein und derselbenHandlungandemvorgelegtenFalleaufzuheben,mußmansichandaserinnern,wasin derKritik derreinenVernunft gesagtwar, oder darausfolgt: daßdie Na-turnotwendigkeit,welche mit der Freiheit des Sub-jekts nicht zusammenbestehenkann, bloß den Be-stimmungendesjenigenDinges anhängt,das unterZeitbedingungensteht,folglich nur demdeshandeln-den Subjektsals Erscheinung,daß also so fern dieBestimmungsgründeeiner jedenHandlungdesselbenin demjenigenliegen,was zur vergangenenZeit ge-

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hört, undnicht mehrin seinerGewaltist (wozuauchseineschonbegangeneTaten,und der ihm dadurchbestimmbareCharakterin seineneigenenAugen,alsPhänomens,gezähltwerdenmüssen).Aber ebendas-selbe Subjekt, das sich anderseitsauch seiner, alsDingesansichselbst,bewußtist, betrachtetauchseinDasein,so fern esnicht unterZeitbedingungensteht,sich selbstaber nur als bestimmbardurch Gesetze,die essich durchVernunft selbstgibt, und in diesemseinemDaseinist ihm nichtsvorhergehendvor seinerWillensbestimmung,sondern jede Handlung, undüberhauptjededeminnernSinnegemäßwechselndeBestimmungseinesDaseins,selbstdie ganzeReihen-folge seiner Existenz,als Sinnenwesen,ist im Be-wußtsein seiner intelligibelen Existenz nichts alsFolge, niemals aber als BestimmungsgrundseinerKausalität,als Noumens, anzusehen.In diesemBe-tracht nun kann das vernünftige Wesen,von einerjedengesetzwidrigenHandlung,die esverübt,ob siegleich, als Erscheinung,in demVergangenenhinrei-chendbestimmt,und so fern unausbleiblichnotwen-dig ist, mit Rechtsagen,daßer sie hätteunterlassenkönnen;dennsie,mit allemVergangenen,dassiebe-stimmt, gehört zu einem einzigenPhänomenseinesCharakters,den er sich selbst verschafft,und nachwelchemersich,alseinervonallerSinnlichkeitunab-hängigenUrsache,dieKausalitätjenerErscheinungen

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selbstzurechnet.Hiemit stimmen auch die Richteraussprüche

desjenigenwundersamenVermögensin uns,welcheswir Gewissen nennen, vollkommen überein. EinMenschmagkünsteln,soviel als er will, um ein ge-setzwidrigesBetragen,dessenersicherinnert,sichalsunvorsätzlichesVersehen,als bloßeUnbehutsamkeit,diemanniemalsgänzlichvermeidenkann,folglich alsetwas,worin er vom Strom der Naturnotwendigkeitfortgerissenwäre, vorzumalenund sich darüberfürschuldfreizu erklären,so findet er doch,daßderAd-vokat,derzu seinemVorteil spricht,denAnklägerinihm keineswegeszum Verstummenbringen könne,wenner sichbewußtist, daßer zu derZeit, alser dasUnrecht verübte,nur bei Sinnen,d.i. im GebraucheseinerFreiheit war, und gleichwohl erklärt er sichseinVergehen,ausgewisserübeln,durchallmählicheVernachlässigungderAchtsamkeitauf sichselbstzu-gezogenerGewohnheit,bis auf den Grad, daßer esals eine natürliche Folge derselbenansehenkann,ohnedaßdiesesihn gleichwohlwider denSelbsttadelund den Verweis sichern kann, den er sich selbstmacht.Daraufgründetsich dennauchdie Reueübereine längst begangeneTat bei jeder Erinnerungderselben;eine schmerzhafte,durch moralischeGe-sinnunggewirkte Empfindung,die so fern praktischleer ist, als sie nicht dazudienenkann,dasGesche-

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heneungeschehenzu machen,und sogarungereimtseinwürde(wie Priestley, als ein echter,konsequentverfahrenderFatalist, sie auchdafür erklärt, und inAnsehungwelcher Offenherzigkeiter mehr Beifallverdient,alsdiejenige,welche,indemsiedenMecha-nism des Willens in der Tat, die Freiheit desselbenabermit Wortenbehaupten,nochimmerdafürgehal-tenseinwollen, daßsiejene,ohnedochdie Möglich-keit einersolchenZurechnungbegreiflichzu machen,in ihrem synkretistischenSystemmit einschließen),aber,alsSchmerz,dochganzrechtmäßigist, weil dieVernunft,wennesauf dasGesetzunsererintelligibe-len Existenz(dasmoralische)ankommt,keinenZeit-unterschiedanerkennt,undnur frägt,obdieBegeben-heit mir alsTat angehöre,alsdennaberimmerdiesel-be Empfindungdamit moralischverknüpft, sie magjetzt geschehen,odervorlängstgeschehensein.Denndas Sinnenlebenhat in Ansehungdes intelligibelenBewußtseinsseinesDaseins(der Freiheit) absoluteEinheiteinesPhänomens,welches,sofernesbloßEr-scheinungenvon der Gesinnung,die dasmoralischeGesetzangeht (von dem Charakter),enthält, nichtnachderNaturnotwendigkeit,die ihm alsErscheinungzukommt, sondernnach der absolutenSpontaneitätderFreiheitbeurteiltwerdenmuß.Mankannalsoein-räumen,daß,wennesfür unsmöglichwäre,in einesMenschenDenkungsart,so wie sie sich durchinnere

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sowohlalsäußereHandlungenzeigt,sotiefe Einsichtzuhaben,daßjede,auchdiemindesteTriebfederdazuunsbekanntwürde,imgleichenalle auf diesewirken-deäußereVeranlassungen,maneinesMenschenVer-halten auf die Zukunft mit Gewißheit,so wie eineMond-oderSonnenfinsternis,ausrechnenkönnte,unddennochdabei behaupten,daß der Menschfrei sei.Wennwir nämlichnocheinesandernBlicks (derunsaberfreilich garnicht verliehenist, sondernandessenStatt wir nur den Vernunftbegriff haben),nämlicheiner intellektuellenAnschauungdesselbenSubjektsfähig wären,so würdenwir doch inne werden,daßdieseganzeKette von Erscheinungenin Ansehungdessen,wasnur immer dasmoralischeGesetzange-henkann,von derSpontaneitätdesSubjekts,alsDin-ges an sich selbst,abhängt,von derenBestimmungsichgarkeinephysischeErklärunggebenläßt. In Er-mangelungdieserAnschauungversichertunsdasmo-ralischeGesetzdiesenUnterschiedderBeziehungun-sererHandlungen,alsErscheinungen,aufdasSinnen-wesenunseresSubjekts,von derjenigen,dadurchdie-sesSinnenwesenselbstauf dasintelligibele Substratin unsbezogenwird. – In dieserRücksicht,die unse-rer Vernunft natürlich,obgleichunerklärlichist, las-sen sich auch Beurteilungenrechtfertigen,die, mitaller Gewissenhaftigkeitgefället,dennochdemerstenAnscheinenachaller Billigkeit ganzzu widerstreiten

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scheinen.Es gibt Fälle, wo Menschenvon Kindheitauf, selbstuntereinerErziehung,die, mit der ihrigenzugleich,andernersprießlichwar, dennochso früheBosheit zeigen,und so bis in ihre Mannesjahrezusteigenfortfahren,daßmansiefür geborneBösewich-ter, und gänzlich, was die Denkungsartbetrifft, fürunbesserlichhält, gleichwohl aber sie wegen ihresTunsund Lassensebenso richtet, ihnenihre Verbre-chenebensoalsSchuldverweiset,ja sie(die Kinder)selbstdieseVerweiseso ganzgegründetfinden, alsob sie, ungeachtetder ihnen beigemessenenhoff-nungslosenNaturbeschaffenheitihres Gemüts,ebenso verantwortlichblieben,als jeder andereMensch.Dieseswürdenichtgeschehenkönnen,wennwir nichtvoraussetzten,daßalles,wasausseinerWillkür ent-springt (wie ohne Zweifel jede vorsätzlich verübteHandlung),eine freie Kausalitätzum Grundehabe,welchevon der frühenJugendan ihren CharakterinihrenErscheinungen(denHandlungen)ausdrückt,diewegenderGleichförmigkeitdesVerhaltenseinenNa-turzusammenhangkenntlich machen,der aber nichtdieargeBeschaffenheitdesWillensnotwendigmacht,sondernvielmehrdieFolgederfreiwillig angenomme-nenbösenundunwandelbarenGrundsätzeist, welcheihn nur nochum destoverwerflicherund strafwürdi-germachen.

Aber noch steht eine Schwierigkeit der Freiheit

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Kant-W Bd. 7 226Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

bevor,sofern siemit demNaturmechanism,in einemWesen,daszur Sinnenweltgehört,vereinigt werdensoll. Eine Schwierigkeit, die, selbst nachdemallesBisherigeeingewilligt worden,der Freiheit dennochmit ihremgänzlichenUntergangedroht.Aber bei die-serGefahrgibt ein UmstanddochzugleichHoffnungzu einemfür die BehauptungderFreiheitnochglück-lichenAusgange,nämlichdaßdieselbeSchwierigkeitviel stärker(in derTat,wie wir baldsehenwerden,al-lein) dasSystemdrückt, in welchemdie in Zeit undRaum bestimmbareExistenz für die Existenz derDinge ansichselbstgehaltenwird, sieunsalsonichtnötigt, unsere vornehmsteVoraussetzungvon derIdealität der Zeit, als bloßer Form sinnlicher An-schauung,folglich alsbloßerVorstellungsart,diedemSubjekteals zur Sinnenweltgehörigeigenist, abzu-gehen,und also nur erfodert,sie mit dieserIdee zuvereinigen.

Wennmanunsnämlichaucheinräumt,daßdasin-telligibele Subjekt in Ansehung einer gegebenenHandlungnoch frei sein kann, obgleiches als Sub-jekt, dasauchzur Sinnenweltgehörig, in Ansehungderselbenmechanischbedingtist, soscheintesdoch,manmüsse,sobaldmanannimmt,Gott, alsallgemei-nesUrwesen,sei die Ursacheauchder ExistenzderSubstanz(ein Satz,der niemalsaufgegebenwerdendarf, ohne den Begriff von Gott als Wesen aller

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Wesen,und hiemit seine Allgenugsamkeit,auf diealles in der Theologieankommt,zugleichmit aufzu-geben),aucheinräumen:Die HandlungendesMen-schen haben in demjenigen ihren bestimmendenGrund,wasgänzlichaußerihrer Gewaltist, nämlichin derKausalitäteinesvon ihm unterschiedenenhöch-sten Wesens,von welchemdas Daseindes erstern,und die ganzeBestimmungseiner Kausalität ganzund gar abhängt.In der Tat: wärendie HandlungendesMenschen,sowie siezu seinenBestimmungeninder Zeit gehören,nicht bloßeBestimmungendessel-ben als Erscheinung,sondern als Dinges an sichselbst,sowürdedie Freiheitnicht zu rettensein.DerMenschwäre Marionette,oder ein VaucansonschesAutomat,gezimmertund aufgezogenvon demober-stenMeisteraller Kunstwerke,unddasSelbstbewußt-sein würde es zwar zu einemdenkendenAutomatemachen, in welchem aber das BewußtseinseinerSpontaneität,wenn sie für Freiheit gehaltenwird,bloßeTäuschungwäre,indemsie nur komparativsogenanntzuwerdenverdient,weil dienächstenbestim-mendenUrsachenseinerBewegung,und eine langeReihe derselbenzu ihren bestimmendenUrsachenhinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchsteaberdochgänzlichin einerfremdenHandangetroffenwird. Daherseheich nicht ab, wie diejenige,welchenoch immer dabeibeharren,Zeit und Raumfür zum

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DaseinderDingeansichselbstgehörigeBestimmun-genanzusehen,hier die FatalitätderHandlungenver-meidenwollen, oder,wennsie so geradezu(wie dersonstscharfsinnigeMendelssohntat)beidenuralszurExistenzendlicherundabgeleiteterWesen,abernichtzuderdesunendlichenUrwesensnotwendiggehörigeBedingungeneinräumen,sich rechtfertigenwollen,wohersiedieseBefugnisnehmen,einensolchenUn-terschiedzu machen,sogarwie sieauchnur demWi-dersprucheausweichenwollen,densiebegehen,wennsiedasDaseinin derZeit alsdenendlichenDingenansichnotwendiganhängendeBestimmungansehen,daGott die UrsachediesesDaseinsist, er aber dochnicht die Ursacheder Zeit (oder des Raums)selbstsein kann (weil dieseals notwendigeBedingungapriori demDaseinderDingevorausgesetztseinmuß),seineKausalität folglich in Ansehungder ExistenzdieserDinge,selbstder Zeit nach,bedingtseinmuß,wobei nun alle die Widersprüchegegendie BegriffeseinerUnendlichkeitundUnabhängigkeitunvermeid-lich eintretenmüssen.Hingegenist esunsganzleicht,die BestimmungdergöttlichenExistenz,alsunabhän-gig vonallenZeitbedingungen,zumUnterschiedevonder eines Wesensder Sinnenwelt,als die ExistenzeinesWesensan sich selbst, von der einesDingesinder Erscheinungzu unterscheiden.Daher,wennmanjeneIdealitätderZeit und desRaumsnicht annimmt,

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nur allein der Spinozismübrig bleibt, in welchemRaumundZeit wesentlicheBestimmungendesUrwe-sensselbstsind, die von ihm abhängigeDinge aber(alsoauchwir selbst)nicht Substanzen,sondernbloßihm inhärierendeAkzidenzensind; weil, wenndieseDinge bloß,als seineWirkungen,in der Zeit existie-ren, welche die Bedingung ihrer Existenz an sichwäre,auchdie HandlungendieserWesenbloß seineHandlungenseinmüßten,dieer irgendwoundirgend-wann ausübte.Daher schließtder Spinozism,uner-achtetderUngereimtheitseinerGrundidee,dochweitbündiger,als esnachder Schöpfungstheoriegesche-henkann,wenndiefür Substanzenangenommeneundan sich in der Zeit existierendeWesenWirkungeneiner oberstenUrsache,und doch nicht zugleichzuihm und seinerHandlung,sondernfür sich als Sub-stanzenangesehenwerden.

Die Auflösung obgedachter Schwierigkeit ge-schieht, kurz und einleuchtend,auf folgende Art:Wenn die Existenz in der Zeit eine bloße sinnlicheVorstellungsartderdenkendenWesenin derWelt ist,folglich sie,alsDingeansichselbst,nicht angeht:soist die SchöpfungdieserWeseneine SchöpfungderDingeansichselbst;weil derBegriff einerSchöpfungnicht zu der sinnlichenVorstellungsartder Existenzundzur Kausalitätgehört,sondernnur auf Noumenenbezogenwerdenkann.Folglich, wennich von Wesen

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in der Sinnenweltsage:sie sind erschaffen;so be-trachteich sie so fern als Noumenen.So,wie esalsoein Widerspruchwäre,zu sagen,Gott sei ein Schöp-fer von Erscheinungen,so ist es auch ein Wider-spruch,zu sagen,er sei, als Schöpfer,UrsachederHandlungenin derSinnenwelt,mithin alsErscheinun-gen,wennergleichUrsachedesDaseinsderhandeln-den Wesen(als Noumenen)ist. Ist es nun möglich(wennwir nur dasDaseinin der Zeit für etwas,wasbloß von Erscheinungen,nicht von Dingen an sichselbstgilt, annehmen),die Freiheit,unbeschadetdemNaturmechanismder Handlungenals Erscheinungen,zu behaupten,so kann, daß die handelndenWesenGeschöpfesind, nicht die mindesteÄnderunghierinmachen,weil die Schöpfungihre intelligibele, abernicht sensibeleExistenzbetrifft, und also nicht alsBestimmungsgrundder Erscheinungenangesehenwerden kann; welches aber ganz andersausfallenwürde,wenndie Weltwesenals Dinge an sich selbstin der Zeit existierten,da der Schöpferder SubstanzzugleichderUrheberdesganzenMaschinenwesensandieserSubstanzseinwürde.

Von sogroßerWichtigkeit ist die in derKrit. derr.spek.V. verrichteteAbsonderungderZeit (sowie desRaums)vonderExistenzderDingeansichselbst.

Die hier vorgetrageneAuflösungderSchwierigkeithataber,wird mansagen,dochviel Schweresin sich,

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und ist einer hellen Darstellungkaum empfänglich.Allein, ist denn jede andere,die man versuchthat,oder versuchenmag, leichter und faßlicher? Ehermöchtemansagen,die dogmatischenLehrerderMe-taphysik hättenmehr ihre Verschmitztheitals Auf-richtigkeit darinbewiesen,daßsiediesenschwierigenPunkt,soweit wie möglich,ausdenAugenbrachten,in derHoffnung,daß,wennsiedavongarnicht sprä-chen, auch wohl niemandleichtlich an ihn denkenwürde. Wenn einer Wissenschaftgeholfen werdensoll, somüssenalle Schwierigkeitenaufgedecketundsogardiejenigenaufgesuchtwerden,die ihr nochsoin geheimim Wegeliegen; dennjedederselbenruftein Hülfsmittel auf, welches,ohneder WissenschafteinenZuwachs,esseianUmfang,oderanBestimmt-heit,zuverschaffen,nichtgefundenwerdenkann,wo-durchalsoselbstdie HindernisseBeförderungsmittelderGründlichkeitderWissenschaftwerden.Dagegen,werdendieSchwierigkeitenabsichtlichverdeckt,oderbloß durch Palliativmittel gehoben,so brechensie,über kurz oder lang, in unheilbareÜbel aus,welchedie Wissenschaftin einemgänzlichenSkeptizismzuGrunderichten.

* * *

Da es eigentlich der Begriff der Freiheit ist, der,

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unterallenIdeenderreinenspekulativenVernunft,al-lein so großeErweiterungim FeldedesÜbersinnli-chen,wenn gleich nur in AnsehungdespraktischenErkenntnissesverschafft,so frage ich mich: woherdenn ihm ausschließungsweiseeine so großeFruchtbarkeitzu Teil gewordensei, indessendie üb-rigenzwardie leereStellefür reinemöglicheVerstan-deswesenbezeichnen,den Begriff von ihnen aberdurch nichts bestimmenkönnen. Ich begreifebald,daß,da ich nichtsohneKategoriedenkenkann,dieseauchin derIdeederVernunftvonderFreiheit,mit derich mich beschäftige,zuerstmüsseaufgesuchtwer-den,welchehier die KategoriederKausalitätist, unddaßich, wenngleich demVernunftbegriffeder Frei-heit, als überschwenglichemBegriffe, keine korre-spondierendeAnschauunguntergelegtwerdenkann,dennochdemVerstandesbegriffe(derKausalität),fürdessenSynthesisjener dasUnbedingtefodert, zuvoreine sinnliche Anschauunggegebenwerdenmüsse,dadurchihm zuerstdie objektive Realität gesichertwird. Nun sind alle Kategorienin zwei Klassen,diemathematische, welchebloß auf die Einheit derSyn-thesisin der Vorstellungder Objekte,und die dyna-mische, welche auf die in der Vorstellung der Exi-stenzder Objektegehen,eingeteilt.Die erstere(dieder Größeund der Qualität) enthaltenjederzeiteineSynthesisdes Gleichartigen, in welcher das Unbe-

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dingte,zu demin dersinnlichenAnschauunggegebe-nenBedingtenin RaumundZeit, daesselbstwieder-umzumRaumeundderZeit gehören,undalsoimmerwiederunbedingtseinmußte,garnichtkanngefundenwerden;daherauchin derDialektik derreinentheore-tischenVernunftdieeinanderentgegengesetzteArten,dasUnbedingteunddieTotalitätderBedingungenfürsiezu finden,beidefalschwaren.Die KategorienderzweitenKlasse(die der Kausalitätund der Notwen-digkeiteinesDinges)erfordertendieseGleichartigkeit(desBedingtenund der Bedingungin der Synthesis)garnicht,weil hier nicht die Anschauung,wie sieauseinemMannigfaltigenin ihr zusammengesetzt,son-dernnur,wie dieExistenzdesihr korrespondierendenbedingtenGegenstandeszu der Existenzder Bedin-gung (im Verstandeals damit verknüpft) hinzukom-me, vorgestelltwerdensolle, und da war es erlaubt,zu demdurchgängigBedingtenin derSinnenwelt(sowohl in Ansehungder Kausalitätals des zufälligenDaseinsder Dinge selbst) das Unbedingte,obzwarübrigensunbestimmt,in der intelligibelen Welt zusetzen,und die Synthesistranszendentzu machen;daherdennauchin der Dialektik der r. spek.V. sichfand, daßbeide,dem Scheinenach,einanderentge-gengesetzteArten,dasUnbedingtezumBedingtenzufinden, z.B. in der Synthesisder Kausalitätzum Be-dingten, in der Reiheder Ursachenund Wirkungen

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der Sinnenwelt,die Kausalität,die weiter nicht sinn-lich bedingtist, zu denken,sich in der Tat nicht wi-derspreche,und daßdieselbeHandlung,die, als zurSinnenwelt gehörig, jederzeit sinnlich bedingt, d.i.mechanisch-notwendigist, doch zugleich auch, alszur KausalitätdeshandelndenWesens,so fern eszurintelligibelen Welt gehörig ist, eine sinnlich unbe-dingte Kausalitätzum Grundehaben,mithin als freigedachtwerdenkönne.Nun kam es bloß daraufan,daßdiesesKönnenin ein Seinverwandeltwürde,d.i.,daßmanin einemwirklichen Falle, gleichsamdurchein Faktum,beweisenkönne:daßgewisseHandlun-geneinesolcheKausalität(die intellektuelle,sinnlichunbedingte)voraussetzen,sie mögen nun wirklich,oderauchnurgeboten,d.i. objektivpraktischnotwen-dig sein. An wirklich in der Erfahrung gegebenenHandlungen,alsBegebenheitenderSinnenwelt,konn-ten wir dieseVerknüpfungnicht anzutreffenhoffen,weil die Kausalitätdurch Freiheit immer außerderSinnenwelt im Intelligibelen gesuchtwerden muß.AndereDinge,außerdenSinnenwesen,sindunsaberzur Wahrnehmungund Beobachtungnicht gegeben.Also blieb nichts übrig, als daß etwa ein unwider-sprechlicherund zwarobjektiverGrundsatzderKau-salität, welcher alle sinnliche Bedingungvon ihrerBestimmungausschließt,d.i. ein Grundsatz,in wel-chemdie Vernunft sich nicht weiter auf etwasande-

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res als Bestimmungsgrundin Ansehungder Kausali-tät beruft, sondernden sie durch jenen Grundsatzschonselbstenthält,und wo sie also,als reine Ver-nunft, selbst praktisch ist, gefundenwerde. DieserGrundsatzaberbedarfkeinesSuchensundkeinerEr-findung; er ist längstin aller MenschenVernunft ge-wesen und ihrem Wesen einverleibt, und ist derGrundsatzder Sittlichkeit. Also ist jene unbedingteKausalitätund dasVermögenderselben,die Freiheit,mit dieseraberein Wesen(ich selber),welcheszurSinnenweltgehört,doch zugleichals zur intelligibe-len gehörignicht bloßunbestimmtundproblematischgedacht(welchesschondie spekulativeVernunft alstunlich ausmittelnkonnte), sondernsogar in Anse-hungdesGesetzesihrer Kausalitätbestimmtund as-sertorischerkannt, und so uns die Wirklichkeit derintelligibelenWelt, undzwarin praktischerRücksichtbestimmt, gegebenworden, und dieseBestimmung,die in theoretischerAbsicht transzendent(über-schwenglich)seinwürde,ist in praktischerimmanent.DergleichenSchrittaberkonntenwir in AnsehungderzweitendynamischenIdee,nämlichdereinesnotwen-digenWesensnicht tun. Wir konntenzu ihm ausderSinnenwelt,ohneVermittelungderersterendyn. Idee,nicht hinauf kommen.Denn, wollten wir es versu-chen,so müßtenwir denSprunggewagthaben,allesdas,was uns gegebenist, zu verlassen,und uns zu

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demhinzuschwingen,wovonunsauchnichtsgegebenist, wodurchwir die Verknüpfungeinessolchenintel-ligibelenWesensmit derSinnenweltvermittelnkönn-ten (weil dasnotwendigeWesenalsaußerunsgege-benerkanntwerdensollte);welchesdagegenin Anse-hungunsereseignenSubjekts, so fern essich durchsmoralischeGesetzeinerseitsals intelligibelesWesen(vermöge der Freiheit) bestimmt, andererseitsalsnach dieser Bestimmung in der Sinnenwelt tätig,selbsterkennt,wie jetzt derAugenscheindartut,ganzwohl möglichist. DereinzigeBegriff derFreiheitver-stattetes,daßwir nicht außeruns hinausgehendür-fen, um dasUnbedingteund Intelligibelezu demBe-dingtenund Sinnlichenzu finden.Dennesist unsereVernunft selber,die sich durchshöchsteund unbe-dingte praktischeGesetz,und das Wesen,das sichdiesesGesetzesbewußtist (unsereeigenePerson),alszur reinen Verstandesweltgehörig, und zwar sogarmit Bestimmungder Art, wie esals ein solchestätigseinkönne,erkennt.So läßtsichbegreifen,warumindem ganzenVernunftvermögennur das Praktischedasjenigesein könne,welchesuns über die Sinnen-welt hinaushilft,undErkenntnissevoneinerübersinn-lichenOrdnungundVerknüpfungverschaffe,dieaberebendarumfreilich nur soweit, alsesgeradefür diereinepraktischeAbsichtnötig ist, ausgedehntwerdenkönnen.

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Kant-W Bd. 7 233Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

Nur auf einesseiesmir erlaubtbei dieserGelegen-heit nochaufmerksamzu machen,nämlichdaßjederSchritt,denmanmit derreinenVernunfttut, sogarimpraktischenFelde, wo man auf subtile Spekulationgar nicht Rücksichtnimmt, dennochsich so genauund zwar von selbstan alle Momenteder Kritik dertheoretischenVernunft anschließe,als ob jeder mitüberlegterVorsicht, bloß um dieserBestätigungzuverschaffen,ausgedachtwäre.Einesolcheauf keiner-lei Weise gesuchte,sondern(wie man sich selbstdavon überzeugenkann, wenn man nur die morali-schenNachforschungenbis zu ihren Prinzipienfort-setzenwill) sichvon selbstfindende,genaueEintref-fung der wichtigstenSätzeder praktischenVernunft,mit denenoft zu subtil und unnötigscheinendenBe-merkungender Kritik der spekulativen,überraschtund setzt in Verwunderung,und bestärktdie schonvon andernerkannteundgeprieseneMaxime,in jederwissenschaftlichenUntersuchungmit aller möglichenGenauigkeit und Offenheit seinen Gang ungestörtfortzusetzen,ohnesichandaszu kehren,wowidersieaußerihremFeldeetwaverstoßenmöchte,sondernsiefür sich allein, so viel mankann,wahr und vollstän-dig zu vollführen.ÖftereBeobachtunghatmichüber-zeugt,daß,wenn man dieseGeschäftezu Endege-brachthat, das,was in der Hälfte desselben,in Be-tracht andererLehrenaußerhalb,mir bisweilensehr

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Kant-W Bd. 7 234Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen

bedenklichschien,wennich dieseBedenklichkeitnurso langeausdenAugenließ, und bloß auf meinGe-schäftAcht hatte,bis esvollendetsei,endlichauf un-erwarteteWeisemit demjenigenvollkommenzusam-menstimmte,was sich ohne die mindesteRücksichtauf jeneLehren,ohneParteilichkeitund Vorliebe fürdieselbe,vonselbstgefundenhatte.Schriftstellerwür-den sich mancheIrrtümer, mancheverlorne Mühe(weil sie auf Blendwerkgestelltwar) ersparen,wennsiesichnur entschließenkönnten,mit etwasmehrOf-fenheitzuWerkezugehen.

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Page 196: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 234Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen

ZweitesBuch.Dialektik derreinenpraktischenVernunft

ErstesHauptstück.Von einer Dialektik der reinen praktischen

Vernunft überhaupt

Die reineVernunfthatjederzeitihreDialektik, manmag sie in ihrem spekulativenoder praktischenGe-brauchebetrachten;dennsieverlangtdieabsoluteTo-talität der Bedingungenzu einemgegebenenBeding-ten,und diesekannschlechterdingsnur in Dingenansich selbstangetroffenwerden.Da aberalle Begriffeder Dinge auf Anschauungenbezogenwerdenmüs-sen, welche, bei uns Menschen,niemalsandersalssinnlich sein können,mithin die GegenständenichtalsDingeansichselbst,sondernbloßalsErscheinun-gen erkennenlassen,in derenReihe des Bedingtenund der BedingungendasUnbedingteniemalsange-troffen werdenkann, so entspringtein unvermeidli-cherScheinausder AnwendungdieserVernunftideederTotalitätderBedingungen(mithin desUnbeding-ten) auf Erscheinungen,alswärensieSachenansichselbst(denndafür werdensie, in ErmangelungeinerwarnendenKritik, jederzeitgehalten),der aber nie-malsalstrüglich bemerktwerdenwürde,wennersich

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Kant-W Bd. 7 235Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen

nicht durch einenWiderstreitder Vernunft mit sichselbst,in derAnwendungihresGrundsatzes,dasUn-bedingtezu allem Bedingtenvorauszusetzen,auf Er-scheinungen,selbstverrieten.Hiedurchwird aberdieVernunft genötigt, diesem Scheine nachzuspüren,woraus er entspringe,und wie er gehobenwerdenkönne,welchesnicht anders,als durcheinevollstän-digeKritik desganzenreinenVernunftvermögens,ge-schehenkann;so daßdie Antinomie der reinenVer-nunft, die in ihrer Dialektik offenbarwird, in der Tatdie wohltätigsteVerirrung ist, in die die menschlicheVernunft je hatgeratenkönnen,indemsieunszuletztantreibt,den Schlüsselzu suchen,ausdiesemLaby-rinthe herauszukommen,der,wenner gefundenwor-den, noch das entdeckt,was man nicht suchteunddoch bedarf,nämlich eine Aussicht in eine höhere,unveränderlicheOrdnungderDinge,in derwir schonjetzt sind,und in der unserDaseinder höchstenVer-nunftbestimmunggemäßfortzusetzenwir durch be-stimmte Vorschriften nunmehr angewiesenwerdenkönnen.

Wie im spekulativenGebraucheder reinen Ver-nunft jene natürlicheDialektik aufzulösen,und derIrrtum, aus einem übrigensnatürlichenScheine,zuverhütensei,kannmanin derKritik jenesVermögensausführlich antreffen. Aber der Vernunft in ihrempraktischenGebrauchegehtesum nichtsbesser.Sie

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Page 198: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 235Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen

sucht, als reine praktischeVernunft, zu dem prak-tisch-Bedingten(was auf Neigungenund Naturbe-dürfnis beruht) ebenfallsdas Unbedingte,und zwarnicht als Bestimmungsgrunddes Willens, sondern,wenndieserauch(im moralischenGesetze)gegebenworden, die unbedingteTotalität des Gegenstandesder reinen praktischenVernunft, unter dem NamendeshöchstenGuts.

DieseIdeepraktisch–, d.i. für die MaximeunseresvernünftigenVerhaltens,hinreichendzu bestimmen,ist die Weisheitslehre, und diesewiederum,als Wis-senschaft, ist Philosophie, in der Bedeutung,wie dieAlten dasWort verstanden,bei denensieeineAnwei-sungzu demBegriffe war, worin dashöchsteGut zusetzen,und zum Verhalten,durch welcheses zu er-werbensei. Es wäre gut, wenn wir diesesWort beiseiner alten Bedeutungließen, als eine Lehre vomhöchstenGut, so fern die Vernunft bestrebtist, esdarin zur Wissenschaftzu bringen. Denn einesteilswürdedieangehängteeinschränkendeBedingungdemgriechischenAusdrucke(welcherLiebe zur Weisheitbedeutet)angemessenund dochzugleichhinreichendsein,die Liebe zur Wissenschaft, mithin aller speku-lativen Erkenntnisder Vernunft, so fern sie ihr, so-wohl zu jenemBegriffe,alsauchdempraktischenBe-stimmungsgrundedienlich ist, unter demNamenderPhilosophie,mit zu befassen,und doch den Haupt-

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Kant-W Bd. 7 236Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen

zweck,umdessentwillensieallein Weisheitslehrege-nanntwerdenkann,nichtausdenAugenverlierenlas-sen.AnderenTeils würdeesauchnicht übelsein,denEigendünkeldesjenigen,dereswagte,sichdesTitelseinesPhilosophenselbstanzumaßen,abzuschrecken,wennmanihm schondurchdie Definition denMaß-stabder Selbstschätzungvorhielte,der seineAnsprü-che sehrherabstimmenwird; dennein Weisheitsleh-rer zu sein,möchtewohl etwasmehr,alseinenSchü-ler bedeuten,der noch immer nicht weit genugge-kommenist, um sich selbst,vielwenigerum andere,mit sichererErwartungeinessohohenZwecks,zu lei-ten;eswürdeeinenMeisterin Kenntnisder Weisheitbedeuten,welchesmehrsagenwill, alseinbescheide-nerMannsichselberanmaßenwird, undPhilosophiewürde, so wie die Weisheit, selbstnoch immer einIdealbleiben,welchesobjektiv in derVernunftalleinvollständig vorgestellt wird, subjektiv aber, für diePerson,nurdasZiel seinerunaufhörlichenBestrebungist, und in dessenBesitz, unter dem angemaßtenNameneinesPhilosophen,zu sein,nur der vorzuge-ben berechtigtist, der auchdie unfehlbareWirkungderselben(in Beherrschungseinerselbst,unddemun-gezweifeltenInteresse,daservorzüglichamallgemei-nen Guten nimmt) an seiner Person,als Beispiele,aufstellenkann,welchesdie Alten auchfoderten,umjenenEhrennamenverdienenzukönnen.

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Kant-W Bd. 7 237Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen

In Ansehungder Dialektik der reinenpraktischenVernunft, im Punkte der Bestimmungdes BegriffsvomhöchstenGute(welche,wennihreAuflösungge-lingt, eben sowohl, als die der theoretischen,diewohltätigsteWirkung erwartenläßt, dadurchdaßdieaufrichtig angestellteund nicht verhehlteWidersprü-cheder reinenpraktischenVernunftmit ihr selbstzurvollständigenKritik ihres eigenenVermögensnöti-gen), habenwir nur noch eine Erinnerungvoranzu-schicken.

Das moralischeGesetzist der alleinige Bestim-mungsgrunddesreinenWillens. Da diesesaberbloßformal ist (nämlich,allein die Form der Maxime,alsallgemeingesetzgebend,fodert),soabstrahiertes,alsBestimmungsgrund,von aller Materie, mithin vonallemObjekte,desWollens.Mithin magdashöchsteGut immerderganzeGegenstandeinerreinenprakti-schenVernunft, d.i. einesreinenWillens sein,so istesdarumdochnicht für denBestimmungsgrunddes-selbenzu halten,und dasmoralischeGesetzmußal-lein alsderGrundangesehenwerden,jenes,unddes-senBewirkung oder Beförderung,sich zum Objektezumachen.DieseErinnerungist in einemsodelikatenFalle,alsdie BestimmungsittlicherPrinzipienist, woauch die kleinste Mißdeutung Gesinnungenver-fälscht, von Erheblichkeit.Denn man wird aus derAnalytik ersehenhaben,daß,wennmanvor demmo-

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Kant-W Bd. 7 237Erstes Hauptstück. Von einer Dialektik der reinen

ralischen Gesetze irgend ein Objekt, unter demNameneinesGuten,als BestimmungsgrunddesWil-lensannimmt,und von ihm denndasobersteprakti-schePrinzipableitet,diesesalsdennjederzeitHetero-nomieherbeibringenund dasmoralischePrinzip ver-drängenwürde.

Esverstehtsichabervon selbst,daß,wennim Be-griffe deshöchstenGuts dasmoralischeGesetz,alsobersteBedingung,schonmit eingeschlossenist, als-denndashöchsteGutnichtbloßObjekt, sondernauchsein Begriff, und die Vorstellung der durch unserepraktische Vernunft möglichen Existenz desselbenzugleich der Bestimmungsgrunddes reinen Willenssei; weil alsdennin der Tat das in diesemBegriffeschon eingeschlosseneund mitgedachtemoralischeGesetzundkein andererGegenstand,nachdemPrin-zip derAutonomie,denWillen bestimmt.DieseOrd-nung der Begriffe von der Willensbestimmungdarfnicht ausdenAugengelassenwerden;weil mansonstsich selbst mißverstehtund sich zu widersprechenglaubt,wo dochallesin dervollkommenstenHarmo-nienebeneinandersteht.

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Page 202: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 238Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen

ZweitesHauptstück. Von der Dialektik der reinenVernunft in BestimmungdesBegriffs vom

höchstenGut

Der Begriff desHöchstenenthältschoneineZwei-deutigkeit,die, wennmandaraufnicht Acht hat, un-nötige Streitigkeitenveranlassenkann. Das HöchstekanndasOberste(supremum)oderauchdasVollen-dete(consummatum)bedeuten.Daserstereist diejeni-geBedingung,die selbstunbedingt,d.i. keinerandernuntergeordnetist (originarium);daszweitedasjenigeGanze,daskein Teil einesnochgrößerenGanzenvonderselbenArt ist (perfectissimum).Daß Tugend(alsdie Würdigkeit glücklich zu sein)die obersteBedin-gungallesdessen,wasunsnur wünschenswertschei-nen mag, mithin auch aller unsererBewerbungumGlückseligkeit,mithin dasobersteGut sei, ist in derAnalytik bewiesenworden.Darumist sie abernochnicht dasganzeund vollendeteGut, als Gegenstanddes Begehrungsvermögensvernünftiger endlicherWesen;denn,um daszu sein,wird auchGlückselig-keit dazuerfodert,und zwarnicht bloß in denpartei-ischenAugenderPerson,die sichselbstzumZweckemacht,sondernselbstim Urteile einerunparteiischenVernunft, die jene überhauptin der Welt als Zweckansichbetrachtet.DennderGlückseligkeitbedürftig,

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Kant-W Bd. 7 238Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen

ihrer auchwürdig, dennochaberderselbennicht teil-haftig zu sein,kann mit demvollkommenenWolleneinesvernünftigenWesens,welcheszugleichalleGe-walt hätte,wenn wir uns auchnur ein solcheszumVersuchedenken,gar nicht zusammenbestehen.Sofern nun Tugendund GlückseligkeitzusammendenBesitzdeshöchstenGutsin einerPerson,hiebeiaberauch Glückseligkeit, ganz genauin Proportion derSittlichkeit (als Wert der Personund derenWürdig-keit glücklich zu sein) ausgeteilt,das höchsteGuteinermöglichenWelt ausmachen:so bedeutetdiesesdasGanze,dasvollendeteGute,worin dochTugendimmer, als Bedingung,das obersteGut ist, weil esweiter keineBedingungübersichhat,Glückseligkeitimmer etwas,was dem, der sie besitzt, zwar ange-nehm,abernicht für sichalleinschlechterdingsundinaller Rücksichtgut ist, sondernjederzeitdasmorali-schegesetzmäßigeVerhaltenals Bedingungvoraus-setzt.

Zwei in einemBegriffe notwendigverbundeneBe-stimmungenmüssenals Grund und Folge verknüpftsein, und zwar entwederso, daß diese Einheit alsanalytisch (logischeVerknüpfung) oder als synthe-tisch (realeVerbindung),jenenachdemGesetzederIdentität, diese der Kausalität betrachtetwird. DieVerknüpfungderTugendmit derGlückseligkeitkannalsoentwederso verstandenwerden,daßdie Bestre-

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Kant-W Bd. 7 239Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen

bung tugendhaftzu seinund die vernünftigeBewer-bungumGlückseligkeitnichtzweiverschiedene,son-dernganzidentischeHandlungenwären,dadennderersterenkeineandereMaxime,alszuderletzternzumGrunde gelegt zu werdenbrauchte:oder jene Ver-knüpfung wird darauf ausgesetzt,daß Tugend dieGlückseligkeitalsetwasvon demBewußtseinderer-sterenUnterschiedenes,wie die Ursacheeine Wir-kung,hervorbringe.

Von denaltengriechischenSchulenwareneigent-lich nur zwei, die in BestimmungdesBegriffs vomhöchstenGuteso fern zwar einerleiMethodebefolg-ten,daßsieTugendundGlückseligkeitnicht alszweiverschiedeneElementedeshöchstenGutsgeltenlie-ßen,mithin die Einheit desPrinzipsnachder RegelderIdentitätsuchten;aberdarinschiedensiesichwie-derum, daß sie unter beidenden Grundbegriff ver-schiedentlichwählten.Der Epikureersagte:sich sei-ner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußtsein,dasist Tugend;der Stoiker: sich seinerTugendbewußt sein, ist Glückseligkeit. Dem erstern warKlugheitsoviel alsSittlichkeit; demzweiten,dereinehöhereBenennungfür die Tugendwählete,war Sitt-lichkeitalleinwahreWeisheit.

Manmußbedauren,daßdieScharfsinnigkeitdieserMänner (die man doch zugleichdarüberbewundernmuß,daßsie in so frühenZeitenschonalle erdenkli-

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Kant-W Bd. 7 240Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen

che Wege philosophischerEroberungenversuchten)unglücklich angewandtwar, zwischen äußerstun-gleichartigenBegriffen, dem der GlückseligkeitunddemderTugend,Identitätzu ergrübeln.Allein eswardem dialektischenGeiste ihrer Zeiten angemessen,wasauchjetzt bisweilensubtileKöpfe verleitet,we-sentliche und nie zu vereinigendeUnterschiedeinPrinzipiendadurchaufzuheben,daßmansie in Wort-streitzuverwandelnsucht,undso,demScheinenach,EinheitdesBegriffs bloßunterverschiedenenBenen-nungenerkünstelt,und diesestrifft gemeiniglichsol-cheFälle,wo dieVereinigungungleichartigerGründeso tief oderhochliegt, odereinesogänzlicheUmän-derungder sonst im philosophischenSystemange-nommenenLehren erfodernwürde, daß man Scheuträgt, sich in denrealenUnterschiedtief einzulassen,und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßenFormalienbehandelt.

Indem beide SchulenEinerleiheit der praktischenPrinzipiender Tugendund Glückseligkeitzu ergrü-belnsuchten,sowarensiedarumnicht untersichein-hellig, wie sie dieseIdentitätherauszwingenwollten,sondernschiedensich in unendlicheWeitenvon ein-ander,indemdie eineihr Prinzipauf derästhetischen,die andereauf der logischenSeite,jene im Bewußt-seindersinnlichenBedürfnis,dieanderein derUnab-hängigkeitder praktischenVernunft von allen sinnli-

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Kant-W Bd. 7 240Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen

chenBestimmungsgründensetzte.DerBegriff derTu-gendlag, nachdemEpikureer, schonin derMaxime,seineeigeneGlückseligkeitzu befördern;dasGefühlder Glückseligkeit war dagegennach dem Stoikerschonim BewußtseinseinerTugendenthalten.Wasaberin einemandernBegriffe enthaltenist, ist zwarmit einemTeile desEnthaltenden,abernicht mit demGanzeneinerlei,und zweenGanzekönnenüberdemspezifischvon einanderunterschiedensein, ob siezwarausebendemselbenStoffebestehen,wennnäm-lich die Teile in beidenauf ganzverschiedeneArt zueinem Ganzenverbundenwerden. Der Stoiker be-hauptete,Tugend sei das ganze höchsteGut, undGlückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzesderselben,alszumZustanddesSubjektsgehörig.DerEpikureer behauptete,Glückseligkeit sei das ganzehöchsteGut, und Tugendnur die Formder Maxime,sich um sie zu bewerben,nämlich im vernünftigenGebrauchederMittel zuderselben.

Nun ist aberausder Analytik klar, daßdie Maxi-menderTugendunddiedereigenenGlückseligkeitinAnsehungihres oberstenpraktischenPrinzips ganzungleichartigsind,und,weit gefehlt,einhelligzusein,ob sie gleich zu einemhöchstenGutengehören,umdasletzteremöglich zu machen,einanderin demsel-benSubjektegarsehreinschränkenundAbbruchtun.Also bleibt die Frage:wie ist dashöchsteGut prak-

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Kant-W Bd. 7 241Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen

tisch möglich, noch immer, unerachtetaller bisheri-genKoalitionsversuche, eineunaufgelöseteAufgabe.Dasaber,wassiezu einerschwerzu lösendenAufga-be macht,ist in der Analytik gegeben,nämlich daßGlückseligkeitund Sittlichkeit zwei spezifischganzverschiedeneElementedeshöchstenGuts sind, undihre Verbindungalsonicht analytischerkanntwerdenkönne(daßetwader,soseineGlückseligkeitsucht,indiesemseinemVerhaltensichdurchbloßeAuflösungseinerBegriffe tugendhaft,oder der, so der Tugendfolgt, sich im BewußtseineinessolchenVerhaltensschon ipso facto glücklich finden werde), sonderneineSynthesisder Begriffe sei.Weil aberdieseVer-bindung als a priori, mithin praktisch notwendig,folglich nicht aus der Erfahrungabgeleitet,erkanntwird, unddie Möglichkeit deshöchstenGutsalsoaufkeinenempirischenPrinzipienberuht,sowird dieDe-duktion diesesBegriffs transzendentalsein müssen.Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchsteGut durch Freiheit desWillens hervorzubringen; esmußalsoauchdie BedingungderMöglichkeit dessel-benlediglichaufErkenntnisgründenapriori beruhen.

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Page 208: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 242I. Die Antinomie der praktischen Vernunft

I. Die AntinomiederpraktischenVernunft

In demhöchstenfür unspraktischen,d.i. durchun-sernWillen wirklich zu machenden,GutewerdenTu-gendundGlückseligkeitalsnotwendigverbundenge-dacht,so, daß das eine durch reine praktischeVer-nunft nicht angenommenwerdenkann,ohnedaßdasandereauchzu ihm gehöre.Nun ist dieseVerbindung(wie eine jede überhaupt)entwederanalytisch, odersynthetisch. Da diesegegebeneabernicht analytischsein kann, wie nur ebenvorher gezeigtworden,somuß sie synthetisch,und zwar als VerknüpfungderUrsachemit derWirkunggedachtwerden;weil sieeinpraktischesGut,d.i. wasdurchHandlungmöglichist,betrifft. Es muß also entwederdie Begierde nachGlückseligkeit die Bewegursachezu Maximen derTugend,oder die Maxime der Tugendmußdie wir-kendeUrsacheder Glückseligkeitsein.Dasersteistschlechterdingsunmöglich:weil (wie in derAnalytikbewiesenworden)Maximen, die den Bestimmungs-grund des Willens in dem Verlangen nach seinerGlückseligkeitsetzen,gar nicht moralischsind, undkeine Tugendgründenkönnen.Das zweite ist aberauch unmöglich, weil alle praktischeVerknüpfungderUrsachenundderWirkungenin derWelt, alsEr-folg der Willensbestimmungsich nicht nachmorali-

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Page 209: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 242I. Die Antinomie der praktischen Vernunft

schenGesinnungendesWillens, sondernder Kennt-nis derNaturgesetzeund demphysischenVermögen,sie zu seinenAbsichtenzu gebrauchen,richtet, folg-lich keine notwendigeund zum höchstenGut zurei-chendeVerknüpfungder Glückseligkeitmit der Tu-gendin derWelt, durchdiepünktlichsteBeobachtungder moralischenGesetze,erwartetwerdenkann. Danun die Beförderung des höchstenGuts, welchesdieseVerknüpfungin seinemBegriffe enthält,ein apriori notwendigesObjekt unseresWillens ist, undmit demmoralischenGesetzeunzertrennlichzusam-menhängt,so muß die Unmöglichkeit des ersterenauchdie Falschheitdeszweitenbeweisen.Ist alsodashöchsteGut nachpraktischenRegelnunmöglich,somuß auch das moralischeGesetz,welchesgebietet,dasselbezu befördern,phantastischundauf leereein-gebildeteZweckegestellt,mithin ansichfalschsein.

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Page 210: Kritik Der Praktischen Vernunft

Kant-W Bd. 7 243II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

II. KritischeAufhebungderAntinomiederpraktischenVernunft

In derAntinomieder reinenspekulativenVernunftfindet sich ein ähnlicherWiderstreitzwischenNatur-notwendigkeitund Freiheit,in der Kausalitätder Be-gebenheitenin der Welt. Er wurdedadurchgehoben,daßbewiesenwurde,essei kein wahrerWiderstreit,wenn man die Begebenheiten,und selbstdie Welt,darin sie sich ereignen,(wie man auchsoll) nur alsErscheinungenbetrachtet;da ein und dasselbehan-delnde Wesen,als Erscheinung(selbst vor seinemeigneninnern Sinne)eine Kausalitätin der Sinnen-welt hat, die jederzeitdem Naturmechanismgemäßist, in AnsehungderselbenBegebenheitaber,so fernsichdie handelndePersonzugleichalsNoumenonbe-trachtet(alsreineIntelligenz,in seinemnicht derZeitnach bestimmbarenDasein), einen Bestimmungs-grundjenerKausalitätnachNaturgesetzen,derselbstvonallemNaturgesetzefrei ist, enthaltenkönne.

Mit der vorliegendenAntinomie der reinenprakti-schenVernunft ist esnunebensobewandt.Der erstevon denzwei Sätzen,daßdasBestrebennachGlück-seligkeiteinenGrundtugendhafterGesinnunghervor-bringe, ist schlechterdingsfalsch; der zweite aber,daßTugendgesinnungnotwendigGlückseligkeither-

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Kant-W Bd. 7 243II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

vorbringe,ist nicht schlechterdings, sondernnur, sofern siealsdie FormderKausalitätin derSinnenweltbetrachtetwird, und, mithin, wennich dasDaseininderselbenfür die einzige Art der Existenzdes ver-nünftigenWesensannehme,alsonur bedingterWeisefalsch.Da ich abernicht allein befugtbin, mein Da-sein auchals Noumenonin einer Verstandesweltzudenken,sondernsogarammoralischenGesetzeeinenrein intellektuellenBestimmungsgrundmeinerKausa-lität (in der Sinnenwelt)habe,so ist esnicht unmög-lich, daß die Sittlichkeit der Gesinnungeinen, wonicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelsteinesintelligibelenUrhebersderNatur)undzwarnot-wendigen Zusammenhang,als Ursache, mit derGlückseligkeit,als Wirkung in der Sinnenwelthabe,welche Verbindungin einer Natur, die bloß Objektder Sinneist, niemalsandersals zufällig stattfinden,undzumhöchstenGutenicht zulangenkann.

Also ist, unerachtetdiesesscheinbarenWiderstreitseinerpraktischenVernunft mit sich selbst,dashöch-ste Gut, der notwendigehöchsteZweck einesmora-lisch bestimmtenWillens, ein wahresObjekt dersel-ben;dennesist praktischmöglich,und die Maximendesletzteren,diesichdaraufihrerMaterienachbezie-hen, haben objektive Realität, welche anfänglichdurch jeneAntinomie in Verbindungder Sittlichkeitmit Glückseligkeitnach einemallgemeinenGesetze

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Kant-W Bd. 7 244II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

getroffenwurde,aberausbloßemMißverstande,weilman dasVerhältniszwischenErscheinungenfür einVerhältnisderDingeansichselbstzu diesenErschei-nungenhielte.

Wennwir unsgenötigtsehen,die Möglichkeit deshöchstenGuts, diesesdurch die Vernunft allen ver-nünftigenWesenausgestecktenZielsaller ihrermora-lischen Wünsche,in solcherWeite, nämlich in derVerknüpfungmit einerintelligibelenWelt, zu suchen,so muß es befremden,daß gleichwohl die Philoso-phen,alter sowohl, alsneuerZeiten,die Glückselig-keit mit der Tugendin ganzgeziemenderProportionschonin diesemLeben(in derSinnenwelt)habenfin-den,odersich ihrer bewußtzu seinhabenüberredenkönnen.DennEpikur sowohl,alsdieStoiker,erhobendie Glückseligkeit,die ausdemBewußtseinder Tu-gendim Lebenentspringe,überalles,undderersterewar in seinenpraktischenVorschriftennicht sonied-rig gesinnt,als manausdenPrinzipienseinerTheo-rie, die er zumErklären,nicht zumHandelnbrauchte,schließenmöchte,oder,wie sieviele,durchdenAus-druck Wollust, für Zufriedenheit,verleitet,ausdeute-ten,sondernrechnetedie uneigennützigsteAusübungdesGutenmit zu denGenußartender innigstenFreu-de,unddie GnügsamkeitundBändigungderNeigun-gen, so wie sie immer der strengsteMoralphilosophfodernmag,gehörtemit zu seinemPlaneeinesVer-

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Kant-W Bd. 7 244II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

gnügens (er verstand darunter das stets fröhlicheHerz); wobei er von den Stoikern vornehmlichnurdarinabwich,daßer in diesemVergnügendenBewe-gungsgrundsetzte,welchesdie letztern,undzwarmitRecht,verweigerten.Denneinesteilsfiel der tugend-hafteEpikur, sowie nochjetzt viele moralischwohl-gesinnte, obgleich über ihre Prinzipien nicht tiefgenugnachdenkendeMänner,in den Fehler,die tu-gendhafteGesinnungin denenPersonenschonvor-auszusetzen,für die er die Triebfederzur Tugendzu-erstangebenwollte (und in der Tat kannder Recht-schaffenesich nicht glücklich finden, wenn er sichnicht zuvorseinerRechtschaffenheitbewußtist; weil,bei jenerGesinnung,dieVerweise,dieerbeiÜbertre-tungensichselbstzumachendurchseineeigeneDen-kungsart genötigt sein würde, und die moralischeSelbstverdammungihn alles Genussesder Annehm-lichkeit, die sonstseinZustandenthaltenmag,berau-benwürden).Allein die Frageist: wodurchwird einesolcheGesinnungund Denkungsart,denWert seinesDaseinszu schätzen,zuerstmöglich;davor derselbennoch gar kein Gefühl für einen moralischenWertüberhauptim Subjekte angetroffenwerden würde.Der Mensch wird, wenn er tugendhaftist, freilich,ohnesich in jederHandlungseinerRechtschaffenheitbewußt zu sein, des Lebensnicht froh werden,sogünstigihm auchdasGlück im physischenZustande

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Kant-W Bd. 7 245II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

desselbenseinmag;aberum ihn allerersttugendhaftzu machen,mithin eheer nochdenmoralischenWertseinerExistenzso hochanschlägt,kannmanihm dawohl die Seelenruheanpreisen,die ausdemBewußt-sein einer Rechtschaffenheitentspringenwerde, fürdieerdochkeinenSinnhat?

Andrerseitsaber liegt hier immer der Grund zueinemFehlerdesErschleichens(vitium subreptionis)undgleichsameineroptischenIllusion in demSelbst-bewußtseindessen,was man tut, zum Unterschiededessen,wasmanempfindet, dieauchderVersuchtestenicht völlig vermeidenkann. Die moralischeGesin-nung ist mit einemBewußtseinder BestimmungdesWillens unmittelbar durchs Gesetznotwendig ver-bunden.Nun ist das Bewußtseineiner Bestimmungdes Begehrungsvermögensimmer der Grund einesWohlgefallensan der Handlung,die dadurchhervor-gebrachtwird; aberdieseLust, diesesWohlgefallenan sich selbst, ist nicht der BestimmungsgrundderHandlung,sonderndie BestimmungdesWillens un-mittelbar,bloß durchdie Vernunft, ist der GrunddesGefühlsderLust,undjenebleibteinereinepraktischenicht ästhetischeBestimmungdesBegehrungsvermö-gens.Da dieseBestimmungnuninnerlichgeradedie-selbeWirkung einesAntriebszur Tätigkeittut, alseinGefühl der Annehmlichkeit, die aus der begehrtenHandlungerwartetwird, würdegetanhaben,sosehen

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Kant-W Bd. 7 246II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

wir das,was wir selbsttun, leichtlich für etwasan,waswir bloß leidentlichfühlen,und nehmendie mo-ralischeTriebfederfür sinnlichenAntrieb,wie dasal-lemal in der sogenanntenTäuschungder Sinne(hierdesinnern)zu geschehenpflegt. Es ist etwassehrEr-habenesin dermenschlichenNatur,unmittelbardurcheinreinesVernunftgesetzzuHandlungenbestimmtzuwerden,undsogardieTäuschung,dasSubjektivedie-ser intellektuellen Bestimmbarkeitdes Willens füretwas Ästhetischesund Wirkung eines besondernsinnlichenGefühls(dennein intellektuelleswäreeinWiderspruch)zu halten.Esist auchvon großerWich-tigkeit, auf dieseEigenschaftunsererPersönlichkeitaufmerksamzu machen,und die Wirkung der Ver-nunft auf diesesGefühl bestmöglichstzu kultivieren.Aber manmußsich auchin Acht nehmen,durchun-echte Hochpreisungendieses moralischenBestim-mungsgrundes,alsTriebfeder,indemmanihm Gefüh-le besondererFreuden,alsGründe(die dochnur Fol-gen sind) unterlegt,die eigentlicheechteTriebfeder,dasGesetzselbst,gleichsamwie durch eine falscheFolie, herabzusetzenund zu verunstalten.Achtungundnicht Vergnügen,oderGenußderGlückseligkeit,ist alsoetwas,wofür kein der Vernunft zum Grundegelegtes,vorhergehendesGefühl (weil diesesjeder-zeit ästhetischund pathologischseinwürde)möglichist, als Bewußtseinder unmittelbarenNötigung des

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Kant-W Bd. 7 246II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

Willens durchGesetz,ist kaumein AnalogendesGe-fühls derLust, indemesim VerhältnissezumBegeh-rungsvermögengeradeebendasselbe,aberausandernQuellen tut; durch diese Vorstellungsartaber kannman allein erreichen,was man sucht, nämlich daßHandlungennicht bloß pflichtmäßig (angenehmenGefühlenzu Folge), sondernausPflicht geschehen,welchesder wahreZweck aller moralischenBildungseinmuß.

Hat manabernicht ein Wort, welchesnicht einenGenuß,wie dasder Glückseligkeit,bezeichnete,aberdochein WohlgefallenanseinerExistenz,ein Analo-gon der Glückseligkeit,welche das BewußtseinderTugendnotwendigbegleitenmuß,anzeigete?Ja!die-sesWort ist Selbstzufriedenheit, welchesin seinerei-gentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negativesWohlgefallenanseinerExistenzandeutet,in welchemmannichtszu bedürfensich bewußtist. FreiheitunddasBewußtseinderselben,als einesVermögens,mitüberwiegenderGesinnungdasmoralischeGesetzzubefolgen,ist UnabhängigkeitvonNeigungen, wenig-stensalsbestimmenden(wenngleichnicht alsaffizie-renden) BewegursachenunseresBegehrens,und, sofern, als ich mir derselbenin der BefolgungmeinermoralischenMaximenbewußtbin, der einzigeQuelleiner notwendigdamit verbundenen,auf keinembe-sonderenGefühleberuhenden,unveränderlichenZu-

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friedenheit,und diesekann intellektuell heißen.Dieästhetische(dieuneigentlichsogenanntwird), welcheauf derBefriedigungderNeigungen,so fein sieauchimmerausgeklügeltwerdenmögen,beruht,kannnie-malsdem,wasmansichdarüberdenkt,adäquatsein.Denndie Neigungenwechseln,wachsenmit der Be-günstigung,die manihnenwiderfahrenläßt,und las-sen immer ein noch größeresLeeresübrig, als manauszufüllengedachthat. Daher sind sie einem ver-nünftigen Wesenjederzeit lästig, und wenn es siegleich nicht abzulegenvermag,so nötigen sie ihmdoch den Wunschab, ihrer entledigtzu sein.Selbsteine Neigungzum Pflichtmäßigen(z.B. zur Wohltä-tigkeit) kann zwar die Wirksamkeitder moralischenMaximensehrerleichtern,aberkeinehervorbringen.Dennallesmußin dieserauf derVorstellungdesGe-setzes,als Bestimmungsgrunde,angelegtsein,wenndie Handlungnicht bloßLegalität, sondernauchMo-ralität enthaltensoll. Neigung ist blind und knech-tisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und dieVernunft,wo esauf Sittlichkeit ankommt,mußnichtbloß den Vormund derselbenvorstellen, sondern,ohneauf sie Rücksichtzu nehmen,als reine prakti-scheVernunft ihr eigenesInteresseganzallein besor-gen.Selbstdies Gefühl desMitleids und der weich-herzigenTeilnehmung,wennesvor der Überlegung,was Pflicht sei, vorhergehtund Bestimmungsgrund

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Kant-W Bd. 7 248II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

wird, ist wohldenkendenPersonenselbstlästig,bringtihre überlegteMaximen in Verwirrung, und bewirktdenWunsch,ihrer entledigtund allein der gesetzge-bendenVernunftunterworfenzusein.

Hieraus läßt sich verstehen:wie das BewußtseindiesesVermögenseiner reinenpraktischenVernunftdurch Tat (die Tugend) ein Bewußtseinder Ober-machtüber seineNeigungen,hiemit also der Unab-hängigkeitvondenselben,folglich auchderUnzufrie-denheit,die dieseimmerbegleitet,undalsoein nega-tives Wohlgefallenmit seinemZustande,d.i. Zufrie-denheit, hervorbringenkönne,welchein ihrer QuelleZufriedenheitmit seinerPersonist. Die Freiheitselbstwird auf solcheWeise (nämlich indirekt) einesGe-nussesfähig, welcher nicht Glückseligkeit heißenkann, weil er nicht vom positivenBeitritt einesGe-fühls abhängt,auch genauzu redennicht Seligkeit,weil er nicht gänzlicheUnabhängigkeitvon Neigun-genund Bedürfnissenenthält,deraberdochder letz-ternähnlichist, sofernnämlichwenigstensseineWil-lensbestimmungsich von ihrem Einflussefrei haltenkann, und also, wenigstensseinemUrsprungenach,der Selbstgenügsamkeitanalogischist, die man nurdemhöchstenWesenbeilegenkann.

Aus dieser Auflösung der Antinomie der prakti-schenreinenVernunft folgt, daßsich in praktischenGrundsätzeneinenatürlicheund notwendigeVerbin-

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Kant-W Bd. 7 248II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

dungzwischendemBewußtseinder Sittlichkeit, undder Erwartungeiner ihr proportioniertenGlückselig-keit, alsFolgederselben,wenigstensalsmöglichden-ken (darum aber freilich noch ebennicht erkennenundeinsehen)lasse;dagegen,daßGrundsätzederBe-werbung um Glückseligkeit unmöglich Sittlichkeithervorbringenkönnen:daßalso dasobersteGut(alsdie ersteBedingungdeshöchstenGuts) Sittlichkeit,GlückseligkeitdagegenzwardaszweiteElementdes-selbenausmache,doch so, daßdiesenur die mora-lisch-bedingte,aberdochnotwendigeFolgedererste-ren sei. In dieserUnterordnungallein ist dashöchsteGut das ganzeObjekt der reinen praktischenVer-nunft, die es sich notwendigals möglich vorstellenmuß,weil esein Gebotderselbenist, zu dessenHer-vorbringung alles Mögliche beizutragen.Weil aberdie Möglichkeit einer solchenVerbindung des Be-dingtenmit seinerBedingunggänzlichzumübersinn-lichenVerhältnissederDingegehört,undnachGeset-zen der Sinnenweltgar nicht gegebenwerdenkann,obzwardie praktischeFolgedieserIdee,nämlichdieHandlungen,die darauf abzielen.das höchsteGutwirklichzumachen,zur Sinnenweltgehören:so wer-denwir die GründejenerMöglichkeit erstlichin An-sehungdessen,wasunmittelbarin unsererGewaltist,und dannzweitensin dem,wasunsVernunft,alsEr-gänzungunseresUnvermögens,zur Möglichkeit des

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Kant-W Bd. 7 249II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen

höchstenGuts (nachpraktischenPrinzipiennotwen-dig) darbietetund nicht in unsererGewalt ist, darzu-stellensuchen.

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Kant-W Bd. 7 249III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in

III. VondemPrimatder reinenpraktischenVernunftin ihrer Verbindungmit derspekulativen

UnterdemPrimatezwischenzweienodermehrerendurchVernunftverbundenenDingenversteheich denVorzug des einen,der ersteBestimmungsgrundderVerbindung mit allen übrigen zu sein. In engerer,praktischenBedeutungbedeutetes den Vorzug desInteressedeseinen,so fern ihm (welcheskeineman-dernnachgesetztwerdenkann) dasInteresseder an-dern untergeordnetist. Einem jeden VermögendesGemüts kann man ein Interessebeilegen,d.i. einPrinzip,welchesdieBedingungenthält,unterwelcherallein die Ausübungdesselbenbefördert wird. DieVernunft,alsdasVermögenderPrinzipien,bestimmtdasInteressealler Gemütskräfte,dasihrige abersichselbst. Das Interesseihres spekulativenGebrauchsbesteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu denhöchstenPrinzipiena priori, dasdespraktischenGe-brauchsin derBestimmungdesWillens, in Ansehungdesletztenund vollständigenZwecks.Das,was zurMöglichkeit einesVernunftgebrauchsüberhaupterfo-derlich ist, nämlich daßdie Prinzipienund Behaup-tungenderselbeneinandernicht widersprechenmüs-sen,machtkeinenTeil ihresInteresseaus,sondernistdie Bedingung,überhauptVernunftzu haben;nur die

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Kant-W Bd. 7 250III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in

Erweiterung,nicht die bloßeZusammenstimmungmitsichselbst,wird zumInteressederselbengezählt.

WennpraktischeVernunft nichtsweiterannehmenund als gegebendenken darf, als was spekulativeVernunft, für sich, ihr aus ihrer Einsicht darreichenkonnte, so führt diesedas Primat. Gesetztaber,siehätte für sich ursprünglichePrinzipien a priori, mitdenengewissetheoretischePositionenunzertrennlichverbundenwären,diesichgleichwohlallermöglichenEinsicht der spekulativenVernunft entzögen(ob siezwarderselbenauchnicht widersprechenmüßten),soist die Frage,welchesInteressedasoberstesei(nicht,welchesweichenmüßte,denneineswiderstreitetdemandernnichtnotwendig);obspekulativeVernunft,dienicht von allem demweiß, was praktischeihr anzu-nehmendarbietet,dieseSätzeaufnehmen,undsie,obsiegleich für sieüberschwenglichsind,mit ihrenBe-griffen, alseinenfremdenaufsieübertragenenBesitz,zu vereinigensuchenmüsse,oder ob sie berechtigtsei,ihremeigenenabgesondertenInteressehartnäckigzu folgen, und, nachder Kanonik desEpikurs,allesals leereVernünftelei auszuschlagen,was seineob-jektive Realität nicht durch augenscheinlichein derErfahrungaufzustellendeBeispielebeglaubigenkann,wenn es gleich noch so sehrmit dem Interessedespraktischen(reinen)Gebrauchsverwebt,ansichauchder theoretischennicht widersprechendwäre, bloß

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Kant-W Bd. 7 250III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in

weil eswirklich so fern demInteresseder spekulati-ven Vernunft Abbruch tut, daß es die Grenzen,diediesesich selbstgesetzt,aufhebt,und sie allem Un-sinnoderWahnsinnderEinbildungskraftpreisgibt.

In derTat, sofern praktischeVernunftalspatholo-gischbedingt,d.i. dasInteresseder Neigungenunterdem sinnlichenPrinzip der Glückseligkeitbloß ver-waltend, zum Grunde gelegt würde, so ließe sichdieseZumutungandie spekulativeVernunftgarnichttun. MahometsParadies,oder der TheosophenundMystiker schmelzendeVereinigungmit der Gottheit,so wie jedemsein Sinn steht,würden der Vernunftihre Ungeheueraufdringen,und eswäreebensogut,gar keine zu haben,als sie auf solcheWeise allenTräumereienpreiszugeben.Allein wenn reine Ver-nunft für sichpraktischseinkannundeswirklich ist,wie dasBewußtseindesmoralischenGesetzesesaus-weiset,so ist es doch immer nur eine und dieselbeVernunft,die, essei in theoretischeroderpraktischerAbsicht,nachPrinzipiena priori urteilt, und da ist esklar, daß,wenn ihr Vermögenin der ersterengleichnicht zulangt,gewisseSätzebehauptendfestzusetzen,indessendaßsie ihr auchebennicht widersprechen,eben diese Sätze, so bald sie unabtrennlich zumpraktischenInteresseder reinen Vernunft gehören,zwaralsein ihr fremdesAngebot,dasnicht auf ihremBodenerwachsen,aberdoch hinreichendbeglaubigt

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Kant-W Bd. 7 251III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in

ist, annehmen,undsie,mit allem,wassiealsspekula-tive Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichenundzu verknüpfensuchenmüsse;dochsichbescheidend,daßdiesesnicht ihre Einsichten,aberdoch Erweite-rungenihresGebrauchsin irgendeineranderen,näm-lich praktischen,Absicht sind, welchesihrem Inte-resse,dasin derEinschränkungdesspekulativenFre-velsbesteht,ganzundgarnicht zuwiderist.

In derVerbindungalsoderreinenspekulativenmitderreinenpraktischenVernunftzu einemErkenntnis-se führt die letzteredasPrimat, vorausgesetztnäm-lich, daß dieseVerbindungnicht etwa zufällig undbeliebig,sonderna priori auf der Vernunft selbstge-gründet,mithin notwendigsei. Denn es würde ohnedieseUnterordnungein Widerstreitder Vernunft mitihr selbstentstehen;weil, wennsieeinanderbloßbei-geordnet(koordiniert)wären,die ersterefür sich ihreGrenzeengeverschließenundnichtsvonderletzterenin ihr Gebietaufnehmen,dieseaberihreGrenzenden-nochüberallesausdehnen,und, wo esihr Bedürfniserheischt,jene innerhalbder ihrigen mit zu befassensuchenwürde.Der spekulativenVernunftaberunter-geordnetzu sein,und alsodie Ordnungumzukehren,kann mander reinenpraktischengar nicht zumuten,weil alles Interessezuletzt praktisch ist, und selbstdas der spekulativenVernunft nur bedingt und impraktischenGebrauchealleinvollständigist.

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Kant-W Bd. 7 252IV. Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der

IV. Die UnsterblichkeitderSeele,alseinPostulatder reinenpraktischenVernunft

Die Bewirkung deshöchstenGuts in der Welt istdasnotwendigeObjekt einesdurchsmoralischeGe-setz bestimmbarenWillens. In diesemaber ist dievöllige Angemessenheitder Gesinnungenzum mora-lischenGesetzedie obersteBedingungdeshöchstenGuts.Siemußalsoebensowohlmöglichsein,als ihrObjekt,weil siein demselbenGebotedieseszu beför-dern enthaltenist. Die völlige AngemessenheitdesWillens aberzummoralischenGesetzeist Heiligkeit,eineVollkommenheit,derenkein vernünftigesWesenderSinnenwelt,in keinemZeitpunkteseinesDaseins,fähig ist. Da sie indessengleichwohl als praktischnotwendiggefedertwird, sokannsienur in eineminsUnendlichegehendenProgressuszu jener völligenAngemessenheitangetroffenwerden,undesist, nachPrinzipiender reinenpraktischenVernunft, notwen-dig, eine solche praktischeFortschreitungals dasrealeObjektunseresWillensanzunehmen.

Dieser unendlicheProgressusist aber nur unterVoraussetzungeiner ins Unendliche fortdaurendenExistenzund PersönlichkeitdesselbenvernünftigenWesens(welche man die Unsterblichkeitder Seelenennt)möglich. Also ist dashöchsteGut, praktisch,

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Kant-W Bd. 7 252IV. Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der

nur unter der Voraussetzungder UnsterblichkeitderSeelemöglich; mithin diese,als unzertrennlichmitdemmoralischenGesetzverbunden,ein PostulatderreinenpraktischenVernunft(worunterich einentheo-retischen, als solchenaber nicht erweislichenSatzverstehe,sofernereinemapriori unbedingtgeltendenpraktischenGesetzeunzertrennlichanhängt).

Der Satzvon dermoralischenBestimmungunsererNatur, nur allein in einemins UnendlichegehendenFortschrittezurvölligenAngemessenheitmit demSit-tengesetzegelangenzu können,ist von demgrößtenNutzen,nicht bloß in Rücksichtauf die gegenwärtigeErgänzungdes Unvermögensder spekulativenVer-nunft, sondernauchin AnsehungderReligion.In Er-mangelungdesselbenwird entwederdasmoralischeGesetzvon seiner Heiligkeit gänzlich abgewürdigt,indemmanessich als nachsichtlich(indulgent),undso unserer Behaglichkeit angemessen,verkünstelt,oder auch seinenBeruf und zugleich ErwartungzueinerunerreichbarenBestimmung,nämlicheinemver-hofften völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens,spannt,undsichin schwärmende,demSelbsterkennt-nis ganzwidersprechendetheosophischeTräumever-liert, durchwelchesbeidesdasunaufhörlicheStreben,zur pünktlichenund durchgängigenBefolgungeinesstrengenunnachsichtlichen,dennochabernicht ideali-schen,sondernwahrenVernunftgebots,nurverhindert

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Kant-W Bd. 7 253IV. Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der

wird. Einemvernünftigen,aberendlichenWesenistnur der Progressusins Unendliche,von niederenzudenhöherenStufendermoralischenVollkommenheit,möglich. Der Unendliche, dem die Zeitbedingungnichtsist, sieht,in dieserfür unsendlosenReihe,dasGanzederAngemessenheitmit demmoralischenGe-setze,und die Heiligkeit, die sein Gebotunnachlaß-lich fodert, um seinerGerechtigkeitin dem Anteil,dener jedemam höchstenGutebestimmt,gemäßzusein,ist in einereinzigenintellektuellenAnschauungdes Daseinsvernünftiger Wesen ganz anzutreffen.WasdemGeschöpfeallein in AnsehungderHoffnungdiesesAnteils zukommenkann,wäredasBewußtseinseinererprüftenGesinnung,umausseinembisherigenFortschrittevomSchlechterenzumMoralischbesserenunddemdadurchihm bekanntgewordenenunwandel-barenVorsatzeeinefernereununterbrocheneFortset-zungdesselben,wie weit seineExistenzauchimmerreichenmag,selbstüberdiesesLebenhinaus,zu hof-fen,12 und so, zwar niemals hier, oder in irgendeinem absehlichenkünftigen Zeitpunkte seinesDa-seins,sondernnur in der (Gott allein übersehbaren)UnendlichkeitseinerFortdauer,demWillen desselben(ohneNachsichtoderErfassung,welchesich mit derGerechtigkeitnicht zusammenreimt)völlig adäquatzusein.

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Kant-W Bd. 7 254V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

V. DasDaseinGottes,alseinPostulatder reinenpraktischenVernunft

DasmoralischeGesetzführetein dervorhergehen-den Zergliederungzur praktischenAufgabe,welche,ohneallen Beitritt sinnlicherTriebfedern,bloß durchreineVernunftvorgeschriebenwird, nämlichdernot-wendigenVollständigkeitdeserstenundvornehmstenTeilsdeshöchstenGuts,derSittlichkeit, und,dadiesenur in einerEwigkeit völlig aufgelösetwerdenkann,zumPostulatderUnsterblichkeit. EbendiesesGesetzmußauchzur Möglichkeit deszweitenElementsdeshöchstenGuts, nämlich der jener Sittlichkeit ange-messenenGlückseligkeit, ebenso uneigennützig,wievorher, aus bloßer unparteiischerVernunft, nämlichauf die VoraussetzungdesDaseinseinerdieserWir-kungadäquatenUrsacheführen,d.i. dieExistenzGot-tes, als zur Möglichkeit deshöchstenGuts (welchesObjekt unseresWillens mit der moralischenGesetz-gebungderreinenVernunftnotwendigverbundenist)notwendig gehörig, postulieren.Wir wollen diesenZusammenhangüberzeugenddarstellen.

Glückseligkeitist der ZustandeinesvernünftigenWesensin der Welt, demes, im GanzenseinerExi-stenz,allesnachWunschundWillen geht, und beru-het also auf der Übereinstimmungder Natur zu sei-

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Kant-W Bd. 7 255V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

nem ganzenZwecke, imgleichenzum wesentlichenBestimmungsgrundeseinesWillens.Nun gebietetdasmoralischeGesetz,als ein Gesetzder Freiheit,durchBestimmungsgründe,dievonderNaturundderÜber-einstimmungderselbenzu unseremBegehrungsver-mögen(alsTriebfedern)ganzunabhängigseinsollen;dashandelndevernünftigeWesenin derWelt aberistdochnicht zugleichUrsacheder Welt und der Naturselbst.Also ist in demmoralischenGesetzenicht dermindesteGrund zu einemnotwendigenZusammen-hangzwischenSittlichkeit und der ihr proportionier-ten Glückseligkeiteineszur Welt als Teil gehörigen,unddahervon ihr abhängigen,Wesens,welchesebendarumdurchseinenWillen nichtUrsachedieserNatursein, und sie, was seineGlückseligkeitbetrifft, mitseinenpraktischenGrundsätzenauseigenenKräftennicht durchgängigeinstimmigmachenkann.Gleich-wohl wird in derpraktischenAufgabederreinenVer-nunft,d.i. dernotwendigenBearbeitungzumhöchstenGute,ein solcherZusammenhangals notwendigpo-stuliert: wir sollen das höchsteGut (welches alsodoch möglich sein muß) zu befördernsuchen.Alsowird auchdasDaseineinervon derNaturunterschie-denenUrsachedergesamtenNatur,welchedenGrunddiesesZusammenhanges,nämlichder genauenÜber-einstimmungder Glückseligkeitmit der Sittlichkeit,enthalte,postuliert. DieseobersteUrsacheabersoll

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Kant-W Bd. 7 255V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

denGrundderÜbereinstimmungderNaturnicht bloßmit einem Gesetzedes Willens der vernünftigenWesen,sondernmit der VorstellungdiesesGesetzes,so fern diese es sich zum oberstenBestimmungs-grunde des Willens setzen,also nicht bloß mit denSittenderFormnach,sondernauchihrer Sittlichkeit,als dem Bewegungsgrundederselben,d.i. mit ihrermoralischenGesinnungenthalten.Also ist dashöch-steGut in der Welt nur möglich,so fern eineoberstederNaturangenommenwird, dieeinedermoralischenGesinnunggemäßeKausalitäthat.Nun ist einWesen,dasderHandlungennachderVorstellungvon Geset-zenfähig ist, eineIntelligenz(vernünftigWesen)unddie KausalitäteinessolchenWesensnachdieserVor-stellungder Gesetzeein Wille desselben.Also ist dieobersteUrsacheder Natur, so fern sie zum höchstenGute vorausgesetztwerden muß, ein Wesen, dasdurchVerstandund Willen die Ursache(folglich derUrheber)der Natur ist, d.i. Gott. Folglich ist dasPo-stulat der Möglichkeit des höchsten abgeleitetenGuts (der bestenWelt) zugleich das Postulat derWirklichkeit eines höchstenursprünglichen Guts,nämlichder ExistenzGottes.Nun war es Pflicht füruns,dashöchsteGut zu befördern,mithin nicht alleinBefugnis,sondernauchmit der Pflicht als BedürfnisverbundeneNotwendigkeit, die Möglichkeit dieseshöchstenGuts vorauszusetzen,welches,da es nur

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Kant-W Bd. 7 256V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

unter der Bedingungdes DaseinsGottesstattfindet,die Voraussetzungdesselbenmit der Pflicht unzer-trennlich verbindet,d.i. es ist moralischnotwendig,dasDaseinGottesanzunehmen.

Hier ist nunwohl zu merken,daßdiesemoralischeNotwendigkeitsubjektiv, d.i. Bedürfnis,undnicht ob-jektiv, d.i. selbstPflicht sei; dennes kann gar keinePflicht geben,die ExistenzeinesDingesanzunehmen(weil diesesbloßdentheoretischenGebrauchderVer-nunft angeht).Auch wird hierunternicht verstanden,daß die Annehmungdes DaseinsGottes,als einesGrundesaller Verbindlichkeitüberhaupt, notwendigsei (denn dieser beruht, wie hinreichendbewiesenworden, lediglich auf der Autonomie der Vernunftselbst).Zur Pflicht gehörthier nur die BearbeitungzuHervorbringungund BeförderungdeshöchstenGutsin der Welt, dessenMöglichkeit also postuliertwer-denkann,dieaberunsereVernunftnichtandersdenk-bar findet, alsunterVoraussetzungeinerhöchstenIn-telligenz,derenDaseinanzunehmenalsomit demBe-wußtseinunsererPflicht verbundenist, obzwardieseAnnehmungselbstfür die theoretischeVernunft ge-hört, in Ansehungderenallein sie, als Erklärungs-grund betrachtet,Hypothese, in BeziehungaberaufdieVerständlichkeiteinesunsdochdurchsmoralischeGesetzaufgegebenenObjekts (des höchstenGuts),mithin eines Bedürfnissesin praktischer Absicht,

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Kant-W Bd. 7 257V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

Glaube, und zwar reiner Vernunftglaube, heißenkann,weil bloßreineVernunft (sowohlihremtheore-tischenals praktischenGebrauchenach) die Quelleist, darauserentspringt.

Aus dieserDeduktionwird esnunmehrbegreiflich,warumdie griechischenSchulenzur AuflösungihresProblemsvon der praktischenMöglichkeit deshöch-sten Guts niemals gelangenkonnten; weil sie nurimmer die RegeldesGebrauchs,den der Wille desMenschenvon seinerFreiheit macht, zum einzigenund für sich allein zureichendenGrunde derselbenmachten,ohne, ihrem Bedünkennach, das DaseinGottesdazuzu bedürfen.Zwar tatensie daranrecht,daßsiedasPrinzipderSittenunabhängigvon diesemPostulat,für sich selbst,ausdemVerhältnisder Ver-nunftalleinzumWillen, festsetzten,undesmithin zuroberstenpraktischenBedingungdes höchstenGutsmachten;es war aberdarumnicht die ganzeBedin-gung der Möglichkeit desselben.Die Epikureerhat-tennunzwarein ganzfalschesPrinzipderSittenzumoberstenangenommen,nämlich das der Glückselig-keit, und eine Maxime der beliebigenWahl, nachjedesseinerNeigung,für ein Gesetzuntergeschoben;aberdarin verfuhrensiedochkonsequentgenug,daßsie ihr höchstesGut ebenso,nämlichderNiedrigkeitihresGrundsatzesproportionierlich,abwürdigten,undkeine größereGlückseligkeiterwarteten,als die sich

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Kant-W Bd. 7 257V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

durchmenschlicheKlugheit (wozu auchEnthaltsam-keit und Mäßigungder Neigungengehört)erwerbenläßt,die,wie manweiß,kümmerlichgenug,undnachUmständensehrverschiedentlich,ausfallenmuß;dieAusnahmen,welcheihre Maximenunaufhörlichein-räumenmußten,und die sie zu Gesetzenuntauglichmachen,nicht einmal gerechnet.Die Stoiker hattendagegenihr oberstespraktischesPrinzip,nämlichdieTugend,als BedingungdeshöchstenGutsganzrich-tig gewählt,aber,indemsie denGradderselben,derfür dasreineGesetzderselbenerforderlichist, als indiesemLebenvöllig erreichbarvorstelleten,nicht al-lein dasmoralischeVermögendesMenschen, unterdemNameneinesWeisen, überalle SchrankenseinerNaturhochgespannt,undetwas,dasaller Menschen-kenntnis widerspricht, angenommen,sondernauchvornehmlichdaszweite zum höchstenGut gehörigeBestandstück, nämlich die Glückseligkeit,gar nichtfür einen besonderenGegenstanddes menschlichenBegehrungsvermögenswollen geltenlassen,sondernihren Weisen, gleich einer Gottheit, im Bewußtseinder Vortrefflichkeit seinerPerson,von der Natur (inAbsichtauf seineZufriedenheit)ganzunabhängigge-macht,indemsie ihn zwarÜbelndesLebensaussetz-ten, aber nicht unterwarfen(zugleich auch als freivom Bösendarstelleten),und so wirklich daszweiteElement des höchstenGuts, eigene Glückseligkeit

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Kant-W Bd. 7 258V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

wegließen,indemsieesbloßim HandelnundderZu-friedenheit mit seinempersönlichenWerte setzten,und also im Bewußtseinder sittlichen Denkungsartmit einschlossen,worin sie aber durch die Stimmeihrer eigenenNaturhinreichendhättenwiderlegtwer-denkönnen.

Die LehredesChristentums13, wennmansie auchnoch nicht als Religionslehrebetrachtet,gibt in die-sem Stücke einen Begriff des höchstenGuts (desReichsGottes),deralleinderstrengstenFoderungderpraktischenVernunft ein Gnügetut. Das moralischeGesetzist heilig (unnachsichtlich)und fodert Heilig-keit derSitten,obgleichallemoralischeVollkommen-heit, zu welcherder Menschgelangenkann, immernur Tugendist, d.i. gesetzmäßigeGesinnungausAch-tung fürs Gesetz,folglich Bewußtseineineskontinu-ierlichenHangeszur Übertretung,wenigstensUnlau-terkeit,d.i. Beimischungvieler unechter(nicht mora-lischer)Bewegungsgründezur BefolgungdesGeset-zes,folglich einemit DemutverbundeneSelbstschät-zung, und also in Ansehungder Heiligkeit, welchedaschristlicheGesetzfodert,nichtsalsFortschrittinsUnendlichedem Geschöpfeübrig läßt, eben daheraberauchdasselbezur Hoffnung seinerins Unendli-che gehendenFortdauerberechtigt.Der Wert einerdemmoralischenGesetzevöllig angemessenenGesin-nungist unendlich;weil allemöglicheGlückseligkeit,

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Kant-W Bd. 7 260V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

im Urteile einesweisenund allesvermögendenAus-teilersderselben,keineandereEinschränkunghat,alsdenMangelder AngemessenheitvernünftigerWesenan ihrer Pflicht. Aber dasmoralischeGesetzfür sichverheißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist,nach Begriffen von einer Naturordnungüberhaupt,mit derBefolgungdesselbennicht notwendigverbun-den. Die christliche Sittenlehreergänztnun diesenMangel (deszweitenunentbehrlichenBestandstücksdeshöchstenGuts) durch die Darstellungder Welt,darin vernünftigeWesensich demsittlichenGesetzevon ganzerSeeleweihen,als einesReichsGottes, inwelchemNatur und Sitten in eine, jeder von beidenfür sichselbstfremde,Harmonie,durcheinenheiligenUrheber kommen,der das abgeleitetehöchsteGutmöglich macht.Die Heiligkeit der Sitten wird ihnenin diesemLebenschonzur Richtschnurangewiesen,das dieserproportionierteWohl aber, die Seligkeit,nur als in einerEwigkeit erreichbarvorgestellt;weiljene immer das Urbild ihres Verhaltens in jedemStandeseinmuß,und dasFortschreitenzu ihr schonin diesemLeben möglich und notwendig ist, dieseaberin dieserWelt, unterdemNamenderGlückselig-keit, garnicht erreichtwerdenkann(soviel auf unserVermögenankommt),und daher lediglich zum Ge-genstandederHoffnunggemachtwird. Diesemunge-achtet ist das christliche Prinzip der Moral selbst

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Kant-W Bd. 7 260V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

dochnicht theologisch(mithin Heteronomie),sondernAutonomieder reinenpraktischenVernunft für sichselbst,weil siedie ErkenntnisGottesundseinesWil-lens nicht zum GrundedieserGesetze,sondernnurder Gelangungzum höchstenGute,unterder Bedin-gung der Befolgungderselbenmacht,und selbstdieeigentlicheTriebfederzuBefolgungderersterennichtin dengewünschtenFolgenderselben,sondernin derVorstellungderPflicht allein setzt,als in derentreuerBeobachtungdie WürdigkeitdesErwerbsder letzternalleinbesteht.

Auf solche Weise führt das moralische GesetzdurchdenBegriff deshöchstenGuts,als dasObjektund den Endzweckder reinenpraktischenVernunft,zur Religion, d.i. zur Erkenntnisaller Pflichten alsgöttlicher Gebote,nicht als Sanktionen,d.i. willkür-liche für sich selbst zufällige Verordnungen,einesfremdenWillens, sondernals wesentlicherGesetzeeines jeden freien Willens für sich selbst,die aberdennochals GebotedeshöchstenWesensangesehenwerdenmüssen,weil wir nur von einemmoralisch-vollkommenen(heiligenund gütigen),zugleichauchallgewaltigenWillen dashöchsteGut, welcheszumGegenstandeunsererBestrebungzu setzenuns dasmoralischeGesetzzur Pflicht macht,und alsodurchÜbereinstimmungmit diesemWillen dazuzu gelan-genhoffenkönnen.Auch hier bleibt daherallesunei-

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gennützigund bloß auf Pflicht gegründet;ohnedaßFurchtoderHoffnungalsTriebfedernzumGrundege-legt werdendürften,die, wennsiezu Prinzipienwer-den, den ganzenmoralischenWert der Handlungenvernichten.DasmoralischeGesetzgebietet,dashöch-ste möglicheGut in einer Welt mir zum letztenGe-genstandealles Verhaltenszu machen.Diesesaberkannich nicht zu bewirkenhoffen,als nur durchdieÜbereinstimmungmeinesWillens mit demeineshei-ligen undgütigenWelturhebers,und,obgleichin demBegriffe des höchstenGuts, als dem einesGanzen,worin die größte Glückseligkeit mit dem größtenMaßesittlicher (in Geschöpfenmöglicher)Vollkom-menheit,als in der genaustenProportionverbundenvorgestelltwird, meineeigeneGlückseligkeitmit ent-haltenist: so ist doch nicht sie, sonderndasmorali-sche Gesetz(welches vielmehr mein unbegrenztesVerlangen darnach auf Bedingungenstrenge ein-schränkt)derBestimmungsgrunddesWillens,derzurBeförderungdeshöchstenGutsangewiesenwird.

Daherist auchdieMoral nichteigentlichdieLehre,wie wir uns glücklich machen, sondernwie wir derGlückseligkeitwürdigwerdensollen.Nur denn,wennReligiondazukommt,tritt auchdie Hoffnungein,derGlückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zuwerden,als wir daraufbedachtgewesen,ihrer nichtunwürdigzusein.

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Würdig ist jemanddesBesitzeseiner Sache,odereinesZustandes,wenn,daßer in diesemBesitzesei,mit demhöchstenGutezusammenstimmt.Man kannjetzt leicht einsehen,daßalle Würdigkeit auf dassitt-licheVerhaltenankomme,weil diesesim BegriffedeshöchstenGuts die Bedingungdesübrigen(waszumZustandegehört),nämlichdesAnteils anGlückselig-keit ausmacht.Nun folgt hieraus:daßmandie Moralan sich niemals als Glückseligkeitslehrebehandelnmüsse,d.i. als eine Anweisung,der Glückseligkeitteilhaftig zu werden;dennsiehateslediglich mit derVernunftbedingung(conditiosinequanon)derletzte-ren, nicht mit einemErwerbmittelderselbenzu tun.Wennsie aber(die bloß Pflichtenauferlegt,nicht ei-gennützigenWünschenMaßregelnan die Handgibt)vollständig vorgetragen worden: alsdenn allererstkann,nachdemdersichaufeinGesetzgründendemo-ralischeWunsch,dashöchsteGut zu befördern(dasReichGotteszu unszu bringen),dervorherkeinerei-gennützigenSeeleaufsteigenkonnte, erweckt, undihm zumBehufderSchrittzurReligiongeschehenist,diese Sittenlehreauch Glückseligkeitslehregenanntwerden,weil die Hoffnungdazunur mit derReligionallererstanhebt.

Auch kann man hierausersehen:daß,wenn mannach dem letztenZweckeGottes in SchöpfungderWelt frägt, mannicht die Glückseligkeitdervernünf-

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tigen Wesenin ihr, sonderndashöchsteGut nennenmüsse,welchesjenemWunschedieserWesennocheineBedingung,nämlichdie,derGlückseligkeitwür-dig zu sein, d.i. die Sittlichkeit ebenderselbenver-nünftigenWesen,hinzufügt, die allein den Maßstabenthält,nachwelchemsie allein der ersteren,durchdie HandeinesweisenUrhebers,teilhaftig zu werdenhoffen können. Denn, da Weisheit, theoretischbe-trachtet, die Erkenntnis des höchstenGuts, und,praktisch, die Angemessenheitdes Willens zumhöchstenGutebedeutet,so kannmaneinerhöchstenselbständigenWeisheit nicht einen Zweck beilegen,der bloß auf Gütigkeit gegründetwäre.Denn dieserihre Wirkung (in Ansehungder Glückseligkeit dervernünftigenWesen)kann man nur unter den ein-schränkendenBedingungenderÜbereinstimmungmitder Heiligkeit14 seinesWillens, alsdemhöchstenur-sprünglichenGuteangemessen,denken.Daherdieje-nige, welcheden Zweck der Schöpfungin die EhreGottes(vorausgesetzt,daßmandiesenicht anthropo-morphistisch, als Neigung, gepriesenzu werden,denkt) setzten,wohl den bestenAusdruck getroffenhaben.Dennnichtsehrt Gott mehr,als das,wasdasSchätzbarstein der Welt ist, die Achtung für seinGebot,die Beobachtungder heiligenPflicht, die unssein Gesetzauferlegt,wenn seineherrliche Anstaltdazukommt, eine solcheschöneOrdnungmit ange-

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Kant-W Bd. 7 263V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen

messenerGlückseligkeit zu krönen. Wenn ihn dasletztere(auf menschlicheArt zu reden)liebenswürdigmacht,so ist er durchdaserstereein GegenstandderAnbetung(Adoration).SelbstMenschenkönnensichdurch Wohltun zwar Liebe, aberdadurchallein nie-malsAchtungerwerben,sodaßdie größteWohltätig-keit ihnennur dadurchEhremacht,daßsienachWür-digkeit ausgeübtwird.

Daß,in derOrdnungderZwecke,derMensch(mitihm jedesvernünftigeWesen)Zweckan sich selbstsei,d.i. niemalsbloß als Mittel von jemanden(selbstnicht von Gott),ohnezugleichhiebeiselbstZweckzusein,könnegebrauchtwerden,daßalsodie Mensch-heit in unsererPersonuns selbstheilig sein müsse,folgt nunmehrvon selbst,weil er dasSubjektdesmo-ralischen Gesetzes, mithin dessenist, was an sichheilig ist, um dessenwillen und in Einstimmungmitwelchem auch überhauptnur etwas heilig genanntwerdenkann.DenndiesesmoralischeGesetzgründetsichauf derAutonomieseinesWillens, alseinesfrei-en Willens, der nach seinenallgemeinenGesetzennotwendigzu demjenigenzugleichmuß einstimmenkönnen,welchemersiehunterwerfensoll.

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Kant-W Bd. 7 264VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft

VI. ÜberdiePostulateder reinenpraktischenVernunftüberhaupt

Sie gehenalle vom Grundsätzeder Moralität aus,der kein Postulat,sondernein Gesetzist, durchwel-chesVernunftmittelbardenWillen bestimmt,welcherWille ebendadurch,daßer sobestimmtist, als reinerWille, diesenotwendigeBedingungender Befolgungseiner Vorschrift fodert. Diese Postulatesind nichttheoretischeDogmata,sondernVoraussetzungeninnotwendigpraktischerRücksicht,erweiternalsozwardasspekulativeErkenntnis,gebenaberdenIdeenderspekulativenVernunft im allgemeinen(vermittelstihrer Beziehungaufs Praktische)objektive Realität,und berechtigensie zu Begriffen, derenMöglichkeitauchnur zu behauptensie sich sonstnicht anmaßenkönnte.

Diese Postulatesind die der Unsterblichkeit, derFreiheit, positiv betrachtet(als der KausalitäteinesWesens,so fern es zur intelligibelen Welt gehört),und des Daseins Gottes. Das erste fließt aus derpraktischnotwendigenBedingungder Angemessen-heit der Dauerzur Vollständigkeitder Erfüllung desmoralischenGesetzes;daszweiteausder notwendi-genVoraussetzungder Unabhängigkeitvon der Sin-nenweltund desVermögensder Bestimmungseines

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Kant-W Bd. 7 264VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft

Willens, nachdemGesetzeeiner intelligibelenWelt,d.i. derFreiheit;dasdritte ausderNotwendigkeitderBedingungzu einer solchenintelligibelen Welt, umdashöchsteGut zu sein,durchdie VoraussetzungdeshöchstenselbständigenGuts,d.i. desDaseinsGottes.

Die durchdie Achtungfürs moralischeGesetznot-wendigeAbsicht aufs höchsteGut, und darausflie-ßendeVoraussetzungder objektivenRealitätdessel-ben, führt also durch Postulateder praktischenVer-nunft zu Begriffen, welchedie spekulativeVernunftzwar als Aufgabenvortragen,sie abernicht auflösenkonnte.Also 1. zu derjenigen,in derenAuflösungdieletztere nichts, als Paralogismenbegehenkonnte(nämlich der Unsterblichkeit),weil es ihr am Merk-maleder Beharrlichkeitfehlete,um den psychologi-schen Begriff eines letzten Subjekts, welcher derSeeleim Selbstbewußtseinnotwendigbeigelegtwird,zur realenVorstellung einer Substanzzu ergänzen,welchesdie praktischeVernunft, durchdasPostulat,einer zur Angemessenheitmit dem moralischenGe-setzeim höchstenGute,als demganzenZweckederpraktischenVernunft, erforderlichenDauer,ausrich-tet. 2. Führt sie zu dem,wovon die spekulativeVer-nunft nichts als Antinomieenthielt,derenAuflösungsienur aufeinemproblematischzwardenkbaren,aberseinerobjektivenRealitätnachfür sie nicht erweisli-chen und bestimmbarenBegriffe gründen konnte,

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Kant-W Bd. 7 265VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft

nämlich die kosmologischeIdee einer intelligibelenWelt und dasBewußtseinunseresDaseinsin dersel-ben,vermittelstdesPostulatsderFreiheit(derenRea-lität siedurchdasmoralischeGesetzdarlegt,undmitihm zugleich das Gesetzeiner intelligibelen Welt,worauf die spekulativenur hinweisen,ihren Begriffabernicht bestimmenkonnte).3. Verschafftsie dem,wasspekulativeVernunft zwar denken,aberals blo-ßestranszendentalesIdeal unbestimmtlassenmußte,demtheologischenBegriffedesUrwesens,Bedeutung(in praktischerAbsicht, d.i. als einer BedingungderMöglichkeit desObjektseinesdurchjenesGesetzbe-stimmten Willens), als dem oberstenPrinzip deshöchstenGuts in einer intelligibelenWelt, durchge-walthabendemoralischeGesetzgebungin derselben.

Wird nun aber unser Erkenntnis auf solche Artdurch reine praktischeVernunft wirklich erweitert,undist das,wasfür die spekulativetranszendentwar,in derpraktischenimmanent? Allerdings,abernur inpraktischer Absicht. Denn wir erkennenzwar da-durchwederunsererSeeleNatur,nochdie intelligibe-le Welt, nochdashöchsteWesen,nachdem,wassiean sich selbstsind, sondernhabennur die Begriffevon ihnenim praktischenBegriffe deshöchstenGutsvereinigt,als demObjekteunseresWillens, und völ-lig a priori, durchreineVernunft,abernur vermittelstdes moralischenGesetzes,und auch bloß in Bezie-

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Kant-W Bd. 7 266VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft

hung auf dasselbe,in AnsehungdesObjekte,dasesgebietet.Wie aberauchnur die Freiheitmöglich sei,undwie mansichdieseArt von Kausalitättheoretischundpositiv vorzustellenhabe,wird dadurchnichtein-gesehen,sondernnur,daßeinesolchesei,durchsmo-ralischeGesetzundzu dessenBehufpostuliert.Soistesauchmit denübrigenIdeenbewandt,dienachihrerMöglichkeit kein menschlicherVerstandjemals er-gründen,aberauch,daßsienichtwahreBegriffesind,keine Sophistereider Überzeugung,selbst des ge-meinstenMenschen,jemalsentreißenwird.

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Kant-W Bd. 7 266VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

VII. WieeineErweiterungder reinenVernunft,inpraktischerAbsicht,ohnedamitihr Erkenntnis,als

spekulativ,zugleichzuerweitern,zudenkenmöglichsei?

Wir wollen dieseFrage,um nicht zu abstraktzuwerden,sofort in Anwendungauf den vorliegendenFall beantworten.– Um ein reinesErkenntnisprak-tischzu erweitern,mußeineAbsichta priori gegebensein, d.i. ein Zweck, als Objekt (desWillens), wel-ches,unabhängigvon allen theologischenGrundsät-zen,durcheinendenWillen unmittelbarbestimmen-den (kategorischen)Imperativ,als praktisch-notwen-dig vorgestelltwird, unddasist hier dashöchsteGut.Diesesist abernicht möglich, ohnedrei theoretischeBegriffe (für die sich, weil sie bloßereineVernunft-begriffe sind, keine korrespondierendeAnschauung,mithin, auf demtheoretischenWege,keineobjektiveRealitätfindenläßt)vorauszusetzen:nämlichFreiheit,Unsterblichkeit,und Gott. Also wird durchsprakti-scheGesetz,welchesdie Existenzdes höchstenineinerWelt möglichenGutsgebietet,die Möglichkeitjener Objekte der reinen spekulativenVernunft, dieobjektive Realität,welche dieseihnen nicht sichernkonnte,postuliert;wodurchdenndie theoretischeEr-kenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zu-

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Kant-W Bd. 7 267VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

wachsbekommt,deraberbloßdarinbesteht,daßjenefür siesonstproblematische(bloßdenkbare)Begriffejetzt assertorischfür solche erklärt werden, denenwirklich Objekte zukommen,weil praktischeVer-nunft die Existenzderselbenzur Möglichkeit ihres,undzwarpraktisch-schlechthinnotwendigen,Objektsdes höchstenGuts unvermeidlich bedarf, und dietheoretischedadurchberechtigtwird, sievorauszuset-zen.DieseErweiterungdertheoretischenVernunft istaber keine Erweiterungder Spekulation,d.i. um intheoretischerAbsicht nunmehreinen positiven Ge-brauchdavonzumachen.DenndanichtsweiterdurchpraktischeVernunft hiebei geleistetworden,als daßjeneBegriffe real sind, und wirklich ihre (mögliche)Objektehaben,dabeiaberuns nichts von Anschau-ungderselbengegebenwird (welchesauchnichtgefe-dert werden kann), so ist kein synthetischerSatzdurch dieseeingeräumteRealitätderselbenmöglich.Folglich hilft unsdieseEröffnungnicht im mindestenin spekulativerAbsicht, wohl aber in AnsehungdespraktischenGebrauchsder reinenVernunft, zur Er-weiterung diesesunseresErkenntnisses.Die obigedrei Ideen der spekulativenVernunft sind an sichnochkeineErkenntnisse;dochsindes(transzendente)Gedanken, in denennichtsUnmöglichesist. Nun be-kommensie durchein apodiktischespraktischesGe-setz, als notwendigeBedingungender Möglichkeit

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Kant-W Bd. 7 267VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

dessen,was diesessich zumObjektezu machenge-bietet,objektiveRealität,d.i. wir werdendurchjenesangewiesen,daß sie Objektehaben, ohnedoch,wiesich ihr Begriff auf ein Objekt bezieht,anzeigenzukönnen,unddasist auchnochnichtErkenntnisdieserObjekte; dennmankanndadurchgar nichtsübersiesynthetischurteilen,noch die Anwendungderselbentheoretischbestimmen,mithin von ihnen gar keinentheoretischenGebrauchder Vernunft machen,alsworin eigentlichallespekulativeErkenntnisderselbenbesteht.AberdennochwarddastheoretischeErkennt-nis, zwar nicht dieser Objekte, aber der Vernunftüberhaupt,dadurchso fern erweitert,daßdurch diepraktischenPostulatejenenIdeendochObjektegege-benwurden,indemeinbloßproblematischerGedankedadurchallererstobjektiveRealitätbekam.Also wares keine Erweiterungder Erkenntnisvon gegebenenübersinnlichenGegenständen, aberdocheineErwei-terungder theoretischenVernunftundderErkenntnisderselbenin AnsehungdesÜbersinnlichenüberhaupt,so fern als sie genötigtwurde,daßessolcheGegen-ständegebe, einzuräumen,ohnesie doch näherbe-stimmen,mithin diesesErkenntnisvon denObjekten(die ihr nunmehrauspraktischemGrunde,und auchnur zum praktischenGebrauche,gegebenworden)selbsterweiternzukönnen,welchenZuwachsalsodiereine theoretischeVernunft, für die alle jene Ideen

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Kant-W Bd. 7 268VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

transzendentund ohne Objekt sind, lediglich ihremreinenpraktischenVermögenzu verdankenhat.Hierwerden sie immanent und konstitutiv, indem sieGründederMöglichkeit sind,dasnotwendigeObjektder reinen praktischenVernunft (das höchsteGut)wirklich zu machen, da sie, ohnedies, transzendentund bloß regulativePrinzipiender spekulativenVer-nunft sind,die ihr nicht ein neuesObjektüberdie Er-fahrung hinausanzunehmen,sondernnur ihren Ge-brauchin der Erfahrungder Vollständigkeitzu nähe-ren,auferlegen.Ist aberdieVernunfteinmalim Besit-zediesesZuwachses,sowird sie,alsspekulativeVer-nunft (eigentlichnur zur SicherungihrespraktischenGebrauchs),negativ, d.i. nicht erweiternd,sondernläuternd,mit jenenIdeenzu Werkegehen,um einer-seits den Anthropomorphismals den Quell der Su-perstition, oderscheinbareErweiterungjenerBegriffedurchvermeinteErfahrung,andererseitsdenFanati-zism, der sie durch übersinnlicheAnschauungoderdergleichenGefühleverspricht,abzuhalten;welchesallesHindernissedespraktischenGebrauchsder rei-nenVernunft sind,derenAbwehrungalsozu der Er-weiterungunsererErkenntnisin praktischerAbsichtallerdingsgehört,oderdaßesdieserwiderspricht,zu-gleich zu gestehen,daßdie Vernunft in spekulativerAbsichtdadurchim mindestennichtsgewonnenhabe.

Zu jedem Gebraucheder Vernunft in Ansehung

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Kant-W Bd. 7 269VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

einesGegenstandeswerdenreineVerstandesbegriffe(Kategorien) erfodert,ohnedie kein Gegenstandge-dachtwerdenkann.Diesekönnenzum theoretischenGebrauchederVernunft,d.i. zu dergleichenErkennt-nisnurangewandtwerden,sofern ihnenzugleichAn-schauung(die jederzeitsinnlich ist) untergelegtwird,undalsobloß,um durchsieein ObjektmöglicherEr-fahrung vorzustellen.Nun sind hier aber Ideen derVernunft,die in garkeinerErfahrunggegebenwerdenkönnen,das,wasich durchKategoriendenkenmüßte,um es zu erkennen.Allein es ist hier auchnicht umdastheoretischeErkenntnisderObjektedieserIdeen,sondernnur darum,daßsieüberhauptObjektehaben,zu tun.DieseRealitätverschafftreinepraktischeVer-nunft, undhiebeihatdie theoretischeVernunftnichtsweiterzu tun, als jeneObjektedurchKategorienbloßzu denken, welches,wie wir sonstdeutlichgewiesenhaben,ganz wohl, ohne Anschauung(weder sinnli-che,nochübersinnliche)zubedürfen,angeht,weil dieKategorienim reinenVerstandeunabhängigund voraller Anschauung,lediglich als dem Vermögenzudenken, ihren Sitz und Ursprung haben, und sieimmernur einObjektüberhauptbedeuten,aufwelcheArt esunsauchimmergegebenwerdenmag. Nun istdenKategorien,so fern sieauf jeneIdeenangewandtwerdensollen,zwar kein Objekt in der Anschauungzu gebenmöglich;esist ihnenaberdoch,daßeinsol-

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cheswirklich sei, mithin die Kategorie,alseinebloßeGedankenform,hiernicht leersei,sondernBedeutunghabe,durch ein Objekt, welchesdie praktischeVer-nunft im BegriffedeshöchstenGutsungezweifeltdar-bietet, die Realität der Begriffe, die zum Behuf derMöglichkeit deshöchstenGutsgehören,hinreichendgesichert,ohnegleichwohldurchdiesenZuwachsdiemindesteErweiterungdesErkenntnissesnachtheore-tischenGrundsätzenzubewirken.

* * *

Wenn,nächstdem,dieseIdeenvon Gott, einer in-telligibelen Welt (dem ReicheGottes)und der Un-sterblichkeit durch Prädikatebestimmt werten, dievonunserereigenenNaturhergenommensind,sodarfman diese Bestimmungweder als Versinnlichungjener reinen Vernunftideen(Anthropomorphismen),noch als überschwenglichesErkenntnis übersinnli-cherGegenständeansehen;denndiesePrädikatesindkeineanderealsVerstandundWille, undzwarso imVerhältnissegegeneinanderbetrachtet,alssieim mo-ralischenGesetzegedachtwerdenmüssen,also nur,soweit von ihnenein reinerpraktischerGebrauchge-machtwird. Von allemübrigen,wasdiesenBegriffenpsychologischanhängt,d.i. so fern wir dieseunsereVermögenin ihrer Ausübungempirischbeobachten

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Kant-W Bd. 7 270VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

(z.B., daßder VerstanddesMenschendiskursiv ist,seineVorstellungenalsoGedanken,nichtAnschauun-gen sind, daßdiesein der Zeit auf einanderfolgen,daßseinWille immermit einerAbhängigkeitderZu-friedenheitvon derExistenzseinesGegenstandesbe-haftetist, u.s.w.,welchesim höchstenWesensonichtsein kann), wird alsdennabstrahiert,und so bleibtvon denBegriffen,durchdie wir unsein reinesVer-standeswesendenken,nichts mehr übrig, als geradezurMöglichkeiterfoderlichist, sicheinmoralischGe-setz zu denken,mithin zwar ein ErkenntnisGottes,aber nur in praktischerBeziehung,wodurch, wennwir den Versuchmachen,es zu einemtheoretischenzu erweitern,wir einen Verstanddesselbenbekom-men,dernichtdenkt,sondernanschaut, einenWillen,derauf Gegenständegerichtetist, von derenExistenzseineZufriedenheitnicht im mindestenabhängt(ichwill nicht einmal der transzendentalenPrädikateer-wähnen,alsz.B. eineGrößederExistenz,d.i. Dauer,die abernicht in derZeit, alsdemeinzigenunsmögli-chenMittel, unsDaseinalsGrößevorzustellen,statt-findet), lauter Eigenschaften,von denenwir uns garkeinenBegriff, zum ErkenntnissedesGegenstandestauglich, machenkönnen,und dadurchbelehrt wer-den,daßsieniemalszu einerTheorievon übersinnli-chenWesengebrauchtwerdenkönnen,und also,aufdieserSeite,ein spekulativesErkenntniszu gründen

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Kant-W Bd. 7 271VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

garnicht vermögen,sondernihrenGebrauchlediglichauf die Ausübung des moralischenGesetzesein-schränken.

Diesesletztereist soaugenscheinlich,und kannsoklar durchdie Tat bewiesenwerden,daßmangetrostallevermeintenatürlicheGottesgelehrte(einwunder-licher Name)15 auffodernkann,auchnur einediesenihrenGegenstand(überdie bloßontologischenPrädi-katehinaus)bestimmendeEigenschaft,etwadesVer-standes,oder des Willens, zu nennen,an der mannicht unwidersprechlichdartun könnte, daß, wennman alles Anthropomorphistischedavon absondert,unsnur dasbloßeWort übrig bleibe,ohnedamitdenmindestenBegriff verbindenzu können,dadurcheineErweiterungdertheoretischenErkenntnisgehofftwer-den dürfte. In AnsehungdesPraktischenaberbleibtunsvon denEigenschafteneinesVerstandesundWil-lensdochnochderBegriff einesVerhältnissesübrig,welchem das praktischeGesetz(das geradediesesVerhältnis des Verstandeszum Willen a priori be-stimmt) objektive Realität verschafft.Ist diesesnuneinmalgeschehen,so wird demBegriffe desObjektseinesmoralischbestimmtenWillens (demdeshöch-stenGuts)undmit ihm denBedingungenseinerMög-lichkeit, den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterb-lichkeit, auchRealität,aberimmer nur in Beziehungauf die AusübungdesmoralischenGesetzes(zu kei-

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nemspekulativenBehuf),gegeben.NachdiesenErinnerungenist nun auchdie Beant-

wortungderwichtigenFrageleicht zu finden:Ob derBegriff vonGott ein zur Physik(mithin auchzur Me-taphysik,alsdie nur die reinenPrinzipiena priori derersterenin allgemeinerBedeutungenthält)oder einzur Moral gehörigerBegriff sei. Natureinrichtungen,oderderenVeränderungzuerklären, wennmandazuGott, als dem Urheber aller Dinge, seine Zufluchtnimmt,ist wenigstenskeinephysischeErklärung,undüberall ein Geständnis,man sei mit seinerPhiloso-phie zu Ende; weil man genötigt ist, etwas,wovonman sonstfür sich keinenBegriff hat, anzunehmen,um sich von der Möglichkeit dessen,was man vorAugensieht,einenBegriff machenzu können.DurchMetaphysikabervon der KenntnisdieserWelt zumBegriffe von Gott und demBeweiseseinerExistenzdurch sichereSchlüssezu gelangen,ist darum un-möglich, weil wir dieseWelt als dasvollkommenstemöglicheGanze,mithin, zudiesemBehuf,allemögli-cheWelten(umsiemit dieservergleichenzukönnen)erkennen,mithin allwissend sein müßten, um zusagen,daßsienur durcheinenGott (wie wir unsdie-sen Begriff denkenmüssen)möglich war. Vollendsaberdie ExistenzdiesesWesensausbloßenBegriffenzu erkennen,ist schlechterdingsunmöglich,weil einjeder Existentialsatz,d.i. der, so von einemWesen,

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von dem ich mir einenBegriff mache,sagt,daßesexistiere,ein synthetischerSatz ist, d.i. ein solcher,dadurchich über jenenBegriff hinausgeheund mehrvon ihm sage,als im Begriffe gedachtwar: nämlichdaßdiesemBegriffe im Verstandenoch ein Gegen-standaußerdemVerstandekorrespondierendgesetztsei, welches offenbar unmöglich ist durch irgendeinen Schluß herauszubringen.Also bleibt nur eineinzigesVerfahrenfür die Vernunft übrig, zu diesemErkenntnissezu gelangen,da sie nämlich, als reineVernunft,vondemoberstenPrinzipihresreinenprak-tischenGebrauchsausgehend(indemdieserohnedembloß auf die Existenzvon etwas,als Folge der Ver-nunft, gerichtet ist), ihr Objekt bestimmt. Und dazeigt sich, nicht allein in ihrer unvermeidlichenAuf-gabe,nämlichdernotwendigenRichtungdesWillensauf dashöchsteGut, die Notwendigkeit,ein solchesUrwesen,in Beziehungauf die Möglichkeit diesesGuten in der Welt, anzunehmen,sondern,was dasMerkwürdigste ist, etwas, was dem FortgangederVernunftauf demNaturwegeganzmangelte,nämlichein genaubestimmterBegriff diesesUrwesens. Dawir dieseWelt nur zu einemkleinen Teile kennen,nochwenigersiemit allenmöglichenWeltenverglei-chen können, so können wir von ihrer Ordnung,Zweckmäßigkeitund Größewohl auf einenweisen,gütigen,mächtigenetc.Urheberderselbenschließen,

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Kant-W Bd. 7 273VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

abernicht auf seineAllwissenheit,Allgütigkeit, All-macht, u.s.w. Man kann auch gar wohl einräumen:daßmandiesenunvermeidlichenMangel durch eineerlaubte ganz vernünftige Hypothesezu ergänzenwohl befugt sei; daßnämlich,wenn in so viel Stük-ken, als sich unserer näherenKenntnis darbieten,Weisheit,Gütigkeit etc.hervorleuchtet,in allen übri-genesebensoseinwerde,undesalsovernünftigsei,demWelturheberalle möglicheVollkommenheitbei-zulegen;aberdassind keine Schlüsse, wodurchwiruns auf unsereEinsicht etwasdünken,sondernnurBefugnisse,die man uns nachsehenkann, und dochnoch einer anderweitigenEmpfehlungbedürfen,umdavon Gebrauchzu machen.Der Begriff von Gottbleibt also auf dem empirischenWege(der Physik)immer ein nicht genaubestimmterBegriff von derVollkommenheitdeserstenWesens,um ihn demBe-griffe einerGottheitfür angemessenzuhalten(mit derMetaphysikaber in ihrem transzendentalenTeile istgarnichtsauszurichten).

Ich versuchenun,diesenBegriff andasObjektderpraktischenVernunft zu halten,unddafinde ich, daßder moralischeGrundsatzihn nur als möglich, unterVoraussetzungeinesWelturhebersvonhöchsterVoll-kommenheit, zulasse.Er muß allwissend sein, ummein Verhaltenbis zum InnerstenmeinerGesinnungin allen möglichenFällenund in alle Zukunft zu er-

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kennen;allmächtig, um ihm die angemessenenFol-gen zu erteilen;ebenso allgegenwärtig,ewig, usw.Mithin bestimmt das moralischeGesetzdurch denBegriff deshöchstenGuts,alsGegenstandeseinerrei-nenpraktischenVernunft, denBegriff desUrwesensals höchstenWesens, welches der physische(undhöher fortgesetzt der metaphysische),mithin derganzespekulativeGangder Vernunft nicht bewirkenkonnte.Also ist derBegriff von Gott einursprünglichnicht zur Physik, d.i. für die spekulativeVernunft,sondernzur Moral gehörigerBegriff, und ebendaskann man auch von den übrigen Vernunftbegriffensagen,von denen wir, als PostulatenderselbeninihrempraktischenGebrauche,obengehandelthaben.

Wennmanin derGeschichtedergriechischenPhi-losophieüberdenAnaxagorashinauskeinedeutlicheSpureneiner reinenVernunfttheologieantrifft, so istderGrundnicht daringelegen,daßesdenälterenPhi-losophenanVerstandeund Einsichtfehlte,um durchden Weg der Spekulation,wenigstensmit BeihülfeeinerganzvernünftigenHypothese,sichdahinzu er-heben;waskonnteleichter,wasnatürlichersein,alsder sich von selbstjedermanndarbietendeGedanke,statt unbestimmterGrade der Vollkommenheit ver-schiedenerWeltursachen,eineeinzigevernünftigean-zunehmen,die alle Vollkommenheithat? Aber dieÜbel in derWelt schienenihnenviel zu wichtigeEin-

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würfezusein,umzueinersolchenHypothesesichfürberechtigtzu halten. Mithin zeigtensie darin ebenVerstandundEinsicht,daßsiesich jenenicht erlaub-ten, und vielmehrin denNaturursachenherumsuch-ten,obsieunterihnennicht diezuUrwesenerfoderli-cheBeschaffenheitundVermögenantreffenmöchten.Aber nachdemdiesesscharfsinnigeVolk so weit inNachforschungenfortgerücktwar, selbstsittlicheGe-genstände,darüberandereVölker niemalsmehr alsgeschwatzthaben,philosophischzu behandeln:dafandensie allererstein neuesBedürfnis,nämlicheinpraktisches,welchesnicht ermangelte,ihnendenBe-griff des Urwesensbestimmtanzugeben,wobei diespekulativeVernunft das Zusehenhatte, höchstensnochdasVerdienst,einenBegriff, dernicht auf ihremBoden erwachsenwar, auszuschmücken,und miteinemGefolge von Bestätigungenaus der Naturbe-trachtung,die nun allerersthervortraten,wohl nichtdas Ansehen desselben(welches schon gegründetwar), sondernvielmehr nur das Geprängemit ver-meintertheoretischerVernunfteinsichtzubefördern.

* * *

Aus diesenErinnerungenwird der Leserder Krit.d. r. spek.Vernunftsichvollkommenüberzeugen:wiehöchstnötig, wie ersprießlich für Theologie und

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Kant-W Bd. 7 275VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

Moral, jenemühsameDeduktionderKategorienwar.Denndadurchallein kannverhütetwerden,sie,wennmansie im reinenVerstandesetzt,mit Plato, für an-geborenzu halten,und daraufüberschwenglicheAn-maßungenmit Theoriendes Übersinnlichen,wovonmankein Endeabsieht,zu gründen,dadurchaberdieTheologiezur Zauberlaternevon Hirngespensternzumachen;wennmansieaberfür erworbenhält,zuver-hüten,daßmannicht,mit Epikur, allenundjedenGe-brauchderselben,selbstden in praktischerAbsicht,bloß auf Gegenständeund BestimmungsgründederSinneeinschränke.Nun aber,nachdemdie Kritik injenerDeduktionerstlichbewies,daßsienicht empiri-schenUrsprungssein,sonderna priori im reinenVer-standeihren Sitz und Quelle haben;zweitensauch,daß,da sie auf Gegenständeüberhaupt, unabhängigvon ihrer Anschauung,bezogenwerden,siezwarnurin Anwendungauf empirischeGegenständetheoreti-schesErkenntniszu Standebringen,aberdochauch,auf einendurchreinepraktischeVernunft gegebenenGegenstandangewandt,zumbestimmtenDenkendesÜbersinnlichendienen, jedoch nur, so fern diesesbloß durch solchePrädikatebestimmtwird, die not-wendigzur reinenapriori gegebenenpraktischenAb-sicht und deren Möglichkeit gehören.SpekulativeEinschränkungderreinenVernunftundpraktischeEr-weiterungderselbenbringendieselbeallererstin das-

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Kant-W Bd. 7 275VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in

jenige Verhältnis der Gleichheit, worin Vernunftüberhauptzweckmäßiggebrauchtwerdenkann, unddiesesBeispiel beweisetbesser,als sonsteines,daßder Weg zur Weisheit, wenn er gesichertund nichtungangbaroderirreleitendwerdensoll, bei unsMen-schenunvermeidlichdurchdieWissenschaftdurchge-henmüsse,wovonmanaber,daßdiesezu jenemZieleführe,nur nachVollendungderselbenüberzeugtwer-denkann.

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Kant-W Bd. 7 276VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

VIII. VomFürwahrhaltenauseinemBedürfnissederreinenVernunft

Ein Bedürfnisder reinenVernunft in ihremspeku-lativen Gebraucheführt nur auf Hypothesen, dasderreinenpraktischenVernunftaberzu Postulaten; dennim ersterenFallesteigeich vom Abgeleitetensohochhinauf in derReihederGründe,wie ich will , undbe-darf einesUngrundes,nicht um jenemAbgeleiteten(z.B. der Kausalverbindungder Dinge und Verände-rungenin derWelt) objektiveRealitätzu geben,son-dernnur um meineforschendeVernunft in Ansehungdesselbenvollständig zu befriedigen. So sehe ichOrdnungund Zweckmäßigkeitin der Natur vor mir,und bedarfnicht, um mich von derenWirklichkeitzuversichern,zur Spekulationzu schreiten,sondernnur,um sie zu erklären,eineGottheit, alsderenUrsache,vorauszu setzen; da denn,weil von einer WirkungderSchlußauf einebestimmte,vornehmlichsogenauund so vollständig bestimmteUrsache,als wir anGott zu denkenhaben,immer unsicherund mißlichist, eine solcheVoraussetzungnicht weitergebrachtwerdenkann, als zu dem Gradeder, für uns Men-schen, allervernünftigstenMeinung.16 Dagegenistein Bedürfnis der reinen praktischenVernunft, aufeinerPflicht gegründet,etwas(dashöchsteGut) zum

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Kant-W Bd. 7 276VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

GegenstandemeinesWillens zu machen,um esnachallenmeinenKräftenzubefördern;wobeiich aberdieMöglichkeit desselben,mithin auchdie Bedingungendazu,nämlichGott, FreiheitundUnsterblichkeitvor-aussetzenmuß,weil ich diesedurch meinespekula-tive Vernunftnicht beweisen,obgleichauchnicht wi-derlegenkann.DiesePflicht gründetsich auf einem,freilich von diesenletzterenVoraussetzungenganzunabhängigen,für sich selbstapodiktischgewissen,nämlich dem moralischen,Gesetze,und ist, so fern,keiner anderweitigenUnterstützungdurch theoreti-sche Meinung von der innern BeschaffenheitderDinge, der geheimenAbzweckungder Weltordnung,odereinesihr vorstehendenRegierers,bedürftig,umunsauf dasvollkommenstezu unbedingt-gesetzmäßi-gen Handlungenzu verbinden.Aber der subjektiveEffekt diesesGesetzes,nämlichdie ihm angemesseneund durchdasselbeauchnotwendigeGesinnung, daspraktischmögliche höchsteGut zu befördern,setztdochwenigstensvoraus,daßdasletzteremöglichsei,widrigenfallsespraktisch-unmöglichwäre,demOb-jekteeinesBegriffesnachzustreben,welcherim Grun-de leer und ohneObjekt wäre. Nun betreffenobigePostulatenur die physischeoder metaphysische,miteinemWorte,in derNaturderDinge liegendeBedin-gungenderMöglichkeitdeshöchstenGuts,abernichtzum Behuf einer beliebigen spekulativenAbsicht,

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Kant-W Bd. 7 277VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

sonderneinespraktischnotwendigenZwecksdesrei-nen Vernunftwillens, der hier nicht wählt, sonderneinemunnachlaßlichenVernunftgebotegehorcht,wel-chesseinenGrund,objektiv, in derBeschaffenheitderDinge hat,sowie siedurchreineVernunft allgemeinbeurteiltwerdenmüssen,undgründetsichnicht etwaauf Neigung, die zumBehufdessen,waswir ausbloßsubjektivenGründen wünschen, so fort die Mitteldazuals möglich, oderdenGegenstandwohl gar alswirklich, anzunehmenkeineswegesberechtigt ist.Also ist diesesein Bedürfnisin schlechterdingsnot-wendigerAbsicht, und rechtfertigt seineVorausset-zung nicht bloß als erlaubteHypothese,sondernalsPostulat in praktischerAbsicht; und, zugestanden,daßdasreinemoralischeGesetzjedermann,alsGebot(nicht als Klugheitsregel),unnachlaßlichverbinde,darf derRechtschaffenewohl sagen:ich will , daßeinGott, daßmeinDaseinin dieserWelt, auchaußerderNaturverknüpfung,noch ein Dasein in einer reinenVerstandeswelt,endlichauchdaßmeineDauerendlossei, ich beharredaraufund lassemir diesenGlaubennicht nehmen;denndiesesist daseinzige,wo meinInteresse,weil ich von demselbennichts nachlassendarf, mein Urteil unvermeidlichbestimmt,ohneaufVernünfteleienzuachten,sowenigich auchdaraufzuantwortenoderihnenscheinbarereentgegenzustellenim Standeseinmöchte.17

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Kant-W Bd. 7 278VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

* * *

Um beidemGebraucheeinesnochsoungewohntenBegriffs als der eines reinen praktischenVernunft-glaubensist, Mißdeutungenzu verhüten,sei mir er-laubt,nocheineAnmerkunghinzuzufügen.– Essolltefastscheinen,alsob dieserVernunftglaubehier selbstals Gebot angekündigtwerde, nämlich das höchsteGut für möglich anzunehmen.Ein Glaubeaber,dergebotenwird, ist ein Unding.Man erinneresichaberder obigen Auseinandersetzungdessen,was im Be-griffe deshöchstenGuts anzunehmenverlangtwird,undwird maninnewerden,daßdieseMöglichkeit an-zunehmengarnicht gebotenwerdendürfe,undkeinepraktische Gesinnungenfodere, sie einzuräumen,sonderndaß spekulativeVernunft sie ohne Gesuchzugebenmüsse;denndaßeine,demmoralischenGe-setze angemessene,Würdigkeit der vernünftigenWesenin der Welt, glücklich zu sein,mit einemdie-ser proportioniertenBesitzedieserGlückseligkeitinVerbindung,an sich unmöglichsei, kann doch nie-mandbehauptenwollen. Nun gibt uns in AnsehungdeserstenStücksdeshöchstenGuts,nämlichwasdieSittlichkeit betrifft, das moralischeGesetzbloß einGebot,und, die Möglichkeit jenesBestandstückszubezweifeln,wäreebensoviel, alsdasmoralischeGe-

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Kant-W Bd. 7 279VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

setz selbst in Zweifel ziehen.Was aber das zweiteStück jenes Objekts, nämlich die jener WürdigkeitdurchgängigangemesseneGlückseligkeit,betrifft, soist zwar die Möglichkeit derselbenüberhaupteinzu-räumengar nicht eines Gebotsbedürftig, denn dietheoretischeVernunft hat selbstnichts dawider:nurdie Art, wie wir unseinesolcheHarmoniederNatur-gesetzemit denen der Freiheit denken sollen, hatetwasansich,in AnsehungdessenunseineWahlzu-kommt,weil theoretischeVernunfthierübernichtsmitapodiktischerGewißheit entscheidet,und, in Anse-hungdieser,kannesein moralischesInteressegeben,dasdenAusschlaggibt.

Obenhatteich gesagt,daß,nacheinembloßenNa-turgangein derWelt, die genaudemsittlichenWerteangemesseneGlückseligkeitnichtzuerwartenundfürunmöglichzu haltensei, und daßalso die Möglich-keit des höchstenGuts, von dieserSeite,nur unterVoraussetzungeinesmoralischenWelturheberskönneeingeräumtwerden.Ich hielt mit Vorbedachtmit derEinschränkungdiesesUrteils auf die subjektivenBe-dingungenunsererVernunft zurück,um nur dannal-lererst,wenndie Art ihresFürwahrhaltensnäherbe-stimmtwerdensollte,davonGebrauchzu machen.Inder Tat ist die genannteUnmöglichkeitbloß subjek-tiv, d.i. unsereVernunft findet esihr unmöglich, sicheinen so genau angemessenenund durchgängig

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Kant-W Bd. 7 279VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

zweckmäßigenZusammenhang,zwischenzwei nachsoverschiedenenGesetzensicheräugnendenWeltbe-gebenheiten,nacheinembloßenNaturlaufe,begreif-lich zu machen;ob siezwar,wie bei allem,wassonstin der Natur Zweckmäßigesist, die Unmöglichkeitdesselben,nach allgemeinen Naturgesetzen,dochauchnicht beweisen,d.i. ausobjektivenGründenhin-reichenddartunkann.

Allein jetztkommteinEntscheidungsgrundvonan-dererArt ins Spiel,um im Schwankender spekulati-ven Vernunft den Ausschlagzu geben.Das Gebot,das höchsteGut zu befördern,ist objektiv (in derpraktischen Vernunft), die Möglichkeit desselbenüberhauptgleichfalls objektiv (in der theoretischenVernunft, die nichts dawider hat) gegründet.Alleindie Art, wie wir unsdieseMöglichkeit vorstellensol-len, ob nachallgemeinenNaturgesetzen,ohneeinender Natur vorstehendenweisen Urheber, oder nurunter dessenVoraussetzung,das kann die Vernunftobjektiv nicht entscheiden.Hier tritt nuneinesubjek-tive BedingungderVernunftein: die einzigeihr theo-retisch mögliche, zugleich der Moralität (die untereinemobjektivenGesetzeder Vernunft steht) alleinzuträglicheArt, sichdie genaueZusammenstimmungdesReichsder Natur mit demReicheder Sitten,alsBedingung der Möglichkeit des höchstenGuts, zudenken.Da nun die Beförderungdesselben,und also

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Kant-W Bd. 7 280VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der

die VoraussetzungseinerMöglichkeit, objektiv (abernur derpraktischenVernunftzu Folge)notwendigist,zugleichaberdieArt, aufwelcheWeisewir esunsalsmöglichdenkenwollen, in unsererWahlsteht,in wel-cher aberein freies Interesseder reinenpraktischenVernunft für die AnnehmungeinesweisenWelturhe-bersentscheidet:so ist dasPrinzip, wasunserUrteilhierin bestimmt,zwar subjektiv, als Bedürfnis,aberauchzugleichalsBeförderungsmitteldessen,wasob-jektiv (praktisch)notwendigist, derGrundeinerMa-ximedesFürwahrhaltensin moralischerAbsicht, d.i.ein reiner praktischer Vernunftglaube. Dieser istalsonicht geboten,sondern,als freiwillige, zur mora-lischen (gebotenen)Absicht zuträgliche, überdemnochmit demtheoretischenBedürfnissederVernunfteinstimmigeBestimmungunseresUrteils, jene Exi-stenzanzunehmenund demVernunftgebrauchfernerzumGrundezu legen,selbstausdermoralischenGe-sinnung entsprungen;kann also öfters selbst beiWohlgesinnetenbisweilen in Schwanken niemalsaberin Unglaubengeraten.

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Kant-W Bd. 7 281IX. Von der der praktischen Bestimmung des Menschen

IX. VonderderpraktischenBestimmungdesMenschenweislichangemessenenProportionseiner

Erkenntnisvermögen

Wenn die menschlicheNatur zum höchstenGutezu strebenbestimmtist, so mußauchdasMaß ihrerErkenntnisvermögen,vornehmlich ihr Verhältnisuntereinander,als zu diesemZweckeschicklich,an-genommenwerden.Nun beweisetaberdie Kritik derreinen spekulativenVernunft die größte Unzuläng-lichkeit derselben,um die wichtigstenAufgaben,dieihr vorgelegtwerden,demZweckeangemessenaufzu-lösen,ob sie zwar die natürlichenund nicht zu über-sehendenWinkeebenderselbenVernunft,imgleichendie großenSchritte,die sie tun kann,nicht verkennt,um sich diesemgroßenZiele, dasihr ausgestecktist,zu näheren,aberdoch,ohneesjemalsfür sichselbst,sogarmit Beihülfe der größtenNaturkenntnis,zu er-reichen.Also scheintdie Naturhier unsnur stiefmüt-terlich mit einemzuunseremZweckebenötigtenVer-mögenversorgtzuhaben.

Gesetztnun, sie wäre hierin unseremWunschewillfährig gewesen,undhätteunsdiejenigeEinsichts-fähigkeit,oderErleuchtungerteilt,diewir gernebesit-zen möchten,oder in derenBesitz einige wohl garwähnensich wirklich zu befinden,waswürde allem

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Kant-W Bd. 7 281IX. Von der der praktischen Bestimmung des Menschen

Ansehn nach wohl die Folge hievon sein? Wofernnicht zugleichunsereganzeNatur umgeändertwäre,so würdendie Neigungen, die dochallemaldasersteWort haben,zuerstihre Befriedigung,und, mit ver-nünftigerÜberlegungverbunden,ihre größtmöglicheund daurendeBefriedigung, unter dem Namen derGlückseligkeit, verlangen; das moralische Gesetzwürdenachhersprechen,um jenein ihren geziemen-denSchrankenzu halten,undsogarsiealle insgesamteinemhöheren,aufkeineNeigungRücksichtnehmen-den,Zweckezu unterwerfen.Aber, statt desStreits,den jetzt die moralischeGesinnungmit denNeigun-genzu führenhat,in welchem,nacheinigenNiederla-gen,dochallmählichmoralischeStärkeder Seelezuerwerbenist, würden Gott und Ewigkeit, mit ihrerfurchtbarenMajestät, unsunablässigvor Augenlie-gen (denn, was wir vollkommen beweisenkönnen,gilt, in Ansehungder Gewißheit, uns so viel, alswovon wir uns durch den Augenscheinversichern).Die ÜbertretungdesGesetzeswürdefreilich vermie-den,dasGebotenegetanwerden;weil aberdieGesin-nung, aus welcher Handlungen geschehensollen,durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, derStachelderTätigkeithier abersogleichbeiHand,undäußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererstempor arbeiten darf, um Kraft zum Widerstandegegen Neigungendurch lebendigeVorstellung der

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Kant-W Bd. 7 282IX. Von der der praktischen Bestimmung des Menschen

WürdedesGesetzeszu sammeln,sowürdendie meh-restengesetzmäßigenHandlungenausFurcht,nurwe-nige ausHoffnung und gar keineausPflicht gesche-hen,ein moralischerWert derHandlungenaber,wor-auf dochalleinderWertderPersonundselbstderderWelt, in denAugenderhöchstenWeisheit,ankommt,würde gar nicht existieren.Das Verhaltender Men-schen,so lange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe,würdealsoin einenbloßenMechanismusverwandeltwerden,wo, wie im Marionettenspiel,allesgut gesti-kulieren, aberin denFigurendochkein Lebenanzu-treffen sein würde. Nun, da es mit uns ganzandersbeschaffenist, da wir, mit aller AnstrengungunsererVernunft,nureinesehrdunkeleundzweideutigeAus-sicht in die Zukunft haben,der WeltregiererunsseinDaseinund seineHerrlichkeit nur mutmaßen,nichterblicken,oderklar beweisenläßt,dagegendasmora-lischeGesetzin uns,ohneunsetwasmit Sicherheitzuverheißen,oder zu drohen,von uns uneigennützigeAchtung fodert, übrigensaber,wenn dieseAchtungtätig und herrschendgeworden,allererstalsdennundnur dadurch,Aussichtenins Reich des Übersinnli-chen,aberauchnur mit schwachenBlicken erlaubt:so kannwahrhaftesittliche,demGesetzeunmittelbargeweiheteGesinnungstattfindenund dasvernünftigeGeschöpfdesAnteils amhöchstenGutewürdig wer-den, das dem moralischenWerte seinerPersonund

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Kant-W Bd. 7 283IX. Von der der praktischen Bestimmung des Menschen

nicht bloß seinenHandlungenangemessenist. Alsomöchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeithaben,wasunsdasStudiumderNaturund desMen-schensonsthinreichendlehrt,daßdie unerforschlicheWeisheit,durchdie wir existieren,nicht minderver-ehrungswürdigist, in dem,wassie uns versagte,alsin dem,wassieunszu teil werdenließ.

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Kant-W Bd. 7 285Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

DerKritik derpraktischenVernunftzweiterTeil

MethodenlehrederreinenpraktischenVernunft

Unter der Methodenlehreder reinen praktischenVernunft kann man nicht die Art (sowohl im Nach-denken als im Vortrage), mit reinen praktischenGrundsätzenin Absicht auf ein wissenschaftlichesErkenntnisderselbenzuverfahren,verstehen,welchesmansonstim theoretischeneigentlichallein Methodenennt (denn populäresErkenntnisbedarf einer Ma-nier, Wissenschaftaber einer Methode, d.i. einesVerfahrensnach Prinzipien der Vernunft, wodurchdasMannigfaltigeeinerErkenntnisallein ein Systemwerdenkann).Vielmehrwird unterdieserMethoden-lehre die Art verstanden,wie mandenGesetzenderreinenpraktischenVernunftEingangin dasmenschli-cheGemüt,Einfluß auf die Maximendesselbenver-schaffen,d.i. die objektiv-praktischeVernunft auchsubjektivpraktischmachenkönne.

Nun ist zwar klar, daß diejenigenBestimmungs-gründedes Willens, welche allein die Maximen ei-gentlichmoralischmachenund ihneneinensittlichenWert geben,die unmittelbareVorstellungdesGeset-

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Kant-W Bd. 7 287Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

zesunddieobjektiv-notwendigeBefolgungdesselbenalsPflicht, alsdie eigentlichenTriebfedernderHand-lungen vorgestelltwerdenmüssen;weil sonstzwarLegalität der Handlungen,aber nicht Moralität derGesinnungenbewirkt werdenwürde.Allein nicht soklar, vielmehr beim erstenAnblicke ganz unwahr-scheinlich,mußes jedermannvorkommen,daßauchsubjektiv jene Darstellungder reinen TugendmehrMacht über dasmenschlicheGemüthabenund eineweit stärkereTriebfederabgebenkönne,selbstjeneLegalitätderHandlungenzu bewirken,undkräftigereEntschließungenhervorzubringen,das Gesetz,ausreinerAchtung für dasselbe,jederandererRücksichtvorzuziehen,als alle Anlockungen,die ausVorspie-gelungenvon Vergnügenund überhauptallem dem,was man zur Glückseligkeitzählenmag, oder auchalle Androhungenvon Schmerzund Übeln jemalswirken können. Gleichwohl ist es wirklich so be-wandt, und wäre es nicht so mit der menschlichenNatur beschaffen,sowürdeauchkeineVorstellungs-art desGesetzesdurchUmschweifeundempfehlendeMittel jemalsMoralität derGesinnunghervorbringen.Alles wäre lauter Gleisnerei,das Gesetzwürde ge-haßt,oderwohl garverachtet,indessendochumeige-nen Vorteils willen befolgt werden.Der BuchstabedesGesetzes(Legalität) würde in unserenHandlun-genanzutreffensein,derGeistderselbenaberin unse-

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Kant-W Bd. 7 288Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

renGesinnungen(Moralität) garnicht,unddawir mitaller unsererBemühungunsdochin unseremUrteilenicht ganzvon der Vernunft los machenkönnen,sowürdenwir unvermeidlichin unsereneigenenAugenals nichtswürdige,verworfeneMenschenerscheinenmüssen,wennwir unsgleich für dieseKränkungvordeminnerenRichterstuhldadurchschadloszu haltenversuchten,daßwir unsan denenVergnügenergötz-ten, die ein von unsangenommenesnatürlichesodergöttlichesGesetz,unseremWahnenach,mit demMa-schinenwesenihrer Polizei, die sich bloß nachdemrichtete,wasmantut, ohnesich um die Bewegungs-gründe,warummanestut, zu bekümmern,verbundenhätte.

Zwar kannmannicht in Abredesein,daß,um einentwedernoch ungebildetes,oder auchverwildertesGemützuerstins Gleis desmoralisch-Gutenzu brin-gen,eseinigervorbereitendenAnleitungenbedürfe,esdurch seineneigenenVorteil zu locken, oder durchdenSchadenzu schrecken;allein, sobalddiesesMa-schinenwerk,diesesGängelband,nur einigeWirkunggetanhat, so mußdurchausder reinemoralischeBe-wegungsgrundandieSeelegebrachtwerden,dernichtallein dadurch,daßer der einzigeist, welchereinenCharakter(praktischekonsequenteDenkungsartnachunveränderlichenMaximen) gründet, sondernauchdarum, weil er den Menschenseine eigeneWürde

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Kant-W Bd. 7 288Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

fühlenlehrt, demGemüteeineihm selbstunerwarteteKraft gibt, sich von aller sinnlichenAnhänglichkeit,so fern sie herrschendwerdenwill, loszureißen,undin derUnabhängigkeitseinerintelligibelenNaturundder Seelengröße,dazuer sich bestimmtsieht,für dieOpfer, die er darbringt,reichlicheEntschädigungzufinden.Wir wollenalsodieseEigenschaftunseresGe-müts,dieseEmpfänglichkeiteinesreinenmoralischenInteresse,und mithin die bewegendeKraft der reinenVorstellung der Tugend, wenn sie gehörig ansmenschlicheHerz gebrachtwird, als die mächtigste,und,wennesauf die Dauerund Pünktlichkeitin Be-folgung moralischer Maximen ankommt, einzigeTriebfederzumGuten,durchBeobachtungen,die einjederanstellenkann,beweisen;wobei dochzugleicherinnertwerdenmuß,daß,wenndieseBeobachtungennur die Wirklichkeit einessolchenGefühls,nicht aberdadurchzu Standegebrachtesittliche Besserungbe-weisen,diesesder einzigen Methode,die objektiv-praktischenGesetzeder reinenVernunft durchbloßereine Vorstellung der Pflicht subjektiv-praktischzumachen,keinenAbbruch tue, gleich als ob sie eineleerePhantastereiwäre.Denn,dadieseMethodenochniemalsin Ganggebrachtworden,so kann auchdieErfahrungnoch nichts von ihrem Erfolg aufzeigen,sondernmankannnurBeweistümerderEmpfänglich-keit solcherTriebfedernfodern,die ich jetzt kürzlich

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Kant-W Bd. 7 289Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

vorlegenunddarnachdie MethodederGründungundKultur echtermoralischerGesinnungen,mit wenigem,entwerfenwill.

Wenn man auf den Gang der Gesprächein ge-mischtenGesellschaften,die nicht bloßausGelehrtenund Vernünftlern,sondernauchausLeutenvon Ge-schäftenoder Frauenzimmerbestehen,Acht hat, sobemerktman,daß,außerdemErzählenundScherzen,noch eine Unterhaltung, nämlich das Räsonieren,darin Platz findet; weil daserstere,wenn es Neuig-keit, und, mit ihr, Interessebei sich führensoll, balderschöpft,das zweite aber leicht schal wird. Unterallem Räsonierenist aberkeines,wasmehrdenBei-tritt der Personen,die sonst bei allem VernünftelnbaldlangeWeilehaben,erregt,undeinegewisseLeb-haftigkeit in die Gesellschaftbringt, als dasüberdensittlichen Wert dieseroder jener Handlung,dadurchderCharakterirgendeinerPersonausgemachtwerdensoll. Diejenige,welchensonstallesSubtileundGrüb-lerischein theoretischenFragentrockenundverdrieß-lich ist, tretenbaldbei,wennesdaraufankommt,denmoralischenGehalteinererzähltengutenoderbösenHandlungauszumachen,und sind so genau,so grüb-lerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Ab-sicht, und mithin den Gradder Tugendin derselbenvermindern,oderauchnur verdächtigmachenkönnte,auszusinnen,als manbei keinemObjekteder Speku-

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Kant-W Bd. 7 290Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

lation sonstvon ihnen erwartet.Man kann in diesenBeurteilungenoft denCharakterderüberandereurtei-lendenPersonenselbsthervorschimmernsehen,dereneinige vorzüglich geneigt scheinen,indem sie ihrRichteramt,vornehmlichüber Verstorbene,ausüben,dasGute,wasvon dieseroderjenerTat derselbener-zähltwird, wider alle kränkendeEinwürfederUnlau-terkeitundzuletztdenganzensittlichenWertderPer-sonwiderdenVorwurf derVerstellungundgeheimenBösartigkeitzu verteidigen,anderedagegenmehraufAnklagenund Beschuldigungensinnen,diesenWertanzufechten.Doch kann man den letzteren nichtimmerdie Absicht beimessen,Tugendausallen Bei-spielen der Menschengänzlich wegvernünftelnzuwollen, um sie dadurchzum leerenNamenzu ma-chen,sondernesist oft nur wohlgemeinteStrengeinBestimmung des echten sittlichen Gehalts, nacheinemunnachsichtlichenGesetze,mit welchemundnicht mit Beispielenverglichender EigendünkelimMoralischensehrsinkt, und Demut nicht etwa bloßgelehrt,sondernbeischarferSelbstprüfungvon jedemgefühltwird. DennochkannmandenVerteidigernderReinigkeit der Absicht in gegebenenBeispielenesmehrenteilsansehen,daßsie ihr da, wo sie die Ver-mutungder Rechtschaffenheitfür sich hat, auchdenmindestenFleck gerneabwischenmöchten,ausdemBewegungsgrunde,damitnicht,wennallenBeispielen

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Kant-W Bd. 7 290Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

ihre Wahrhaftigkeitgestrittenund aller menschlichenTugend die Lauterkeit weggeleugnetwürde, diesenicht endlich gar für ein bloßesHirngespinstgehal-ten,undsoalleBestrebungzuderselbenalseitlesGe-ziere und trüglicher Eigendünkelgeringschätzigge-machtwerde.

Ich weißnicht,warumdie ErzieherderJugendvondiesemHangederVernunft,in aufgeworfenenprakti-schenFragenselbstdie subtilstePrüfungmit Vergnü-gen einzuschlagen,nicht schonlängstGebrauchge-macht haben,und, nachdemsie einen bloß morali-schenKatechismzum Grunde legten, sie nicht dieBiographienalter und neuer Zeiten in der Absichtdurchsuchten,umBelegezudenvorgelegtenPflichtenbei der Hand zu haben,an denensie, vornehmlichdurch die VergleichungähnlicherHandlungenunterverschiedenenUmständen,die Beurteilungihrer Zög-linge in Tätigkeit setzten,um denmindernodergrö-ßerenmoralischenGehaltderselbenzu bemerken,alsworin sieselbstdie früheJugend,die zu aller Speku-lation sonstnoch unreif ist, bald sehr scharfsichtig,und dabei,weil sie den Fortschritt ihrer Urteilskraftfühlt, nichtweniginteressiertfindenwerden,wasaberdas Vornehmsteist, mit Sicherheithoffen können,daß die öftere Übung, das Wohlverhaltenin seinerganzenReinigkeit zu kennen und ihm Beifall zugeben,dagegenselbstdie kleinsteAbweichungvon

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Kant-W Bd. 7 291Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

ihr mit BedauernoderVerachtungzubemerken,obeszwar bis dahinnur ein Spiel der Urteilskraft, in wel-chemKinder mit einanderwetteifernkönnen,getrie-ben wird, dennocheinen dauerhaftenEindruck derHochschätzungauf der einenund desAbscheuesaufder andernSeitezurücklassenwerde,welche,durchbloße Gewohnheit,solche Handlungenals beifalls-oder tadelswürdigöfters anzusehen,zur Rechtschaf-fenheit im künftigenLebenswandeleineguteGrund-lage ausmachenwürden. Nur wünscheich sie mitBeispielen sogenannteredler (überverdienstlicher)Handlungen,mit welchenunsereempfindsameSchrif-ten so viel um sich werfen,zu verschonen,und allesbloßaufPflicht unddenWert,deneinMenschsichinseineneigenenAugendurchdasBewußtsein,sienichtübertretenzu haben,gebenkannund muß,auszuset-zen, weil, was auf leereWünscheund Sehnsuchtennach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft,lauterRomanheldenhervorbringt,die, indemsiesichauf ihr Gefühl für dasüberschwenglich-Großeviel zuGutetun, sichdafürvon derBeobachtungdergemei-nen und gangbarenSchuldigkeit,die alsdennihnennur unbedeutendklein scheint,frei sprechen.18

Wennmanaberträgt:wasdenneigentlichdie reineSittlichkeit ist, ander,alsdemProbemetall,manjederHandlungmoralischenGehaltprüfenmüsse,so mußich gestehen,daßnur Philosophendie Entscheidung

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Kant-W Bd. 7 292Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

dieserFragezweifelhaftmachenkönnen;dennin dergemeinenMenschenvernunftist sie,zwarnicht durchabgezogeneallgemeineFormeln,aberdochdurchdengewöhnlichenGebrauch,gleichsamals der Unter-schiedzwischender rechtenund linken Hand,längstentschieden.Wir wollen also vorerst das Prüfungs-merkmalder reinenTugendan einemBeispielezei-gen,und,indemwir unsvorstellen,daßesetwaeinemzehnjährigenKnabenzur Beurteilungvorgelegtwor-den, sehen,ob er auch von selber,ohne durch denLehrerdazuangewiesenzu sein,notwendigso urtei-len müßte.Man erzähledie Geschichteeinesredli-chenMannes,denmanbewegenwill, denVerleum-derneinerunschuldigen,übrigensnicht vermögendenPerson(wie etwa Anna von Boleyn auf AnklageHeinrichsVIII. von England)beizutreten.Man bietetGewinne,d.i. großeGeschenkeoderhohenRangan,er schlägtsieaus.Dieseswird bloßenBeifall undBil-ligung in der SeeledesZuhörerswirken, weil esGe-winn ist. Nun fängt manesmit AndrohungdesVer-lustsan. Es sind unterdiesenVerleumdernseinebe-stenFreunde,die ihm jetzt ihre Freundschaftaufsa-gen,naheVerwandte,die ihn (derohneVermögenist)zu enterbendrohen,Mächtige,die ihn in jedemOrteundZustandeverfolgenundkränkenkönnen,einLan-desfürst,der ihn mit demVerlust der Freiheit, ja desLebensselbstbedroht.Um ihn aber,damit dasMaß

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Kant-W Bd. 7 292Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

desLeidensvoll sei,auchdenSchmerzfühlenzu las-sen,dennur dassittlich guteHerzrechtinniglich füh-len kann,magmanseinemit äußersterNot undDürf-tigkeit bedroheteFamilie ihn um Nachgiebigkeitan-flehend, ihn selbst,obzwarrechtschaffen,dochebennicht von festenunempfindlichenOrganendes Ge-fühls, für Mitleid sowohl als eigenerNot, in einemAugenblick,darin er wünscht,denTag nie erlebtzuhaben,der ihn einemso unaussprechlichenSchmerzaussetzte,dennochseinemVorsatzeder Redlichkeit,ohnezu wankenodernur zu zweifeln, treu bleibend,vorstellen:sowird meinjugendlicherZuhörerstufen-weise,von der bloßenBilligung zur Bewunderung,von dazumErstaunen,endlichbiszurgrößtenVereh-rung, und einemlebhaftenWunsche,selbstein sol-cher Mann sein zu können(obzwar freilich nicht inseinemZustande),erhobenwerden;und gleichwohlist hier die Tugendnur darumsoviel wert,weil siesoviel kostet,nicht weil sie etwaseinbringt.Die ganzeBewunderungund selbstBestrebungzur Ähnlichkeitmit diesemCharakterberuht hier gänzlich auf derReinigkeitdessittlichenGrundsatzes,welchenur da-durchrecht in die Augenfallend vorgestelletwerdenkann,daßmanalles,wasMenschennur zur Glückse-ligkeit zählenmögen,von denTriebfedernderHand-lung wegnimmt. Also muß die Sittlichkeit auf dasmenschlicheHerz destomehr Kraft haben,je reiner

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sie dargestelltwird. Worausdenn folgt, daß, wenndasGesetzderSittenunddasBild derHeiligkeit undTugendauf unsereSeeleüberalleinigenEinfluß aus-übensoll, sie diesennur so fern ausübenkönne,alssierein, unvermengtvon Absichtenauf seinWohlbe-finden, als Triebfederans Herz gelegt wird, darumweil sie sich im Leidenamherrlichstenzeigt.Dasje-nigeaber,dessenWegräumungdieWirkung einerbe-wegendenKraft verstärkt,mußeinHindernisgewesensein. Folglich ist alle Beimischungder Triebfedern,dievoneigenerGlückseligkeithergenommenwerden,ein Hindernis,demmoralischenGesetzeEinfluß aufsmenschlicheHerzzu verschaffen.– Ich behauptefer-ner,daßselbstin jenerbewundertenHandlung,wennder Bewegungsgrund,daraussie geschah,die Hoch-schätzungseinerPflicht war,alsdennebendieseAch-tung fürs Gesetz,nicht etwaein Anspruchauf die in-nereMeinungvon GroßmutundedlerverdienstlicherDenkungsart,geradeauf dasGemütdesZuschauersdie größte Kraft habe, folglich Pflicht, nicht Ver-dienst,dennicht allein bestimmtesten,sondern,wennsie im rechtenLichte ihrer Unverletzlichkeitvorge-stellt wird, auch den eindringendstenEinfluß aufsGemüthabenmüsse.

In unsernZeiten,wo manmehrmit schmelzendenweichherzigenGefühlen,oderhochfliegenden,aufblä-hendenunddasHerzeherwelk, alsstark,machenden

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Kant-W Bd. 7 294Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen

Anmaßungenüber das Gemüt mehr auszurichtenhofft, alsdurchdiedermenschlichenUnvollkommen-heit und dem Fortschritte im Guten angemeßneretrockneundernsthafteVorstellungderPflicht, ist dieHinweisung auf dieseMethode nötiger, als jemals.KindernHandlungenalsedele,großmütige,verdienst-liche zum Muster aufzustellen,in der Meinung, siedurch Einflößung eines Enthusiasmusfür dieselbeeinzunehmen,ist vollendszweckwidrig.Dennda sienoch in der Beobachtungder gemeinstenPflicht undselbstin der richtigen Beurteilungderselbenso weitzurücksind,soheißtdassoviel, alssiebei ZeitenzuPhantastenzu machen.Aber auchbei dembelehrternunderfahrnernTeil derMenschenist diesevermeinteTriebfeder,wo nicht von nachteiliger,wenigstensvonkeiner echtenmoralischenWirkung aufs Herz, diemandadurchdochhatzuwegebringenwollen.

Alle Gefühle, vornehmlichdie,soungewohnteAn-strengungbewirkensollen,müssenin demAugenblik-ke, da sie in ihrer Heftigkeit sind, und ehesie ver-brausen,ihreWirkung tun,sonsttun sienichts;indemdasHerznatürlicherweisezuseinernatürlichengemä-ßigtenLebensbewegungzurückkehrt,und sonachindie Mattigkeit verfällt, die ihm vorhereigenwar;weilzwar etwas,wasesreizte,nichtsaber,dasesstärkte,an dasselbegebrachtwar. GrundsätzemüssenaufBegriffe errichtetwerden,auf alle andereGrundlage

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könnennur Anwandelungenzu Standekommen,dieder PersonkeinenmoralischenWert, ja nicht einmaleine Zuversichtauf sich selbstverschaffenkönnen,ohnedie dasBewußtseinseinermoralischenGesin-nung und einessolchenCharakters,dashöchsteGutim Menschen,gar nicht stattfindenkann. DieseBe-griffe nun, wenn sie subjektiv praktischwerdensol-len, müssennicht bei den objektiven GesetzenderSittlichkeit stehenbleiben,um siezu bewundern,undin Beziehungauf die Menschheithochzuschätzen,sondernihre Vorstellung in Relation auf den Men-schenund auf sein Individuum betrachten;da dennjenesGesetzin einerzwar höchstachtungswürdigen,abernicht sogefälligenGestalterscheint,alsob eszudemElementegehöre,daraner natürlicherWeisege-wohnt ist, sondernwie esihn nötiget,diesesoft, nichtohneSelbstverleugnung,zu verlassen,undsichin einhöhereszu begeben,dariner sich,mit unaufhörlicherBesorgnisdesRückfalls,nur mit Müheerhaltenkann.Mit einemWorte,dasmoralischeGesetzverlangtBe-folgung ausPflicht, nicht ausVorliebe, die mangarnicht voraussetzenkannundsoll.

Laßtunsnunim Beispielesehen,ob in derVorstel-lung einerHandlungalsedlerundgroßmütigerHand-lungmehrsubjektivbewegendeKraft einerTriebfederliege, als, wenn diesebloß als Pflicht in Verhältnisauf dasernstemoralischeGesetzvorgestelltwird. Die

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Handlung,dajemand,mit dergrößtenGefahrdesLe-bens,Leute aus dem Schiffbruchezu retten sucht,wenner zuletztdabeiselbstseinLebeneinbüßt,wirdzwar einerseitszur Pflicht, andererseitsaber undgrößtenteilsauch für verdienstlicheHandlungange-rechnet,aber unsereHochschätzungderselbenwirdgar sehr durch den Begriff von Pflicht gegensichselbst, welchehier etwasAbbruchzu leidenscheint,geschwächt.Entscheidenderist die großmütigeAuf-opferungseinesLebenszur ErhaltungdesVaterlan-des,unddoch,ob esauchsovollkommenPflicht sei,sichvon selbstundunbefohlendieserAbsichtzuwei-hen, darüberbleibt einiger Skrupel übrig, und dieHandlunghatnicht dieganzeKraft einesMustersundAntriebeszur Nachahmungin sich. Ist esaberuner-läßliche Pflicht, deren Übertretungdas moralischeGesetzan sich und ohne Rücksichtauf Menschen-wohl verletzt, und dessenHeiligkeit gleichsammitFüßentritt (dergleichenPflichtenmanPflichtengegenGott zu nennenpflegt, weil wir uns in ihm dasIdealder Heiligkeit in Substanzdenken),so widmen wirder Befolgungdesselben,mit Aufopferungallesdes-sen,wasfür die innigstealler unsererNeigungennurimmereinenWerthabenmag,dieallervollkommensteHochachtung,und wir finden unsereSeeledurcheinsolchesBeispiel gestärktund erhoben,wenn wir andemselbenunsüberzeugenkönnen,daßdie menschli-

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che Natur zu einer so großenErhebungüber alles,was Natur nur immer an Triebfedernzum Gegenteilaufbringenmag, fähig sei. Juvenalstellt ein solchesBeispiel in einer Steigerungvor, die den Leser dieKraft der Triebfeder, die im reinen GesetzederPflicht, alsPflicht, steckt,lebhaftempfindenläßt:

Estobonusmiles,tutor bonus,arbiteridemInteger;ambiguaesi quandocitaberetestisIncertaequerei, Phalarislicet imperet,ut sisFalsus,etadmotodictetperiuriatauro:Summumcredenefasanimampraeferrepudori,Et proptervitamvivendi perderecausas.

Wennwir irgendetwasSchmeichelhaftesvomVer-dienstlichen in unsere Handlung bringen können,denn ist die Triebfederschonmit Eigenliebeetwasvermischt,hat alsoeinigeBeihülfe von der SeitederSinnlichkeit. Aber der Heiligkeit der Pflicht alleinallesnachsetzen,undsichbewußtwerden,daßmaneskönne, weil unsereeigeneVernunft diesesals ihrGebotanerkennt,und sagt,daßmanestun solle, dasheißtsichgleichsamüberdie Sinnenweltselbstgänz-lich erheben,und ist in demselbenBewußtseindesGesetzesauch als Triebfedereinesdie SinnlichkeitbeherrschendenVermögens unzertrennlich, wenngleich nicht immer mit Effekt verbunden,der aber

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dochauch,durchdie öftereBeschäftigungmit dersel-ben, und die anfangskleinern Versucheihres Ge-brauchs,Hoffnung zu seinerBewirkung gibt, um inunsnachund nachdasgrößte,aberreinemoralischeInteressedaranhervorzubringen.

Die Methodenimmt also folgendenGang.Zuerstist esnur darumzu tun, die Beurteilungnachmorali-schenGesetzenzu einernatürlichen,alle unsereeige-ne sowohlals die Beobachtungfremderfreier Hand-lungenbegleitendenBeschäftigungundgleichsamzurGewohnheitzu machen,und sie zu schärfen,indemmanvorerstfrägt, ob die Handlungobjektiv demmo-ralischen Gesetze, und welchem,gemäßsei; wobeimandenndie Aufmerksamkeitauf dasjenigeGesetz,welchesbloßeinenGrundzur VerbindlichkeitandieHandgibt, von demunterscheidet,welchesin derTatverbindendist (legesobligandi a legibus obliganti-bus), (wie z.B. das Gesetzdesjenigen,was das Be-dürfnisderMenschenim Gegensatzedessen,wasdasRechtderselbenvon mir fordert, wovon dasletzterewesentliche,das erstereaber nur außerwesentlichePflichtenvorschreibt)und so verschiedenePflichten,die in einerHandlungzusammenkommen,unterschei-denlehrt.DeranderePunkt,woraufdieAufmerksam-keit gerichtetwerdenmuß,ist dieFrage:obdieHand-lung auch(subjektiv) um desmoralischenGesetzeswillen geschehen,und also sie nicht allein sittliche

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Richtigkeit, alsTat, sondernauchsittlichenWert, alsGesinnung,ihrer Maxime nach habe.Nun ist keinZweifel, daßdieseÜbung,und dasBewußtseineinerdarausentspringendenKultur unsererbloß über dasPraktischeurteilendenVernunft, ein gewissesInte-resse,selbstam Gesetzederselben,mithin an sittlichguten Handlungen nach und nach hervorbringenmüsse.Denn wir gewinnenendlich das lieb, dessenBetrachtungunsdenerweitertenGebrauchunsererEr-kenntniskräfteempfindenläßt, welchenvornehmlichdasjenigebefördert,worin wir moralischeRichtigkeitantreffen;weil sichdieVernunftin einersolchenOrd-nung der Dinge mit ihrem Vermögen,a priori nachPrinzipien zu bestimmenwas geschehensoll, alleingut finden kann. Gewinnt doch ein NaturbeobachterGegenstände,die seinen Sinnen anfangs anstößigsind,endlichlieb, wenner die großeZweckmäßigkeitihrer Organisationdaranentdeckt,und so seineVer-nunft anihrer Betrachtungweidet,undLeibnizbrach-te ein Insekt,welcheser durchsMikroskop sorgfältigbetrachtethatte,schonendwiederumaufseinBlatt zu-rück,weil er sichdurchseinenAnblick belehrtgefun-den, und von ihm gleichsameine Wohltat genossenhatte.

Aber dieseBeschäftigungder Urteilskraft, welcheuns unsereeigeneErkenntniskräftefühlen läßt, istnochnicht dasInteresseandenHandlungenundihrer

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Moralität selbst.Sie machtbloß, daßmansich gernemit einersolchenBeurteilungunterhält,und gibt derTugend,oderder DenkungsartnachmoralischenGe-setzen, eine Form der Schönheit, die bewundert,darum aber noch nicht gesucht wird (laudatur etalget);wie alles,dessenBetrachtungsubjektiveinBe-wußtseinderHarmonieunsererVorstellungskräftebe-wirkt, und wobei wir unserganzesErkenntnisvermö-gen(Verstandund Einbildungskraft)gestärktfühlen,ein Wohlgefallenhervorbringt,dassich auchandernmitteilenläßt,wobeigleichwohldie ExistenzdesOb-jektsunsgleichgültigbleibt, indemesnur alsdieVer-anlassungangesehenwird, derüberdie Tierheiterha-benenAnlagederTalentein unsinnezuwerden.Nuntritt aberdie zweiteÜbungihr Geschäftan,nämlich,in der lebendigenDarstellungdermoralischenGesin-nung an Beispielen,die Reinigkeit des Willens be-merklich zu machen,vorerstnur als negativerVoll-kommenheitdesselben,sofern in einerHandlungausPflicht gar keine Triebfedernder Neigungenals Be-stimmungsgründeauf ihn einfließen; wodurch derLehrlingdochaufdasBewußtseinseinerFreiheitauf-merksamerhaltenwird; undobgleichdieseEntsagungeine anfänglicheEmpfindung von Schmerzerregt,dennochdadurch,daßsiejenenLehrlingdemZwangeselbstwahrerBedürfnisseentzieht,ihm zugleicheineBefreiung von der mannigfaltigenUnzufriedenheit,

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darinihn alledieseBedürfnisseverflechten,angekün-digt, und dasGemütfür die Empfindungder Zufrie-denheit aus anderenQuellen empfänglichgemachtwird. DasHerzwird dochvoneinerLast,dieesjeder-zeit ingeheimdrückt,befreitund erleichtert,wennanreinenmoralischenEntschließungen,davonBeispielevorgelegt werden,dem Menschenein inneres,ihmselbstsonstnicht einmalrechtbekanntesVermögen,die innereFreiheit, aufgedecktwird, sichvon derun-gestümenZudringlichkeit der Neigungendermaßenloszumachen,daß gar keine, selbst die beliebtestenicht, auf eineEntschließung,zu derwir unsjetzt un-serer Vernunft bedienen sollen, Einfluß habe. IneinemFalle,wo ich nur allein weiß,daßdasUnrechtauf meinerSeitesei,und,obgleichdasfreie Geständ-nis desselben,und die Anerbietungzur Genugtuungan der Eitelkeit, dem Eigennutze,selbstdem sonstnicht unrechtmäßigenWiderwillen gegenden,dessenRecht von mir geschmälertist, so großen Wider-spruchfindet, dennochmich überalle dieseBedenk-lichkeiten wegsetzenkann, ist doch ein Bewußtseineiner Unabhängigkeit von Neigungen und vonGlücksumständen,und der Möglichkeit, sich selbstgenugzu sein,enthalten,welchemir überallauchinandererAbsicht heilsamist. Und nun findet dasGe-setzderPflicht, durchdenpositivenWert,denunsdieBefolgungdesselbenempfindenläßt, leichterenEin-

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gangdurchdie Achtungfür unsselbstim BewußtseinunsererFreiheit.Auf diese,wennsiewohl gegründetist, wennder Menschnichtsstärkerscheuet,als sichin derinnerenSelbstprüfungin seineneigenenAugengeringschätzigund verwerflich zu finden, kann nunjedegutesittliche Gesinnunggepfropftwerden;weildiesesder beste,ja der einzigeWächterist, dasEin-dringenunedlerund verderbenderAntriebevom Ge-müteabzuhalten.

Ich habehiemitnur aufdieallgemeinstenMaximender Methodenlehreeiner moralischenBildung undÜbunghinweisenwollen.DadieMannigfaltigkeitderPflichten für jede Art derselbennoch besondereBe-stimmungenerfoderte,und so ein weitläuftigesGe-schäfteausmachenwürde,sowird manmich für ent-schuldigthalten,wennich, in einerSchrift,wie diese,die nur Vorübungist, es bei diesenGrundzügenbe-wendenlasse.

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Beschluß

Zwei Dinge erfüllen dasGemütmit immer neuerund zunehmendenBewunderungund Ehrfurcht, jeöfter undanhaltendersichdasNachdenkendamitbe-schäftigt: Der bestirnteHimmel über mir, und dasmoralischeGesetzin mir. Beidedarf ich nicht als inDunkelheitenverhüllt, oder im Überschwenglichen,außermeinemGesichtskreise,suchenund bloß ver-muten;ich sehesievor mir undverknüpfesieunmit-telbarmit demBewußtseinmeinerExistenz.Daserstefängt von demPlatzean, den ich in der äußernSin-nenwelt einnehme,und erweitert die Verknüpfung,darin ich stehe,ins unabsehlich-Großemit Weltenüber Welten und Systemenvon Systemen,überdemnochin grenzenloseZeitenihrer periodischenBewe-gung,derenAnfang und Fortdauer.Daszweitefängtvon meinemunsichtbarenSelbst,meinerPersönlich-keit, an, und stellt mich in einerWelt dar,die wahreUnendlichkeithat, aber nur dem Verstandespürbarist, und mit welcher(dadurchaberauchzugleichmitallen jenen sichtbarenWelten) ich mich nicht, wiedort, in bloß zufälliger,sondernallgemeinerundnot-wendigerVerknüpfungerkenne.Der erstereAnblickeiner zahllosenWeltenmengevernichtet gleichsammeine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs,

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dasdie Materie,darausesward,demPlaneten(einembloßenPunkt im Weltall) wieder zurückgebenmuß,nachdemeseinekurzeZeit (manweißnicht wie) mitLebenskraftversehengewesen.Der zweiteerhebtda-gegenmeinenWert, als einer Intelligenz, unendlich,durchmeinePersönlichkeit,in welcherdasmoralischeGesetzmir ein von der Tierheit und selbstvon derganzen Sinnenwelt unabhängigesLeben offenbart,wenigstensso viel sich aus der zweckmäßigenBe-stimmungmeinesDaseinsdurch diesesGesetz,wel-che nicht auf Bedingungenund GrenzendiesesLe-benseingeschränktist, sondernins Unendlichegeht,abnehmenläßt.

Allein, Bewunderungund Achtung können zwarzur Nachforschungreizen,aberdenMangelderselbennicht ersetzen.Wasist nunzu tun,umdiese,aufnutz-bareundderErhabenheitdesGegenstandesangemes-seneArt, anzustellen?Beispiele mögen hiebei zurWarnung, aber auch zur Nachahmungdienen. DieWeltbetrachtungfing von demherrlichstenAnblickean, denmenschlicheSinnenur immer vorlegen,undunserVerstand,in ihrem weitenUmfangezu verfol-gen,nur immervertragenkann,undendigte– mit derSterndeutung.Die Moral fing mit deredelstenEigen-schaftin dermenschlichenNaturan,derenEntwicke-lung und Kultur auf unendlichenNutzenhinaussieht,und endigte– mit der Schwärmerei,oderdemAber-

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glauben.So geht es allen noch rohenVersuchen,indenendervornehmsteTeil desGeschäftesaufdenGe-brauchder Vernunft ankommt,der nicht, so wie derGebrauchder Füße,sich von selbst,vermittelstderöfternAusübung,findet, vornehmlichwenner Eigen-schaftenbetrifft, die sich nicht so unmittelbarin dergemeinenErfahrungdarstellenlassen.Nachdemaber,wiewohl spät, die Maxime in Schwanggekommenwar, alle Schrittevorher wohl zu überlegen,die dieVernunft zu tun vorhat,und sie nicht anders,als imGleiseeinervorherwohl überdachtenMethode,ihrenGangmachenzu lassen,sobekamdieBeurteilungdesWeltgebäudeseine ganz andereRichtung, und, mitdieser,zugleich einen, ohne Vergleichung,glückli-chernAusgang.Der Fall einesSteins,die BewegungeinerSchleuder,in ihre Elementeund dabeisich äu-ßerndeKräfteaufgelöst,undmathematischbearbeitet,brachtezuletzt diejenigeklare und für alle ZukunftunveränderlicheEinsicht in denWeltbauhervor,die,bei fortgehenderBeobachtung,hoffen kann, sichimmernurzuerweitern,niemalsaber,zurückgehenzumüssen,fürchtendarf.

DiesenWeg nun in Behandlungder moralischenAnlagen unserer Natur gleichfalls einzuschlagen,kannunsjenesBeispielanrätigsein,undHoffnungzuähnlichemguten Erfolg geben.Wir habendoch dieBeispiele der moralisch-urteilendenVernunft bei

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Hand.Diesenunin ihre Elementarbegriffezu zerglie-dern, in Ermangelungder Mathematikaber ein derChemieähnlichesVerfahren,der ScheidungdesEm-pirischenvomRationalen,dassichin ihnenvorfindenmöchte, in wiederholten Versuchenam gemeinenMenschenverstandevorzunehmen,kann uns beidesrein, und,wasjedesfür sichallein leistenkönne,mitGewißheitkennbarmachen,und so, teils der Verir-rung einer noch rohen ungeübtenBeurteilung,teils(welchesweit nötiger ist) denGenieschwüngenvor-beugen,durchwelche,wie esvon AdeptendesSteinsder Weisenzu geschehenpflegt, ohnealle methodi-sche Nachforschungund Kenntnis der Natur, ge-träumteSchätzeversprochenundwahreverschleudertwerden.Mit einemWorte: Wissenschaft(kritisch ge-suchtund methodischeingeleitet)ist die engePforte,die zur Weisheitslehreführt, wennunterdiesernichtbloßverstandenwird, wasmantun, sondernwasLeh-rern zur Richtschnurdienensoll, um den Weg zurWeisheit,denjedermanngehensoll, gutundkenntlichzu bahnen,undanderevor Irrwegenzu sicheren;eineWissenschaft,derenAufbewahrerinjederzeitdie Phi-losophiebleibenmuß,anderensubtilerUntersuchungdasPublikumkeinenAnteil, wohl aberandenLehrenzu nehmenhat,die ihm, nacheinersolchenBearbei-tung,allererstrechthell einleuchtenkönnen.

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Fußnoten

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1 Damit man hier nicht Inkonsequenzenanzutreffenwähne,wennich jetzt die Freiheitdie BedingungdesmoralischenGesetzesnenne,und in der Abhandlungnachherbehaupte,daßdasmoralischeGesetzdie Be-dingung sei, unter der wir uns allererstder Freiheitbewußtwerdenkönnen,sowill ich nur erinnern,daßdie Freiheit allerdingsdie ratio essendides morali-schenGesetzes,dasmoralischeGesetzaberdie ratiocognoscendider Freiheit sei. Denn, wäre nicht dasmoralischeGesetzin unsererVernunft eherdeutlichgedacht,sowürdenwir unsniemalsberechtigthalten,so etwas,als Freiheit ist (ob diesegleich sich nichtwiderspricht),anzunehmen. WäreaberkeineFreiheit,so würdedasmoralischeGesetzin unsgar nicht an-zutreffensein.

2 Die Vereinigung der Kausalität, als Freiheit, mitihr, als Naturmechanism,davondie erstedurchsSit-tengesetz,die zweitedurchsNaturgesetz,undzwarineinemund demselbenSubjekte,demMenschen,feststeht, ist unmöglich, ohne diesenin Beziehungaufdaserstereals Wesenan sich selbst,auf daszweiteaberals Erscheinung,jenesim reinen, diesesim em-pirischen Bewußtsein,vorzustellen.Ohne diesesist

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der Widerspruchder Vernunft mit sich selbstunver-meidlich.

3 Ein Rezensent,der etwaszum TadeldieserSchriftsagenwollte, hat es bessergetroffen, als er wohlselbstgemeinthabenmag, indem er sagt:daßdarinkein neuesPrinzip der Moralität, sondernnur eineneue Formel aufgestelletworden. Wer wollte aberaucheinenneuenGrundsatzaller Sittlichkeit einfüh-ren, und diesegleichsamzuersterfinden?gleich alsob vor ihm die Welt, in demwasPflicht sei, unwis-send,oder in durchgängigemIrrtume gewesenwäre.Wer aberweiß, wasdemMathematikereineFormelbedeutet,die das,waszu tun sei,um eineAufgabezubefolgen,ganz genaubestimmtund nicht verfehlenläßt, wird eine Formel, welche diesesin Ansehungaller Pflicht überhaupttut, nicht für etwasUnbedeu-tendesundEntbehrlicheshalten.

4 Man könntemir nochdenEinwurf machen,warumich nicht auch den Begriff des Begehrungsvermö-gens, oderdesGefühlsder Lust vorhererklärt habe;obgleich dieser Vorwurf unbillig sein würde, weilmandieseErklärung,als in derPsychologiegegeben,billig solltevoraussetzenkönnen.Eskönnteaberfrei-lich die Definition daselbstso eingerichtetsein,daßdasGefühlderLustderBestimmungdesBegehrungs-

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vermögenszum Grundegelegt würde (wie es auchwirklich gemeinhinso zu geschehenpflegt), dadurchaberdasoberstePrinzip der praktischenPhilosophienotwendigempirischausfallenmüßte,welchesdochallererstauszumachenist, und in dieserKritik gänz-lich widerlegt wird. Daher will ich dieseErklärunghier so geben,wie sie seinmuß,um diesenstreitigenPunkt,wie billig, im Anfangeunentschiedenzu las-sen.– Leben ist dasVermögeneinesWesens,nachGesetzendesBegehrungsvermögenszu handeln.DasBegehrungsvermögenist das Vermögendesselben,durch seine VorstellungenUrsache von der Wirk-lichkeit der Gegenständedieser Vorstellungenzusein. Lust ist die Vorstellungder ÜbereinstimmungdesGegenstandesoder der Handlungmit den sub-jektivenBedingungendesLebens, d.i. mit demVer-mögenderKausalitäteinerVorstellungin Ansehungder Wirklichkeit ihresObjekts(oderderBestimmungder Kräfte desSubjektszur Handlung,es hervorzu-bringen).Mehr braucheich nicht zumBehufderKri-tik von Begriffen, die aus der Psychologieentlehntwerden,dasübrigeleistetdie Kritik selbst.Man wirdleicht gewahr,daßdie Frage,ob die Lust demBegeh-rungsvermögenjederzeitzum Grundegelegtwerdenmüsse,oderob sieauchuntergewissenBedingungennur auf die Bestimmungdesselbenfolge, durchdieseErklärungunentschiedenbleibt; dennsieist auslauter

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MerkmalendesreinenVerstandes,d.i. Kategorienzu-sammengesetzt,die nichts Empirisches enthalten.Eine solcheBehutsamkeitist in der ganzenPhiloso-phie sehrempfehlungswürdig,und wird dennochoftverabsäumt,nämlich,seinenUrteilenvor dervollstän-digenZergliederungdesBegriffs,dieoft nursehrspäterreichtwird, durchgewagteDefinition nicht vorzu-greifen. Man wird auchdurch den ganzenLauf derKritik (der theoretischensowohlalspraktischenVer-nunft)bemerken,daßsichin demselbenmannigfaltigeVeranlassungvorfinde,mancheMängelim altendog-matischenGangeder Philosophiezu ergänzen,undFehlerabzuändern,dienichteherbemerktwerden,alswennmanvonBegriffeneinenGebrauchderVernunftmacht,deraufsGanzederselbengeht.

5 Mehr (als jeneUnverständlichkeit)besorgeich hierhin undwiederMißdeutungin AnsehungeinigerAus-drücke,die ich mit größterSorgfaltaussuchte,umdenBegriff nicht verfehlenzu lassen,daraufsie weisen.So hat in der Tafel der Kategoriender praktischenVernunft, in dem Titel der Modalität, das Erlaubteund Unerlaubte (praktisch-objektiv Mögliche undUnmögliche)mit der nächstfolgendenKategoriederPflicht unddesPflichtwidrigen im gemeinenSprach-gebrauchebeinaheeinerleiSinn;hier abersoll daser-steredasjenigebedeuten,was mit einer bloß mögli-

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chenpraktischenVorschrift in EinstimmungoderWi-derstreitist (wie etwa die Auflösung aller ProblemederGeometrieundMechanik),daszweite, wasin sol-cher Beziehungauf ein in der Vernunft überhauptwirklich liegendesGesetzsteht; und dieser Unter-schiedderBedeutungist auchdemgemeinenSprach-gebrauchenicht ganzfremd,wenngleichetwasunge-wöhnlich. So ist es z.B. einemRedner,als solchem,unerlaubt, neue Worte oder Wortfügungen zuschmieden;demDichter ist esin gewissemMaßeer-laubt; in keinemvon beidenwird hier an Pflicht ge-dacht.Dennwer sichum denRuf einesRednersbrin-genwill, demkannesniemandwehren.Esist hiernurum den Unterschiedder Imperativen, unter proble-matischem,assertorischemund apodiktischemBe-stimmungsgrunde,zu tun. Eben so habe ich inderjenigenNote,wo ich diemoralischenIdeenprakti-scherVollkommenheitin verschiedenenphilosophi-schenSchulengegeneinanderstellete,die Idee derWeisheitvon derderHeiligkeit unterschieden,ob ichsie gleich selbstim Grundeund objektiv für einerleierklärethabe.Allein ich versteheandiesemOrtedar-unternurdiejenigeWeisheit,diesichderMensch(derStoiker) anmaßt,also subjektivals EigenschaftdemMenschenangedichtet.(Vielleicht könnte der Aus-druck Tugend, womit der Stoiker auchgroßenStaattrieb, besserdasCharakteristischeseinerSchulebe-

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Fußnoten

zeichnen.)Aber der AusdruckeinesPostulatsder r.pr. Vern.konntenochammeistenMißdeutungveran-lassen,wenn man damit die Bedeutungvermengete,welche die Postulateder reinen Mathematikhaben,und welcheapodiktischeGewißheitbei sich führen.Aber diesepostulierendie Möglichkeit einer Hand-lung, derenGegenstandmana priori theoretischmitvölliger Gewißheit als möglich voraus erkannt hat.Jenesaber postuliert die Möglichkeit einesGegen-standes(Gottes und der Unsterblichkeitder Seele)selbstaus apodiktischenpraktischenGesetzen,alsonur zum Behuf einer praktischenVernunft; da denndiese Gewißheit der postulierten Möglichkeit garnicht theoretisch,mithin auchnicht apodiktisch,d.i.in Ansehungdes Objekts erkannteNotwendigkeit,sondern in Ansehungdes Subjekts, zu Befolgungihrerobjektiven,aberpraktischenGesetzenotwendigeAnnehmung,mithin bloß notwendigeHypothesisist.Ich wußtefür diesesubjektive,aberdochwahreundunbedingteVernunftnotwendigkeitkeinen besserenAusdruckauszufinden.

6 Namen, welche einen Sektenanhangbezeichnen,habenzuallerZeit viel Rechtsverdrehungbei sichge-führt; ungefährso, als wennjemandsagte:N. ist einIdealist. Denn, ob er gleich, durchaus,nicht alleineinräumt,sonderndaraufdringt, daßunserenVorstel-

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Fußnoten

lungenäußererDingewirkliche GegenständeäußererDingekorrespondieren,sowill er doch,daßdie Formder Anschauungderselbennicht ihnen, sondernnurdemmenschlichenGemüteanhänge.

7 Sätze,welche in der Mathematikoder Naturlehrepraktisch genanntwerden, sollten eigentlich tech-nischheißen.Dennum die Willensbestimmungist esdiesenLehren gar nicht zu tun; sie zeigennur dasMannigfaltige der möglichenHandlungan, welcheseine gewisseWirkung hervorzubringenhinreichendist, und sind alsoebenso theoretisch,als alle Sätze,welchedie Verknüpfungder Ursachemit einerWir-kungaussagen.Wemnundie letzterebeliebt,dermußsichauchgefallenlassen,dieersterezusein.

8 Überdemist der Ausdruck sub ratione boni auchzweideutig.Denn er kann so viel sagen:wir stellenunsetwasalsgut vor, wennundweil wir esbegehren(wollen); aberauch:wir begehrenetwasdarum,weilwir esunsals gut vorstellen, sodaßentwederdie Be-gierde der Bestimmungsgrunddes Begriffs desOb-jekts als einesGuten,oderder Begriff desGutenderBestimmungsgrunddesBegehrens(desWillens) sei;da denndas:sub rationeboni, im ersterenFalle be-deutenwürde, wir wollen etwasunter der Idee desGuten,im zweiten,zu Folge dieserIdee, welchevor

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demWollenalsBestimmungsgrunddesselbenvorher-gehenmuß.

9 Man kann von jeder gesetzmäßigenHandlung,diedoch nicht um des Gesetzeswillen geschehenist,sagen:sie sei bloß demBuchstaben, abernicht demGeiste(derGesinnung)nachmoralischgut.

10WennmandenBegriff derAchtungfür Personen,so wie er vorherdargelegtworden,genauerwägt,sowird mangewahr,daßsieimmerauf demBewußtseineinerPflicht beruhe,die unseinBeispielvorhält,und,daß also Achtung niemalseinen andernals morali-schenGrundhabenkönne,und essehrgut, so gar inpsychologischerAbsicht zur Menschenkenntnissehrnützlichsei,allerwärts,wo wir diesenAusdruckbrau-chen,auf die geheimeund wundernswürdige,dabeiaberoft vorkommendeRücksicht,die der MenschinseinenBeurteilungenaufsmoralischeGesetznimmt,Acht zuhaben.

11Mit diesemGesetzemachtdasPrinzipdereigenenGlückseligkeit,welcheseinige zum oberstenGrund-satzederSittlichkeit machenwollen, einenseltsamenKontrast:Dieseswürde so lauten:Liebe dich selbstüber alles, Gott aber und deinenNächstenum deinselbstwillen.

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12Die Überzeugungvon derUnwandelbarkeitseinerGesinnung,im FortschrittezumGuten,scheintgleich-wohl auch einemGeschöpfefür sich unmöglich zusein.Um deswillenläßtdie christlicheReligionslehresieauchvon demselbenGeiste,derdieHeiligung,d.i.diesenfestenVorsatz und mit ihm das Bewußtseinder Beharrlichkeitim moralischenProgressus,wirkt,allein abstammen.Aber auchnatürlicherWeisedarfderjenige,der sich bewußtist, einenlangenTeil sei-nes Lebensbis zu Ende desselben,im FortschrittezumBessern,undzwarausechtenmoralischenBewe-gungsgründen,angehaltenzu haben,sich wohl dietröstendeHoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit,machen,daßer, auchin einerüberdiesesLebenhin-aus fortgesetztenExistenz, bei diesenGrundsätzenbeharrenwerde,und, wiewohl er in seineneigenenAugenhier nie gerechtfertigtist, noch,bei demver-hofftenkünftigenAnwachsseinerNaturvollkommen-heit, mit ihr aberauchseinerPflichten,esjemalshof-fen darf, dennochin diesemFortschritte,der, ob erzwarein ins UnendlichehinausgerücktesZiel betrifft,dennochfür Gott alsBesitzgilt, eineAussichtin eineseligeZukunft haben;denndiesesist der Ausdruck,dessensichdieVernunftbedient,umeinvonallenzu-fälligen Ursachender Welt unabhängigesvollständi-gesWohl zu bezeichnen,welchesebenso, wie Hei-

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ligkeit eineIdeeist, welchenur in einemunendlichenProgressusund dessenTotalität enthaltensein kann,mithin vomGeschöpfeniemalsvöllig erreichtwird.

13Man hält gemeiniglichdafür, die christlicheVor-schrift der Sitten habein Ansehungihrer Reinigkeitvor demmoralischenBegriffe derStoikernichtsvor-aus;allein derUnterschiedbeiderist dochsehrsicht-bar.DasstoischeSystemmachtedasBewußtseinderSeelenstärkezum Angel, um den sich alle sittlicheGesinnungenwendensollten, und, ob die AnhängerdessenzwarvonPflichtenredeten,auchsieganzwohlbestimmeten,so setzensie doch die Triebfederundden eigentlichenBestimmungsgrunddes Willens ineinerErhebungderDenkungsartüberdieniedrigeundnurdurchSeelenschwächemachthabendeTriebfedernder Sinne.Tugendwar also bei ihnen ein gewisserHeroismdesüber tierischeNatur desMenschensicherhebendenWeisen, der ihm selbstgenugist, andernzwar Pflichtenvorträgt,selbstaberüber sie erhobenund keinerVersuchungzu ÜbertretungdessittlichenGesetzesunterworfenist. Diesesalles aber konntensie nicht tun, wennsie sich diesesGesetzin der Rei-nigkeit undStrenge,alsesdie Vorschrift desEvange-lii tut, vorgestellthätten.Wenn ich unter einer Ideeeine Vollkommenheitverstehe,der nichts in der Er-fahrung adäquatgegebenwerdenkann, so sind die

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moralischenIdeendarumnichts Überschwengliches,d.i. dergleichen,wovonwir auchnichteinmaldenBe-griff hinreichendbestimmenkönnten,oder von demesungewißist, ob ihm überallein Gegenstandkorre-spondiere,wie die Ideender spekulativenVernunft,sonderndienen, als Urbilder der praktischenVoll-kommenheit, zur unentbehrlichenRichtschnur dessittlichen Verhaltens,und zugleich zum Maßstabeder Vergleichung. Wenn ich nun die christlicheMoral von ihrer philosophischenSeitebetrachte,sowürde sie, mit den Ideen der griechischenSchulenverglichen,soerscheinen:Die IdeenderKyniker, derEpikureer, derStoikerunddesChristensind:die Na-tureinfalt, die Klugheit, die Weisheitund die Heilig-keit. In AnsehungdesWeges,dazuzu gelangen,un-terschiedensichdie griechischenPhilosophensovoneinander,daßdie Kyniker dazuden gemeinenMen-schenverstand, die andernnur denWeg der Wissen-schaft, beidealsodochbloßenGebrauchder natürli-chenKräfte dazuhinreichendfanden.Die christlicheMoral, weil sieihreVorschrift (wie esauchseinmuß)so rein und unnachsichtlicheinrichtet,benimmtdemMenschendas Zutrauen,wenigstenshier im Leben,ihr völlig adäquatzu sein, richtet esaberdoch auchdadurchwiederumauf,daß,wennwir sogut handeln,als in unseremVermögenist, wir hoffenkönnen,daß,was nicht in unsermVermögenist, uns anderweitig

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werdezu stattenkommen,wir mögennunwissen,aufwelcheArt, oder nicht. Aristotelesund Plato unter-schiedensichnur in AnsehungdesUrsprungsunserersittlichenBegriffe.

14Hiebei,und um dasEigentümlichedieserBegriffekenntlichzu machen,merkeich nur nochan:daß,daman Gott verschiedeneEigenschaftenbeilegt, derenQualität man auchden Geschöpfenangemessenfin-det, nur daß sie dort zum höchstenGradeerhobenwerden,z.B. Macht, Wissenschaft,Gegenwart,Güteetc.unterdenBenennungenderAllmacht,derAllwis-senheit,der Allgegenwart, der Allgütigkeit etc., esdoch drei gibt, die ausschließungsweise,und dochohneBeisatzvon Größe,Gott beigelegtwerden,unddie insgesamtmoralischsind. Er ist der allein Heili-ge,der allein Selige,der allein Weise; weil dieseBe-griffe schondie Uneingeschränktheitbei sich führen.NachderOrdnungderselbenist er dennalsoauchderheilige Gesetzgeber(und Schöpfer),der gütige Re-gierer (und Erhalter)und der gerechteRichter. DreiEigenschaften,die alles in sich enthalten,wodurchGottderGegenstandderReligionwird, unddenenan-gemessendiemetaphysischenVollkommenheitensichvonselbstin derVernunfthinzufügen.

15Gelehrsamkeitist eigentlichnur der Inbegriff hi-

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storischer Wissenschaften.Folglich kann nur derLehrerdergeoffenbartenTheologieeinGottesgelehr-ter heißen.Wollte manaberauchden,der im Besitzevon Vernunftwissenschaften(Mathematikund Philo-sophie)ist, einenGelehrtennennen,obgleichdiesesschonderWortbedeutung(alsdie jederzeitnur dasje-nige, was man durchausgelehretwerdenmuß, undwasmanalsonicht von selbst,durchVernunft,erfin-den kann, zur Gelehrsamkeitzählt) widerstreitenwürde:so möchtewohl der Philosophmit seinerEr-kenntnisGottes,als positiver Wissenschaft,eine zuschlechteFigur machen,um sich deshalbeinenGe-lehrtennennenzu lassen.

16Aber selbstauchhierwürdenwir nichteinBedürf-nis der Vernunftvorschützenkönnen,läge nicht einproblematischer,aber doch unvermeidlicherBegriffderVernunftvor Augen,nämlichdereinesschlechter-dings notwendigenWesens.DieserBegriff will nunbestimmtsein,unddasist, wennderTrieb zur Erwei-terung dazu kommt, der objektive Grund einesBe-dürfnissesder spekulativenVernunft, nämlich denBegriff einesnotwendigenWesens,welchesandernzum Urgrundedienensoll, näherzu bestimmen,unddiesesletztealsowodurchkenntlichzumachen.OhnesolchevorausgehendenotwendigeProblemegibt eskeine Bedürfnisse, wenigstensnicht der reinen Ver-

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nunft; dieübrigensindBedürfnissederNeigung.

17 Im deutschenMuseum, Febr. 1787, findet sicheine Abhandlungvon einemsehr feinen und hellenKopfe, dem sel. Wizenmann, dessenfrüher Tod zubedaurenist, darinerdieBefugnis,auseinemBedürf-nisseaufdieobjektiveRealitätdesGegenstandesdes-selbenzuschließen,bestreitet,undseinenGegenstanddurch das Beispiel eines Verliebten erläutert, der,indemersichin eineIdeevonSchönheit,welchebloßseinHirngespinstist, vernarrthätte,schließenwollte,daßeinsolchesObjektwirklich wo existiere.Ich gebeihm hierin vollkommenrecht,in allenFällen,wo dasBedürfnisauf Neigunggegründetist, die nicht einmalnotwendigfür den,derdamitangefochtenist, dieExi-stenzihresObjektspostulierenkann,vielwenigereinefür jedermanngültigeFoderungenthält,unddahereinbloßsubjektiverGrundderWünscheist. Hier aberistes ein Vernunftbedürfnis, aus einemobjektivenBe-stimmungsgrundedesWillens, nämlich dem morali-schenGesetzeentspringend,welchesjedesvernünfti-ge Wesennotwendigverbindet,also zur Vorausset-zung der ihm angemessenenBedingungenin derNatur a priori berechtigt,und die letztern von demvollständigenpraktischenGebrauchederVernunftun-zertrennlichmacht. Es ist Pflicht, das höchsteGutnachunseremgrößtenVermögenwirklichzumachen;

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dahermuß es doch auchmöglich sein; mithin ist esfür jedesvernünftigeWesenin der Welt auchunver-meidlich, dasjenigevorauszusetzen,was zu dessenobjektiverMöglichkeit notwendigist. Die Vorausset-zung ist so notwendig,als dasmoralischeGesetz,inBeziehungaufwelchessieauchnur gültig ist.

18Handlungen,ausdenengroßeuneigennützige,teil-nehmendeGesinnung und Menschlichkeit hervor-leuchtet,zu preisen,ist ganzratsam.Aber manmußhier nicht sowohl auf die Seelenerhebung, die sehrflüchtig und vorübergehendist, als vielmehr auf dieHerzensunterwerfungunterPflicht, wovonein länge-rerEindruckerwartetwerdenkann,weil sieGrundsät-ze (jeneabernur Aufwallungen)mit sich führt, auf-merksammachen.Man darf nur ein wenig nachsin-nen,manwird immereineSchuldfinden,die er sichirgend wodurch in Ansehung des Menschenge-schlechtsaufgeladenhat (sollte esauchnur die sein,daßman,durchdie UngleichheitderMenschenin derbürgerlichenVerfassung,Vorteile genießt,um derenwillen andere desto mehr entbehrenmüssen),umdurch die eigenliebigeEinbildung des Verdienstli-chendenGedankenanPflicht nicht zuverdrängen.

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