kleines lexikon der musikalisch-rhetorischen figuren · 2019-09-14 · kleines lexikon der...

38
Hochschule für Musik Saar - Fachbereich II - Prof. Manfred Dings Kleines Lexikon der musikalisch-rhetorischen Figuren Zuletzt geändert am 14. September 2019 Da ich meine Lehre kontinuierlich weiterentwickle, stellt dieses Dokument lediglich eine Momentaufnah- me dar. Es handelt sich um eine in didaktischer Absicht vorgenommene, sich fortwährend wandelnde Reduktion für Neben- bzw. Pflichtfachunterricht. Es wurde – wie sämtliche in meinen Lehrveranstaltungen verwendeten Materialien – ausschließlich mit privaten Mitteln erzeugt. Hard- oder Software der Hochschule für Musik Saar oder anderweitige öffentliche Mittel des Landes kamen nicht zum Einsatz. c 2019 Manfred Dings. Wer einen Tipfeler findet, darf ihn behalten, oder besser noch: ihn mir mitteilen.

Upload: others

Post on 27-Dec-2019

18 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Hochschule für Musik Saar- Fachbereich II -

Prof. Manfred Dings

Kleines Lexikon der musikalisch-rhetorischen Figuren

Zuletzt geändert am 14. September 2019

Da ich meine Lehre kontinuierlich weiterentwickle, stellt dieses Dokument lediglich eine Momentaufnah-me dar. Es handelt sich um eine in didaktischer Absicht vorgenommene, sich fortwährend wandelndeReduktion für Neben- bzw. Pflichtfachunterricht. Es wurde – wie sämtliche in meinen Lehrveranstaltungenverwendeten Materialien – ausschließlich mit privaten Mitteln erzeugt. Hard- oder Software der Hochschulefür Musik Saar oder anderweitige öffentliche Mittel des Landes kamen nicht zum Einsatz.c© 2019 Manfred Dings. Wer einen Tipfeler findet, darf ihn behalten, oder besser noch: ihn mir mitteilen.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen 1

Was sind musikalisch-rhetorische Figuren? 2Einteilung der Stile und der musikalisch-rhetorischen Figuren durch Bernhard 4

Kleines Figurenlexikon 6Abruptio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Anabasis, Ascensus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Anticipatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Antitheton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Apocope, Aposiopesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Auxesis, Incrementum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Cadenza duriuscula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Circulatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Climax, Gradiatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Confutatio, Dubitatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Congeries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Ellipsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Exclamatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Fauxbourdon und Katachresis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Fuga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Heterolepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Hyperbole und Hypobole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Hypotyposis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Imitatio und Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Interrogatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Katabasis, Descensus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Multiplicatio und Tremolo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Mutatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20Noema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Parenthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Parrhesia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22Pathopoeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23Passus duriusculus und Saltus duriusculus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Pleonasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Regressio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Superjectio oder Accentus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Supplementum, Paragoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Suspiratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Syncopatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Tirata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Transitus, Commissura, Celeritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Variatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

i

Inhaltsverzeichnis

Rhetorische Figuren und Werkanalyse 33

Literatur 34

ii

Vorbemerkungen

Seit Arnold Scherings Aufsatz Die Lehre von den musikalischen Figuren1 rückte die Figuren-lehre im vergangenen Jahrhundert als praktikables Erklärungsmodell in das Bewusstseinderer, die mit der Analyse von Musik der gemeinhin als »Barock« bezeichneten Epochebefasst waren (und sind). Die Figuren repräsentieren die ursprünglich in textgebundenerMusik gewonnenen Freiheiten vom strengen Kontrapunkt der Renaissance. Teilweisestellen sie rein musikalisch-texturelle Phänomene dar. Teilweise sind sie als »figurierend«in einem vorwiegend dekorativen Sinne zu verstehen (Gesangsmanieren, Figuren, dievom Idiom eines Instrumentes geprägt sind wie Tonleitern, Bebungen, Tremoli, Triller),ohne dass sie mit einem Affektgehalt oder außermusikalischen Inhalten in Verbindunggebracht werden können. Zu einem großen Teil wurden sie jedoch explizit mit Bedeutun-gen verknüpft, wobei dann die Namensgebung in Anlehnung an die tradierten Figurender antiken Rhetorik erfolgte.

Die Grenze zwischen dekorativen und affektgeladenen Figuren ist natürlich fließend.Letztere erschließen sich dem gebildeten und/oder erfahrenen Hörer oftmals unmit-telbar und intuitiv. Die Beschäftigung mit der Figurenlehre, kann diese Erfahrungenvervollständigen und im Hinblick auf eine Anwendung als Analysewerkzeug objek-tivieren, so die Hoffnung der Verfechter der Figurenlehre im 20. Jahrhundert. Ein inmusikalischer Rhetorik informierter Hörer soll in intersubjektiv überprüfbarer Form dieSemantik entschlüsseln können, die durch die Figuren gebildet wird, insbesondere, weildie ursprünglich im Hinblick auf die Vokalmusik beschriebenen Figuren rasch in dieInstrumentalmusik eindrangen. Die Deutung gerade auch textloser Musik, die gleich-wohl mehr oder weniger wohldefinierte Affekte, Bedeutungen und außermusikalischeInhalte in deutlicher Weise darstellen kann, sollte auf eine (musik-) wissenschaftlicheBasis gestellt werden.

Die Anwendung einer Figurenlehre – die als feststehendes Lehrsystem nie existierte –ist keineswegs unproblematisch.2 Während Autoren wie Hans Heinrich Eggebrecht sievehement verfechten (in populärwissenschaftlicher Form in seiner Musikgeschichte3),wird sie von anderen geradezu geleugnet.4 Hier soll sie praxisorientiert dargestelltwerden, als ein Zugangsweg und begrifflicher Werkzeugkasten unter anderen, für dieAnalyse im Rahmen des Werkstudiums für ausübende Musiker oder im Zuge derpädagogischen Erschließung im Rahmen des Instrumental-/Gesangsunterrichts odergegebenenfalls Schulunterrichts. Dafür wurden Vereinfachungen in Kauf genommen,in der Hoffnung, den Leser dafür durch den Vorzug eines kurzgefassten Überblicks zuentschädigen.

Dort, wo historische Quellen zitiert werden, sind Hervorhebungen und Eigenartender Rechtschreibung des Originals beibehalten worden. In den Notenbeispielen wurdengegebenenfalls C-Schlüssel durch die modernen ersetzt.

1 Vergl. dazu FORCHERT: Musik und Rhetorik im Barock, S. 5.2 Siehe dazu beispielsweise KLASSEN: Musica poetica und musikalische Figurenlehre – ein produktives

Missverständnis.3 EGGEBRECHT: Musik im Abendland.4 FORCHERT: Musik und Rhetorik im Barock.

1

Was sind musikalisch-rhetorische Figuren?

Musik wurde von jeher als sprachliche oder sprachähnliche Äußerung gesehen. Diesschlug sich in der Musiklehre auch dadurch nieder, dass Beziehungen zur antikenRhetorik hergestellt wurde. In der Antike bildete die Rhetorik eine der Grundlagen derErziehung der gebildeten Schichten. Im Mittelalter folgte die Rhetorikausbildung denSchriften des Marcus Fabius Quintilianus (Quintilian). Dieser wirkte seit 68 n. Chr. alsRedner in Rom und schrieb im Alter die zwölf Bücher seiner Institutio oratoria.1 Dieformal-rhetorische Ausbildung bildet für Quintilian die Grundlage der Erziehung. SeinWerk wirkte stark auf die Humanisten.

Quintilian definiert die rhetorischen Figuren als »Abweichung von der gewöhnlichen[. . . ] Art zu sprechen«.2 Der Kunstgriff des gezielten Abweichens von der gewohntenRedeweise soll den Zuhörer für die Aussage des Redners einnehmen, ihn also manipu-lieren. Wer in der Rhetorik geschult ist, vermag solche Manipulationen zu erkennen undist ihnen gegenüber daher immun.

Analog dazu bilden musikalisch-rhetorische Figuren Abweichungen von »der [. . . ]einfachen Art der Komposition«,3 von den Regeln oder Konventionen des Tonsatzes.Solche Abweichungen im Dienste einer Textausdeutung gibt es seit der Entwicklungeiner Seconda pratica im Zuge der Stilwende um 1600, welche die Entstehung der Operin Italien begleitete. Claudio Monteverdi (1567–1643) prägte im Vorwort zum 5. Madri-galbuch (1605) diesen Begriff (Seconda pratica) als Gegenbegriff zu einer Prima pratica,welcher auf den eng kodifizierten Stil der Vokalpolyphonie verwies. Die Seconda praticaumfasste die in seinen Madrigalen angewendete neue Schreibweise, welche um derTextauslegung willen Freiheiten vom Kontrapunkt gestattete. Die sich aus den Madriga-lismen entwickelnden musikalisch-rhetorischen Figuren legitimieren sich also, indemsie musikalische Träger der im Text dargelegten Bedeutungen sind. Dies konnte auf dieInstrumentalmusik übergehen.

Genau wie rhetorische Figuren Abweichungen von einer Norm der gewöhnlichenRede bedeuten, so bildeten die Freiheiten, die Monteverdi und seine Zeitgenossen erar-beiteten, Abweichungen von einer Norm, nämlich der des Renaissance-Kontrapunkts.Die Existenz dieser Satznorm und auch das Festhalten an der alten Schreibweise wa-ren die Voraussetzungen dafür, dass sich musikalisch-rhetorische Figuren überhauptherausbilden konnten (das Bewusstsein für Normübertretungen hat die Existenz einerNorm zur Voraussetzung). Monteverdis Begriffe belegen, dass beide Schreibweisen alsStylo antiquo und Stylo moderno lange Zeit nebeneinander existieren.

Der Stylo moderno ist kennzeichnend für die Oper und die Gattungen der zeitgenös-sischen Instrumentalmusik, wie z. B. das Konzert. Die Schreibweise der italienischenInstrumentalmusik löste sich von den Vorbildern der Vokalmusik, übernahm zugleichaber auch viele ihrer neu entwickelten Manieren. Die Vokalmusik umfasste auch im Ge-neralbasszeitalter einen großen Anteil an der Produktion (katholische und evangelischeKirchenmusik, Oper). Zudem bestand ein großer Teil der Instrumentalmusik anfangs aus

1 Artikel »Quintilian« in DAHLHAUS et al. (Hrsg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 10, Sp. 1018.2 Ebd., Bd. 2, Sp. 54.3 Ebd., Bd. 2, Sp. 52.

2

Übertragungen – Intavolierungen – oder auch Nachahmungen von Vokalmusik1. Wennsich nun in textgebundener Musik gewisse Manieren als musikalische Nachzeichnungenvon textlichen Figuren entwickelten, so ist es nur natürlich, dass sich diese auch in derInstrumentalmusik wiederfanden.

Die Anwendung der neuen Freiheiten des Satzes drang von Italien aus in den deut-schen Sprachraum ein. Heinrich Schütz (1585–1672) hielt sich von 1609 bis 1613 und einzweites Mal von 1628 bis 1629 in Venedig auf. Unter anderem sein Schüler ChristophBernhard (*1628 in Kolberg, +1692 in Dresden, wo er als Kapellmeister wirkte) legtedie kompositorische Praxis Schützens in Lehrschriften nieder, betitelt als AusführlicherBericht vom Gebrauche der Con- und Dissonantien und Tractatus compositionis augmentatus.Bernhards wie gesagt nur handschriftlich überlieferte Traktate wurden durch JosephMüller-Blattau editiert und sind damit einem breiten Leserkreis zugänglich geworden.2

Die früheste Quelle der Figurenlehre bilden jedoch die Schriften des 1564 in Lüneburggeborenen und 1629 gestorbenen Joachim Burmeister. Er wirkte als Lehrer und Kantorin Rostok. Zu erwähnen sind seine Traktate Musica autoschediastike (1601) und MusicaPoetica (1606).3 Burmeisters will »die Musik zu einer exakteren Waage des Verstandeszurückführen«,4 wie er im Vorwort der Musica autoschediastike betont. Es bestehe nurein geringer Unterschied zwischen der Musik und der Natur der Rede, und beidensei das Kunstmittel der Abweichungen von der gewöhnlichen Sprechweise zu Eigen.Auch die Redekunst beruhe »nicht auf der einfachen Aneinanderreihung einfacherWorte [. . . ] und deren bloßer und stets gleicher Verbindung, sondern [. . . ] darauf, daßdie Rede durch ihren ‚ornatus’ gefälligen Schmuck und durch gewichtige Worte Aus-druckskraft aufweist.« Ebenso biete auch die Musik eine Mischung aus Konsonanz undDissonanz (letzteres in Gestalt der Figuren, welche die Abweichungen vom strengenSatz regulieren), die »die Brust bewegen muß«.5

Die Figurenlehre wendet sich an Schüler im Kompositionshandwerk. In welcherWeise der schlichte Satz (die Harmoniae) mit musikalisch-rhetorischen Figuren auszu-schmücken sei, das richte sich nach den Figuren des zu vertonenden Textes. In ersterLinie soll aber nicht ein Lehrsystem, sondern das Vorbild fertiger Kompositionen denSchüler anleiten. Wenn dieser »wissen will, wann und wo die Harmoniae mit diesenFiguren auszuschmücken sind, so soll er den Text irgendeiner Komposition und spezielleiner solchen, die ein Ornament aufweist, sorgfältig betrachten und dann einen ähnli-chen Text mit derselben Figur ausschmücken. Wenn er dies in dieser Weise tut, wird derText selbst ihm die Vorschriften ersetzen.«6 Wer die Figurenlehre beherrscht, für denwird sie überflüssig.

Die Figurenlehre wurde – wenngleich nicht als einheitliche Lehrtradition – bis indie Zeit Bachs tradiert. Beispielsweise in Johann Gottfried Walthers 1728 erschienenemLexikon7 finden sich viele Einträge zu musikalisch-rhetorischen Figuren.

1 Bekanntlich hat sich die Gattung der Canzona aus der Intavolierung französischer Chansons herausentwickelt und dann allmählich von den Vorbildern gelöst.

2 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard.

3 Vergl. dazu die Artikel Burmeister und Bernhard in DAHLHAUS et al. (Hrsg.): Brockhaus RiemannMusiklexikon.

4 Zitiert in der Übersetzung von BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 24f.5 Zitiert nach ebd., S. 24f.6 Ebd., S. 27.7 WALTHER: Musicalisches Lexikon.

3

Was sind musikalisch-rhetorische Figuren?

Einteilung der Stile und der musikalisch-rhetorischen Figurendurch Bernhard

In seinem Tractatus compositionis augmentatus unterscheidet Christoph Bernhard in derMusik seiner Zeit zwei Stilbereiche:

1. Stylus gravis: Das ist der überkommene strenger Satz, auch Stylus antiquus genannt,gleichzusetzen mit Monteverdis Prima pratica. Dieser alte, kontrapunktisch strengeStil besteht aus »wenigen Arten des Gebrauchs der Dissonanzen« und nimmt»nicht so sehr den Text als die Harmonie in Acht«.1 Der Stylus gravis hat seinenOrt in der Kirchenmusik, denn »solchen der Pabst allein in seiner Kirchen undCapelle beliebet«.2

2. Stylus luxurians: Das ist der freie Satz, auch Stylus modernus genannt,3 vergleichbarMonteverdis Seconda pratica, textausdeutend, zahlreiche Dissonanzen enthaltend,die als Figuren (»Figuris Melopoeticis«, auch »Licentias« genannt) legitimiertwerden.4 Der Stylus luxurians teilt sich in zwei Unterformen auf:

a) Stylus luxuriante communi: Er enthält Dissonanzen, die über die im alten Kon-trapunkt des Stylus gravis enthaltenen Dissonanzfiguren (im WesentlichenDurchgangs- und Synkopendissonanzen) hinausgehen. Er hat seinen Platz inder modernen Kirchenmusik und in der zeitgenössischen Kammermusik.5

b) Stylus theatralis: Er ist, wie der Name sagt, primär in der Oper verortet.6 DieFiguren dienen dem Affektausdruck; die Rede ist Herrin über die Harmonie(»Oratio Harmoniae Domina absolutissima«), so dass die »General Regel [gilt],daß man die Rede aufs natürlichste exprimieren solle“.7

Vom Stylus theatralis sagt Bernhard:

(4) Daher soll man das freudige, freudig, das traurige, traurig, das geschwin-de, geschwind, das langsame, langsam (etc.) machen.

(5) Vornehmlich soll dasjenige, was in gemeiner Rede erhoben wird, hoch,das niedrige niedrig gesetzet werden.

(6) Gleiches ist zu observieren von denen Reden, wo des Himmels, der Erdenund Hölle gedacht wird.

(7) Die Fragen werden gemeinem Brauche nach am Ende eine Secunde höherals die vorhergehende Sylbe gesetzt [. . . ].8

Im Ausführlichen Bericht vom Gebrauche der Con- und Dissonantien unterscheidet Chri-stoph Bernhard wiederum zwei Klassen von rhetorischen Figuren:

1 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard, S. 42.

2 Ebd., S. 42.3 Ebd., S. 19.4 Ebd., S. 42f.5 Ebd., S. 71.6 Ebd., S. 82f.7 Ebd., S. 83.8 Ebd., S. 83.

4

Einteilung der Stile und der musikalisch-rhetorischen Figuren durch Bernhard

1. Die Figurae fundamentales sind bereits im Stylus gravis gebräuchlich. Es sind haupt-sächlich die Dissonanzfiguren des alten Kontrapunkts, des Stylo antico also, näm-lich Vorhalt (Ligatura oder Syncopatio) und Durchgang (Transitus regularis), jeweilsmit gewissen Erweiterungen (beispielsweise in Gestalt des »harten Durchgangs«,des Transitus irregularis).1

2. Die Figurae superficiales sind im Stylus luxurians gebräuchlich. Dies sind musi-kalisch-rhetorische Figuren im engeren Sinne. Sie sind der Bezeichnung nachentweder aus der antiken Rhetorik übernommen (z. B. die Ellipsis) und dann vonder Idee her mit diesen verwandt, oder sie stellen sich als Figuren für überwiegendsatztechnische Sachverhalte dar (etwa die Anticipatione Notae oder der Passusduriusculus). Bernhard nimmt sogar für sich in Anspruch, Figuren erfunden zuhaben.2

Die im engeren Sinne musikalisch-rhetorischen Figuren (bei Christoph Bernhard alsodie Figurae superficiales) lassen sich wie folgt3 kategorisieren:

• Bildhafte Figuren (Hypotyposis-Figuren)4,

• Figuren der nachdrücklichen Wiederholung und Hervorhebung (Emphasis),

• Satzfiguren,

• Pausenfiguren.

1 Ebd., S. 144ff.2 Ebd., S. 144.3 In Anlehnung an EGGEBRECHT: Musik im Abendland, S. 373ff.4 Im allgemeinen Sinne dient natürlich jedes Mittel musikalischer Rhetorik dem Abbilden außermusikali-

scher Sachverhalte.

5

Kleines Figurenlexikon

Abruptio

»(Ab-)Bruch«. Christoph Bernhard versteht darunter zweierlei:

1. »Abruptio ist, wenn für erwartender Consonantz, so zu Ergäntzung erfordert wird,der Gesang zerrißen, oder gar abgerißen wird.»

2. »Zerißen in der Mitte eines Contextus, wenn an statt eines Punctes eine Pausegesetzet wird.»1

Gemeint ist also der Abbruch einer Vorhaltskadenz (die Quarte eines kadenzierendenQuartvorhalts) oder das unvermittelte Abreißen einer Linie in eine Pause. Neben denbeiden dazu von Bernhard angeführten (konstruierten) Beispielen (Notenbeispiel 1)seien auch die Schlusstakte des dritten Satzes von Bachs Brandenburgischem KonzertG-dur BWV 1049 (Notenbeispiel 2) als Abruptio aufgefasst.

%>

ββ

œ œ œ œ œ ‰ Ιœ

˙∀ ˙

œ œ Ó

˙ Óœ œα −œ œ œ œ˙ ˙

ϖ

%>

œ œ −œ Ιœ

˙∀ ˙

˙ Ó

˙ Óœ œα ˙ œ∀˙ ˙

ϖϖ

Notenbeispiel 1: Abruptio – Beispiel von Christoph Bernhard

°

¢

°

¢

C

C

&

##

Æ

#n

Æ

n

?#

''

œ

œœ œ

œ

œœ œ œ

œœœ

œ

œœ

œ

œœ

œ

œ

œ

œ œœœœ

œœœ

˙

˙

˙

˙

˙˙˙

Œ œœ

œ œœ

œ œœœ

œœ

œ œ ˙œ œ ˙

˙˙

˙

˙˙˙

Œœœ

œ œœ

œ œœœ

œœ

œ œœ œ

œ œ œ œn œ œ œ œ œ

œ œ# œ œ œ œ œ ˙˙

Œœ œ œ

˙˙

Œ

œ œn œ

Notenbeispiel 2: Bach, Brandenburgisches Konzert G-dur BWV 1049, 3. Satz, kurzvor dem Ende

1 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard, S. 85.

6

Anabasis, Ascensus

Anabasis, Ascensus

Johann Walther definiert die Anabasis als »ich steige in die Höhe, ist ein solcher musikali-scher Satz, wodurch etwas in die Höhe steigendes exprimiret wird. Z. E. über die Worte:Er ist auferstanden«1 (vergl. Notenbeispiel 3). Die Anabasis ebenso wie die latinisierteForm Ascensus beschreiben also ein »Hinaufsteigen«, eine prononciert steigende Linie,etwas Gutes und Erfreuliches.2

% α 35 œ œ œGen Him mel

˙ œ ˙ œµauf ge fah ren

˙ œ œ −œ Ιœist, Hal le lu

−˙ja,- - - - - - -

Notenbeispiel 3: Ascensus: Choral Gen Himmel aufgefahren ist (1601, Melodie MelchiorFranck, 1627, nach EG: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für dieLandeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe, Nr. 119)

Anticipatio

. . . auch Prolepsis oder Praesumptio:3 Dies bezeichnet im Wesentlichen das, was darunterin der Terminologie der modernen Satzlehre (Harmonielehre) verstanden wird, nämlichdie Vorausnahme eines Tones des folgenden Klangs (Akkords), typischerweise alsSchlusswendung eingesetzt. Die Anticipatio stellt sich in der späten Generalbasszeit alseine reguläre Manier dar, ohne semantische Belegung.

Antitheton

Der Begriff Antitheton oder auch »Antithese« stammt aus dem Griechischen und bedeutet»das Entgegengesetzte«. Johann Gottfried Walther beschreibt die Figur des Antithetonsals »musikalische[n] Satz, wodurch solche Sachen, die einander contrairt und entgegensind, exprimirt werden sollen. Z. E. ich schlaffe, aber mein Hertz wachet«.4

In der Musik können sich Gegensätze simultan oder sukzessiv herausbilden. Mankann folgende Formen antithetischer Gestaltung unterscheiden:

• Simultankontrast, z. B. zwischen Fugensubjekt und Kontrasubjekt,

• sukzessiver Gegensatz, etwa durch Abschnittskontrast im Wechsel

– der Bewegung,– der Klanggruppen,– der Lagen,– der homophonen oder polyphonen Satzart,– der Gegenüberstellung von Dur und Moll (Mutatio per genus),– der Gegenüberstellung von Chromatik und Diatonik (Mutatio per tonum).

1 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 42.2 KRONES: Artikel MUSIK UND RHETORIK, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/13623.3 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 96.4 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 49.

7

Kleines Figurenlexikon

Ein Beispiel für Gegensatzbildung auf verschiedenen Ebenen findet sich im ChoralNr. 22 aus der Bachs Johannespassion (Notenbeispiel 4). Dort sehen wir ein Antithetondurch

• eine Muatio per tonum, den Wechsel von diatonischer zu chromatischer Schreibwei-se,

• durch den Wechsel von hoher zu tiefer Lage,• durch den Wechsel von vorhaltsreicher, dissonanter Faktur zum Akkordsatz, ange-

reichert lediglich mit weniger auffälligen Durchgängen.

%>

∀ ∀ ∀ ∀

∀ ∀ ∀ ∀

β

β

œœœ

denn

œ œ

œ œ œ œœ œ œ œ œ œœ œ œ œ œ œ

gingst du nicht die

œ œ œ œ

œ œ œ œ œœ œ œ œ œµœ œ œ œ œ œ

Knecht schaft ein, müßt

œ œ œ œ œ

œ œ œ œ œœµ œ œ œ œœ œ∀ œ œ

uns re Knecht schaft

œµ œ∀ œµ œ∀

œ œ œœ œ œ œ œ−œ œ œ œ œ

e wig sein.

œ œ œ- - - -

Diatonik, hohe Lage,Vorhalte (dissonant)

Chromatik, tiefe Lage,Durchgänge oder contrapunctus simplex

Notenbeispiel 4: Bach, Johannespassion, Nr. 22

Die von Vorhalten durchsetzte, sog. gebundene Schreibweise der ersten beiden Takteversinnbildlicht die »Knechtschaft«, die Jesus durch die Gefangenschaft, das Gebun-densein, eingeht. Unter der Silbe »Knecht-« findet sich zudem die Anhäufung zweierQuintsextakkorde im Sinne einer Parrhesia (siehe S. 22).

Apocope, Aposiopesis

Apocope: »Abschneidung«, die unerwartete Verkürzung einer Note, ähnlich der Abruptio(vergl. oben S. 6), wo eine Kadenzsynkope oder ein Einzelton vorzeitig abreißt. Apocopenfinden sich an den Schlussnoten von Phrasen, welche im Allgemeinen in einen breitenNotenwert auslaufen. Johann Gottfried Walther beschreibt die Apocope denn auchals »eine musikalische Figur, so entstehet: wenn bei der letzten Note eines Periodiharmonicae nicht ausgehalten, sondern behende abgeschnappt wird, und zwar beisolchen Worten, die solches zu erfordern scheinen«.1 Oft wird das Wort »Nichts« durchverkürzte Noten, also Apocopen, dargestellt.

Die Aposiopesis, das »Verschweigen«, bezeichnet nach Walther die überraschendeGeneralpause,2 also das Pausieren aller Stimmen zugleich, mit vorhergehender Kadenzoder ohne, beispielsweise um auf Tod oder Ewigkeit zu verweisen. Die Aposiopesis istweniger durch das Abbrechen einer Phrase gekennzeichnet, als durch die entstehendePause, welche die Unendlichkeit oder das Nichts symbolisieren soll.3

Beide Figuren finden sich in Heinrich Schützens Vertonung des 19. Psalms Die Himmelerzählen die Ehre Gottes (Notenbeispiel 5 auf der nächsten Seite). Zur Aposiopesis vergl.auch Notenbeispiel 16 auf Seite 14.

1 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 49.2 Ebd., S. 50.3 Vergl. BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 105.

8

Auxesis, Incrementum

%

%

%

Υ

Υ>

α

α

α

α

α

α

Β

Β

Β

Β

Β

Β

œ −œ Ιœ œde an der Welt

ϖRe

ϖRe

˙ ˙Re

œ œ −œ Ιœ œ

ϖRe

œ œ ÓEn de.

˙ Œ œde an

˙∀ Œ œµde an

œ −œ Ιœ œde an der Welt

œ œ Óde

˙ ˙de an

Œ −œ Ιœ œan der Welt

Ιœ Ιœ œ œ œder Welt En de.

œ œ −œ ιœder Welt En

œ œ œ œEn de, der Welt

Œ œ œ∀ œan der Welt

œ∀ œ œ œder Welt En de.

œ œ ÓEn de.

œ∀ œ Óde.

œ œ ÓEn de.

œ œ ÓEn de.

˙ œ œEr hat der

Ó ˙Er

Ó ˙Er

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

Apocope

Apocope

Aposiopesis

Apocope

Apocope

Notenbeispiel 5: Apocope und Aposiopesis: Schütz, Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,SWV 386, Geistliche Chormusik (1648)

Auxesis, Incrementum

Eine »Steigerung« der gleichen Sache bzw. »Wachstum«: Höhersequenzieren einer Melo-diewendung1 oder eines mehrstimmigen Satzes,2 Zunahme der Stimmenzahl.

Cadenza duriuscula

Bernhard bezeichnet damit die Kadenz mit dem Septakkord der IV. Stufe als Antepae-nultima (statt des gebräuchlicheren Quintsextakkordes der Stufe ii). Bach verwendetdie Cadenza duriuscula auffallend oft in den Rezitativen der Johannespassion (Notenbei-spiel 6 auf der nächsten Seite).

Circulatio

»Kreisende« Melodiebildung bei Wörtern wie circumdare oder circumire (Notenbeispiel 8auf der nächsten Seite).3

Die auffällige Führung des Generalbasses in der Arie Blute nur, du liebes Herz ausBachs Matthäuspassion (Notenbeispiel 8 auf der nächsten Seite) sowie die kreisendeBewegung der Sopranstimme in Takt 5 des Ausschnitts (h1-ais1-cis2-h1, die Umkehrung

1 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 64.2 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 109.3 Vergl. dazu und zum Notenbeispiel nach Lasso SCHMITZ: Artikel FIGUREN, MUSIKALISCH-

RHETORISCHE, S. 178.

9

Kleines Figurenlexikon

hat te,- sprach er: Es ist vollbracht!-

7t 7Q

c

c

&

## ?

?##

œ

j

œ

j œ

J

œ

J

œ

Jœ#

jœœœŒ Ó

˙

˙Œ œ

˙

Notenbeispiel 6: Cadenza duriuscula: Bach, Johannespassion, Nr. 29

% ˙ œ œ œ œα œqua cir cum da bit me- - -

Notenbeispiel 7: Circulatio-Figur in einer Motette von Lasso

des Anfangsmotivs der Arie h1-cis2-ais1-h1, und die anschließende Sequenz von d2 aus)lassen sich möglicherweise auch als Circulatio ansprechen, die sich windende Schlangeabbildend. Gleichwohl ist zu vermuten, dass für Bach die Begriffe der Figurenlehre beider Komposition nicht leitend gewesen sein dürften.

Blu te- nur, blu te- nur

droht den Pfle ger- zu er mor- den,- denn es ist zur Schlan ge- wor -

& ! $W 6r 6t 6r &t 6 7Q &I 6 ! 7t t 7 6RS 6r 7Q 6RS 7t 6r %Q

c&

##

Anfang der Arie:

Circulatio?

&

##

Circulatio?

Ÿ

?##

Circulatio? Abbild der Schlange?

. .. .

.

.. .

.

.

œ

J

œœ#

j

œ Œœ

J

œœ

J

œŒ

œ# œ

j

œ#

jœ œ œ

J

œ

J

œ œ#œ œ

œ œœn œ

J

œ

J

œ

J

œ#

J

œ

Jœ#

Jœ#

J

œ

J

œn œ

œ#œ œ

œ œ# œ œœ œ

œ œ

œ œ# œ œ#œ œ

œ# œœ œ œ œ

œ#

Notenbeispiel 8: Bach, Matthäuspassion Nr. 8, Arie Blute nur

Das Kopfmotiv stellt zudem (und vermutlich treffender) eine Kreuzesfigur vor. Ver-bindet man die beiden Töne h1 einerseits und die mittleren, cis2 und ais1 andererseits,so entsteht ein Abbild des Kreuzes. Diese heutzutage oft als Chiasmus bezeichnete Figurwird in der tradierten Figurenlehre nicht erwähnt, findet sich aber in der Barockmusik,namentlich Bachs Werken, häufig. Dies ist oft schlichtweg in ihrer melodischen Sinnfäl-ligkeit begründet. Eine inhaltliche Nähe zur Sprachfigur des Chiasmus ist ohnehin nichtgegeben.1

1 Dies wäre eher bei der Figur der Regressio der Fall; vergl. S. 25.

10

Climax, Gradiatio

Climax, Gradiatio

Climax (»Höhepunkt«, »Gipfel«) und Gradiatio (»Schritt«, »Stufe«, »Rang«) bezeichnendie Wiederholung einer melodischen Wendung von einer benachbarten Stufe aus (mo-dern: Sequenz), meist steigend, nach Burmeister1 auch fallend; als steigende Wendungangewendet für Affekte »göttlicher Liebe und der Sehnsucht nach dem himmlischen Va-terland«.2 Eggebrecht gibt dazu treffende Fundstellen aus Heinrich Schütz’ MusikalischenExequien (Notenbeispiel 9)3 .

% ∀ β ˙ ‰ Ιœ Ιœ Ιœ Ιœ ιœ ιœ ιœ ˙Herr, wenn ich nur dich, wenn ich nur dich

ϖ ϖha be.-

% ∀ ϖ Œ œ œ Ιœιœ

Herr, ich las se dich

œ œ œ Ιœ Ιœ œ œ œ Ιœ Ιœnicht, ich las se dich nicht, ich las se dich

œ œ œ Ιœ Ιœ Ιœ Ιœ Ιœ Ιœ ˙nicht, ich las se dich nicht, las se dich nicht.- - - - -

Notenbeispiel 9: Climax/Gradiatio: Schütz, Musikalische Exequien

Sequenzen sind in der Musik des Generalbasszeitalters allgegenwärtig. Wenn sie sodeutlich eingesetzt werden wie in der Arie Blute nur, du liebes Herz (Bach, Matthäuspassion,Notenbeispiel 10), ist es angemessen, sie als rhetorisches Mittel anzusehen.

Herz, blu te- nur, du lie bes- Herz, blu te- nur, du lie bes- Herz,

c

c

&

##

.

Gradiatio

.

.

.

.

.

.

?## ∑

Gradiatio steigend/Climax und Passus duriusculus

œ

J

œœ#

j

œ

œ œ œ

œ

œ œ œ

œ

œ œ œœ#

jœ œ

œ

j

œ

J

œ#

J

œ

J

œ

J

œ# œœ

J

œn

J

œ

J

œ

Jœ#

J

wn

œ

œ œ œ œŒ

œ‰

œ

j

œ

œ#

j

œ‰œ#

j

œ‰œ

j

œn

j

Notenbeispiel 10: Bach, Matthäuspassion Nr. 8, Arie Blute nur

Confutatio, Dubitatio

»Zweifel« (Dubitatio): Irreführung des Hörers durch einen unklaren Rhythmus (Inne-halten, etwa durch Fermaten) oder einen undeutlichen harmonischen Zusammenhang,eine »zweifelhafte« Modulation (Forkel4). Wenngleich zu beachten ist, dass der Termi-nus Modulation zur Zeit Forkels vorwiegend melodische Vorgänge, nicht den Gang derHarmonie bezeichnete5, kann man sicher die überraschende Modulation (im heutigenSinne des Begriffs) am Ende der zweiten Teilfuge der Doppelfuge aus Bachs Toccata undFuge F-dur BWV 540 (Notenbeispiel 11 auf der nächsten Seite) mit den Termini Dubitatiound Confutatio angemessen etikettieren.

Die Confutatio zählt nicht zu den rhetorischen Figuren, sondern ist ein Bestandteilder nach den Regeln der Rhetorik richtig aufgebauten Rede, auch der musikalischenKlangrede nach Mattheson.6 Sie besteht aus den Teilen Exordium, Narratio, Propositio,

1 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 118.2 KRONES: Artikel MUSIK UND RHETORIK, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/13623.3 EGGEBRECHT: Musik im Abendland, S. 373.4 Vergl. BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 134.5 Walther definiert Modulatio als »die Führung einer Melodie«, WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 4096 Vergl. dazu BLUME: Artikel BAROCK, Sp. 1291.

11

Kleines Figurenlexikon

{

C

C

&b

b

n#

n

?

b

œ ˙œn œ

œ

˙ ™

œ œb œœ ˙

œ

˙

œ œb œœ

œ ™

œœ# œ ˙ ™

œ#

J

œ œnœ œ

œ œ

œ œ œœ

Œ

œ œ œ œ ˙

‰ œn œ œ

œ œ œbœ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œb œ œ ˙n œb

œbœ

œ# ˙œ

œ œn œ# ˙

Notenbeispiel 11: Bach, Fuge aus BWV 540

Confutatio, Confirmatio und Peroratio. Die Confutatio bietet eine vorübergehende, schein-bare Widerlegung der Thesen des (Klang-) Redners, damit diese anschließend in derPeroratio umso stärker bekräftigt werden können. Die Tendenz, in bestimmten Formab-schnitten (im Suitensatz nach dem Doppelstrich, in der Fuge in der Mitte und gegenEnde) entferntere Tonarten zu berühren, namentlich im Personalstil Bachs, lässt sichmöglicherweise als Confutatio im Sinne der antiken Rhetorik verstehen.1

Congeries

»Zusammentragen«, »überhäufen«. Burmeister2 bezeichnet damit das Satzmodell dersteigenden, seltener fallenden 5-6-Konsekutive (möglicherweise zählt auch die fallende7-6-Synkopenkette dazu). In Heinrich Schütz’ Motette Verleih uns Frieden versinnbildlichtdiese Figur die drängende, aktuelle (»zu unsern Zeiten«) Bitte.

°

¢

lich, Herr

5

Gott,

6 5

zu

6

un

5

sern- Zei

6 5 4 3 5

ten.- -

65

6

&

#

n

?#∑

˙

œ˙˙

œœœ ™™

œ œ œ ™œœ

J

˙œ ™

œ

jœ œ

œœ

J

˙œ œ ˙

˙œ

Œ

˙

œ œ<#> ™

Ó

œ

J

w Ó Œœ œ

˙

œ ™

œ ™

œ

œ

J

Notenbeispiel 12: Heinrich Schütz, Verleih uns Frieden, Geistliche Chormusik (1648)

Ellipsis

»Auslassung«, z. B. Weglassen einer Dissonanzauflösung oder der korrekten Einleitungeines Durchgangs. Bernhard schreibt im Ausführlichen Bericht:

1) Ellipsis heißet Außlaßung und ist eine Verschweigung einer Consonans.

2) Und geschiehet auff zweyerley Weise (1) wenn an stad der Consonanz einepausa stehet und darauf eine Dissonanz folget. [. . . ]

3) Und wenn in einer Cadenz die Quarta durch die Tertia nicht resolviret wird,sondern stehen bleibet.3

1 In seiner Dissertation vertritt Manfred Peters die Auffassung, die Fugen Bachs seien in Anlehnungan die in der antiken Rhetorik gelehrte Form der Rede gehalten (PETERS: Johann Sebastian Bach alsKlang-Redner).

2 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 124f.3 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph

Bernhard, S. 151, Orthographie nach dem Original.

12

Exclamatio

Notenbeispiel 13 zeigt Bernhards Beispiele1 zur Ellipsis, in moderne Schlüssel übertra-gen.

°

¢

°

¢

&

solte so stehen

?

&

?

solte so stehen

˙ ˙‰

œ

jœ ™j

œ

r

œ ™ œ

j

w ˙ ˙ œ œœ ™ œ

œ ™ œ

j

w

wwb w

wwb w

˙‰œ œ œ w

˙ œ œ œ œ w Ó ˙ œb

J œ

j

œ#

j

˙ w w

ww

ww

w ˙ œ œ œbœ ˙ ˙

w

Notenbeispiel 13: Ellipsis: Beispiel nach Christoph Bernhard

Exclamatio

»Ausruf«, im Walther-Lexikon als Sprung der kleinen Sexte aufwärts beschriebene Figur:»Exclamatio [. . . ] ist eine Rhetorische Figur, wenn man etwas beweglich ausruffet; welchesin der Music gar füglich durch die aufwerts springende Sextam minorem geschehenkan.«2 Vermutlich muss die im alten Kontrapunkt in der Linie ungebräuchliche großeSexte zu den »harten Sprüngen«, den saltus duriusculi (siehe S. 24) gezählt werden.3

°

¢

Nicht bö se- kön nen- mei nen,- so

7t<§ 6rs

c

c

&

#

Exclamatio

?#

Saltus du-

riusculus

Parrhesia

œ

j œb

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J‰

œ

J

œ<n>

J œ œ œ œ œn œ œ œ

Notenbeispiel 14: Bach, Matthäuspassion Nr. 12

Fauxbourdon und Katachresis

Fauxbourdon, »falscher Bass«, bezeichnet die bekannte Satzfigur der Folge von parallelverschobenen Sextakkorden (auf die Praxis der improvisierten Mehrstimmigkeit zurück-gehend). Die Figur wird auch mit der der Katachresis (»Missbrauch«) in Verbindunggebracht, was die Fragwürdigkeit und Simplizität dieses Satzmusters hervorhebt. Kata-chresis wird darüber hinaus auch für die Bezeichnung der Verkettung von Dissonanzengebraucht.4

1 Ebd., S. 151.2 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 233.3 Diese Figur beschreibt Walther nicht, nur Bernhard.4 KRONES: Artikel MUSIK UND RHETORIK, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/29008.

13

Kleines Figurenlexikon

Fauxbourdonpassagen sind in der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts und darüberhinaus bis in die jüngere Gegenwart (20. Jahrhundert) natürlich allgegenwärtig. HeinrichSchütz setzt die schlichte Setzweise des Fauxbourdons im Anfangsabschnitt seinerMotette Ein Kind ist uns geboren (Notenbeispiel 15) als Stilmittel ein, um den Akzent auf»geboren« legen zu können (melodischer Höhepunkt, Zielpunkt des »falschen Basses«auf der IV, Ausschmückung in der Mittelstimme anstelle des trivialen Satzmodells).

Ein Kind ist

6

uns

6

ge

6

bo- ren- -

3

2&b ˙

˙˙

www

˙˙˙

www

˙˙˙

w ™

˙ ™w ™

œ œ ˙ www

Notenbeispiel 15: Heinrich Schütz, Ein Kind ist uns geboren, Geistliche Chormusik (1648)

Die Kette von verminderten Septakkorden am Ende der Fuge C-dur aus BWV 547(Notenbeispiel 16) lässt sich als Katachresis auffassen, hier kombiniert mit der überra-schenden Generalpause, der Aposiopesis.

%

>>

β

ββ

ϖαœ œ œ∀ œµ œ œ œ œµ œ œµ œα œ œ œ œ œœ œα œ œ œ ≈ œ œ œµ œœ∀ ‰ Ιœ œ Œ

œ œ œα œ

œ œœœ Œ œ Œœ Œœµ œ Œ

œ∀ Œ œα Œ

œœ œœα œ œ œµœ∀ Œ œµ ‰ Ιœœ

œα Œ œ ‰ Ιœ

œµ Œ œ ‰ Ιœ

œ œ œ œ œ œ œ œœ œ œœ œ œ ‰ œœ ‰œ œ œ œ ιœ ‰œ œ œ œ œ œ œ œ œ œα

œµ œ œ œ ˙Notenbeispiel 16: Katachresis: Bach, Fuge C-dur aus BWV 547, Ende

Fuga

»Flucht«, bezeichnet seit dem 15. Jahrhundert Kanonbildungen oder freiere Imitations-züge.1 Insofern stellt die Fuga (neben der Gattung, die heute damit im Allgemeinenverbunden wird) eine Manier ohne inhaltliche Konnotation dar. Allerdings schreibt Walt-her in seinem Lexikon am Ende des langen Fugenartikels: »Fuga bedeutet auch einensolchen musicalischen periodum, welchen man bey Worten, die eine Flucht anzeigen,anbringet, und die Sache, so viel nur möglich, in Aehnlichkeit vorstellet.«.2

Weil sukzessiv-imitatorische Einsätze den Normalfall in durchimitierten Motetten derRenaissance und der Barockzeit bilden, wird man hinter dieser Schreibart nur in Spezi-alfällen eine Textillustration vermuten dürfen. Neben der Verkörperung von »Flucht«oder dergleichen ist daran zu denken, dass ein kunstvoll und komplex gearbeiteterImitationszug besonders wichtige oder erhabene Textaussagen unterstreichen könnte,während weniger Wichtiges simpler gearbeitet sein könnte.

In der Vertonung des 19. Psalms Die Himmel erzählen die Ehre Gottes durch HeinrichSchütz (Notenbeispiel 17 auf der nächsten Seite) versinnbildlicht ein Imitationszug das

1 Artikel Fuge in EGGEBRECHT: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, dort S. 1.2 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 267.

14

Heterolepsis

»Weiterreichen« durch auffallend engräumige (enggeführte) Stimmeinsätze in regelmä-ßiger Folge (bildhaft »von oben nach unten«).

°

¢

Ein Tag sagts dem an dern,-

Ein Tag sagts dem an dern,-

Ein Tag sagts dem an dern,-

C

C

C

&

b

&

b

?

b∑

œ

œœ ™ œ

J

œ œb œ ™ œn

J

œ œ œ ˙ œ

Ӝ

œœ ™ œ

J

˙ œ œ ˙# w

œ

œœ ™ œ

j

œœ ˙

w

Notenbeispiel 17: Fuga: Schütz, Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, SWV 386, GeistlicheChormusik (1648)

Heterolepsis

Nach Bernhard die »Ergreiffung«1 einer anderen Stimme, durch Sprung in eine oderAbsprung aus einer Dissonanz. Eine Stimme übernimmt unvermittelt diejenige Positionim Tonsatz, die zuvor eine andere Stimme innehatte (Bernhard gibt das Beispiel eines –modern gesprochen – abspringenden Leittons).

Symbolisch steht die Heterolepsis für das Ergreifen der Rolle einer anderen Per-son. In Nr. 10 der Bachschen Matthäuspassion springt der Tenor in den zuvor im Altvorgefundenen Ton f, während der Alt im Durchgang das as des Tenors übernimmt(Notenbeispiel 18). Dies versinnbildlicht: die Strafe, welche die sündige Seele verdienthätte (die »Sündigkeit« verdeutlicht der harte Septakkord der IV, die Figur der Cadenzaduriuscula, vergl. S. 9), wird stellvertretend durch Jesus im Leiden übernommen.

%

>

αααα

αααα

β

β

˙ œΤ œœ œ œµ œαstan den, das

˙ œ œœ œ œ œ œ œ

œ œ œ œœ œ œ œ œ œ œ œhat ver die net

œ œ œ œ œ œœ œ œ œ œ œ

œ œ œΤœ œ œmei ne Seel.

œ œ œ œ œœ œ œ

- - - -

Heterolepsis undCadenza duriuscula

Notenbeispiel 18: Bach, Matthäuspassion Nr. 10

1 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard, S. 87f.

15

Kleines Figurenlexikon

Hyperbole und Hypobole

Übertreibung, nach Burmeister das Überschreiten des Modus1 (eines Stimmumfangs);die Hypobole bezeichnet demgegenüber das Unterschreiten des Tonraums2 (etwa deszugrunde liegenden authentisch oder plagalen Modus).

Der Begriff Hyperbole passt auf den übergroßen Ambitus der Partie des Evangelistenin der Nr. 63a der Matthäuspassion Bachs (Notenbeispiel 19)

Υ β ‰ Ιœ Ιœ Ιœ œ ≈ Θœ θœ θœvon o ben an bis un ten

œ Œ Óaus.- -

Notenbeispiel 19: Bach, Matthäuspassion Nr. 63a

Hypotyposis

»Abbildung«, nach Burmeister »eine Verzierung, in der die Bedeutung des Textes soverdeutlicht wird, daß die leblosen Worte des vorhandenen Textes mit Leben versehenworden zu sein scheinen.« Burmeister (in der Übersetzung von Dietrich Bartel) fährtfort, indem er eine Wertung äußert: »Diese Verzierung wird sehr häufig von wahrenKünstlern gebraucht«.3 Dies verweist auf den Sachverhalt, der heutzutage zumeist alsTonmalerei beschrieben wird.

Für die Deutung von Instrumental- und Vokalmusik ist das Aufdecken abbildenderGesten oder Satzbilder (Homophonie für »Einigkeit«, Ausdruck von Wohlbefindendurch ungebrochen konsonante Klanglichkeit usw.) gerade dann wichtig, wenn Inhaltevermittelt werden, die über die Textvorlage hinausweisen. So lässt sich in der Synkopeim 2. Takt des Soggettos aus Nr. 27b in Bachs Johannespassion (Notenbeispiel 20) einSymbol für das Zerteilen sehen, im Melisma zu »losen« ein Abbild des rollenden Würfels.

Las set- uns den nicht zer tei- len,- - son dern- da rum- lo sen- -

3

4

?

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œœ

œ

J

œ

J

œ

J

œ

j

œ

J

œ

J

œ#

J

œ œ œ œ œ œ œ œ œ

œ

J

Notenbeispiel 20: Hypotyposis: Bach, Johannespassion Nr. 27b

Deutlich ist die Abbildung der »Tropfen« in der Arie Buß und Reu aus Bachs Mat-thäuspassion (Notenbeispiel 21 auf der nächsten Seite).

Imitatio und Mimesis

Imitatio (»Nachahmung«) und Mimesis (»Abbild«) bezeichnen in erster Linie nicht Imi-tationszüge im modernen Sinne (vergl. oben S. 14, Fuga), sondern sie entsteht nachBurmeister »wenn die angenehme Beschaffenheit der Verbindungen von anderen durch

1 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 181.2 SCHMITZ: Artikel FIGUREN, MUSIKALISCH-RHETORISCHE, Bd. 4, Sp. 180.3 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 184.

16

Imitatio und Mimesis

°

¢

3

8

3

8

3

8

3

8

&

##

#

_Hypotyposis

p

&

##

#

p

&

##

#

daß die Trop fen- mei ner- Zäh ren- an -

?##

#

p

7 7 7 7 6 6

‰ ‰

œ.

œ.

œ.

œ.‰

œ.

œ.

œ. œ.

œ.

œ.

œ.

œ. ‰

œ.

œ.

œ. œ.

‰ ‰

œ.

œ.

œ.

œ. ‰

œ.

œ.

œ.

œ

. ‰

œ.

œ.

œ.

œ. ‰

œ. œ. œ. œ.

œ œ

‰ œ

j

œ

j

œœ

œœ œ

j

‰œ

j

œ

j

œ œœœ œn

j‰

œ œ# œ

œ

œ‰

œ

œ

œ

œ ‰œ

œ

œ

œ œ

Notenbeispiel 21: Hypotyposis: Bach, Matthäuspassion Nr. 6, Arie Buß und Reu

Nachahmung unmittelbar wiederholt wird«.1 Damit ist meist die Wiederholung einesNoema (siehe S. 21) durch eine andere Stimmgruppe gemeint, also das Aufgreifen einesmehrstimmig-homophonen Gebildes, nicht eines einstimmigen Soggettos. Womöglichist unter Imitatio und Mimesis auch die Wiederaufnahme einer mehrstimmigen, polyphonangelegten Satzfigur zu subsumieren. Dies finden wir beispielsweise in der Motette »Sofahr ich hin« aus der Geistlichen Chormusik von Heinrich Schütz (Notenbeispiel 22).

%%%Υ>

ΒΒΒΒΒ

Sopran 1

Sopran 2

Alt

Tenor

Bass

˙ ˙So fahr

Œ œ œ œSo fahr ich

∑∑∑

˙ ˙ich hin,

˙ Óhin,

˙ ˙So fahrŒ œ œ œ

So fahr ich

Œ œ œ œSo fahr ich

˙ ˙ich hin,

˙ Óhin,

˙ ˙So fahr

˙ Œ œhin, so

ÓSo

Ó Œ œsoÓ Œ œso

˙ ˙ich hin,

Notenbeispiel 22: Schütz, Motette So fahr ich hin, Geistliche Chormusik (1658)

J. G. Walther versteht Imitatio auch im modernen Sinne als Nachahmung eines Sogget-tos: »Imitatio [lat.] eine Nachahmung, Nachmachung, ist: wenn eine Stimme die Melodieeiner anderen in der Secund, Terz, Sext, oder Septima nachmachet«.2 Demnach wäreeine Imitatio eine Fuga3, ein Imitationszug, der jedoch in anderen als den bei der Fugaüblichen Einsatzabständen (1, 4, 5, 8) abläuft.

1 Nach ebd., S. 197ff.2 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 327.3 Vergl. S. 14

17

Kleines Figurenlexikon

Interrogatio

Fragen werden in der Musik im Allgemeinen in Nachahmung der natürlichen Sprachme-lodie durch ein Anheben der Melodielinie am Ende einer Phrase, dort, wo in textierterMusik das Fragezeichen steht, angedeutet. Dies findet sich bei Bernhard im Tractatus(vergl. das Zitat oben auf S. 4). Verbunden ist dies häufig mit einem harmonischenHalbschluss (Schluss auf der V, siehe Notenbeispiel 23).

c

c

&

See len- Schmerz, der An blick- sol chen- Jam mers- nicht? Ach

? &t 7t

6Rs u

uiv

z

zV

!

(Halbschluss)

œ

j

œ#

j

œ#

œ

j œ

J

œ

J

œ#

j

œ

J

œ

J œ

j

œ#‰

œ

j

˙#˙#

œœ ˙

Notenbeispiel 23: Interrogatio: Bach, Matthäuspassion Nr. 51

Katabasis, Descensus

»Abstieg«, abwärts gerichteter Gang, vor allem zur Darstellung des Niedrigen, Schlech-ten, Verächtlichen, aber auch für den Affekt der Unterwürfigkeit und Schwachheit.1

In der Motette Herr, wenn ich nur dich habe aus den Musikalischen Exequien von Hein-rich Schütz (Notenbeispiel 24) dient die Katabasis2 der Darstellung des Gegensatzeszwischen Himmel und Erde.

%

>

β

β

Œ œ œ ιœ ιœso fra - ge ich

Œ œ œ Ιœ ΙœŒ œ œ ιœ∀ ιœŒ œ œ Ιœ Ιœ

œ œ ˙nichts nach Him -

œ œµ ˙œ œ ˙œ œµ ˙

˙ Œ œmel und

˙ Œ œœ œ œ œ œ œ

und Erd -

˙ Œœ

œ∀ ˙ œEr - - -

ϖϖ

den,

ϖ

˙ Óden,

˙ Ó˙ Ó˙ Ó

Anabasis: Aufsteigen (Himmel)Catabasis: Hinabsteigen, Darstellung desNiedrigen, Verächtlichen (Erden)

Notenbeispiel 24: Schütz, Musikalische Exequien, Herr, wenn ich nur Dich habe

Im Ritornell der Arie Buß und Reu aus Bachs Matthäuspassion versinnbildlicht einabwärts gerichteter Sequenzgang – man kann ihn auch als Gradiatio (siehe oben S. 11)ansprechen – eine Geste der Demut (Notenbeispiel 25 auf der nächsten Seite).

1 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 112.2 Auch die Schreibweise Catabasis ist gebräuchlich.

18

Multiplicatio und Tremolo

°

¢

3

8

3

8

3

8

&

##

#

Katabasis als Demutsgeste

Syncopatio

Passus duriusculus

(Tertia deficiens)

&

##

#

Gradiatio oder Katabasis

?##

#

6# 6

5

# # 9

4

8

#

7 4 6 7 9

4

8

3

7 4 6 u r 3 # 7

5

œ œ# œ# œ

œ œ

œ

œ œ

œ

œ œ ™ œ œ# œ# œ

œ œ œ#œn œ œ# œ œ

œ œ œœn œ œ œ œ

œn œœ# œ

œ œ# œ# œœ œ#

œœ œ

œœ œ# ™ œ œ# œ# œ

œ œ œ œn œ œ# œ œ

œ œ œ œn œ œ œ œ

œ œ

œ# œ

œœ

œ

œ

œ

J

œ# œ

J

œœ œ œ# œ# œ

œ#œ

œ‰

œœ#

œœ ‰

œœ

œœ œ œ

Notenbeispiel 25: Katabasis: Bach, Matthäuspassion Nr. 6, Arie Bu9 und Reu

Multiplicatio und Tremolo

Multiplicatio bedeutet im Wortsinne »Vervielfältigung«. Bernhard1 und weitere Quellenverstehen darunter die Aufspaltung regulärer Synkopen- oder Durchgangsdissonanzenin kleinere Notenwerte durch Tonwiederholungen, was mit einer Verschärfung derDissonanzwirkung verbunden ist.

{

{

4

4

4

4

&

Exempla in Transitu. Natürlich:

&

&

Exempla in Syncopatione.

Natürlich:

?

˙ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ œœ œ œ ˙ w

˙ ™œ œ œ ˙ œ

jœ œ

J

˙ w

Ó˙ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ ˙

w

Ó˙ œ œ œ œ ˙ ˙

w

˙ ˙ œ œ œ œœ œ œ œ ™ œ

J

œ œ œ ™œ˙ ˙ ˙ œ œ œ

œ œ ˙ œ œ œ ˙

Ó

˙˙ œ œ œ œ œ œ œ œ

œ

˙ ˙ Ó

˙˙ ™

œ ˙ œ œ

˙ ˙

Notenbeispiel 26: Multiplicatio: Beispiel von Christoph Bernhard im Tractatus

In Bernhards Beispielen (Notenbeispiel 26) finden sich Repetitionen nicht allein aufden dissonierenden Tönen, sondern auch den umgebenden Konsonanzen. Das deutetdarauf hin, dass es bei der Multiplicatio nicht allein um eine Freiheit in der Dissonanzbe-handlung geht, sondern um die Manier der Tonwiederholung an sich, wobei ein klarerAffektausdruck damit nicht verbunden werden kann.

Auch die der äußeren Erscheinung nach verwandte Figur des Tremolo (»Zittern«) isthinsichtlich eines mit ihr verbundenen Affekts nicht eindeutig, zumal sie häufig in einemAtemzug mit dem Triller genannt wird. Das Tremolo wird zum einen als Gesangseffekt,zum anderen als charakteristische Spielweise auf Streichinstrumenten erwähnt.2

In der Instrumentalmusik des späten 17. Jahrhunderts sind Tonrepetitionen eineverbreitete Manier, wie beispielsweise in Corellis Concerto grosso op. 6 Nr. 4 (No-tenbeispiel 27 auf der nächsten Seite). Hier verstärkt der Passus duriusculus in denGeneralbassstimmen den Effekt der Multiplicatio- oder Tremolo-Figur:

1 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard, S. 75f.

2 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 276.

19

Kleines Figurenlexikon

{

Adagio

6 7 6 6r 5Q 4w 6

4

4

4

4

&

##

# n # n #

?##

Streicher

?

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œe e e e

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œe e e e

œœ

œœ

œ

œ

œ

œe e e e

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œ

œœ

œ

œœ

œœ

œ

œ

œ

œœœnœœœ

œ

œ

œ

œ

e e e e

œ œ œ œ œ# œ œn œ œ# œ œn œ œ œ œ œ

œ œ

œ œ œ œ œ œ

Notenbeispiel 27: Arcangelo Corelli, Concerto grosso op. 6 Nr. 4, Adagio

Auch im Chor Nr. 27b der Bachschen Matthäuspassion sehen wir im Generalbassdie Figur des Tremolo, wohingegen die repetierten Achtel in den Männerstimmeneher als Multiplicatio angesprochen werden können. Auffallend ist der Gegensatz zuden Haltetönen in den vokalen Oberstimmen. Beides zusammen verkörpert eine Artaufgestauter Wut.

°

¢

plötz li- cher- Wut den

Wut

7t 6r 7t &t

3

8

3

8

3

8

&

##

?##

#

?#

œœ œ œ ™

œœ œ œ ™

œ ™

œ ™

œ

œœ

J

œ#

œ œœ# œ œ œ œ œ

œ œ œ

œ œ œœ

œ œ œ œ

œj

œ

J

œ# œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ# œ œ œ œ œ

Notenbeispiel 28: Bach, Matthäuspassion, Nr. 27b

Mutatio

»Verändern«, »Wechseln«. Johann Gottfried Walther führt in seinem Lexikon die Mutatiozunächst auf die Praxis der Solmisation zurück (Wechsel des Hexachords, »wenn z.E.im g-Clave bald ut, bald re, bald sol gesungen werden muss«1). Anschließend zählt ervier Formen der Mutation auf, die als Gestaltungsmittel im Sinne einer musikalischenRhetorik gelten können:

a) Mutatio per Genus: Wechsel vom diatonischen in den chromatischen (oder»enharmonischen«) Modus,2

b) Mutatio per Systema: Wechsel der Lage von hoch nach tief »um einigeText-Worte zu exprimieren«,

c) Mutatio per Modum aut Tonum: Wechsel zwischen Dur und Moll »umeinigen Affect zu exprimieren«,

1 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 435.2 Dies geschieht wohl in Anlehnung an das alte griechische Tonsystem.

20

Noema

d) Mutatio per Melopoeiam: Wechsel des Ausdrucks von »männlich undstarck« zu einem »weichere[n] und weibische[n].1

Im Rezitativ Nr. 14 der Matthäuspassion (Notenbeispiel 29) versinnbildlicht Bach einenOrtswechsel durch eine Mutatio per tonum. Auch den Übergang der Rede vom Evan-gelisten zur Jesusfigur verdeutlicht er durch eine Mutatio per tonum in die symbolhafterscheinende Kreuzestonart fis-moll.

°

¢

°

¢

°

¢

Und da sie den Lob ge- sang- ge spro- chen- hat ten,- gin gen- sie hin aus- an den Öl berg.-

6 6t

p

4

p

p

Da sprach Je sus- zuih nen:-

In die ser- Nacht wer det- ihr euch al le- är gern- an mir. Denn es ste het- ge schrie- ben:- Ich

vivace

6

6 &

8

/rs 5e6

c

c

&

##

?##

h-moll

.. .

. . . .

D-dur

&

##

&

##

B##

&

## ∑ ∑ ∑

?##

?##

fis-moll

Œ ‰œ

J

œ

R

œ

R

œ

J

œ

Jœ#

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

JŒ œ

R

œ

R

œ

R

œ

R

œ

J

œn

R

œ

J

œ

J Œ

œŒ Ó Ó ≈ œ œ œ œ œ œ œ

œœ œ Œ

Ó Œœ ˙ ˙# ˙ œ œ# œ œ w

Ó Œ œ w ˙ œœ# œ œ ˙ ˙n

Ó Œœ ˙ ˙

œ

œ# œ œ œ œ w

œ

J

œ

R

œ

R

œ

J

œ

Ó Œ ‰

œ

J

œ ™

J œ

R

œ

œ

J œ#

J

œ

J

œ

J

œ

Jœ#

Jœ#

J

œ

R

œ

Œ ‰ œ

r

œ

J

œ

R

œ#

R

œ

J

œ

J ‰ œn

J

Ó

˙# w ˙ ˙ ˙

˙

Notenbeispiel 29: Bach, Matthäuspassion, Nr. 14

Noema

»Gedanke«, homophoner Abschnitt inmitten einer polyphonen Komposition, um durchden Wechsel in eine besser durchhörbare Faktur einen Textabschnitt, ggf. auch einenmusikalischen Gedanken in Deutlichkeit und Klarheit zur Geltung zu bringen. In derRhetorik bedeutet das Noema, dass eine im Text innewohnende, über die wörtlicheBedeutung hinausgehende Selbstverständlichkeit zur Geltung gebracht wird. NachBartel wird dies in der Musik durch den homophonen Satz bewirkt,2 insbesondere,wenn er mit der Komplexität einer ihn umgebenden Polyphonie kontrastiert.

Beispiele für diese Figur finden sich zuhauf, auch und gerade im Werk Bachs (Noten-beispiel 30 auf der nächsten Seite).

Parenthese

Das Sprechen »in Parenthese« (eine Bemerkung in Klammern) findet nach Matthesonseine Entsprechung im Hinabsteigen der Melodie in die Stimmlage der nächsttieferen

1 Ebd., S. 435f.2 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 209.

21

Kleines Figurenlexikon

°

¢

(woh) net,- - in euch woh net.- Wer a ber- Chri sti- Geist nicht

(woh) net,- - in euch woh net.- Wer a ber- Chri sti- Geist nicht

(woh) net,- - in euch woh net.- Wer a ber- Chri sti- Geist nicht

Got tes- Geist in euch woh net.- Wer a ber- Chri sti- Geist nicht

(woh) net.- - - - - Wer a ber- Chri sti- Geist

c

c

c

c

c

&

#

-

&

#

&

#

&

#

?#

œ œœ œ œ œ œ œ œ

œ

J

œ

J

œ œ œ‰ œ

J

œ# œ œ œ

œ#

œn œn œ

œ

œ œ œ œ œ œ œ œ œ

j

œ

j

œ œ œ‰

œ

j

œ œ œ œ œœ œ œ

œ œ œ œ ™œ

J

œ

J œ

j

˙ œ

œ

j

œ œ œn œ

œœ

œ œœ œ œ

œ

œ œ œ œ œ œ œ ‰ œ

J

œ œ œ œ

œ

œ#

œ œ ™ œ œ œ œ ˙

œ

‰œ

J

œ œ œn œ ˙

Notenbeispiel 30: Bach, Motette Jesu, meine Freude

Stimme (Mattheson: »Sollte solches gesungen werden, so müste wol der Gesang so weitherunter treten, als etwa aus der Mitte des Soprans in die Mitte des Alts, wenigstenseine Quart oder Quint, als wenns eine andre Stimme wäre.«1).

Zweifellos außerhalb der Tradition der musikalischen-rhetorischen Figuren stehendzeigt Takt 3 der Promenade aus Robert Schumanns Carnaval op. 9 (Notenbeispiel 31)gleichwohl deutlich ein Sprechen in Parenthese (Herabsinken der Melodie, hervorgeho-ben durch die Dynamik und auch die Notation).

{mf pp sf

Con moto

3

4

3

4

&bb

bb

b

Parenthese?

?

bb

bb

b

° *°

˙

˙

œ

œ

œ

œ

œ

œn

n ™

Œ

œ

œ

j

œ

œe

Œ

en

Œ

eÆeJ

ee

˙

˙ ™

œ

œ∏∏∏∏

œœ

œ

œœ

œ

œœ

œ

œœ

œ

œœ

œ

œ

œœœ

œœ

œn

n œœœ

œœœ

b œœœ

œ

œœœ

œn

œœ

œ

Notenbeispiel 31: Robert Schumann, Carnaval op. 9, Promenade

Parrhesia

»Redefreiheit«, »Freimütigkeit«, bei Burmeister das Hinzufügen einer Dissonanz (vorwie-gend einer Septime) zu einem konsonanten Klang.2 Nach Walther liegt eine Parrhesia vor,

1 MATTHESON: Der vollkommene Capellmeister, S. 194.2 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 220.

22

Pathopoeia

»wenn das mi contra fa [. . . ] also angebracht wird, daß es keinen Übellaut verursachet»,1

was in der heutigen Terminologie als Querstand bezeichnet wird.Den ersten Fall sehen wir in Bachs Choralsatz Ich bins, ich sollte büßen aus der Mat-

thäuspassion (zwei Quintsextakkorde unter der Mi-Klausel der Melodiestimme zum Wort»büßen«, Notenbeispiel 32, ähnlich auch in Notenbeispiel 4 auf Seite 8).

°

¢

Ich bins, ich soll te- bü ßen,-

c

c

&bb

bb

U

?

bb

bb

œœ œ

œœœœ œ

œ

œ œœ œ œ œ

œ

œ

œœ œœ œ œ œ ™

œ œ œ œ œœ

J

œ

œ

œ

œ

œ

Notenbeispiel 32: Bach, Matthäuspassion Nr. 10, Ich bins, ich sollte büßen

Ein Beispiel für die Verwendung von Querständen zur Betonung des Schmerzlichen,Herben findet sich in der Bassarie Nr. 23 aus Bachs Matthäuspassion (Notenbeispiel 33)

%>

%>

α α

α αα α

α α

72

72

72

72

Violine

Bass

Continuo

œ∀ œ ‰œ œ ΙœKreuz und

œœœ∀ œœœ œœœœ œ œ

4W 6r 5

œµ œµ ‰œ œα Ιœ∀Be cher

œœœµ œœœα œœœµ∀œ œ œ œ

5I 6r<§ 4w<(Q

œ œ œ∀

œ∀ œ Ιœan zu

œœœ∀ œœ œœœœ œ œ

6Q 6 5

œ œµ œœ ΙœµŸ

neh

œœœιœœœµ

œ œ œ

5 6I

Ιœ

Ιœmenιœœœ

ιœ

5E

- - - -

Notenbeispiel 33: Bach, Matthäuspassion Nr. 23, Gerne will ich mich bequemen

Pathopoeia

Die Darstellung von »Leid« bzw. »Affektschaffung«, nach Burmeister sich häufendeHalbtöne, so »daß niemand durch den hervorgebrachten Affekt unberührt bleibt«.2

Nach Eggebrecht dient die Figur der Pathopoeia der direkten Darstellung des Leides,das unmittelbare »movere«3 des Hörers, während die verwandte Figur des Passusduriusculus einen Verweis im Sinne eines »docere« bedeutet.4

Beides findet sich im nachfolgend zitierten Choralsatz Johanns Sebastian Bachs (No-tenbeispiel 34 auf der nächsten Seite).

1 WALTHER: Musicalisches Lexikon, S. 463.2 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 223.3 Nach Cicero zählen »docere« (Unterrichten) und »movere« (Bewegen) zu den Grundpflichten des

Redners. Dazu tritt im Idealfall auch ein »delectare«.4 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 223.

23

Kleines Figurenlexikon

%

>

α

α

β

β

œœœ

Denn

œ

œ œ œ œœ œ œ∀ œœ œ œ œ

wird sich en den

œ œα œ œ∀

œ œ œœ œ∀ œœ œ œ œ

die se Pein,

œ œ œ- -

Passus duriusculus

vermindert

43 vermindert

übermäßig

Pathopoeia

Notenbeispiel 34: Bach, Kantate Nr. 20, Choral

Passus duriusculus und Saltus duriusculus

Beide Begriffe finden sich nur bei Christoph Bernhard.1 Der Terminus Passus duriusculusist aber heutzutage ein fester Bestandteil der Fachsprache der Musiktheorie. Mit Passusduriusculus (»etwas harter Durchgang«) sind die im Generalbasszeitalter und danachverbreitet anzutreffenden chromatisch steigenden oder (häufiger) fallenden Stimmengemeint, namentlich die Chromatisierung des fallenden phrygischen Tetrachords 8–5 inMoll. Bernhard versteht darunter auch die Fortschreitung in einer übermäßigen Sekunde(secunda abundans) oder verminderten Terz (tertia deficiens) und Gänge im Rahmeneiner Quarta deficiens (Notenbeispiel 35), Quarta superfluae und Quinta deficiens (4>, 4<und 5>).2

% α β Œ œ œ∀ œµ œµ œα ˙ Œ œ œ œ∀ œ œ∀ ˙ −ιœα θœ œ −ιœ∀ θœ œIm pi è im pi è- - - -

% α −œ ιœ∀ ˙fe ci mus.

Œ œ œα −ιœ θœ∀In hac la cry

−ιœ∀ θœ ˙ œma rum val

ϖle.- - - - - - - -

Secunda abundans

Tertia deficiens

Notenbeispiel 35: Passus duriusculus, Notenbeispiele nach Bernhard (MÜLLER-BLATTAU:Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seinesSchülers Christoph Bernhard, S. 77f.)

Der Passus duriusculus im Rahmen einer Quarta deficiens findet sich auch im obenzitierten Choralsatz Bachs (Notenbeispiel 34).

Saltus duriusculus: Zu den »etwas harten Sprüngen«, die lediglich als rhetorischesMittel zugelassen sind, zählen Septimen, Sexten, verminderte Quarten und Quintenund die verminderte Septime zwischen der [6 (leitereigen in Moll) abwärts in denLeitton, im Beispiel Bernhards dezidiert als Mittel der Textausdeutung (um »Falschheit«auszudrücken3). In dieser Form ist die verminderte Septime eine in der Barockzeit unddanach gängige Wendung (Notenbeispiel 36 auf der nächsten Seite).

1 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 222.2 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph

Bernhard, S. 77f.3 Ebd., S. 79.

24

Pleonasmus

% α α α 12 ˙ ˙ ˙µDer sau re

−˙ œ œ œWeg wird mir zu

−ϖschwer-

Notenbeispiel 36: Bach, Motette Komm, Jesu, komm

Pleonasmus

»Überfluss«, nach Burmeister Häufung von Dissonanzbildungen in einer Klausel.1

Burmeisters Beispiele zeigen das Satzmodell der Cadenza doppia2, einer gegenüber dereinfachen, synkopierten Kadenz ausgedehnten Form, die in der Tat eine ausgeklügelteKombination von Vorhalten (Syncopatio) und Durchgängen (Transitus bzw. Symblema)aufweist.

Der Pleonasmus in Gestalt einer cadenza doppia steht häufig an Satzschlüssen. In dervon Burmeister beschriebenen Form (Kombination von Syncopatio und Durchgängen)findet sie sich am Ende der Motette Tröstet mein Volk aus der Geistlichen Chormusik (1648)von Heinrich Schütz (Notenbeispiel 37).

°

¢

daß des Her ren- Mund re det.-

(daß) des Her ren- Mund re det.- - -

(Her-) ren Mund des Her ren- Mund re det.-

Mund, daß des Her ren- Mund re det.-

Her ren- Mund re det.- - -

C

C

C

C

C

&

#

&

#

&

#

&

#

?#

w ˙ ˙ w ˙ ˙ w w#

˙ ˙ ˙ ˙ w ˙# ˙ ˙ ˙# w

˙ ˙ w Ó

˙ ˙

œ œ

w w

w˙ ˙ ˙ ˙ w

Ó

˙ w

˙ ˙ w w

w w

w

Notenbeispiel 37: Schütz, Motette Tröstet mein Volk, Geistliche Chormusik (1648)

Regressio

Krebsgängige Wiederholung, ausdrücklich nur im Zusammenhang mit Text, nicht mitmusikalischen Figuren erwähnt.3 Die zweifache Anwendung des Krebsganges in Schütz’Motette Herr, auf dich traue ich, das »Zurückkehren« widerspiegelnd, wirkt überzufällig.

1 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 227f.2 Zur Cadenza doppia siehe MENKE: Die Familie der cadenza doppia. Als Satzmodell ist die Cadenza doppia

nicht a priori affektbesetzt.3 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 146.

25

Kleines Figurenlexikon

°

¢

Hort, ein Hort, da hin- ich im mer- flie hen- - - mö ge,-

Hort, ein Hort, da hin- ich im mer- flie hen- - - mö ge,-

c

c

&b

&

b

œ

j

œ

j

œ

j

œ

j

œ

j

œ

j

œ

j

œ

j

œ ™ œ œ œ ™ œ œ œ œ ˙ ˙

Ó

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œb

J

œ

J

œ

J

œ ™ œ œ œ ™ œ œ œ œ˙

w

Notenbeispiel 38: Schütz, Motette Herr, auf dich traue ich, Geistliche Chormusik (1648)

Superjectio oder Accentus

Nach Bernhard1 eine Gesangsmanier: Verzierung einer (fallenden) Durchgangsbewe-gung durch die obere Nebennote. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Entstehungder Figuren und ihrer Rolle bei der Weiterentwicklung des Tonsatzes im 17. Jahrhundertist die Erklärung, die Burmeister zu ihrer Entstehung gibt: Es handelt sich um eine zu-nächst improvisierte Verzierung von im Stylus gravis regulären Vorgängen, welche sichzu einer in der komponierten Vokal- und Instrumentalmusik gängigen Figur verfestigthat (Bernhard: »welches hernach die Componisten gut befunden und also in ihren Sätzenimitieret haben«2). Notenbeispiel 39 gibt Bernhards Beispiel wieder.

{

{

&b

Trans.

quasi-

Trans.

[Quasi-

Trans.Syncope]

quasi-

Trans.Syncop.

?

b

Sync.

Sync.

&b

Welches Exempel natürlich also stünde:

?

b

œ œœ œ œ œ

œ œ ˙ ™ œœœœ œ# œ ™ œ

j

œ# œœ œ ™ œ

œ œ ™œ

j

˙

Ó

œ œbœ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ œ

J

œœœœœ

J

œ

œ

œ œ ™ œ œ# ˙

œ œ œ œ ˙ ™ œ œ œ# ˙ œ# œ˙ œ œ ™

œ

j

˙

Ó

œ œn œ œ œ œ œ œ ˙ œ

œ œ œ œ

œ

œ œ œ# ˙

Notenbeispiel 39: Superjectio, Beispiel von Christoph Bernhard

Supplementum, Paragoge

Supplementum: »Ergänzung«, »Verstärkung«; Paragoge: »Abweichung«, Seitenbewegung,auch mundartliche Verschiedenheit oder Gesetzesübertretung.3 Dem entspricht dieverbreitete Praxis, Satzschlüsse durch angehängte Plagalkadenzen zu verlängern.4

1 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard, S. 71f.

2 Ebd., S. 72.3 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 212.4 Unter oder über dem gehaltenen Finaliston passt genau das Pendel I-IV/iv-I.

26

Suspiratio

In der Motette Die Himmel rühmen die Ehre Gottes (Notenbeispiel 40) bekräftigt HeinrichSchütz das abschließende (in der synkopierten Klausel bereits erklungene) »Amen«durch einen solchen Plagalschluss.

°

¢

keit zu E wig- keit,- E wig- keit,- A men,- - - A men.- - -

keit zu E wig- keit,- zu E wig- keit,- A mein,- - A men.- - -

keit zu E wig- keit,- zu E wi- keit,- A men,- - A men.- - -

keit zu E wig- keit,- zu E wig- keit,- A men,- A men.- - -

keit zu E wig- keit,- zu E wig- keit,- A men,- A men.- - - -

keit zu E wig- keit,- zu E wig- keit,- A men,- - A men.- - -

C

C

C

C

C

C

&b

Supplementum

&b

&b

&

b

&

b

?

b

œb œœ ™ œ

J

œ œœ

j

œ

j

œ œ œ ˙ œ# w w w w

œ œ œ ™ œ

j

œ

œ œ œb

J

œ

J

w w ˙b ™ œ w wn

œ œ œ ™ œ

j

œœ œ œ

j

œ

j

œ

œ

˙ w ˙ ™ œ wb w

œœ

œ ™ œ

j

˙Œ œ œ œ

J

œ

J

˙ wnw w w

œœ ˙

œ œ ™

œ

j œœ# œ œ

œ ˙˙ œ œ ˙b œ œ ˙ w

œb œœ ™ œ

J

œ

œ œ œ

j

œ

j

w

ww w

w

Notenbeispiel 40: Schütz, Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, Geistliche Chormusik (1648)

In dieser Tradition steht der Schluss der Choralbearbeitung Nun komm, der HeidenHeiland BuxWV 211 von Dietrich Buxtehude (Notenbeispiel 41 auf der nächsten Seite).Die Schlussnote der Melodie des Kirchenliedes wird über dem I-iv-I-Pendel ausführlichfiguriert, damit deutlich das Geheimnis der Menschwerdung Gottes hervorhebend.1

Suspiratio

»Seufzer«; damit ist nicht die in der Wiener Klassik verbreitete Form eines fallendenHalbtones bezeichnet, sondern eine mit Pausen durchsetzte Linie, die Kurzatmigkeiteines trauernden oder deprimierten Menschen verkörpernd. Eggebrecht2 gibt dazu einetreffende Fundstelle in den Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz (Notenbeispiel 42auf der nächsten Seite) an.

Syncopatio

Dies ist zunächst die wichtige, reguläre kontrapunktische Dissonanzfigur im Styloantiquo (damit zu Christoph Bernhards Figurae fundamentales gehörend). Als solche wirdsie oft auch als Ligatur (Bindungsdissonanz, Vorbereitung der Dissonanz durch einenHaltebogen) bezeichnet. Synkopendissonanzen bilden in erster Linie das Mittel zurZäsur- und Schlussbildung schlechthin und sind daher semantisch völlig neutral.

Wenn sie gehäuft und insbesondere unabhängig von Vorhaltsdissonanzen auftreten,können Synkopen abbildhaft als »Verstoß« (nämlich gegen die Taktordnung) wirken.

1 In seiner deutlich an Buxtehude angelegten Bearbeitung des selben Chorals (BWV 659) übernimmt Bachdieses Verfahren.

2 EGGEBRECHT: Musik im Abendland, S. 377.

27

Kleines Figurenlexikon

{

{

Ge burt- - - - ihm be - - - -

stellt.

&b

b

Originaler Cantus firmus

&b

b

Cantus firmus coloratus

m

&b

b? #

?

b

b

&b

b

&b

b

Supplementum

U

?

b

b

n n

&

n

U

?

b

b

˙

˙œ

œ˙

Ϫ

œœ

™ œœ

™ œœ

œœ

œœ

œ œœ

œœ

œ#œ

œœ

™œ

œœ

˙

œ

œœ

œ

œœ

œœ

œœ

œ

œœ

œœ

œœœ

œœ

œœ

Ϫ

œ

œœ

œ

w w w

œ

œ œœnœœœ

œnœœœœœœ

œnœœœœœœœœ

œœœœœœœœœœ#

w

œœ

œœ

˙

œœ

œœ

œnœ

™œ

j

œ ™ œœ

œœ

œœ ™

œwwnœ

œœ ™

œ

w w w

Notenbeispiel 41: Buxtehude, Choralbearbeitung Nun komm, der Heiden Heiland, BuxWV211

>>>

∀∀∀

Œ œ ˙ Œ œso ist es

Ó Œ œ ˙so ist

˙ ϖ

˙ Œ œ ϖMüh und Ar

Œ œ ˙ Œ œ ˙es Müh und Ar

ϖ ϖ

˙ Óbeit

ϖbeit

ϖ

- - -

-

Notenbeispiel 42: Suspiratio: Schütz, Musikalische Exequien

28

Syncopatio

In dieser Form setzt Bach Synkopen in der Arie Großer Herr und starker König aus derersten Kantate des Weihnachtsoratoriums (Notenbeispiel 43) in Verbindung mit Saltusduriusculi zur Symbolisierung der »harten Krippen« ein – eine Deutung, die freilichbeim Vergleich mit der Parodievorlage, der Arie in der Kantate 214 Tönet ihr Pauken!Erschallet, Trompeten! zweifelhaft wirkt, es sei denn, man ist geneigt, der Syncopatio hierdie Funktion einer Hervorhebung und Verdeutlichung zuzuschreiben.

(er-)scha fen,- muss in har ten- Krip pen- schla fen;-

ha ben- sein dir an ge- bor'- ne- Ga ben.-

2

4

2

4

?##

Weihnachtsoratorium

Ÿ

?##

Kantate 214

Ÿ

œ

J

œ œœ

Jœ#

J

œ

J

œ

œ#

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ œ# œ œ œŒ

œ

J

œ œœ

œ#

J

œ

J

œ

œ#

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ

J

œ œ# œ œ œŒ

Notenbeispiel 43: Bach, Weihnachtsoratorium, Arie Großer Herr und starker König undParodievorlage

Das gehäufte Auftreten dissonierender Synkopen ist hingegen sicher affektbesetzt.Gattungsbildend ist die Syncopatio bzw. Ligatura in der Toccata di durezze e ligature deritalienischen Orgelmusik des 17. Jahrhunderts. Sie wurde vor allem zur »Wandlung«(Elevation1) in der katholischen Messe gespielt, um das Mysterium der Verwandlung desBrotes hervorzuheben. In Frescobaldis Toccata ottava (Notenbeispiel 44) ist die Verbin-dung der typischen (kontrapunktisch korrekten) Verwendung der Synkopendissonanzbzw. Ligatura mit kurzen passus duriusculi (chromatische Gänge, siehe S. 24) im Kontra-subjekt zu erkennen.

{

{

c

c

&b

?

b Ú# b

&b

?

b

#

w

Ó

w˙ ˙ ˙

w wœ œ œ

Ó

œ w

w ˙˙

Ó w ˙#

œ œn œb œ

Ó

w

˙n˙˙

˙˙

˙œ œn

˙

œ œ

œ˙

œ ww ˙

œ œ ˙

˙

w

˙˙

w

w

w

˙ ˙

˙w

˙n ˙˙

w

˙ w

˙

w

˙˙

Notenbeispiel 44: Frescobaldi, Toccata ottava di durezze e ligature, aus Il secondo Libro dieToccate, Canzoni etc. (1637)

1 Elevation: Erhebung der Hostie.

29

Kleines Figurenlexikon

Tirata

»Worterguss«, »Redeschwall«, nach Mattheson »Pfeil«, diatonischer Lauf auf- oderabwärts, wohl hauptsächlich dann als »Tirade« anzusprechen, wenn es sich um über-wiegend kleine Notenwerte handelt.1

Den Gestus einer wortreichen Tirade oder eines Pfeils (oder Degenkampfes?) fin-den wir im Kontrasubjekt der Fuge a-moll aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, Band 2(Notenbeispiel 45).

{

{

c

c

&

' ''

?

ÆÆ

Æ

ÆŸ

&

''

'

' ''

'

'

œ œn œ œ

œœ œ œ œ

Œ œ œœ

œ#

Œ ‰ œœ#

œ

œœ

œ#

œ#

œ

œ œn œ œ œœ œ œ œ œ# œ œ œ œ œ œ œ# œ œ œ œ œ œ# œ ™ œ œ œ ™

œ œ

œœ

œ#

œœn

œnœ

œ

Œ

œ

J

œ

œ

œ#

J

œnœ

œ

J

® œœn œ œ

J ®œ œ œ œn

J

® œ œœ œ

J®œ œ œ œ ™ œ œ œ œ œ œ œ

Œ

Notenbeispiel 45: Bach, Fuge a-moll aus WK II

Transitus, Commissura, Celeritas

Der Transitus (»Durchgang«), auch Commissura (»Verbindung«), zählt zu den regulärenFiguren des Renaissance-Kontrapunkts und ist als solche semantisch neutral. Häufigfinden sich Durchgänge in textgebundener Musik, wenn es gilt, »Laufen« oder auch»Geschwindigkeit« (Celeritas) zu versinnbildlichen.

In der Motette Die Himmel erzählen die Ehre Gottes aus Heinrichs Schützens GeistlicherChormusik finden wir die Verwendung des Transitus in deutlicher Form (Notenbeispiel 46auf der nächsten Seite).

Eher an die Figur der Celeritas erinnern die freudig ansteigenden Achteldurchgänge imSchlusschoral aus Bachs Kantate Nr. 40 (Notenbeispiel 47 auf der nächsten Seite), die hierhervorgehoben erscheinen, weil sie jeweils nur in einer Stimme gegen den unfiguriertenSatz der übrigen gesetzt sind.2 Das deutliche Ansteigen, über den Oktavraum hinaus,lässt sich als Hyperbole (S. 16) verstehen, hier als Abbild des Überschwangs der Freude.

Erwähnt sei der Transitus irregularis, der irreguläre oder »harte« Durchgang, der aufeiner relativ betonten Taktposition steht, wohingegen sich Durchgänge im Renaissance-Kontrapunkt ursprünglich ausschließlich auf leichter Zeit ereignen sollten. Der Gebrauchharter Durchgänge ist typisch für den Personalstil Bachs.

1 BARTEL: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 260ff.2 Die Kantate Nr. 40 ist für den zweiten Weihnachtsfeiertag geschrieben; daher kann man auch an einen

versteckte Verweis auf das im Evangelium des Tages (Lukas 2, 1-20) erwähnte »Eilen« der Hirten zurKrippe denken, welchem sich die Gemeinde im Choral symbolisch anschlösse.

30

Transitus, Commissura, Celeritas

°

¢

Held zu lau fen- zu lau fen,- zu lau fen,- zu lau fen- zu lau -

Held zu lau fen,- zu lau fen,- zu lau fen,- zu lau fen,-

zu lau fen,- zu lau fen- - - - - - - den Weg, zu lau -

zu lau fen,- - zu lau fen- - - - - den Weg, zu lau fen,-

Held, zu lau fen,- zu lau fen,- zu lau fen,- - - zu

zu lau fen,- zu lau fen- - - den Weg, zu

&b ∑

&b

&b

&

b

&

b ∑

?

b∑

œ œœ

œ

Œ œ œ œ œ œ œ œ Œ

œœ

œ Œ œœ

œÓ Ó

œ œ œ

˙

Œ œœ

œŒ

œ œ œ œ œ œœ

Œœ œ œ œ œ œ

œ Ó Ó Œœ

œœ

Ó

Ӝ

œœ

Œ Ó Œ

œ œ œ œ œ œ ™ œ

j

œ œ œ œ œœœ œ œb œ œ œœ œ œ ˙ ˙

œœ

Ó Œ

œœ œ œ œ ˙

˙Œ œ œ œ œ œ œ

œ œ œ œ œ ™ œœ œ œn ˙ œ œ

œœ

œ

w Œ œœ

œŒ

œœ

œ Œ œœ œ œ œ œ ™ œœœ

œ

Ó Œ

œ

Ó Œœ

œœ

Ó Ó Œ

œ œ œ œ œ œ œ œb œ œ œ ˙

˙ Œœ

Notenbeispiel 46: Transitus: Schütz, Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, SWV 386,Geistliche Chormusik (1648)

&

?

bbb

bbb

c

c

Ï Ï Ï Ï

Freu - de, Freu - de

Ï Ï Ï Ï

Ï Ï Ï Ï

Ï Ï ÏÏ Ï Ï

Ï Ï

Ï Ï Ï Ï

ü - ber Freu - de!

Ï Ï Ï Ï Ïn Ï

Ï Ïn ÏÏÏ

ÏÏ Ï

U

Notenbeispiel 47: Celeritas: Bach, Schlusschoral der Kantate Nr. 40

31

Kleines Figurenlexikon

Variatio

Christoph Bernhard setzt den Begriff im Tractatus compositionis augmentatus1 mit Colora-tura gleich und versteht darunter die ursprünglich improvisatorische Verzierung einerGesangslinie. Er gibt der Besprechung dieser Figur ausführlich Raum, geradezu in derArt einer Improvisationsanleitung.

simpliciter.variatè.

simpliciter.[Var. 1 Var. 2

4

4&

ma da

œ œœ œ

˙

œœœœœœœœ˙

œ œ ˙ œ œœœ œœ

˙œ œ

œœ œœ˙

Notenbeispiel 48: Variatio: Beispiele Christoph Bernhards

1 MÜLLER-BLATTAU: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers ChristophBernhard, S. 73.ff.

32

Rhetorische Figuren und Werkanalyse

Wie eingangs bereits erwähnt, wird die Anwendung der Figurenlehre als Werkzeug zurAnalyse aus verschiedenen Gründen kritisiert:

• Die Figurenlehre wird in relativ wenigen zeitgenössischen Quellen beschrieben,während die Mehrzahl sie nicht erwähnt.

• Diese Quellen sind auf den deutschsprachigen Raum beschränkt.

• Sie widersprechen einander vielfach.

• Die Begriffe der antiken Rhetorik und der Figurenlehre sind inhaltlich nur lockeraufeinander bezogen.1

• Es lässt sich nicht belegen, dass die Komponisten die Figurenlehre als Handrei-chung zur Erfindung und Ausarbeitung genutzt haben.2

Wenn zweifelhaft ist, ob und wieweit die Figurenlehre tatsächlich das kompositorischeDenken beeinflusst hat, dann ist nach dem Nutzen der Kenntnis dieser Lehre für dieheutige Praxis der Analyse zu fragen. Eine allgemein verbindliche Norm wurde durchsie nicht gesetzt. Wenn man nach der Figurenlehre analysiert, arbeitet man folglichnicht zwangsläufig historisch korrekt. Nahe liegt die Berücksichtigung der Figurenlehrebei der Analyse barocker protestantischer Kirchenmusik. Heinrich Schütz kannte dieSchriften Christoph Bernhards; er hat sie im Vorwort seiner Geistlichen Chormusik von1648 zur Lektüre empfohlen.3 Das beweist keineswegs, dass er sich bei der Kompositionbewusst an den musikalisch-rhetorischen Figuren orientiert hätte. Eine Beschränkungder Fantasie durch eine Handwerkslehre kann man sich bei Komponisten vom Rangeines Heinrich Schütz oder auch Johann Sebastian Bach schlecht vorstellen.

Dennoch kann man der Kenntnis der Termini der Figurenlehre bei der Analyse vonMusikwerken zwischen 1600 und 1750 einen gewissen Nutzen zusprechen. Begriffesind Erkenntniswerkzeuge. Die Befunde, die bei der Analyse auffallen, sind vom Werk-zeugkasten einer Terminologie abhängig. Man sieht – und hört – nur Muster, die manwiedererkennt. Die Figurenlehre stellt immerhin eine weitere Begrifflichkeit neben an-deren bereit, eine Ausweitung der Wahrnehmung, die zu begrüßen ist. Sie benenntKonventionen, denen eine gewisse Allgemeingültigkeit zukam. Dies ist unabhängigdavon der Fall, ob die Figurenlehre tatsächlich als Handlungsanweisung beim Kompo-nieren genutzt wurde, oder nur etwas beschrieb, das gewissermaßen in der Luft lag. DieKenntnis musikalisch-rhetorischer Figuren kann daher auch bei der Unterscheidunghelfen, was in einem Musikwerk konventionell und was individuell ist.

1 FORCHERT: Musik und Rhetorik im Barock, S. 17.2 Bedeutende Komponisten haben sich zur Figurenlehre nicht geäußert, nur Komponisten aus der zweiten

Reihe, wie Arno Forchert betont (ebd., S. 13).3 EGGEBRECHT: Musik im Abendland, S. 387.

33

Literatur

BARTEL, DIETRICH: Handbuch der musikalischen Figurenlehre. Laaber 1982, 6. Auflage2019

BLUME, FRIEDRICH: Artikel BAROCK. In: DERS. (Hrsg.): Die Musik in Geschichte undGegenwart. Kassel 1949-1986

DAHLHAUS, CARL/EGGEBRECHT, HANS HEINRICH/OEHL, KURT (Hrsg.): BrockhausRiemann Musiklexikon. Mainz 1995

EG: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Landeskirchen Rheinland, Westfalenund Lippe. 1. Aufl. Neukirchen-Vluyn

EGGEBRECHT, HANS HEINRICH: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie.Wiesbaden 2005

DERS.: Musik im Abendland. Zürich 1991FORCHERT, ARNO: Musik und Rhetorik im Barock. In: JÜRGEN HEIDRICH (Hrsg.):

Schütz-Jahrbuch 1985/86. Kassel 19 86KLASSEN, JANINA: Musica poetica und musikalische Figurenlehre – ein produktives

Missverständnis. In: GÜNTHER WAGNER (Hrsg.): Jahrbuch des Staatlichen Institutsfür Musikforschung Preußischer Kulturbesitz. Stuttgart, Weimar 2001, S. 73–83

KRONES, HARMUT: Artikel MUSIK UND RHETORIK. In: LAURENZ LÜTTEKEN (Hrsg.):MGG Online. Kassel 2016

MATTHESON, JOHANN: Der vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739MENKE, JOHANNES: Die Familie der cadenza doppia. In: Zeitschrift der Gesellschaft für

Musiktheorie 8/3 (2011)MÜLLER-BLATTAU, JOSEPH: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung

seines Schülers Christoph Bernhard. Kassel 1999PETERS, MANFRED: Johann Sebastian Bach als Klang-Redner. Hrsg. v. PFAU-VERLAG.

Saarbrücken 2005SCHMITZ, ARNOLD: Artikel FIGUREN, MUSIKALISCH-RHETORISCHE. In: Die Musik in

Geschichte und Gegenwart, Bd. 4. Kassel 1949-1986WALTHER, JOHANN GOTTFRIED: Musicalisches Lexikon. Weimar 1728

34