kafka killy lexikon

159
K Kachold, Gabriele ! Stötzer, Gabriele Kadelburg, Gustav, * 26.7.1851 Pest (heute zu Budapest), † 11.9.1925 Berlin ; Grabstätte : Berlin-Stahnsdorf, Südwest- kirchhof. – Schwankautor ; Schauspieler, Regisseur. K. ließ sich in Wien bei Alexander Strakosch u. Franz Deutschinger zum Schauspieler ausbilden. Über Leipzig (1868) u. Halle (1869–1871) kam er 1871 als Liebhaber u. Bonvivant an das Wallner-Theater in Berlin. Berlin wurde K.s künstlerische Heimat. Am Stadttheater Wien (1878), wohin ihn Laube verpflichtet hatte, u. am Stadttheater Ham- burg (1883) blieb er nur je eine Spielzeit. 1884–1894 gehörte er als Bonvivant u. Cha- rakterkomiker zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin. Danach machten ihn Gastspiele landesweit bekannt. Die Genos- senschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger er- nannte K. 1921 zum Ehrenmitglied. Neben seiner Tätigkeit als Schauspieler u. Regisseur (seit 1875) schrieb K. zahlreiche Schwänke für die Berliner Privatbühnen. Nach dem ersten Erfolg mit Goldfische (zus. mit Franz von Schönthan. Bln. 1886) ent- standen In Civil (Bln. 1897), Der Weg zur Hölle (Bln. 1905) u. Husarenfieber (zus. mit Richard Skowronnek. Bln. 1906). Die Schwanksituationen in K.s Stücken beruhen auf Lüge u. Verstellung. In Das Bä- renfell (Bln. 1899) täuscht ein Fabrikant Krankheit vor, um die materiellen Interessen seiner Erben zu erkennen u. dann mit einer eigenen Heirat zu durchkreuzen. Komische Überraschungseffekte, deren Anbahnung die Zuschauer, nicht aber die handelnden Perso- nen durchschauen, wurden durch K. zum festen Schwankstandard. Zwischen 1890 u. 1910 war K. einer der meistgespielten Lust- spielautoren dt. Sprache. Weitere Werke : Großstadtluft. Bln. 1891 (Schwank). – Die Orientreise. Bln. 1892 (Schwank). Hans Huckebein. Bln. 1897 (Schwank). Im Weißen Rößl. Bln. 1898 (Lustsp.; alle zus. mit Os- kar Blumenthal). Familie Schierke. Bln. 1902 (Schwank). – Dramat. Werke. 4 Bde., Bln. 1902. Literatur : Karl Holl: Gesch. des dt. Lustspiels. Lpz. 1923. – Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln. 1969. – Alain Michel: Der Militärschwank des kai- serl. Dtschld. Stgt. 1982. – Bernhard Doppler: Das Glück steht vor der Tür. Österreich im Berliner Schwank u. der Berliner Operette (›Im weißen Rößl‹). In: MAL 31 (1998), Nr. 1, S. 20–38. Alain Michel / Red. Kämpchen, Heinrich, * 23.5.1847 Alten- dorf (heute zu Essen), † 6.3.1912 Linden (heute zu Bochum) ; Grabstätte : ebd. , Ka- tholischer Friedhof. – Lyriker. Als Sohn eines Bergmanns in der Region des frühesten Ruhrkohlenbergbaus geboren, wurde K. selbst Bergmann u. erlebte so die durch die Liberalisierung des Bergbaus her- vorgerufene Proletarisierung der Knappen am eigenen Leibe mit. K. blieb Junggeselle u. wohnte zeitlebens als »Kostgänger« bei einer Arbeiterfamilie. Im Selbststudium eignete er sich die Werke der Klassiker an ; Vorbild für das eigene Werk wurde ihm aber v. a. die engagierte Vor- märzlyrik, politisch beeinflussten ihn die Schriften Lassalles. Ursprünglich aus der ka- tholisch-sozialen Bewegung kommend, war er am großen Bergarbeiterstreik von 1889 an führender Stelle beteiligt u. wurde auf die »Schwarze Liste« der Grubeneigner gesetzt, d.h. mit Berufsverbot belegt. Nach 1889 wirkte er, zum Teil in Vorstandsfunktionen, im neu gegründeten »Verband zur Wahrung Brought to you by | University Library Utrecht Authenticated Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Upload: m1922

Post on 26-Dec-2015

355 views

Category:

Documents


1 download

DESCRIPTION

Biographie Franz Kafka

TRANSCRIPT

Page 1: Kafka Killy Lexikon

K

Kachold, Gabriele ! Stötzer, Gabriele

Kadelburg, Gustav, * 26.7.1851 Pest(heute zu Budapest), † 11.9.1925 Berlin;Grabstätte: Berlin-Stahnsdorf, Südwest-kirchhof. – Schwankautor; Schauspieler,Regisseur.

K. ließ sich in Wien bei Alexander Strakoschu. Franz Deutschinger zum Schauspielerausbilden. Über Leipzig (1868) u. Halle(1869–1871) kam er 1871 als Liebhaber u.Bonvivant an das Wallner-Theater in Berlin.

Berlin wurde K.s künstlerische Heimat. AmStadttheater Wien (1878), wohin ihn Laubeverpflichtet hatte, u. am Stadttheater Ham-burg (1883) blieb er nur je eine Spielzeit.1884–1894 gehörte er als Bonvivant u. Cha-rakterkomiker zum Ensemble des DeutschenTheaters in Berlin. Danach machten ihnGastspiele landesweit bekannt. Die Genos-senschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger er-nannte K. 1921 zum Ehrenmitglied.

Neben seiner Tätigkeit als Schauspieler u.Regisseur (seit 1875) schrieb K. zahlreicheSchwänke für die Berliner Privatbühnen.Nach dem ersten Erfolg mit Goldfische (zus.mit Franz von Schönthan. Bln. 1886) ent-standen In Civil (Bln. 1897), Der Weg zur Hölle(Bln. 1905) u. Husarenfieber (zus. mit RichardSkowronnek. Bln. 1906).

Die Schwanksituationen in K.s Stückenberuhen auf Lüge u. Verstellung. In Das Bä-renfell (Bln. 1899) täuscht ein FabrikantKrankheit vor, um die materiellen Interessenseiner Erben zu erkennen u. dann mit einereigenen Heirat zu durchkreuzen. KomischeÜberraschungseffekte, deren Anbahnung dieZuschauer, nicht aber die handelnden Perso-nen durchschauen, wurden durch K. zumfesten Schwankstandard. Zwischen 1890 u.

1910 war K. einer der meistgespielten Lust-spielautoren dt. Sprache.

Weitere Werke: Großstadtluft. Bln. 1891(Schwank). – Die Orientreise. Bln. 1892 (Schwank).– Hans Huckebein. Bln. 1897 (Schwank). – ImWeißen Rößl. Bln. 1898 (Lustsp.; alle zus. mit Os-kar Blumenthal). – Familie Schierke. Bln. 1902(Schwank). – Dramat. Werke. 4 Bde., Bln. 1902.

Literatur: Karl Holl: Gesch. des dt. Lustspiels.Lpz. 1923. – Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln.1969. – Alain Michel: Der Militärschwank des kai-serl. Dtschld. Stgt. 1982. – Bernhard Doppler: DasGlück steht vor der Tür. Österreich im BerlinerSchwank u. der Berliner Operette (›Im weißenRößl‹). In: MAL 31 (1998), Nr. 1, S. 20–38.

Alain Michel / Red.

Kämpchen, Heinrich, * 23.5.1847 Alten-dorf (heute zu Essen), † 6.3.1912 Linden(heute zu Bochum); Grabstätte: ebd., Ka-tholischer Friedhof. – Lyriker.

Als Sohn eines Bergmanns in der Region desfrühesten Ruhrkohlenbergbaus geboren,wurde K. selbst Bergmann u. erlebte so diedurch die Liberalisierung des Bergbaus her-vorgerufene Proletarisierung der Knappenam eigenen Leibe mit.

K. blieb Junggeselle u. wohnte zeitlebensals »Kostgänger« bei einer Arbeiterfamilie.Im Selbststudium eignete er sich die Werkeder Klassiker an; Vorbild für das eigene Werkwurde ihm aber v. a. die engagierte Vor-märzlyrik, politisch beeinflussten ihn dieSchriften Lassalles. Ursprünglich aus der ka-tholisch-sozialen Bewegung kommend, warer am großen Bergarbeiterstreik von 1889 anführender Stelle beteiligt u. wurde auf die»Schwarze Liste« der Grubeneigner gesetzt,d.h. mit Berufsverbot belegt. Nach 1889wirkte er, zum Teil in Vorstandsfunktionen,im neu gegründeten »Verband zur Wahrung

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 2: Kafka Killy Lexikon

und Förderung der bergmännischen Interes-sen in Rheinland und Westfalen« (dem »Al-ten Verband«) mit.

Die von K.s Freund Otto Hue geleiteteVerbandszeitung brachte wöchentlich seineauf soziale Tagesereignisse eingehenden Ge-dichte. Im Vorwort zur ersten Sammelausga-be Aus Schacht und Hütte (Bochum 1898) legteer sein operatives Lyrikverständnis dar. Wiefür die frühe Arbeiterdichtung typisch,schreibt er innerhalb der Medien der organi-sierten Arbeiterbewegung als Arbeiter fürArbeiter über Arbeiterprobleme. Danebenfinden sich Gedichte, welche die Schwere u.Eigenart der Arbeit unter Tage gestalten. Diedritte Gruppe schließlich, Natur- u. Heimat-gedichte, diente K. als Beschwörung einerseel. Zuflucht in der Zeit der Entfremdung(Helf). Aufgrund der auch hier spürbarenVernachlässigung der Form zugunsten desInhalts haben sie nicht den Rang des übrigenWerks: eines bleibenden sozialgeschichtl.Zeugnisses aus der großen Zeit der Arbeiter-bewegung.

Weitere Werke: Neue Lieder. Bochum 1904. –Was die Ruhr mir sang. Bochum 1909. – Aus derTiefe. Gedichte u. Lieder eines Bergmanns. Hg.Wilhelm Helf. Bochum 1931. Neuausg. 1962. –Seid einig, seid einig – dann sind wir auch frei.Gedichte. Hg. Rolf-Peter Carl u. a. Oberhausen1984.

Lietratur: Rolf-Peter Carl: H. K. Bergarbeiter u.Arbeiterdichter. In: Lit. in Westf. Hg. Walter Göd-den u. Winfried Woesler. Paderb. 1992, S. 89–104.– Wolfgang Wittkowski: H. K. u. die Tradition desBergbauliedes. In: DU 46 (1994), S. 5–24.

Volker Neuhaus / Red.

Kaempfer, Engelbert, * 16.9.1651 Lemgo,† 2.11.1716 Lieme bei Lemgo. – Arzt,Reisender.

Als zweiter Sohn des Lemgoer Hauptpastorserhielt K. eine umfassende Ausbildung. Erbesuchte zunächst die Akademischen Gym-nasien in Lüneburg, Lübeck, Danzig u.Thorn. Nach einem Medizinstudium in Kra-kau u. Königsberg gelang es ihm, aufgrundseiner vielseitigen Kenntnisse u. Gewandt-heit, eine Stellung als Sekretär bei der sch-wed. Persiengesandtschaft (1683–1685) zuerhalten, u. reiste von Stockholm über Mos-

kau u. Astrakan nach Isfahan. Dort blieb erzwanzig Monate. Seine intensiven sprachl. u.landeskundl. Studien wurden unterstütztdurch den besten Persienkenner seiner Zeit,den frz. Kapuziner u. Dolmetscher des ShahsRaphael du Mans. In Isfahan trat K. in dieNiederländisch-Ostindische Kompanie ein,war zunächst als Faktoreiarzt in Bandar Ab-bas (1685–1688) tätig u. reiste dann überSüdindien nach Java. Dort bekam er denAuftrag, in Japan Pflanzen zu sammeln. ÜberSiam reiste K. nach Japan, wo er als Fakto-reiarzt in Dejima arbeitete (1690–1692). 1693kehrte er nach Europa zurück u. promovierte1694 in Leiden mit der Dissertation Disputatiomedica inauguralis exhibens decadem observatio-num exoticarum [.. .], die 1694 bei Elzevierveröffentlicht wurde.

Nach seiner Rückkehr nach Lemgo war K.als Arzt, ab 1698 als lipp. Leibarzt tätig u.arbeitete an den mitgebrachten Manuskrip-ten zum Zweck der Herausgabe. 1712 er-schien in Lemgo als erstes Werk Amoenitatumexoticarum politico-physico-medicarum fasciculi V[. . .] ; ein zweites, umfangreiches Werk »Heu-tiges Japan. Zu einer Zweifachen Hoff-reisedurchgeschauet und beschrieben etc.« voll-endete er nicht (bearb. Ausgabe durch Dohm,die das Japanbild Europas bis Siebold prägte).K sammelte auf seinen Reisen zahlreicheRealia (Bücher, Karten, Netsuke u.a.) u. fer-tigte umfangreiche, bis heute noch nichtkritisch edierte Notizen u. Zeichnungen überdie unterschiedlichsten Themen u. Diszipli-nen der von ihm bereisten Länder an (z.B.Archäologie, Botanik, Natur- u. Kulturge-schichte, Sprachen, Landeskunde). Eher tra-ditionell in den eigenen Heilmethoden (Säf-telehre, Galen), war er aufgeschlossen fürasiatische Medizin u. Pharmazie (Akupunk-tur, Moxibustion, Tee). Sein handschriftl.Nachlass befindet sich in der British Library,London, im Natural History Museum, Lon-don, u. in der Bodleian Library, Oxford;Teilnachlässe gibt es auch in der LippischenLandesbibliothek, Detmold, der Universität-bibliothek Göttingen u. der Herzog AugustBibliothek, Wolfenbüttel.

K. prägte das Japanbild des 18. Jh. nach-haltig. Durch Übersetzungen ins Englische,Französische, Niederländische u. Russische

Kaempfer 226

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 3: Kafka Killy Lexikon

wirkte er u. a. auf Autoren wie Voltaire, Les-sing, Goldsmith, Wieland u. Goethe hin-sichtlich der japanischen Staatsform u. hohenkulturellen Entwicklung. Die krit. Editionder Werke zeigt überdies einen außeror-dentlich vielseitigen Gelehrten, der eines derbedeutendsten Bindeglieder zwischen hu-manistisch geprägter Gelehrsamkeit u. mo-derner kultur- u. naturwiss. Forschung imSinne Alexander von Humboldts darstellt.Für die Kenntnis der frühneuzeitl. Wissen-schaftsentwicklung stellt sein Nachlass inBezug auf Qualität u. Umfang eine einzigar-tige Quelle dar.

Ausgaben: Heutiges Japan. Hg. Wolfgang Mi-chel u. Barend J. Terwiel. Mchn. 2001 (Werke. Krit.Ausg. in Einzelbdn., 1). – Briefe 1683–1715. Hg.Detlef Haberland. Mchn. 2001 (Werke. Krit. Ausg.in Einzelbdn., 2). – Zeichnungen japan. Pflanzen.Hg. Brigitte Hoppe. Mchn. 2001 (Werke. Krit.Ausg. in Einzelbdn., 3). – E. K. in Siam. Hg. BarendJ. Terwiel. Mchn. 2003 (Werke. Krit. Ausg. in Ein-zelbdn., 4). – Notitiae Malabaricae. Hg. AlbertineGaur. Mchn. 2003 (Werke. Krit. Ausg. in Einzel-bdn., 5). – Rußlandtagebuch 1683. Hg. MichaelSchippan. Mchn. 2003 (Werke. Krit. Ausg. in Ein-zelbdn., 6). – Phoenix Persicus. Die Gesch. derDattelpalme. Einl., Übers. aus dem Lat. u. Bearb. v.Wolfgang Muntschick. Marburg 1987. – FloraJaponica (1712). Reprint des Originals u. Komm. v.Wolfgang Muntschick. Wiesb. 1983. – Gesch. u.Beschreibung v. Japan. Icones selectae plantarum,quas in Japonia collegit et delineavit E. K. Beiträgeu. Komm. Hg. Deutsche Gesellsch. für Natur- u.Völkerkunde Ostasiens (OAG) Tokyo. 4 Bde., Bln.u. a. 1980. – Gesch. u. Beschreibung v. Japan. Ausden Originalhss. des Verfassers hg. v. ChristianWilhelm Dohm. Unveränd. Neudr. des 1777–1779[...] erschienenen Originalwerks. Mit einer Einf. v.Hanno Beck. 2 Bde., Stgt. 1964. – Die Reisetage-bücher E. K.s. Bearb. v. K. Meier-Lemgo. Wiesb.1968.

Literatur: E. K. zum 330. Geburtstag. Ges.Beiträge zur E.-K.-Forsch. u. zur Frühzeit derAsienforsch. in Europa. Hg. Hans Hüls u. HansHoppe. Lemgo 1982. – Detlef Haberland: VonLemgo nach Japan. Das ungewöhnl. Leben des E. K.1651 bis 1716. Bielef. 1990. – Ders. (Hg.): E. K.Werk u. Wirkung. Vorträge der Symposien inLemgo (19.-22.9.1990) u. in Tokyo (15.–18.12.1990). Stgt. 1993. – Ders.: Zwischen Wun-derkammer u. Forschungsbericht – E. K.s Beitragzum europ. Japanbild. In: Japan u. Europa1543–1929. Hg. Doris Croissant u. Lothar Ledde-

rose. Bln. 1993, S. 83–93. – Ders.: E. K. 1651–1716.A Biography. Transl. by Peter Hogg. London 1996.– Peter Kapitza: E. K. u. die europ. Aufklärung.Dem Andenken des Lemgoer Reisenden aus Anlaßseines 350. Geburtstages am 16. September 2001.Mchn. 2001. – E. K. (1651–1716) u. die kulturelleBegegnung zwischen Europa u. Asien. Hg. SabineKlocke-Daffa u. a. Lemgo 2003. – Gerhard Bonn: E.K. (1651–1716). Der Reisende u. sein Einfluß aufdie europ. Bewußtseinsbildung über Asien. Ffm.u. a. 2003. – E. K. (1651–1716) – Ein Gelehrtenwerkzwischen Tradition u. Innovation. Hg. D. Haber-land. Wiesb. 2004. – D. Haberland: Die ›verloreneHandschrift‹ – Das Bild des bedeutenden nlat. Ge-lehrten E. K. im Licht zweier neuer Funde. In: Nlat.Jb. 8 (2006), S. 397–408. Detlef Haberland

Kaergel, Hans Christoph, * 6.2.1889Striegau/Schlesien, † 9.5.1946 Breslau. –Erzähler, Dramatiker u. Herausgeber.

Der Sohn eines Gymnasiallehrers war selbstzwölf Jahre Volksschullehrer in Weißwasser/Oberlausitz, bevor er als Leiter des Bühnen-volksbunds nach Dresden kam. Dort u. ab1936 in Hain/Riesengebirge lebte er als freierSchriftsteller. In der Reichsschrifttumskam-mer war er Landesleiter für Schlesien.

Die schles. Heimat war für den sehr reli-giösen Autor Mittelpunkt seines Lebens, soz.B. in dem autobiografisch angelegten erstenRoman Des Heilands zweites Gesicht (Lpz. 1919).Die Erfahrungen während eines mehrmona-tigen Amerikaaufenthalts 1925 verarbeiteteK. in den Romanen Einer unter Millionen (Bln.1936) u. Wolkenkratzer (Breslau 1926). DasHeimkehrermotiv gestaltete er religiös u. so-zial als Suche u. Selbstfindung im Roman Volkohne Heimat (Bln. 1927). Besonders erfolgreichwar K. als Hörspielautor mit heimatverbun-denen Naturmärchen u. Volksstücken inschles. Mundart, aber auch mit hochdt. Stü-cken. In seinem Lob der Scholle, AndreasHollmann (Hörsp. 1935), u. mit einer Hitler-Biografie für die dt. Jugend (Der Volkskanzler.Langensalza 1935) bekannte K. seine Nähezum Nationalsozialismus.

Weitere Werke: Schlesiens Heide u. Bergland.Breslau 1921. – Heinrich Budschigk. Jena 1925 (R.).– Ein Mann stellt sich dem Schicksal. Jena 1929 (R.).– Bauer unterm Hammer. Jena 1932 (D.). – Atemder Berge. Lpz. 1933 (R.). – Schaffendes Volk. Lpz.

Kaergel227

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 4: Kafka Killy Lexikon

1937 (E.). – Seele der Heimat. Jena 1939 (Ess.). –Himmelreich u. Heimaterde. Breslau 1942 (E.). –Herausgeber: Wir Schlesier, 8 Jahrgänge (1927–35).

Literatur: Ernst Metelmann: K.-Bibliogr. In:Die Neue Lit. 40 (1939). – Franz Schade: H. C. K. In:Schles. Monatsh.e (1939). – Martina Biedenbach: H.C. K. In: Wulf Segebrecht (Hg.): Der BambergerDichterkreis. Ffm. u. a. 1987, S. 179–186. – Lex. ns.Dichter. – Wojciech Kunicki: ›Wer den Führer soliebt wie wir, der braucht vor keinem Wort Angstzu haben‹. Zur Funktion des polit. Tabus in H. C.K.s ›Schles. Dichtung der Gegenwart‹. In: HartmutEggert u. Janusz Golec (Hg.): Tabu u. Tabubruch.Stgt. u. a. 2002, S. 177–212.

Wolfgang Weismantel / Red.

Kaeser, Hildegard Johanna, geb. Zander,auch: Hill Hillevi, * 4.4.1904 Berlin,† 26.3.1965 Norviken/Stockholm. – Jour-nalistin, Roman- u. Kinderbuchautorin,Verfasserin von Biografien, Übersetzerin.

K. arbeitete bis 1933 als Journalistin u. Her-ausgeberin der Zeitschriften »Der heitereFridolin« u. »Tempo« beim Ullstein Verlag inBerlin. Von den NS-Rassengesetzen betrof-fen, emigrierte sie 1933 über Frankreich nachDänemark. Von 1935 bis zu ihrem Freitodlebte sie in Schweden. Nach Kriegsende warsie aus Abneigung gegen das Land nicht mehrnach Deutschland zurückgekehrt. K. gehörtezu den bekanntesten Exilschriftstellern inSchweden. Sie veröffentlichte zehn Romane,die fast alle auch in Schweizer Verlagen er-schienen. Zu ihren Hauptthemen gehörenEmigrantenschicksale, wobei die Nationalitätkeine Rolle spielt. Ihre Romane, die zur ge-hobenen Unterhaltungsliteratur zählen, sindgefühlsbetont, aber auch spannend; die psy-cholog. Gestaltung ihrer Figuren ist authen-tisch. Hohe Auflagen erzielten ihre Biografi-en u. a. über Johann Heinrich Pestalozzi,Harriet Beecher-Stowe u. Helen Keller, die inder Reihe »Heldentaten« in Stockholm er-schienen. Zwischen 1937 u. 1957 veröffent-lichte K. in Schweden u. in der Schweiz neunKinderbücher, die in verschiedene Sprachenübersetzt wurden. Außerdem übertrug siezehn Romane der schwed. Autorin DagmarEdquist ins Deutsche.

Weitere Werke: Junker u. Spielgefährte. Zürich1944 (R.). – På jakt efter Trojas gul. Stockholm 1945(Biogr.). – Fesseln des Herzens. Zürich 1950 (R.).

Literatur: Inger Lundmark: H. J. K. – eineAutorin im Exil in Schweden. Seminaraufsatz (mitausführl. Bibliogr.). Dt. Institut, Stockholm 1971. –Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politik u.kulturelle Emigration nach 1933. Mchn. 1974.

Ilse Auer

Kästner, Abraham Gotthelf, * 27.9.1719Leipzig, † 20.6.1800 Göttingen; Grab-stätte: ebd., Bartholomäusfriedhof. –Mathematiker; Epigrammatiker, Kriti-ker.

Als einziges Kind des Leipziger JuristenAbraham Kästner genoss K. eine umfassendeu. planmäßige Ausbildung durch Privatleh-rer, die, ganz von enzyklopäd. Zuschnitt, so-wohl Naturwissenschaften als auch alte u.neuere Sprachen umfasste. Seit dem zehntenLebensjahr besuchte er die Vorlesungen sei-nes Vaters; zwei Jahre später bereits wurde eran der Juristischen Fakultät der LeipzigerUniversität immatrikuliert. Im Anschluss andie Rechtswissenschaften (1737 Magister Ar-tium) studierte K. Mathematik u. Philoso-phie, was ihn zu Professuren in Leipzig u.Göttingen befähigte. Andere Fachgebiete(Medizin, Botanik, Naturkunde) betrieb eraus Interesse. In diesem breit gefächertenBildungsprogramm kamen die »schönenWissenschaften« zunächst nur am Rande vor.Das änderte sich durch K.s Begegnung mitGottsched, dessen berühmte Vorlesungenüber Poesie u. Rhetorik er besuchte. Ange-zogen durch den Ruf des damals führendendt. Literaturtheoretikers u. vertraut mit des-sen Methode, die Prinzipien des Wolff’schenRationalismus auch einer normativen Dich-tungslehre zugrunde zu legen, intensivierteK. bald seine Kontakte zum Gottsched-Kreis,wurde Mitgl. der Vertrauten Rednergesell-schaft sowie der Leipziger Deutschen Gesell-schaft u. veröffentlichte in den von Gottschedherausgegebenen oder geförderten Zeit-schriften (»Beyträge zur Critischen Historieder Deutschen Sprache, Poesie und Bered-samkeit«, »Belustigungen des Verstandesund Witzes«) zahlreiche Artikel. In ihnen er-

Kaeser 228

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 5: Kafka Killy Lexikon

weist er sich als sprachlich gewandter,selbstbewusst auftretender Gottsched-An-hänger, der zwar unverkennbar auf dem Bo-den der Frühaufklärung steht, gleichwohlvon Beginn an eigenständiges Urteil (z.B.Übersetzungstheorie) zeigt.

Bereits im Reimstreit nahm K. eine ehervermittelnde Position ein, ebenso in der an-schließenden Auseinandersetzung zwischenGottsched, Bodmer u. Breitinger. Als einerder ersten Schüler Gottscheds äußerte er sichkritisch (Brief von Johann Georg Schultheßan Bodmer vom 27.9.1749) u. distanziertesich noch in den 1740er Jahren deutlich vonihm, da eine Übereinstimmung in der Ein-schätzung Hallers, den K. sehr verehrte, nichtmöglich schien. Trotz dieses Zerwürfnissesbemühte er sich zeitlebens um eine objektiveSicht Gottscheds, wie v. a. sein Nachruf aufden Lehrer (1767) erkennen lässt. Das Endeder ersten Phase seiner literar. Entwicklungmarkiert die Veröffentlichung der VermischtenSchriften (Altenburg 1755), die ihn bes. wegender satir. Schärfe der hier abgedrucktenEpigramme zu einer literar. Berühmtheitmachte.

1756 erhielt K. einen Ruf nach Göttingen,wo er eine a. o. Professur für Mathematikübernahm u. 1763 auch Leiter der Sternwartewurde. Hier lebte er bis zu seinem Tod als imIn- u. Ausland anerkannte Autorität seinesFachs, das er in seinem ganzen Umfang inakadem. Vorlesungen, Lehrbüchern u. Ein-zeluntersuchungen bearbeitete.

1762–1792 leitete K. die nach dem Sie-benjährigen Krieg wiederbelebte GöttingerDeutsche Gesellschaft u. versuchte, ihr durcheine Reform der Statuten (Ausweitung derThemenbereiche, Zugangsbeschränkung) zumehr öffentl. Resonanz zu verhelfen. Trotzgroßen persönl. Engagements (Einige Vorle-sungen. In der königlichen deutschen Gesellschaftzu Göttingen gehalten. 2 Bde., 1768 u. 1773)scheiterte er an mangelnder Unterstützungdurch andere Mitglieder u. dem konservati-ven Zuschnitt des Unternehmens. K. selbstzeigte sich neuen literar. Entwicklungen ge-genüber stets kritisch, aber insg. aufge-schlossen; als Einzigem der früheren Gott-schedianer wurde ihm ein zeitgemäßes äs-thetisches Urteil bescheinigt (Gotter an Boie,

8.11.1769). Zu seinen Briefpartnern gehörtennicht nur die namhaftesten Naturwissen-schaftler seiner Epoche, sondern auch zahl-reiche Literaten (Gellert, Gotter, Nicolai,Raspe, Weisse); insbes. jüngeren Schriftstel-lern (Johann Elias Schlegel, Lessing, Thüm-mel, Hölty, Voß) galt er als Autorität in po-etolog. Fragen. Boie u. Gotter unterstützte er1770 bei der Herausgabe des »GöttingerMusenalmanachs«, Lichtenberg in seinerAuseinandersetzung mit Lavater u. JohannGeorg Zimmermann (An Herrn Hofrath undLeibmedicus Zimmermann in Hannover. Alten-burg o. J. [1780]). Trotz seines bis zu seinemLebensende nie erlahmenden Interesses anallem Neuen galt sein literar. Geschmack seitden 1780er Jahren als veraltet, u. der noch1773 als »classischer« dt. Schriftsteller Ge-rühmte wurde schließlich von den Romanti-kern, nicht zuletzt wegen seiner rigorosenAblehnung der Französischen Revolution(Gedanken über das Unvermögen der SchriftstellerEmpörungen zu bewirken. Gött. 1793), als ata-vistisch abgetan (Athenäum 2, 2, S. 335).

K.s literar. Ruhm gründete sich v. a. aufsein epigrammat. Talent; daneben traten an-dere lyr. Formen (Elegie, poetische Epistel,Lehrgedicht) fast ganz zurück. Unter der Be-zeichnung »witziger Epigrammatist« hat ihndenn auch die zeitgenöss. Kritik verbucht(Hannoverisches Magazin, 1768, S. 446) u.damit einem einseitigen literarhistor. BildVorschub geleistet, das erst in jüngster Zeitdurch Rainer Baasner differenziert u. korri-giert wurde.

In der Beschränkung auf den Epigramma-tiker erfasst man zwar einen signifikantenWesenszug K.s, aber nur den geringeren Teilseines literar. Wirkens. Nicht zu Unrechtfreilich können K.s »Sinngedichte«, die er oftin Briefe einstreute oder handschriftlichweitergab u. die in Anthologien u. Musen-almanachen noch Jahrzehnte weiterlebten,als histor. Miniaturbibliothek des 18. Jh.gelten. Seine bissigen Kommentare, teils inder überalterten Form des Alexandrinerepi-gramms, aber stets dem Gebot der »brevitas«verpflichtet, betreffen v. a. literar. Themen;daneben finden sich Kommentare zu aktuel-len Ereignissen u. Kritik an gesellschaftl.Missständen; seltener ist allg. Moralisieren

Kästner229

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 6: Kafka Killy Lexikon

gegen Charakterfehler u. Ständeübel. Zu sei-nen besten Leistungen fand K. in der Perso-nalsatire, wo er, anders als Lessing, den un-verhüllten Angriff bevorzugte u. seine satir.Attacken kaum einmal durch Verlagerung ineine fiktive Gegenwart zügelte. Die Tagesak-tualität ihrer Themen sicherte K.s Epigram-men eine zunächst große Resonanz, bedingteaber zgl. das schnelle Verblassen ihrer Wir-kung.

Eng verwandt mit der epigrammat. Stilartder poetischen Kritik ist K.s Tätigkeit alsRezensent. So verlagerte sich in der zweitenPhase seines Lebens seine literar. Beschäfti-gung fast ganz von der poetischen Produkti-on auf die Kritik. Allein für die »Göttingi-schen Gelehrten Anzeigen« verfasste er seit1756 rund 3500 Artikel, von denen etwa 550literar. Texte betreffen. In ihnen zeigt sich K.als enzyklopädisch gebildeter, im Urteilüberraschend maßvoll intonierender Kriti-ker. Neben der erwarteten rationalistischenGrundhaltung überrascht seine Toleranz ge-genüber neuen literar. Strömungen (Emp-findsamkeit, Sturm und Drang), deren kul-turpatriotische Tendenzen ihm den Zugangzu ihm wesensfremden Ideen erleichterten.

Als Verfasser gelehrter Prosa fehlte K. dersystemat. Zugriff, doch beziehen sich vieleTexte auf sein lebenslanges Hauptanliegenals Aufklärer, dem schon seine GöttingerAntrittsvorlesung (De eo quod studium mathe-seos facit ad virtutem. Oratio inauguralis. Gött.1756) diente: den Nachweis strukturellerVerwandtschaft von Mathematik, Natur- u.Geisteswissenschaften.

K. ist so insg. als »annähernd idealtypischerRepräsentant universaler Aufklärung« (Baas-ner) einzuschätzen, für den ratio u. gezügel-ter Affekt als Elemente idealer Lebensentfal-tung in produktiver Wechselwirkung stehen.

Weitere Werke: Lobschr. auf den Herrn v.Leibnitz. Altenburg 1769. – Eine Recension mitErinnerungen. o. O. 1780. – Bemerkungen über denVortrag gelehrter Kenntnisse in der dt. Sprache.Gött. 1787. – Ges. poet. u. prosaische schönwiss.Werke. 4 Bde., Bln. 1841. – Briefe aus sechs Jahr-zehnten. 1745–1800. Hg. Carl Scherer. Bln. 1912.

Literatur: Bibliografie: Rudolf Eckart (Hg.): A. G.K.s Selbstbiogr. u. Verz. seiner Schr.en. Hann. o. J.[1909]. – Weitere Titel: Carl Becker: A. G. K.s Epi-

gramme. Chronologie u. Komm. Halle 1911. –Wolfgang Schimpf: K.s Literaturkritik. Gött. 1990.– Rainer Baasner: A. G. K. Aufklärer. Tüb. 1991. –Hans-Bernd Spies: Carl v. Dalberg, A. G. K. u. dieGöttinger Akademie. In: Mitt.en des Vereins für dieGesch. u. Altertumskunde v. Erfurt 61 (2000),S. 75–83. – Ulrich Joost: ›Der Träume Zahl ist un-endlich‹. Naturwiss. Denken u. Poesie in der Göt-tinger Aufklärung. In: Scientia poetica. Hg. Nor-bert Elsner. Gött. 2004, S. 135–161.

Wolfgang Schimpf

Kästner, Erhart, * 13.3.1904 Augsburg,† 3.2.1974 Staufen. – Prosaautor, Verfas-ser von Reiseberichten; Bibliothekar.

Der Sohn eines Gymnasialprofessors studier-te nach einer Buchhändlerlehre Philosophieu. Literaturgeschichte in Freiburg i. Br., Kielu. Leipzig u. promovierte 1927 über Wahn undWirklichkeit im Drama der Goethezeit (Lpz.1929). Anschließend arbeitete K. an der Lan-desbibliothek Dresden. 1936/37 war er Se-kretär von Gerhart Hauptmann. 1940 mel-dete er sich freiwillig zum Wehrdienst, den erin Griechenland verbrachte; 1945–1947 be-fand er sich in Kriegsgefangenschaft inÄgypten. Anfang der 1950er Jahre lernte erden von ihm hoch verehrten Heidegger ken-nen. 1950–1968 war K. Direktor der HerzogAugust Bibliothek in Wolfenbüttel.

Die auf eigenen Wunsch im militärischenAuftrag für die dt. Soldaten geschriebenenReiseberichte Griechenland (Bln. 1942. Neudr.u. d. T. Ölberge, Weinberge. Ffm. 1946) u. Kreta(Bln. 1946) sind Versuche der Emigration indie griech. Kulturwelt. K. steigt aus Zeit u.militärischer Gegenwart der Besatzungs-macht aus. Einige Textstellen aus Griechenlandsind im Sinne damaliger Deutschtumsideo-logie geschrieben. Im Zeltbuch von Tumilad(Wiesb. 1949), K.s größtem Erfolg, beschreibter die Kriegsgefangenschaft in der Wüste:eine Beschwörung abendländ. Kultur. Wüstewird zur Metapher faszinierender Zeitlosig-keit u. Leere, die mit den Bildern der Imagi-nation gefüllt wird. In Aufstand der Dinge (Ffm.1973) attackiert K. die Zerstörung der Na-türlichkeit u. des Naturgemäßen.

K. verstand sich als Bewahrer u. Mahner,skeptisch gegenüber den fragwürdigen Wer-ten des Fortschritts; er schuf eine Form des

Kästner 230

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 7: Kafka Killy Lexikon

meditativen, belehrend-erbaul. Essays u.Reiseberichts. Sein Nachruhm verblasste inden 1970er Jahren. 2006 wurde er als »Dich-ter im Waffenrock« kritisiert, der die brutaleRealität des Kriegs verdrängt u. verschleierthabe zugunsten eines verqueren Griechen-landbildes u. einer Selbststilisierung als Hu-manist. K. machte die Herzog August Bi-bliothek zu einem internat. renommiertenInstitut.

Weitere Werke: Die Stundentrommel vom hl.Berg Athos. Ffm. 1956 (Reiseber.). – Offener Briefan die Königin v. Griechenland. Beschreibungen,Bewunderungen. Ffm. 1973 (P.). – Über Bücher u.Bibl.en. Dresden u. Wolfenbüttel. Ausgew. v.Wolfgang Milde u. Paul Raabe. Wolfenb. 1974. –Der Hund in der Sonne u. a. Prosa. Aus dem Nachl.hg. v. Heinrich Gremmels. Ffm. 1975. – Griech.Inseln. Hg. H. Gremmels. Ffm. 1975. – Briefe. Hg.P. Raabe. Ffm. 1984. – Martin Heidegger – E. K.Briefw. 1953–74. Hg. Heinrich W. Petzet. Ffm.1986. – Was die Seele braucht – E. K. über Bücher u.Autoren. Hg. Julia Hiller v. Gaertringen u. KatrinNitzschke. Ffm. 1994. – Perseus-Auge Hellblau. E.K. u. Gerhart Hauptmann. Briefe, Texte, Notizen.Hg. J. Hiller v. Gaertringen. Bielef. 2004. – Manreist, um die Welt bewohnbar zu finden. Hg. Hel-wig Schmidt-Glintzer. Ffm. 2004. – Das Wort istSchlüssel. E. K. u. Albrecht Fabri. Texte u. Briefe.Hg. Christian Kugelmann. Warmbronn 2004.

Literatur: Ralf Schnell: Lit. der Inneren Emi-gration. 1933–45. Stgt. 1976. – Anita Kästner u.Reingart Kästner (Hg.): E. K. Leben u. Werk inDaten u. Bildern. Ffm. 1980. – Paul Raabe (Hg.):Werkmanuskripte. Ausstellungskat. der Hzg. Au-gust Bibl. Nr. 43. Wolfenb. 1984. – Julia Hiller v.Gaertringen: ›Meine Liebe zu Griechenlandstammt aus dem Krieg‹. Studien zum literar. WerkE. K.s. Wiesb. 1994. – Günter Figal (Hg.): E. K. Zum100. Geb. Die Wahrheit v. Orten u. Dingen. Freib. i.Br. 2004. – Günter Gerstmann: ›Kunst auf dieWaage des Liebesdienstes zu legen‹. E. K. zum 100.Geburtstag. Aus dem Antiquariat (2004), Nr. 1,S. 18–21. – Arn Strohmeyer: Dichter im Waffen-rock. E. K. in Griechenland u. auf Kreta 1941 bis1945. Mähringen 2006. – J. Hiller v. Gaertringen:Diese Bibl. ist zu nichts verpflichtet außer zu sichselbst. E. K. als Direktor der Herzog-August-Bibl.1950–1968. Wiesb. 2009. Hendrik Markgraf

Kästner, Erich, * 23.2.1899 Dresden,† 29.7.1974 München; Grabstätte: Mün-chen-Bogenhausen, St. Georgs-Friedhof.– Lyriker, Roman- u. Kinderbuchautor.

K. stammt aus kleinbürgerl. Verhältnissen.Sein Vater, ein Sattlermeister, war als Indus-triearbeiter tätig. Dass K. in Wahrheit derSohn des jüd. Hausarztes der Familie gewe-sen sei, ist ein bislang durch nichts gesicher-tes Gerücht. Der Ehrgeiz der Mutter u. ihreHeimarbeit als Näherin u. Friseuse ermög-lichten K. Schule u. Ausbildung. Er besuchtevier Jahre das Lehrerseminar in Dresden,holte, nach dem Militärdienst 1917/18, dasAbitur nach, studierte in Leipzig, Rostock u.Berlin Germanistik, Geschichte, Philosophieu. Theaterwissenschaften u. promovierte1925 mit einer Arbeit über Friedrich den Großenund die deutsche Literatur. Seine journalistischeLaufbahn begann K. als Redakteur bei der»Neuen Leipziger Zeitung«. Nach seinemUmzug nach Berlin arbeitete er als freierMitarbeiter u. a. für die »Weltbühne« u. die»Vossische Zeitung«. In rascher Folge publi-zierte er in der Endphase der Weimarer Re-publik Gedichtbände, Kinderbücher u. denRoman Fabian, die 1933 von den Nationalso-zialisten aus den Bibliotheken entfernt u.verbrannt wurden. K., der sich zu diesemZeitpunkt in der Schweiz aufhielt, kehrtenach Deutschland zurück, weil er es als seinePflicht ansah, später Zeugnis von jenen Jah-ren zu geben, aber auch weil er – nicht zuUnrecht – glaubte, dass seine Mutter auf ihnangewiesen sei.

Während des »Dritten Reichs« wurde K.mehrmals verhört, aber nicht für längere Zeitinhaftiert. Publizieren konnte er, da er als›verbrannter‹ Autor nicht in die Reichs-schrifttumskammer aufgenommen wurde,nur im Ausland, wo seine Gedichtbände u.die neu entstehenden Unterhaltungsromaneguten Absatz fanden. Anfang 1943 wurdeihm auch die Publikation im Ausland unter-sagt. Trotzdem hat K. während des »DrittenReichs« unter Pseudonymen an Theater-texten mitgearbeitet u. 1941 – mit still-schweigender Billigung durch den Reichs-propagandaminister Goebbels – das Dreh-buch für den UFA-Jubiläumsfilm Münchhau-

Kästner231

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 8: Kafka Killy Lexikon

sen (Erstauff. März 1943) geschrieben. Nachdem Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte K.nach München über, wo er Feuilletonchef dervon den Amerikanern herausgegebenen»Neuen Zeitung« wurde. Er gehörte zu denBegründern der Kabaretts »Die Schaubude«u. »Die kleine Freiheit«, für die er zahlreicheTexte verfasste, u. wurde 1951 zum Präsi-denten des westdt. P.E.N.-Zentrums ernannt.K. bemühte sich intensiv um die Reorgani-sation des literar. Lebens der BR Deutschland.Ende der 1960er Jahre zog er sich völlig ausdem öffentl. Leben zurück.

»Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist.Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung,spinnefeind der unechten ›Tiefe‹, die imLande der Dichter und Denker nie aus derMode kommt, Untertan und zugetan denunermeßlichen Forderungen: nach der Auf-richtigkeit des Empfindens, nach der Klarheitdes Denkens und nach der Einfachheit inWort und Satz.« So hat K. sich selbst 1949 vordem dt. P.E.N.-Club charakterisiert. K.smenschenfreundl. Moralismus u. die Ein-gängigkeit seiner Verse ließen ihn zu einemder populärsten Autoren der späten Weima-rer Republik werden. Kritiker monierten anK.s Gedichten allerdings, dass sie die ange-sprochenen Missstände verharmlosten u.statt der Auflehnung dagegen die Anpassunglehrten. Walter Benjamin schrieb 1931 in ei-ner langen Rezension unter dem Titel LinkeMelancholie, K.s Gedichte verwandelten diesozialen Gravamina in »Gegenstände derZerstreuung, des Amüsements, die sich demKonsum zuführen« ließen. Mit seiner polit.Haltung, die sich jeder Ideologie verweigerteu. allein auf gesunden Menschenverstandsetzte, eckte K. in allen polit. Lagern an.

K. hat, zumal in den Ende der 1920er,Anfang der 1930er Jahre publizierten Ge-dichtbänden (Herz auf Taille. Lpz./Wien 1928.Lärm im Spiegel. Ebd. 1929. Ein Mann gibtAuskunft. Stgt./Bln. 1930. Gesang zwischen denStühlen. Ebd. 1932), die Alltagswirklichkeitdes »kleinen Mannes« zur Sprache gebracht.Soziale Spannungen u. wirtschaftl. Sorgenwerden ebenso anschaulich wie anteilneh-mend dargestellt. K. wollte »Gebrauchslyrik«schreiben, die bei der Bewältigung der alltägl.Probleme »seelisch verwendbar« sein sollte.

Offen sprechen seine Gedichte auch über dieerot. Wünsche u. Enttäuschungen der Men-schen, insbes. der jungen weibl. Angestellten.Mit satir. Schärfe kritisierte K. Gleichgültig-keit, Passivität u. Resignation als Reaktionenauf die vermeintlich unabwendbare Misere.Mutig wandte er sich gegen den noch spür-baren Militarismus u. gegen den erstarken-den Nationalsozialismus.

Der schmale, aber gehaltvolle Roman Fabi-an. Die Geschichte eines Moralisten (Stgt./Bln.1931), der sich um die Figuren des arbeitslosgewordenen Germanisten Dr. Jakob Fabian u.seines in den Selbstmord getriebenen Freun-des Labude dreht, sollte urspr. »Der Gang vordie Hunde« heißen. In 32 knappen Kapiteln,die etwas von der Pointiertheit der K.schenGedichte haben, reflektiert er den ökonomi-schen Niedergang Deutschlands, den sittl.Verfall der Hauptstadt Berlin u. die ratlosmachende polit. Radikalisierung der Jahreum 1930. Trotz der ausweglos scheinendenSituation wollte der Roman aber vor einemfatalistischen, alles gesellschaftl. u. polit. Be-mühen im Keim erstickenden Pessimismuswarnen. Die während des »Dritten Reichs«entstandenen, in einem Schweizer Verlagpublizierten Romane Drei Männer im Schnee(Zürich 1934), Die verschwundene Miniatur(Zürich 1935) u. Georg und die Zwischenfälle(Zürich 1938; seit der 2. Aufl. u. d. T. Derkleine Grenzverkehr) verzichten auf alle gesell-schafts- u. sozialkrit. Elemente; sie sind ineiner entpolitisierten Wirklichkeit angesie-delt u. entwerfen teilweise klischeehafte Bil-der einer idyllischen Welt, hinter der freilichsoziale Nöte erkennbar bleiben.

Die größten, auch internat. Erfolge konnteK. mit seinen Kinderbüchern feiern. Emil unddie Detektive (Bln. 1928), Pünktchen und Anton(Bln. 1930), Das fliegende Klassenzimmer (Stgt.1933) oder Das doppelte Lottchen (Zürich 1949)sind in gut 40 Ländern u. Sprachen erschie-nen. K.s kindl. Helden, als maßstabsetzendeVorbilder konzipiert, entwickeln u. verkör-pern die für K. zentralen menschl. Tugenden:Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Gerechtig-keit u. Nächstenliebe.

Den urspr. geplanten großen Roman überdie Zeit der NS-Diktatur hat K. in der Nach-kriegszeit nicht geschrieben. Seine Ausein-

Kästner 232

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 9: Kafka Killy Lexikon

andersetzung mit der Vergangenheit, seineBesorgnis angesichts der erneuten Militari-sierung, seine vehemente Forderung nacheiner neuen verbindl. Moral finden sich ver-streut in einer Fülle von Essays, Reden, Vor-trägen u. Zeitungsartikeln. Mit engagiertenLiedern, Szenen u. Dialogen begleitete K.auch in den beiden von ihm mitbegründetenKabaretts die ersten Jahre der BR Deutsch-land. Hier knüpfte er am deutlichsten an diesatir. Schärfe u. den pädagog. Impuls derVorkriegsarbeiten an.

Trotz der Popularität seiner Gedichte u.seiner Kinderbücher blieb K. ein von derKritik wenig geschätzter u. von der Litera-turwissenschaft wenig beachteter Autor, bisdie Ausgabe der Werke in neun kommen-tierten Bänden (Mchn. 1998) u. das Erschei-nen zweier Biografien die Vielschichtigkeitvon K.s Schaffen deutlicher werden ließen.

Weitere Werke: Doktor E. K.s lyr. Hausapo-theke. Zürich 1936. (L.). – Der tägl. Kram. Chan-sons. u. Prosa 1945–48. Zürich 1948. Mchn. 1989. –Kurz u. bündig. Epigramme. Wien 1948. Mchn.1989. – Die Konferenz der Tiere. Zürich 1949. – Diekleine Freiheit. Chansons u. Prosa 1949–52. Zürich1952. Mchn. 1989. – Die Schule der Diktatoren.Zürich 1956 (D.). – Notabene 45. Ein Tgb. Zürich1961. – Briefe: Mein liebes, gutes Muttchen Du.Dein oller Junge. Hg. Luiselotte Enderle. Hbg.1981.

Literatur: Bibliografie: Uta Lämmerzahl-Bensel:E. K. Eine Personalbibliogr. Gießen 1988. – WeitereTitel: Renate Benson: E. K. Studien zu seinemWerk. Bonn 1973. – Dirk Walter: Zeitkritik u.Idyllensehnsucht. E. K.s Frühwerk (1928–1933) alsBeispiel linksbürgerl. Lit. in der Weimarer Repu-blik. Heidelb. 1977. – Helmuth Kiesel: E. K. Mchn.1981. – Dieter Mank: E. K. im nationalsozialist.Dtschld. Ffm. 1981. – Petra Kirsch: E. K.s Kinder-bücher im geschichtl. Wandel. Diss. Mchn. 1986. –Helga Bemmann: E. K. Leben u. Werk. Ffm. 1994. –Franz Josef Görtz u. Hans Sarkowicz: E. K. EineBiogr. Mchn. 1998. – Sven Hanuschek: Keinerblickt dir hinter das Gesicht. Das Leben E. K.s.Mchn. 1999. – Stefan Neuhaus: Das verschwiegeneWerk. E. K.s Mitarbeit an Theaterstücken unterPseudonym. Würzb. 2000. – Klaus Doderer: E. K.Lebensphasen, polit. Engagement, literar. Wirken.Weinheim/Mchn. 2002. – Remo Hug: Gedichtezum Gebrauch. Die Lyrik E. K.s. Würzb. 2006.

Rita Mielke / Red.

Käufer, Hugo Ernst, * 13.2.1927 Witten/Ruhr. – Lyriker, Kritiker, Essayist, Lite-ratur- u. Kunstrezensent, Biograf u. Her-ausgeber.

Aufgewachsen als Sohn eines von den Natio-nalsozialisten verfolgten Arbeiters, war K.nach 1945 als kommunaler Verwaltungsan-gestellter tätig. Nach dem Besuch des Biblio-thekar-Lehrinstituts Köln (1954–1957) arbei-tete er als Diplom-Bibliothekar bis 1966 inBochum; danach war er zunächst Hauptrefe-rent, 1977–87 Direktor der StadtbibliothekGelsenkirchen. 1988 begründete er die »Ge-sellschaft der Freunde« der Stadtbibliothek u.übernahm deren Vorsitz; zudem war er 1998Gründer u. danach Vorsitzender der »Lise-lotte und Walter Rauner Stiftung zur Förde-rung der Lyrik in Nordrhein-Westfalen«.Auch betätigte er sich zeitweilig als Galeristin St. Jacobiparochie/Niederlande, wo er ineinem histor. Deichhaus bis 2001 Ausstel-lungen präsentierte.

Schon in seinen Anfängen befasst sich K.sWerk – in seiner krit. Haltung an Brecht u.Tucholsky geschult – mit polit. u. gesell-schaftl. Fragen seiner Zeit. Er griff mutigviele Tabus der Nachkriegszeit u. des KaltenKriegs auf (negative Seiten des Wirtschafts-wunders, die NS-Vergangenheit, die Gefähr-dung durch den Atomkrieg, die Aufrüstungoder den Koreakrieg) u. wandte sich gegenAusbeutung, Manipulation durch die Presseu. Stagnation unter der Großen Koalition(1966–1969). Bezeichnend ist schon der Titelseines Lyrikerstlings: Wie kannst du ruhigschlafen? (Bochum 1958). Der gesellschaft-skrit. Impetus – das Eintreten für mehr De-mokratie u. die Minderprivilegierten der Ar-beitswelt – bleibt auch in seiner folgendenLyrik, Aphoristik u. Kurzprosa bestimmendbzw. in seiner Titelwahl fühlbar: Im Namendes Volkes (Oberhausen 1972), MassenmenschenMenschenmassen (Gelsenkirchen 1977), Demo-kratie geteilt (Dortm. 1977). Der Käufer Report(1968) – ein als Leporello gefalteter Bogen ausPackpapier – versinnbildlicht seine Intention,Literatur zum Medium der sozial Benachtei-ligten zu machen, u. entsprechend diesemProgramm gab er in den sechziger JahrenLesungen in Volksschulen, Büchereien,

Käufer233

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 10: Kafka Killy Lexikon

Kneipen u. sogar Kaufhäusern. 1968 grün-dete K. die »Literarische Werkstatt Gelsen-kirchen«, in der er schreibenden Arbeitern,die keine Aufnahme in der von Max von derGrün geleiteten »Gruppe 61« fanden, einForum bot. Aus ihr ging später der »Werk-kreis Literatur der Arbeitswelt« hervor, des-sen Mitbegründer u. zeitweiliger Sprecher erwar.

Seismografisch beobachten u. begleiten K.sGedichte die kulturellen, polit. u. sozialenEntwicklungen seiner Zeit in einem klarenpragmatischen (und z.T. polemisch zupa-ckenden) Stil u. tasten dabei beharrlich nacheiner authentischen eigenen Haltung zwi-schen den Sphären des Konkret-Politischen u.des Menschlich-Existenziellen bzw. Morali-schen. In ihrer Neigung zu Verdichtung u.Pointierung nähert sich K.s Diktion immerwieder dem Haiku (Die Jäger sind unterwegs,1995, besteht aus drei Haiku-Zyklen) alsderjenigen Form, in der lakonisch u. mit äu-ßerster Behutsamkeit das Eigene u. Ver-schwiegen-Geheimnisvolle der Dinge, vonMenschen u. Landschaften zum Aufblitzengebracht werden kann: »Dem Unscheinbaren/ dem fast schon Vergessenen / die Stimmereichen.«

Viele seiner Gedichtbände sind in Zusam-menarbeit mit bildenden Künstlern entstan-den, von diesen illustriert oder ihnen sogargewidmet, als dem prominentesten HAPGrieshaber, aber auch mehrfach Heinz Stein,Arthur Cremer-acre u. Enric Rabasseda. K.sLyrik wurde in 15 Sprachen übersetzt – u.einige seiner Lyrikbücher erschienen schon inihrer Erstausgabe zweisprachig (etwa mitschwed. oder frz. Übersetzungen).

Vor allem seit den 1990er Jahren bildet»Erinnerung« ein entscheidendes Schlüssel-wort von K.s Werk. Sein autobiogr. Erzähl-gedicht Kartoffelkrautfeuer (1991) – das er imUntertitel ebenso ironisch wie faktisch zu-treffend »ein Stück Heimatkunde« nennt –verarbeitet seine Kindheit u. Jugend, diedrückende Arbeitslosigkeit Anfang der1930er Jahre u. die Verfolgungen u. Inhaf-tierungen des Vaters durch die Nationalso-zialisten. Aber über Persönliches oder jedekonkrete polit. Stellungnahme hinaus (bzw.den früheren gesellschaftskrit. Impetus im-

mer achtsamer u. selbstskeptischer zurück-nehmend), verschreibt sich diese Alterslyrikdem Credo Ohne Erinnerung hat die Zeit keinGesicht (Mchn./Wuppertal 1997) – so der Titeleiner seiner Autoanthologien – u. damit derWahrung einer Tradition humanitären Den-kens, die K.s insbes. durch die Sprache an dieZukunft vermittelt sieht.

Besondere Bedeutung hat K. jedoch alsunermüdl. Förderer anderer Autoren erlangt– als Kritiker, Organisator von Tagungen u.Herausgeber von einer kaum mehr über-schaubaren Zahl von Anthologien (bezeich-nend sind hier vor allem diejenigen, derenTitel als Markenzeichen mit Sie schreiben .. .beginnt: . . . zwischen Moers und Hamm, . . . zwi-schen Goch und Bonn, . . . in Gelsenkirchen u. a.). K.hat damit entscheidend zur Durchsetzungder Arbeiterliteratur in den 1970er Jahren u.zur Belebung der Literaturszene im Ruhrge-biet beigetragen. Seinen lebenslangen Ein-satz für andere dokumentieren in neuererZeit etwa die beiden Monografien über die inWesel geborene Journalistin, Lyrikerin u.Kinderbuchautorin Otti Pfeiffer (1931–2001)oder ein Nachruf auf den krit. Filmemacheru. Schriftsteller Paul Karalus (1928–2000.Beide Düsseld. 2002). Der von K. herausge-gebene Band Die Kinder von Buchenwald (2005)versammelt Texte u. Zeichnungen von 904aus dem Konzentrationslager bei Kriegsendebefreiten Kinder u. Jugendlichen.

K. erhielt u. a. 1973 u. 1989 ein Arbeitssti-pendium des Landes Nordrhein-Westfalen,1980 die Adolf-Georg-Bartels-Gedächtnis-Ehrung, 1988 den Mölle-Literaturpreis(Schweden), 1992 die Ehrendoktorwürde derUniversität Bremen, 1999 den Kogge-Ehren-ring der Stadt Minden u. 2002 den Litera-turpreis Ruhrgebiet. Er ist seit 1969 Mitgl.des Verbands Deutscher Schriftsteller in derGewerkschaft ver.di (früher IG Druck undPapier), seit 1974 des P.E.N.-Zentrums der BRDeutschland u. seit 1968 der EuropäischenAutorenvereinigung »Die Kogge«.

Weitere Werke: Und mittendrin ein Zeichen.Emsdetten 1963 (L.). – Spuren u. Linien. Emsdetten1967. – Leute gibt’s bei uns Leute. Texte u. Afo-rismen. Leverkusen 1975. – Standortbestimmun-gen. Aforismen. Dortm. 1975. – Unaufhaltsamwieder Erde werden. Gelsenkirchen 1976. – Russ-

Käufer 234

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 11: Kafka Killy Lexikon

landimpressionen. Leverkusen 1976 (Reiseschilde-rung). – Stationen. Ges. Texte 1947–77. Köln 1977.– Schreiben u. Schreiben lassen. Gedichte & Afo-rismen. Bad Cannstatt 1979. – So eine Welle lang.Australische Notizen. Gelsenkirchen 1979. – Au-tobiogr. Notizen. Hg. Carl Heinz Kurz. Bovenden1980. – Der Holzschneider HAP Grieshaber. Hau-zenberg 1980 (L.). – Letzte Bilder. In memoriamHAP Grieshaber. Gelsenkirchen 1982. – Über dasgesunde Volksempfinden u. a. Anschläge. NeueAforismen. Bovenden 1983. – Hugo Ernst Käufer.Neuss/Mchn. 1984. – Zeit-Gedichte. Mchn. 1984. –Die Worte die Bilder. Hauzenberg 1986. – Bei Lichtbesehen. Ausgew. Aforismen. Celle 1987. – ChopinsKlavier. Gedichte. Stgt. 1989. – Wer nicht hörenwill muß sehen. HAP Grieshaber 1909–1981. Wit-ten 1990. – Kartoffelkrautfeuer. Kindheit in Wit-ten-Annen oder Ein Stück Heimatkunde. Witten1991. – Ohne Erinnerung hat die Zeit kein Gesicht.Gedichte aus zwanzig Jahren. Wuppertal/Mchn.1997. – Immer noch unterwegs. Bochum 1997. –LeseZeichen. Ausgew. Essays, Reden u. Rezensio-nen aus fünfzig Jahren (u. a. zu H. Heinrich Böll,Alfred Andersch, Gottfried Benn, Ernst Jandl, HildeDomin, Karl Krolow, Paul Schallück, Max von derGrün, Irmgard Keun, Anna Seghers bis zu PaulKaralus, mit Überlegungen zum Verhältnis v. Lit.u. Gesellsch. bzw. v. ›Kunst, Literatur u. Technik‹).Mit einer Bibliogr. v. Klaus Scheibe. Düsseld. 2001.– Zwischenbericht oder Als die Worte das Laufenlernten. Gedichte. Aphorismen. Stücke. Essays.Reden (1997–2007). Düsseld. 2006.

Literatur: O. Pfeiffer: Wir besuchen die Stadt-bücherei Gelsenkirchen u. sprechen mit dem Di-rektor H. E. K. Interview. Bonn 1981. – Anstöße. H.E. K. zum 60. Geburtstag. Hg. Karl Taefler. Gel-senkirchen 1987. – H. E. K. Bibliothekar, Autor,Herausgeber. Auswahlbibliogr. 1950–86. Gelsen-kirchen 1987. – H. E. K. Autor, Herausgeber, Bi-bliothekar, Galerist. Dokumentation u. Auswahl-bibliogr. 1950 bis 1997. Gelsenkirchen 1997. –Westf. Autorenlex. 4. – Das Wesen des Schreibensheißt Überleben ... Über H. E. K. Beiträge zu einerBiogr. Hg. Sascha Kirchner. Düsseld. 2003. – Bo-chumer Bekannte 3: Silvia Cabello, Chris Hopkins,H. E. K., Rüdiger Künne, Daniel Nipshagen, FelixOekentorp, Karsten Riedel u. Erwin Steden imPorträt. Bochum 2004. – Herbert Knorr: H. E. K.In: KLG. – H. E. K. 80: Dokumentation 2007. Bo-chum 2007.

Erhard Schütz / Pia-Elisabeth Leuschner

Kaffka, Johann Christoph, eigentl.: J. C.Engelmann, * 1754 Regensburg, † 17.1.1815 Riga. – Dramatiker.

Nach dem Willen des Vaters, eines Konzert-meisters in Regensburg, sollte der Sohn imAnschluss an den Besuch des GymnasiumsOrdensgeistlicher werden, er verließ aber1774 das Kloster u. wurde Schauspieler,Sänger, Dramatiker u. Komponist bei ver-schiedenen Theatergesellschaften, u. a. inPrag (1775), Nürnberg (1776), Berlin (1779),Brünn (1781), Breslau (1782), Riga (1789),Dresden (1795), Dessau (1797) u. St. Peters-burg (1800). 1801 ließ er sich in Riga alsSchauspieler nieder u. versuchte sich auch alsBuchhändler, Leihbibliothekar u. Zeitschrif-tenherausgeber (»Nordisches Archiv«. Riga1803–09). Er starb während einer Vorstellungauf der Bühne.

K. schrieb Bühnenstücke u. Singspiele nachbewährten Mustern, verfasste einige Ritter-u. Geheimbundromane (Ruinen der Vorzeit. 2Bde., Breslau 1790), theoret. Schriften (Überden Werth der Theatralischen Rührung. Riga1792), erotisch-satir. Erzählungen (Hogarth-sche Studien für Unerfahrne, Lüsterne und Kenner.Riga 1805) u. eine Reisebeschreibung (Schil-derungen von Deutschland [. . .] . Glatz 1798). Inden Streit um Kotzebues Bericht über seineVerbannung nach Sibirien griff er mit zweiSchriften ein (Nöthige Erläuterungen zu derSchrift des Herrn von Kotzebue: das merkwürdigsteJahr meines Lebens. Lpz. 1802. Interessante Bei-träge zu den nöthigen Erläuterungen [. . .] . Riga/Lpz. 1803), in denen er dessen Unwahrheitenu. Übertreibungen akribisch nachging.

Weitere Werke: Die Brüder des Bundes fürMenschenglück. Lpz. 1796 (R.). – Die Tempelher-ren. Mannh. 1796 (D.). – Die Weisen v. Scheschian.Lpz. 1797 (R.). – Statist. Schilderungen vom ge-genwärtigen Rußland [...]. Lpz. 1809.

Literatur: Johann Friedrich v. Recke u. KarlEduard Napiersky (Bearb.): Allg. Schriftsteller- u.Gelehrtenlexikon der Provinzen Livland, Esthlandu. Kurland. Bd. 2, Mitau 1829, S. 408–412. – Ri-chard Maria Werner (Hg.): Gallerie v. TeutschenSchauspielern u. Schauspielerinnen. Bln. 1910,S. 74–76. – Janis Torgans: J. C. K. u. das RigaerKulturleben seiner Zeit. In: Musica Baltica. Inter-regionale musikkulturelle Beziehungen im Ost-

Kaffka235

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 12: Kafka Killy Lexikon

seeraum. Hg. Ekkehard Ochs, Nico Schüler u. LutzWinkler. Sankt Augustin 1996, S. 183–189.

Wolfgang Griep / Red.

Kafka, Eduard Michael, auch: SiegwinFreimuth, * 11.3.1868 Wien, † 3.8.1893Brünn. – Essayist; Journalist, Redakteur.

K. besuchte die Textilschule in Brünn u.studierte anschließend in Wien Staatswis-senschaften, Kunstgeschichte u. Philosophie.Er gehörte zum Kreis Jung-Wien, war inVerbindung mit Bahr 1889/90 Begründer u.Redakteur der Monatsschrift »ModerneDichtung« (ab dem 2. Jg. in Wien erschienenu. d. T. »Moderne Rundschau«) u. redigiertegemeinsam mit Leo Berg die Zeitschrift »DieModerne« in Berlin. 1892 kehte er nachBrünn zurück.

K. gehörte während seiner kurzen Lauf-bahn verschiedenen Geistesströmungen des19. Jh. an: In seiner Studie Hans Kudlich unddie österreichische Bauernbefreiung (Wien 1888)vertrat er die gesellschaftspolit. Umwälzun-gen der Revolution von 1848 u. setzte darindie Tradition des Liberalismus fort. Die Lö-sung der sozialen Frage dachte er sich ohneEinflussnahme des Staates. Als WeggefährteBahrs war K. Kultur- u. Gesellschaftskritikerim Sinne des Naturalismus u. warnte vor ei-nem »Kultus der Nerven«. Daneben ist eraber auch als Vorkämpfer des Impressionis-mus zu würdigen, der sich insbes. für dasWerk Maeterlincks einsetzte.

Weitere Werke: Wirtschaftsgeschichtl. Studi-en. Wien 1889. – Hieroglyphen. Moderne Märchen.Wien 1890. – Der Individualismus. Wien 1891.

Literatur: ÖBL. – Heinz Rieder: E. M. K. In:NDB. Arnulf Knafl

Kafka, Franz, * 3.7.1883 Prag. † 3.6.1924Kierling (heute zu Klosterneuburg), Nie-derösterreich; Grabstätte: Prag-Strasnice,Neuer Jüdischer Friedhof. – Romancier u.Erzähler.

K. wurde als ältestes von sechs Kindern – zweiBrüder starben früh, nur die Schwestern Elli,Valli u. Ottla blieben am Leben – der Familiedes jüd. Galanteriewarenhändlers HermannKafka u. seiner Frau Julie geboren. Der Vater

war aus ärml. Verhältnissen aufgestiegen, umökonomische u. nationale Assimilierung be-müht, ohne Verständnis für die Begabung desKindes Franz, dessen Schreibversuche bis indie Knabenjahre zurückreichen. Die Mutter,dem Vater ergeben, entstammte einer ange-sehenen Kaufmannsfamilie. Ihren BruderAlfred, Eisenbahndirektor in Madrid, be-trachtete K. als »nächsten Verwandten«; ihrStiefbruder Siegfried Löwy, Landarzt inTriesch, wurde zu seinem Lieblingsonkel. K.sSelbstgefühl war bestimmt durch den Ge-gensatz zu dem als übermächtig erfahrenenVater: »du stark, groß, breit [...] ich an deinerHand, ein kleines Gerippe [...]«. Der Brief anden Vater (1919), im Rückblick des 36-Jährigenverfasst, dem Vater freilich nicht zugeleitet,erzählt die nie bewältigte Geschichte von K.sLeiden in der Familie, die Rettungsversuchedurch das Schreiben: nicht als Freiheit, son-dern als »Ausweg«, wie der Affe Rotpeter imBericht für eine Akademie konstatiert. Eng ver-bunden fühlte er sich seiner Schwester Ottla,die ihm 1916 einen Ausweg aus den Zwängendes Familienraums eröffnete, als sie ihm füreinen Winter ein Schreibdomizil im Alchi-mistengäßchen auf dem Hradschin ver-schaffte.

K. war ein guter Schüler; nach dem Abiturim Sommer 1901 begann er (nach einigemSchwanken) das Studium der Jurisprudenz ander Prager Universität. Er hörte auch germa-nistische Vorlesungen u. wurde mit der Pra-ger Literaturszene – Hugo Salus, FriedrichAdler, Brod, Meyrink – bekannt; K. besuchtephilosophische Zirkel u. literar. Salons. Am23.10.1902 sprach Brod in der »Lese- undRedehalle«, einem Forum liberaler Studen-ten, über Schopenhauers Philosophie. Hierlernte K. ihn kennen, u. es entstand eine le-benslange Freundschaft. Brod ermutigte K.zum Schreiben, drängte ihn gegen seineSelbstzweifel zur Veröffentlichung u. ver-nichtete schließlich K.s Nachlass nicht, wieder testamentar. Wille nahelegte, sondernrettete ihn vor den Nationalsozialisten nachJerusalem. K.s Lehrer während des Studiumswaren u. a. der Nationalökonom Robert Zu-ckerkandl, der Handelsrechtler Otto Frankl u.vor allem der Strafrechtler Hans Groß, dessenStudien über die Psyche des Verbrechers, über

Kafka 236

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 13: Kafka Killy Lexikon

Tatsachenerforschung u. Spurensicherungauf K.s Schreiben eingewirkt haben. Am18.6.1906 wurde K. zum Dr. jur. promoviert.Zunächst trat er als Versicherungsjurist in dieAssicurazioni Generali, dann in die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (1908) ein. Erbewährte sich als Beamter u. stieg zumObersekretär auf, bis er, mit Fortschreiten derTuberkulose, 1923 pensioniert wurde. K.sberufl. Aufgabe bestand darin, Ersatzforde-rungen der durch Arbeitsunfälle Geschädig-ten möglichst gering zu halten. Er kanntealso die sozialen u. wirtschaftl. Verhältnisseim böhm. Industriegebiet sehr genau u. ver-fasste mehrere Schriften zur Unfallverhü-tung.

K. hat zeitlebens unter seinem Beruf gelit-ten: der Fron der Tagesarbeit, die ihm Zeit u.Kraft für das nächtl. Schreiben nahm; denZwängen der »verdammten Stadt« (an Hed-wig Weiler, Anfang Sept. 1907), die ihn un-glücklich machte u. doch nicht losließ. Lebenu. Schreiben waren für K. auf verhängnisvolleWeise miteinander verknüpft. Es ist bedeut-sam, dass K. gerade in dem Augenblick, alsihm (nach seinem eigenen Wort) mit demUrteil (1912. In: Arkadia, 1913. Lpz. 1916) der»Durchbruch« zur Literatur gelang, jene Fraukennen lernte, um die er einen fünf Jahrewährenden Kampf – Verlobung, Entlobungu. erneute Verlobung, Bruch – führen sollte:in dem verzweifelten Bewusstsein, ohne sienicht leben u. in ihrer Nähe nicht schreibenzu können. Die vielen hundert Briefe, die erzwischen 1912 u. 1917 an die Berlinerin Fe-lice Bauer richtete, sind Versuche, aus derschreibenden Distanz zu ihr jene Literatur zuerzeugen, die von der Einsamkeit, der Verlo-renheit des Ich in einer von Schuld u. Büro-kratie geprägten Welt zeugt. Es ist die Zeit, inder die im Urteil beschriebene Konstellation(der Sohn in Dreiecksbeziehung zu Vater,Geliebter u. zum Freund) lebensbegründendeKraft gewinnt: die Entscheidung dessen, dervom »Blutkreislauf der Familie« sich nicht zulösen vermag, zwischen Ehe u. Schreib-Beruf,zwischen Leben u. Kunst; die Unvereinbar-keit der Verbindung mit der erfolgreichenFrau – Felice Bauer war Prokuristin in derMedienfirma Lindström AG – u. einemkünstlerischen Freundeskreis, dem Brod,

Werfel, Felix Weltsch, Oskar Baum, Otto Pick,Ernst Weiss u. andere angehörten.

Das äußere Muster von K.s Leben ist un-auffällig; nicht der größere Schmerz, nur dieschärfere Aufmerksamkeit, die er ihm wid-met, gibt seinem Leben, dem schrittweisenAufzehren der Biografie durch das Schreiben,weltliterar. Gewicht: der Lebensgang als Ge-richtsprozess, der Erwerb der Sprache alsVerurteilung zur Delinquenz, der »verhörteHeld« als Protagonist des Geschehens, dasmit seiner Auslöschung endet.

K. machte (meist mit Brod) Vergnügungs-u. Bildungsreisen, soweit es der Zwang desBerufs erlaubte: nach Helgoland, Berlin, Ve-nedig u. Verona, nach Lugano, Mailand u.Paris, nach Lübeck, Wien u. Meran. Zögerndlöste K. sich aus dem Bannkreis der Familie:erst 1914 bezog er ein Zimmer außerhalb derelterl. Wohnung. In der Nacht zum 13.8.1917erlitt K. einen Blutsturz, der die zum Todführende Krankheit einleitete. Er konstatier-te dieses Ereignis mit Besorgnis u. Erleichte-rung zugleich: als Möglichkeit, dem ver-hassten Beruf zu entgehen u. Zeit fürsSchreiben zu gewinnen. Bei einem Erho-lungsurlaub in Schelesen (nördlich von Prag)lernte K. Julie Wohryzek kennen, die Tochtereines Schusters u. Gemeindedieners an einerPrager Synagoge. Heiratspläne zerschlugensich; im Frühjahr 1920 begegnete er derchristl. Tschechin Milena Jesenská, Frau desLiteraten Ernst Polak. Die Briefe an sie, dieÜbersetzerin seiner Texte ins Tschechische,sind Zeugnis einer leidenschaftl., Konflikteerzeugenden Liebe. Ihr als einziger gab K.seine Tagebücher u. den Brief an den Vater, seinLebensresümee, zu lesen. Es ist bemerktworden, dass K.s Beziehungen zu Frauen ineinem komplizierten Verhältnis zu seinenSchaffensphasen u. den Zeiten tiefer Depres-sion stehen. So entstanden Urteil u. Verwand-lung (in: Die weißen Blätter, Okt. 1915. Lpz.1916), Der Verschollene (1911–14. U. d. T. Ame-rika. Mchn. 1927) u. Process (1914/15. Bln.1925) in der Zeit der wechselhaften Bezie-hung zu Felice Bauer; so erlebte K. diewichtige Schaffensphase im Alchimistengäß-chen (1916/17), in der u. a. die Erzählungendes Landarzt-Bands (Mchn./Lpz. 1919) ent-standen, während der Kämpfe um das Ver-

Kafka237

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 14: Kafka Killy Lexikon

hältnis zu Felice Bauer. Und im Zusammen-hang einer krisenhaften Entfremdung vonMilena Jesenská schrieb er nicht nur zahlrei-che Erzählungen (Das Stadtwappen, Poseidon,Gemeinschaft), sondern, nach einem letztenAufleben dieser Beziehung, Ein Hungerkünst-ler (in: Die Neue Rundschau, Okt. 1922) u.den Anfang des Schloss-Romans (1922. Mchn.1926).

Bedeutsam, aber doch schwer zu bestim-men ist K.s Verhältnis zum Judentum; erwusste sich der Religion seiner Väter fern, waraber zeit seines Lebens an Erscheinungen desJudentums interessiert: am jidd. Theater(Rede über die jiddische Sprache. 1912), an derZionistenbewegung, an jüd. Brauchtum u.jüd. Sozialeinrichtungen, an der hebräischenSprache, die er zu erlernen suchte. Spurendieses Interesses in seinem Werk sind rar u.verschlüsselt. Andererseits finden sich Motivechristl. Denkens in seinen Texten, die sich aufSchuld, Opfer u. Erlösung beziehen: »Ich binnicht von der allerdings schon schwer sin-kenden Hand des Christentums ins Lebengeführt worden wie Kierkegaard und habenicht den letzten Zipfel des davonfliegendenjüdischen Gebetmantels noch gefangen wiedie Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang«.Brod hat in mehreren Büchern eine theolog.Deutung von K.s Werk versucht.

Die beiden wichtigsten Menschen währendK.s letzter Lebensjahre waren der Medizin-student Robert Klopstock u. die aus Polenstammende Dora Diamant, der er im Ostsee-bad Müritz begegnete. Mit ihr lebte er wenigeglückl. Monate (Sept. 1923 bis März 1924) –vielleicht die glücklichsten seines Lebens – inBerlin, zum ersten Mal sich entschlossen vonPrag lösend u. ein Konvolut von Texten, dieer für überholt hielt, vernichtend. Um dieJahreswende verschlechterte sich K.s Zu-stand; er wurde in das Sanatorium WienerWald in Niederösterreich, dann, nach derDiagnostizierung der Kehlkopftuberkulose,in das Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierlingbei Klosterneuburg gebracht, wo er starb.

K.s Schreiben ist auf doppelte Weise ge-prägt: auf der einen Seite durch das Be-wusstsein, in einer langen kulturellen Tradi-tion zu stehen u. deren Werten u. großenNamen verpflichtet zu sein – der junge K.

unterliegt dem Einfluss Nietzsches; Goethe,Hebel u. Stifter sind ihm wichtige Autoren; erliest Strindberg u. Kierkegaard; Kleist, Grill-parzer, Flaubert u. Dostojewskij nennt erseine »Blutsverwandten« (an Felice Bauer,2.9.1913); er fühlt sich gedrängt, im literar.Schaffen das »Reine, Wahre, Unveränderli-che« (25.9.1917) herauszuheben, ein »idea-listisches Erbe« in sich wiederzufinden. An-dererseits aber dominiert die Aufmerksam-keit auf das Dunkle, Körperstumme, dasSchmutzige u. Tierische, das Unkanonische,das sich in K.s Neigung zum Varieté, zurMenagerie, dem Zirkus niederschlägt – 1911erfolgt die Begegnung u. Freundschaft mitdem vom Vater vehement abgelehnten ost-jüd. Schauspieler Jizchak Löwy. Dieser Wi-derspruch zeigt sich zum einen in K.s »Gier«,gedruckt zu werden (an Rowohlt, 14.8.1912),gleichzeitig aber dem Wunsch, alles Ge-schriebene zu vernichten; zum anderen aberin jenen Themen, die er immer wieder auf-greift. Sein Werk hat ja v. a. durch ein ThemaWeltgeltung erlangt: die Darstellung derbürgerl. Familie in ihren Widersprüchen, derGefühlsambivalenz von Hass u. Liebe, dermögl. Auswege aus ihren Zwängen, die sichin Beziehungen zu Freundesgestalten (wie imUrteil) u. geschwisterl. Figuren (wie in derVerwandlung) andeuten – freilich immer wie-der bezogen auf die Vereinzelung des Sub-jekts in einer gefühllosen Welt, die im Zei-chen des Unglücks des Junggesellen (einer derfrühesten von K. veröffentlichten Texte. Zu-erst in: Betrachtung. Lpz. 1913) u. seiner ver-schiedenen Spielarten (Blumfeld ein ältererJunggeselle. 1915. Ein Landarzt) steht. K.s Bildvon der Familie, wie es seine Werke, vomUrteil über den Verschollenen bis zum Brief anden Vater – geradezu ein Musterbuch allerAporien der bürgerl. Pädagogik u. Familien-konzeption – u. selbst das Schloss, entwerfen,ist zum Modell der von Zwängen beherrsch-ten intimen Welt des kleinbürgerl. »Priva-ten« geworden, die der bürgerl. »Öffentlich-keit« entgegengesetzt bleibt u. das Adjektiv»kafkaesk« zur Kennzeichnung der Selbster-fahrung in einer labyrinthischen Moderne inalle Kultursprachen hat eindringen lassen.Mit diesem Begriff verbindet sich dieGrunderfahrung der Fremdheit – einer

Kafka 238

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 15: Kafka Killy Lexikon

Fremdheit, die im Laufe des 19. Jh. den eu-rop. Leitbegriff der Subjektivität, wie er sichvon Rousseau herschreibt, zu zersetzen be-gann. K.s Werk bringt zu literar. Ausdruck,was sich in der Geschichte der Selbsterfah-rung des bürgerl. Menschen allmählich Gel-tung verschaffte: die Einsicht, dass die dieFreiheit u. Gleichheit des Einzelnen garan-tierenden Gesetze sich zu Maschinen derÜberwachung u. Bestrafung wandeln, dieeben diesen Einzelnen einschränken, verlet-zen u. verstümmeln.

Als Ort, an dem der Umschlag von Freiheitin Zwang vonstatten geht, erscheint K. dasInstitutionenfeld der Justiz, dessen Mecha-nismen sich auf Pädagogik, Psychiatrie u.Medizin übertragen. Niemand außer Kleisthat dies in so konsequenter Weise literarischzu vergegenwärtigen gewusst wie der JuristK.: u. zwar, indem er die Intimität der Fa-milie durch das Modell eines Justizrituals –Verhör, Verurteilung u. Hinrichtung – mitder Sozietät verknüpft. Dieser Gedanke vonder Gewalt der Rechtsordnung, die alles Le-ben überformt, hat K.s Schaffen immer wie-der bestimmt: von der Beschreibung einesKampfes (1904–06) über die Entlarvung einesBauernfängers (1911/12), Das Urteil, In derStrafkolonie (Lpz. 1919), Vor dem Gesetz (in:Selbstwehr 9, 1915), Der Process, Der neue Ad-vokat (1917) u. Ein Brudermord (1917. Beidezuerst in: Ein Landarzt) bis hin zu dem TextZur Frage der Gesetze (1920). Familie, Rechts-ordnung, Fremdheitserfahrung u. Gewaltsind die Motive, die zur beherrschenden Ar-gumentationsfigur von K.s Texten zusam-menwachsen. Canetti, der dies scharfsinnigerkannte, nennt K. »den größten Expertender Macht«. Urteil u. Strafkolonie sind dabeivon bes. Bedeutung. Während das Strafritualder Rechtsfindung im ersten Text in seinerWirkung auf das Verhältnis von Subjekt u.Familie dargestellt wird, deutet die Strafkolo-nie auf das Verhältnis von Individuum u. so-zialer Autorität im Beispiel jener Maschine,die der Kommandant der Strafkolonie kon-struiert hat – mit dem Ziel, die Schrift desGesetzes dem Delinquenten in den Körper zuschreiben, eine Schrift, die nur diesem alleinlesbar wird u. seine Individualität mit derAllgemeinheit des Gesetzes vermitteln soll:

als Auslöschung u. Versöhnung zugleich. DerVater im Urteil u. der Kommandant in derStrafkolonie erscheinen als Exponenten vonFamilien- u. Staatsgewalt, einander – u. demSohn u. Delinquenten – spiegelbildlich ge-genübergestellt. K. selbst hat diese Konstel-lation auch experimentell zu erweitern ge-sucht, indem er mit seinem Verleger KurtWolff zwei Sammelbandprojekte bezüglichseiner großen Erzählungen der Frühzeit er-örterte: Nach einem ersten Plan sollten Urteil,Heizer (Lpz. 1913) u. Verwandlung in einemBuch mit dem Titel Söhne vereinigt werden(an Wolff, 11.4.1913), nach einem späterenUrteil, Verwandlung u. In der Strafkolonie u. d. T.Strafen (an Wolff, 19.8.1916).

Wenn so die Familie der Ort ist, an dem K.seine Identitätsfantasien des bürgerl. Sub-jekts ansiedelt, so sind es zwei Seitenthemen,die aus diesem Bild des Familienverbandsherauswachsen: zum einen die Frage nachdem Leben in einer modernen Berufswelt, imZeitalter der Bürokratie (Der Process), der Ma-schinen (In der Strafkolonie) u. der Medien (derSaal der Telefone im zweiten Kapitel desVerschollenen), die den »Menschenverkehr«regeln, ihn in Gestalt von Briefen, Telefonen,Telegrafen u. Parlografen inhumanisieren u.die Fremdheit zwischen die Menschen legen:»Die Menschheit [...] hat, um möglichst dasGespenstische zwischen den Menschen aus-zuschalten [...] , die Eisenbahn, das Auto, denAeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr,es sind offenbar Erfindungen, die schon imAbsturz gemacht werden« (an Milena Jes-enská, Ende März 1922); zum anderen aber,in Gegenüberstellung zu dieser Welt derZwangsapparate, die Tierwelt, wie sie K.sErzählungen u. Parabeln bevölkert. K.s Tier-figuren sind verwandelte Menschen auf derFlucht vor der Fremdheit einer ökonomi-schen Welt (Die Verwandlung) oder Tiere, die,auf der Flucht vor dem Verlust der Freiheit inder Menagerie, sich in Menschen verwandeln,um als »Künstler« im Varieté zu überleben(der Affe Rotpeter im Bericht für eine Akademie);Tiergesellschaften, der Menschenwelt ent-fremdet, wie sie die Forschungen eines Hundesschildern, u. solche, die scheinbar nach demModell der menschl. Gesellschaft sich orga-nisieren, wie Josefine, die Sängerin oder das Volk

Kafka239

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 16: Kafka Killy Lexikon

der Mäuse (in: Prager Presse, April 1924);einzelne Tiere schließlich, wie das maul-wurfartige Wesen im Bau, das sich gegen eineWelt feindl. Zeichen, das Rauschen einer un-verstandenen Welt, in seiner Isolation zu be-haupten sucht. K.s Tierdarstellungen sind inihrer Funktion nicht leicht zu bestimmen.Zwar stehen sie in den literar. Traditionen derFabel, der anthropomorphisierenden Allego-rie u. der Parabel, aber in ihrem tiefsten Sinnerscheinen sie als Elemente einer wildenGegenwelt des Menschlichen, die durch denKörper, seine Naturhaftigkeit, dessen stum-me u. bewusstlose Unveräußerlichkeit ge-prägt sind. Vielleicht ist K.s Schreiben nur aufdem Hintergrund dieser zivilisationsge-schichtl. Differenz verständlich: demSchriftverkehr auf der einen Seite, der in dasUniversum der Kultur u. ihrer sozialen Ri-tuale u. Zeichenordnungen hineinführt u.dem menschl. Ich, gegen allen Verfall desKörpers, das Überleben sichert, wie es dieParabel Ein Traum (in: Ein Landarzt) als Ruh-mesfantasie überliefert; u. dem wilden Na-turkörper auf der anderen Seite, der in dieStummheit des Organismus zurückkehrt –wie Josefine. Diese Ambivalenz bestimmtauch K.s Vorstellungen vom Künstlertum.Anders als bei Thomas Mann oder Musil,deren Werke von einer kontinuierl. Ausein-andersetzung mit Fragen der Kunst u. derPoetologie durchzogen sind, handeln K.sTexte von dubiosen Künstlerfiguren, derenTätigkeit den Wert der europ. Kulturtraditi-on nur zu unterlaufen scheint: vom MalerTitorelli aus dem Process, der in einer Atmo-sphäre der Bestechlichkeit einer beliebigenReproduzierbarkeit der Kunstwerke sichverschreibt, von dem Trapezkünstler aus derErzählung Erstes Leid (in: Ein Hungerkünstler.1924), der in Bewegungslosigkeit verharrt,von dem Hungerkünstler, der an der Kunst desSelbstverzehrs zugrunde geht, von der MausJosefine, deren Kunstübungen sich allergängigen Wahrnehmung entziehen. Sie allestehen zwischen den Welten der Schrift u. dersozialen Redeordnung auf der einen, der Weltdes stummen tierischen Naturkörpers auf deranderen Seite u. werden in deren Verwer-fungen zerrieben.

Dieser Widerspruch von erlösendemKunstbegriff der europ. Kulturtradition u.tiefer Verzweiflung über das Versagen dessinnstiftenden Verfahrens kultureller Zei-chensetzung durchzieht K.s ganzes Werk.Sein Blick ist der des Wilden auf eine unver-ständl. Sozietät u. bestimmt auch K.s Ver-hältnis gegenüber dem eigenen Schaffen:Dem Wunsch, Texte von bleibendem Rang zuveröffentlichen, widerstrebt eine Tendenz,die Niederschriften der Nächte in ihrer An-onymität zu belassen, den namenlosenSchreibstrom der Manuskripte in den stum-men Körper zurückzuleiten. K. hat Textegeschrieben, die diesen Vorgang der Verwei-gerung von Kommunikation bis in die letztenKonsequenzen ausdenken: Der Bau, Strafkolo-nie, Die Sorge des Hausvaters (in: Ein Landarzt).Die Chiffre »K.«, mit der K. die Protagonistenseiner Romane ausstattet, deutet genau aufdieses Niemandsland zwischen bedeutungs-losem Namen u. stummem Körper. FormalesSymptom solcher Fremdheitserfahrung, dieihren Standpunkt zwischen »einsinniger«Immanenz des Blicks u. entpersönlichenderDistanz nicht zu finden vermag, sind diePerspektivierungsexperimente der K.schenProsa: auf der einen Seite der beinahe mit derSicht des Lesers verschmelzende Blick desProtagonisten »K.« in den Romanen, auf deranderen die berichtenden Perspektivfigurendes Forschers u. des Wissenschaftlers in denForschungen eines Hundes, dem Dorfschullehrer u.dem Bau der Chinesischen Mauer.

K.s drei Romane – Der Verschollene, DerProcess, Das Schloss – wurden nie vollendet. Erfasste diese Romane als Dokumente seinerUnfähigkeit auf, die Lebensgeschichte desmodernen Subjekts schreibend zu bewälti-gen; er erfuhr sie als »Niederungen«, denener durch die Ausflucht in das Schreiben kur-zer Texte, »in einem Zug niedergeschriebe-ner« Novellen zu entkommen suchte.

Es gehört zu dem mit K. gesetzten Paradox,dass gerade seine Romane, die er für miss-glückt hielt u. nicht vollendete, seinen Welt-ruhm begründeten, als Brod sie aus demNachlass veröffentlichte. Alle drei Romanekönnen als Widerruf dessen angesehen wer-den, was der Bildungsroman des 19. u. nochdes 20. Jh. postuliert hatte: die Erzählbarkeit

Kafka 240

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 17: Kafka Killy Lexikon

der Geschichte eines frei sich entfaltendenSubjekts in einer durch Bildung, Ökonomieu. Politik gestalteten Gesellschaft. K.s Roma-ne setzen zwar mit der traditionellen »Geburtdes Helden« in die Familie u. die soziale Weltein, aber sie lassen diesen hoffnungsvollenAnfang zerbröckeln. In K.s RomanentwurfDer Verschollene ist es das verführte Kind – dieUrszene des Sündenfalls im Paradies hat, wieseine Aphorismen bezeugen. K. nachhaltigbeschäftigt –, das von seinen Eltern verstoßenwird, in der Weite des amerikan. Kontinentsseinen Weg als Schauspieler (ein zentralesMotiv des Bildungsromans seit Karl PhilippMoritz u. Goethe) sucht, im »Theater vonOklahama« seine Identität verliert u. zum»Verschollenen« wird. Im Process ist es dannder an seinem 30. Geburtstag in Haft ge-nommene Junggeselle, der in der Maschineriedes Lebensprozesses schließlich den Tod ineiner freiwillig auf sich genommenen Hin-richtung findet. Im Schloss ist es der exilierteEhemann, der in der Fremde einen Berufbeansprucht u. selbstständig den Kampf ge-gen die übermächtige Bürokratie des Schlos-ses aufnimmt – einen Kampf mit offenemAusgang. Es sind drei in drei Lebensalternunternommene Versuche, den Zusammen-hang eines Lebens aus dem Grundkonfliktvon Heimat u. Fremde zu stiften. Für Karl, imVerschollenen, ist es die Vertreibung aus derHeimat in die Fremde; für Josef K., im Process,der Versuch, sich in der Fremdheit der Hei-mat einzurichten; für K., im Schloss, das Be-mühen, sich die Fremde durch »Vermes-sung« – er ist Landvermesser von Beruf –anzueignen u. so die Fremde zur Heimat zumachen.

Wenn die Romane K.s das Erzählmodelldes Bildungsromans unterlaufen, so destru-ieren seine Erzählungen das traditionelleModell der Novelle. Will der Bildungsromanaus dem Augenblick der Geburt des Subjektsein Lebensganzes entwickeln, das sich orga-nisch schließt, so sucht die Novelle in einemals Lebenskrise beleuchteten Augenblick dasGanze eines Lebens aufscheinen zu lassen. K.sErzählungen sind subversive Proben aufsExempel dieser Modelle, experimentelleVergegenwärtigungen der Auslöschung desSubjekts im Spiel der anonymen Macht, wel-

che die sozialen Ordnungen durchwirkt. Dieswird insbes. an jenen Erzählungen deutlich,die im Sammelband Ein Landarzt zu einerSinnfigur vereinigt wurden. Eine ersteGruppe – Der Kübelreiter, Ein Brudermord u. DerSchlag ans Hoftor – greift verfremdend auf dasThema der Familie u. der durch sie be-stimmten Selbsterfahrung zurück; einezweite Gruppe – Auf der Galerie, Das nächsteDorf, Der Nachbar, Beim Bau der ChinesischenMauer / Eine kaiserliche Botschaft u. Ein altes Blatt– entwickelt das Thema sozialer Ordnungen:von den Beziehungsschwierigkeiten in dermodernen Großstadt bis hin zu exotischen u.barbarischen Gesellschaftsformationen, indenen der Begriff des Subjekts dem Phäno-men der anonymen Masse weicht; eine dritteGruppe – Schakale und Araber, Der neue Advokat,Eine Kreuzung, Ein Bericht für eine Akademie –spielt das Thema der Identität in die Tierwelthinüber, als Frage nach der Beglaubigung desSubjekts aus dem animal. Körper; eine vierteGruppe – Die Brücke, Der Jäger Gracchus, EinBesuch im Bergwerk, Elf Söhne u. Die Sorge desHausvaters – greift ein Thema auf, das dannnoch die Schriften der letzten Jahre K.s mit-bestimmen wird: die Frage nach der Rolle derKunst im sozialen Gefüge. In den erstenJahren der Krankheit bezieht K. zunehmendauch myth. Motive in seine Argumentationüber menschl. Kommunikation u. ihre so-zialen Folgen ein: Fragen nach der Wirkungder Kunst (Das Schweigen der Sirenen), Fragennach dem Vergessen im Prozess der Zivilisa-tion, nach dem Ermüden des »großen Sub-jekts«, seinem Verschwinden im stummenFelsgebirge (Prometheus), nach der Vergeb-lichkeit messender Zeichen in der Kultur(Poseidon).

Eine letzte Steigerung u. Vollendung vonK.s Schaffen bieten die späten, unvollendetenErzählungen (die Tiernovellen Forschungen ei-nes Hundes u. Der Bau) u. der – vom Autor nochauf dem Sterbebett im Druck überwachte –Sammelband Ein Hungerkünstler. Vier Ge-schichten (Bln. 1924). Hier rückt das Themader Kunst in den Mittelpunkt, u. zwar in derfür K. bedeutsamen Konstellation von tieri-schem Körper, dem gleichsam organischenSubstrat allen Lebens u. allen Schöpfertums,u. von Menschen erzeugten Zeichen, die der

Kafka241

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 18: Kafka Killy Lexikon

Kommunikation u. dem Überleben des Sub-jekts in der Kultur dienen. Auf der einen Seiteder fremde Blick des Tiers (Der Bau), der dieMenschwelt nur im Bedrohlichen ihrer un-definierbaren Geräusche gewahrt, auf deranderen der fremde Blick des Künstlers (DerHungerkünstler) in die Gesellschaft, dessenÄußerungen nicht verstanden werden.

K.s Werk zeigt eine Nähe zu expressionis-tischer Dichtung: durch das Motiv des Vater-Sohn-Konflikts, durch den suggestiven Kör-pergestus u. durch den experimentellen Ein-satz myth. Formeln (Ein Brudermord); einerschlüssigen Einordnung in zeitgenöss. Lite-raturströmungen widerstrebt es aber durchseine Eigenart.

K.s Wirkung setzte, trotz der Bemühungdes in der literar. Öffentlichkeit viel bekann-teren Freundes Brod, nur zögernd ein u.wurde später überschattet durch die Verfe-mung jüd. u. »dekadenter« Autoren durchdas NS-Regime. K.s Texte sind vor Beginn des»Dritten Reichs« zunächst von einer kleinen,eingeweihten Elite in Deutschland gelesenworden; dann in Frankreich (ab 1926), inEngland (ab 1928), in Italien u. in den USA;während des Kriegs u. danach schwoll dieRezeption lawinenhaft an. Das Werk K.swurde zur Signatur der Epoche u. vielleichtdes Jahrhunderts: »kafkaesk« als die Formelfür eine Welt, deren Zeichen Unbehaustheit,existenzialistische Verlorenheit, Bürokratieu. Folter, Entmenschlichung u. Absurdität zusein schienen. K.s Werk ist einer unüberseh-baren Fülle von Deutungen aller nur denk-baren Ausrichtungen unterworfen worden:religiösen u. philosophischen, psycholog. u.biogr., soziolog. wie marxistischen, u. zeigtsich als ein Katalysator kultureller Selbster-fahrung u. Selbststilisierung zgl., die Ten-denzen eines ganzen Zeitalters gleichnishaftzusammenfassend.

Weitere Werke: Ausgaben: Tagebücher u. Briefe.Prag 1937. – Ges. Werke. Hg. M. Brod. Ffm.1950–58. – Briefe an Milena. Hg. Willy Haas. Ffm.1952. Erw. Neuausg. hg. v. Jürgen Born u. MichaelMüller. Ffm. 1983. – Briefe an Felice u. a. Korre-spondenz aus der Verlobungszeit. Hg. Erich Helleru. J. Born. Ffm. 1967. – Briefe an Ottla u. die Fa-milie. Hg. Hartmut Binder u. Klaus Wagenbach.Ffm. 1974. – M. Brod/F. K.: Eine Freundschaft.

Briefw. Hg. Malcolm Pasley. Ffm. 1989. – KritischeAusgabe: Schr.en, Tagebücher, Briefe. Hg. J. Born,Gerhard Neumann, M. Pasley u. Jost Schillemeit.[bisher ersch., alle Ffm.]: Das Schloß. Hg. M. Pasley.1982. – Der Verschollene. Hg. J. Schillemeit. 1983.– Die Tagebücher. 1990. [erw. Komm. 2008]. – DerProceß. Hg. M. Pasley. 1990. – NachgelasseneSchr.en u. Fragmente 1 u. 2. Hg. J. Schillemeit.1992/93. – Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kitt-ler, Hans-Gerd Koch u. G. Neumann. 1994. –Amtliche Schr.en. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. BennoWagner. 2004. – Briefe 1900–1912; 1913–1914;1914–1917. Hg. v. H.-G. Koch. 3 Bde., 1999–2005.– Historisch-Kritische Ausgabe (mit Faksimiles): Hist.-krit. Ausg. sämtl. Hss., Drucke u. Typoskripte. Hg.Roland Reuß u. Peter Staengle [bisher ersch., alleBasel/Ffm.]: Einl. 1995. – Drei Briefe an MilenaJesenská vom Sommer 1920. 1995. – Der Process.1997. – Beschreibung eines Kampfes. Gegen zwölfUhr [...]. 1999. – Oxforder Quarthefte 1 & 2. 2001. –Oxforder Quartheft 17 (Die Verwandlung). 2002. –Oxforder Oktavhefte 1 & 2. 2006. – Oxforder Ok-tavhefte 3 & 4. 2008. – Reprints: Betrachtung. Ffm.1994. – Die Verwandlung. Basel/Ffm. 2002. – DerLandarzt. Basel/Ffm. 2006. – Der Prozeß. Basel/Ffm. 2008.

Literatur: Bibliografien: Rudolf Hemmerle: F. K.Bibliogr. Mchn. 1958. – Harry Järv: Die K.-Lit.Malmö/Lund 1961. – Ludwig Dietz: F. K. Die Ver-öffentlichungen zu seinen Lebzeiten (1908–24).Eine textkrit. u. komm. Bibliogr. Heidelb. 1982. –Maria Luise Caputo-Mayr: F. K. Internat. Bibliogr.der Primär- u. Sekundärlit. 2 Bde. in 3 Tln., Mchn.2001. – Biografisches: Max Brod: F. K. Eine Biogr.Prag 1937. Ffm. 31954. – Klaus Wagenbach: F. K.Eine Biogr. seiner Jugend. Bern 1958. Neuausg.Bln. 2006. – Ders.: F. K. in Selbstzeugnissen u.Bilddokumenten. Reinb. 1964. – M. Brod: Über F.K. Ffm. 1966. – Chris Bezzel: K.-Chronik. Mchn./Wien 1975. – Joachim Unseld: F. K.: Ein Schrift-stellerleben. Die Gesch. seiner Veröffentlichungen.Mchn./Wien 1982. – Roger Hermes u. a. (Hg.): F. K.Eine Chronik. Bln 1999. – Reiner Stach: K. DieJahre der Entscheidungen. Ffm. 2002. – Peter An-dré Alt: F. K. Der ewige Sohn. Eine Biogr. Mchn.2005. – H.-G. Koch: ›Als K. mir entgegenkam.‹Erinnerungen an F. K. Bln. 22005. – Oliver Jahraus:K.: Leben, Schreiben, Machtapparate. Ditzingen2006. – R. Stach: K. Die Jahre der Erkenntnis. Ffm.2008. – Bildbände: K. Wagenbach: F. K. Bilder ausseinem Leben. Bln. 32008. – Hartmut Binder: MitK. in den Süden. Eine histor. Bilderreise in dieSchweiz u. zu den oberital. Seen. Prag 2007. –Ders.: K.s Welt. Eine Lebenschronik in Bildern.Reinb. 2008. – Weitere Titel: Friedrich Beißner: Der

Kafka 242

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 19: Kafka Killy Lexikon

Erzähler F. K. Stgt. 1952. – Angel Flores u. HomerSwander (Hg.): F. K. Today. Madison 1958. – Wil-helm Emrich: F. K. Das Baugesetz seiner Dichtung.Bonn/Ffm. 1958. – Marthe Robert: K. Paris 1960. –Klaus Hermsdorf: K. Weltbild u. Roman. Bln./DDR1961. – Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu K.In: Ders.: Prismen. Kulturkritik u. Gesellsch.Mchn. 1963, S. 248–281. – Günter Anders: K. Pro u.Contra. Die Processunterlagen. Mchn. 1963. – KurtWeinberg: K.s Dichtungen. Bern/Mchn. 1963. –Walter H. Sokel: F. K. Tragik u. Ironie. Mchn./Wien1964. – Heinz Politzer: F. K., der Künstler. Ffm.1965. – Elias Canetti: Der andere Process. K.s Briefean Felice. Mchn. 1969. – Karl-Heinz Fingerhut: DieFunktion der Tierfiguren im Werke F. K.s. Bonn1969. – Peter Ulrich Beicken: F. K. Eine krit. Einf.in die Forsch. Ffm. 1974. – Christoph Stölzl: K.sböses Böhmen. Zur Sozialgesch. eines Prager Juden.Mchn. 1975. – H. Binder: K.-Komm. zu sämtl. E.en.Mchn. 1975. – Ders.: K.-Komm. zu den Romanen,Rez.en, Aphorismen u. zum ›Brief an den Vater‹.Mchn. 1976. – Ders.: K. in neuer Sicht. Mimik,Gestik u. Personengefüge als Darstellungsform desAutobiographischen. Stgt. 1976. – Gilles Deleuze u.Felix Guattari: K., für eine kleine Lit. Ffm. 1976. –A. Flores (Hg.): The K.-Debate. New Perspectives forOur Time. New York 1977. – Jürgen Born (Hg.): F.K. Kritik u. Rezeption zu seinen Lebzeiten. Ffm.1979. – H. Binder (Hg.): K.-Hdb. in 2 Bdn. Stgt.1979. – Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. K.s lite-rar. Existenzanalyse. Stgt. 1980. – Hans HelmutHiebel: Die Zeichen des Gesetzes. Mchn. 1983. –Susanne Kessler: K.: Poetik der sinnl. Welt. Stgt.1983. – G. Kurz (Hg.): Der junge K. Ffm. 1984. –Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Was bleibt v.F. K.? Positionsbestimmung. K.-Symposion Wien1983. Wien 1985. – Ulf Abraham: Der verhörteHeld. Mchn. 1985. – M. Robert: Einsam wie F. K.Ffm. 1985. – Walter Müller-Seidel: Die Deportationdes Menschen. K.s Erzählung ›In der Strafkolonie‹im europ. Kontext. Stgt. 1986. – Karl Erich Grö-zinger u. a. (Hg.): F. K. u. das Judentum. Ffm. 1987.– Ritchie Robertson: K. Judentum, Gesellsch., Lit.Stgt. 1988. – Thomas Anz: F. K. Mchn. 1989. – WolfKittler u. Gerhard Neumann (Hg.): F. K. Schrift-verkehr Freib. i. B. 1990. – Roland Reuß: Lesen, wasgestrichen wurde. Für eine hist.-krit. K.-Ausg. In:F. K. Hist.-Krit. Ausg., Einl., a. a. O., S. 9–24. –Annette Schütterle: F. K.s Oktavhefte. EinSchreibprozeß als ›System des Teilbaues‹. Freib. i.Br. 2002. – Marek Nekula: F. K.s Sprachen. ›... ineinem Stockwerk des innern babylonischen Turmes...‹. Tüb. 2003. – H. Binder: K.s ›Verwandlung‹.Basel/Ffm. 2004. – Elmar Locher u. a. (Hg.): F. K.Ein Landarzt. Interpr.en. Bozen u. a. 2004. – Man-fred Engel u. Dieter Lamping (Hg.): F. K. u. die

Weltlit. Gött. 2006. – Guido Massino: K., Löwy u.das jidd. Theater. Basel/Ffm. 2007. – Bettina v. Ja-gow u. Oliver Jahraus (Hg.): K.-Hdb. Leben, Werk,Wirkung. Gött. 2008. – R. Reuß: Die OxforderOktavhefte 3 u. 4. Zur Einf. In: F. K.-Heft 6 (2008),S. 3–27. – Bernd Auerochs u. M. Engel (Hg.): K.-Hdb. Leben, Werk, Wirkung. Stgt. 2009. – Internet:www.kafka.org. – www.textkritik.de/kafka. –www.franzkafka.de/franzkafka/home/.

Gerhard Neumann / Roland Reuß

Kagel, Mauricio (Raúl), * 24.12.1931 Bue-nos Aires, † 18.9.2008 Köln. – Komponist,Dirigent, Librettist, Hörspielautor u. Re-gisseur.

K. entstammte einer russ.-dt. Familie, dienach den Judenpogromen der 1920er Jahrevon Russland nach Argentinien ausgewan-dert war. Er wuchs als Sohn eines Buchdru-ckers im Kreis von Emigranten (Schriftstel-lern, Architekten, Fotografen) auf u. erhieltab dem siebten Lebensjahr Klavierunterricht;später lernte er auch Cello, Klarinette, Singenu. Dirigieren, erhielt jedoch nie systemat.Kompositionsunterricht. An der Universitätvon Buenos Aires studierte er Literaturwis-senschaft, Philosophie u. Ethnologie. NebenJorge Luis Borges u. Witold Gombrowicz, mitdenen er in persönl. Kontakt stand, prägtenihn die Schriften Søren Kierkegaards u. Mi-guel Unamunos. Ab 1949 war K. als Interpretu. Organisator bei der Agrupación NuevaMúsica, 1955–1957 zunächst als Korrepetitoram Teatro Colón unter E. Kleiber, dann alsDirigent an der dortigen Kammeroper tätig.1950 gehörte er zu den Gründern der Ci-nemathèque Argentine u. arbeitete von 1952bis 1956 als Film- u. Fotografiekritiker fürverschiedene Zeitschriften. 1957 kam er alsStipendiat des DAAD mit seiner Ehefrau, derBildhauerin Ursula Burghardt, nach Köln.1960–1966 nahm K. als Gastdozent an denInternationalen Ferienkursen für Neue Mu-sik in Darmstadt teil, wurde 1967 Gastdozentan der Film- u. Fernsehakademie in Berlin,leitete 1969–1975 die Kölner Kurse für NeueMusik u. war 1974–1997 Professor für»Neues Musiktheater« an der Musikhoch-schule Köln.

K.s künstlerische Tätigkeit war früh aufkombinator. Verfahren ausgerichtet; Colla-

Kagel243

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 20: Kafka Killy Lexikon

geprinzipien u. Improvisation kennzeichnenseine Werke. In Anagrama für vier Gesangs-soli, Sprechchor u. Kammerensemble (1957/58) benutzte er das Palindrom »in girumimus nocte et consumimur igni« aus DantesDivina Commedia zu Wortneubildungen invier verschiedenen Sprachen. Um 1960 be-gründete K. mit dem »kammermusikalischenTheaterstück« Sur scène (Urauff. Bremen 1962)das »Instrumentale Theater«, wobei musikal.u. szen. Verläufe, Szene, Licht u. Bühnenge-staltung in die Komposition einbezogenwurden. Nach etlichen Musiktheaterkompo-sitionen wie Match (Urauff. Bln. 1965), Pas decinq (Urauff. Mchn. 1966), Staatstheater(Urauff. Hbg. 1971), eine Persiflage des tra-ditionellen Opernbetriebs, Mare Nostrum.Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mit-telmeerraumes durch einen Stamm aus Amazonien(Urauff. Bln. 1975), Dressur (Urauff. Metz1977), Die Erschöpfung der Welt. Szenische Illusionin einem Aufzug (Urauff. Stgt. 1980), AusDeutschland. Eine Liederoper (Urauff. Bln. 1981)u. Musik, für Tasteninstrumente und Orchester(Urauff. Köln 1988) arbeitete K. auch imMedium Film u. Hörspiel. 1970 hatte er dieKölner Kurse für Neue Musik unter dasMotto »Musik als Hörspiel« gestellt, dem dieUmkehrung »Hörspiel als Musik« entspricht.

Seit (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand (1. Dosis)von 1969 (2. u. 3. Dosis 1970) realisierte K. inregelmäßiger Folge experimentelle Hörspieleim WDR Köln, wobei er auf Text u. Geräuschähnl. Verfahrensweisen anwandte wie bei derKomposition von Musik. Mit der fünfteiligenSendefolge Das Handwerkszeug – Kleines Ohr-ganon des Hörspielmachens (1978) gab er Ein-blick in seine Rundfunkarbeit. Das HörstückDer Tribun (1979), bei dem es um einen polit.Redner geht, der seinen öffentl. Auftritt si-muliert, indem er sich die Begeisterung derZuhörer u. die Klänge einer Militärkapellevom Tonband zuspielt, ist eine Studie überdie politisch-demagog. Rhetorik u. die Ver-führbarkeit der Masse, über den »Zusam-menhang zwischen Wortschatz und präziserUngenauigkeit«. Die »Radiophantasie«Rrrrrr. . ., ein Stück mit 41 musikal. Fragmen-ten, deren Überschriften allesamt mit demBuchstaben R beginnen, dient im Hörspiel übereine Radiophantasie (1982) als Hintergrund-

musik, womit jene Aufmerksamkeits-schwankungen thematisiert werden, die ge-wöhnlich beim Anhören von Musik auftre-ten. In . . . nach einer Lektüre von Orwell (1984)komponierte K. eine »germanische Meta-sprache«, deren Wortstämme zwar noch zuerkennen sind, aber in ihrer neuen Zusam-menziehung an das musikal. Variationsver-fahren u. die parodierende Verzierungstech-nik anknüpfen. In dem »epischen Hörspiel«Die Umkehrung Amerikas (1976) wird mit Hilfeder Verfremdung durch die Tonbandtechnik(Umkehrung des musikal. akust. Materials)ein Entfremdungsprozess von Ureinwohnernzu ihrer Sprache transportiert, d.h. Spracheals Mittel der Repression entlarvt. Zu denHörspielen des Spätwerks zählen PlaybackPlay. Neues von der Musikmesse. RadiophonischeKomposition (1997) u. Erratische Blöcke. Radio-stück aus akustischen Bildern (SWR/HR 2008).

K. war immer sein eigener Librettist. Erschrieb die Texte seiner Vokal- u. Bühnen-stücke selbst oder montierte sie aus vorgege-benem Material. Seit der Beethoven-Film-collage Ludwig van. Ein Bericht (WDR 1969)verwendete er in zunehmendem Maße histor.Musik- u. Textmaterial u. verarbeitete u.verfremdete dieses beziehungsvoll. Gemäßseinem »universalen Musikbegriff« (Klüp-pelholz) produzierte K. viele seiner Stückeselbst als Film, u. a. Match (WDR/WDF 1967),Kantrimiusik. Pastorale in Bildern (SWF 1976),MM 51. Ein Stück Filmmusik für Klavier (DRS1983), Mitternachtsstük (DRS 1988), Répertoire(ZDF 1990) u. Bestiarium (WDR 2000).

K. erhielt u. a. 1965 den Preis der Kous-sevitzky Music Foundation, 1970 u. 1995 denKarl-Sczuka-Preis des Südwestfunks Baden-Baden, 1980 den Hörspielpreis der Kriegs-blinden, 1983 die Mozart-Medaille der StadtFrankfurt, 1985 den Prix Italia, 1998 denErasmuspreis der Niederlande, 1999 den PrixMaurice Ravel, 2000 den Ernst von SiemensMusikpreis u. 2002 den Großen RheinischenKunstpreis. Seit 1973 war er Mitgl. der Aka-demie der Künste, Berlin, seit 1985 Com-mandeur dans L’Ordre des Arts et des Lettresde la Republique Française.

Weitere Werke: Hörspiele (Erstsendung beimWDR): Guten Morgen! Hörsp. aus Werbespots.1971. – Cäcilia: Ausgeplündert. Ein Besuch bei der

Kagel 244

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 21: Kafka Killy Lexikon

Heiligen. 1985. – Der mündl. Verrat. Ein Musik-epos über den Teufel. 1987. Fassung in nieder-rhein. Mundart. 1993. – Nah u. Fern. Radiostückfür Glocken u. Trompeten mit Hintergrund. 1994.– Schriften: Tamtam. Dialoge u. Monologe zur Mu-sik. Hg. Felix Schmidt. Mchn./Zürich 1975. – DasBuch der Hörspiele. Hg. Klaus Schöning. Ffm.1982. – Worte über Musik. Gespräche, Aufsätze,Reden, Hörspiele. Mchn. 1991. – Dialoge, Mono-loge. Hg. Werner Klüppelholz. Köln 2001.

Literatur: Dieter Schnebel: M. K. Musik Thea-ter Film. Köln 1970. – W. Klüppelholz: M. K.1970–1980. Köln 1981. – K. Schöning (Hg.): Hör-spielmacher. Autorenporträts u. Essays. Königst./Ts. 1983. – W. Klüppelholz u. Lothar Prox (Hg.): M.K. Das film. Werk I. 1965–1985. Amsterd./Köln1985. – Reinhard Döhl: Das Neue Hörspiel.Darmst. 1988, S. 77–90. – W. Klüppelholz (Hg.):K..../1991. Köln 1991 (mit Werkverz.). – M. K.Skizzen, Korrekturen, Partituren. Eine Ausstellung[...]. Konzipiert u. realisiert v. W. Klüppelholz.Köln 1991. – W. Klüppelholz: Sprache als Musik.Studien zur Vokalkomposition bei KarlheinzStockhausen, Hans G Helms, M. K., Dieter Schne-bel u. György Ligeti. 2., durchges. u. erw. Aufl.Saarbr. 1995, bes. S. 68–92. – Wieland Reich: M. K.Sankt-Bach-Passion. Kompositionstechnik u. di-dakt. Perspektiven. Saarbr. 1995. – Christiane Hil-lebrand: Film als totale Komposition. Analyse u.Vergleich der Filme M. K.s. Ffm. u. a. 1996. – Lese-Welten. M. K. u. die Lit. Eine Ausstellung desHeinrich-Heine-Instituts [...] konzipiert u. reali-siert v. W. Klüppelholz. Saarbr. 2002. – W. Klüp-pelholz: Über M. K. Saarbr. 2003. – Ders.: M. K. In:MGG. Personenteil. – Ulrich Tadday (Hg.): M. K.(Musik-Konzepte 124). Mchn. 2004. – Björn Heile:The Music of M. K. Aldershot 2006 (mit Werkverz.).– Matthias Rebstock: Komposition zwischen Musiku. Theater. Das instrumentale Theater v. M. K.zwischen 1959 u. 1965. Hofheim 2007. – W.Klüppelholz (Hg.): Vom instrumentalen zum ima-ginären Theater: Musikästhetische Wandlungenim Werk von M. K. 1. Internat. K.-Symposium ander Univ. Siegen, 28.-30.6.2007. Hofheim 2008.

Thomas Becker / Bruno Jahn

Kahane, Arthur, * 2.5.1872 Wien, † 7.10.1932 Berlin. – Lyriker, Erzähler, Über-setzer, Dramaturg, Essayist.

Der vielseitig begabte, theaterbesessene K.,Sohn eines Privatiers, verließ mit 19 Jahrendie mosaische Glaubensgemeinschaft, stu-dierte Literatur u. Philosophie, war Anar-chist, attackierte die Machthaber u. enga-

gierte sich für künstlerisch-dramaturgisch-theatral. Aufgaben auf den Spuren u. im Ge-folge Max Reinhardts. Er begleitete dessenBerliner Karriere seit 1902. Mit der Über-nahme des Deutschen Theaters durch Rein-hardt wurde K. zum verantwortl. Chefdra-maturgen dieses Hauses (1905–1923). Er wargleichzeitig Herausgeber der »Blätter desDeutschen Theaters« (zus. mit Felix Hol-laender, 1.-3. Jg., Bln. 1911–14), der Mo-natsschrift »Das junge Deutschland«, desOrgans des gleichnamigen Vereins (mit Ver-suchsbühne) zur Förderung junger Autoren(zus. mit Heinz Harald, 1.-3. Jg., Bln.1918–20), schrieb das Drehbuch zu Die Inselder Seligen (1913) u. die Texte zu EduardKünnekes Lieder des Pierrot op. 3.

Die Rezeptions- u. Wirkungsgeschichte K.sist eng mit der Berliner Theatergeschichteverknüpft. K. kommentierte die wichtigstenUraufführungen (u. a. Arthur Honeggers Jo-hanna auf dem Scheiterhaufen 1924 u. Theater-ereignisse wie den Shakespeare-Zyklus MaxReinhardts 1913/14). Er präsentierte mit demTagebuch des Dramaturgen (Bln. 1928) Blitz-lichter des Berliner Theateralltags, eine Ge-schichte der Berliner Theateroriginale in An-ekdoten sowie die Genese u. Typologie derTheaterabläufe aus der Sicht des Dramatur-genberufs. Bis heute viel beachtet ist die Ge-schichte der Theaterfamilie Thimig mit derMittelpunktsfigur Helene Thimig, der Frauvon Max Reinhardt (Die Thimigs. Theater alsSchicksal einer Familie. Bln. 1930). Die gegen-über diesen Theaterreports ambitioniert ge-meinten fiktionalen Texte zeitigten dagegenweniger Wirkung: Humorvoll-gestrig bleibtK. in dem Roman Der Schauspieler (Konstanz1924) mit gedruckter Widmung an HermannBahr, in dem die Schilderungen des Theater-betriebs mehr überzeugen als die »Abenteu-er« des Schauspielers. Ähnliche inhaltl. Be-züge zwischen typisch antibürgerl. Frei-heitssuche u. Selbsterfahrung ohne formaleBrillanz kennzeichnen die weiteren fiktiona-len Texte: Die Romane Clemens und seineMädchen (Bln. 1918) mit gedruckter Widmungan Hermann Bahr, Willkommen und Abschied(Bln. 1919) mit einem Männerschicksal, das»Frauenseele und Frauenverständnis« liebe-voll umranken. Im dritten Roman Die Tarn-

Kahane245

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 22: Kafka Killy Lexikon

kappe (Bln. 1920) benutzt K. ein Theaterre-quisit als Leitmotiv.

Weitere Werke: Lieder. Bln. 1910. – A. K. (Hg.):Novellen aus der Bibel. Mit 13 Lithographien v.Erich Büttner. Bln. 1917. – Die fromme Helene(zus. mit Friedrich Hollaender). Urauff. Bln. 1923(Operette). – Theater. Aus dem Tagebuche einesTheatermannes. Bln. 1930 (Ess.). – Die Jahre1905–24. In: Max Reinhardt. 25 Jahre Dt. Theater.Ein Tafelwerk. Hg. Hans Rothe. Mchn. 1930,S. 15–58. – Das Judenbuch. Bln. 1931 (Ess.). – 11Handschriftendatensätze im Deutschen Literatur-archiv Marbach. Briefe an Rudolf AlexanderSchröder, Samuel Fischer, Harry Graf Kessler, GreteWiesenthal, Armin Wegner u. a.

Literatur: Lex. dt.-jüd. Autoren. Rudolf Denk

Kahlau, Heinz, * 6.2.1931 Drewitz/Pots-dam. – Lyriker, Drehbuchautor, Verfasservon Büchern u. Stücken für Kinder,Übersetzer.

Nach Gelegenheitsarbeiten, Tätigkeiten alsTraktorist u. FDJ-Funktionär (ab 1948) war K.1953–1956 »Meisterschüler« Brechts an derAkademie der Künste in Berlin. Seit 1956 alsfreischaffender Autor u. Übersetzer tätig, ar-beitete er zudem notgedrungen für den DDR-Staat, bis 1963 als Inoffizieller Mitarbeiterdes Staatssicherheitsdienstes. K., der sich fürdie PDS, dann für Die Linke engagierte, lebtebis 2006 in Berlin u. zog dann auf die InselUsedom. Zu seinen Auszeichnungen zählender Heinrich-Heine-Preis, die Erich-Weinert-Medaille (beide 1963), der Lessingpreis 1972u. der Johannes-R.-Becher-Preis 1981.

K., der als seine Vorbilder Ringelnatz, Vil-lon, Heine, Bellman, Sandburg, aber auch den»Volksmund« nennt, schreibt »volkstümli-che Lyrik sozialistischer Prägung« (MathildeDau). 1956, auf dem II. Kongress jungerKünstler in Chemnitz, verwahrte er sich öf-fentlich im Namen der um 1930 Geborenengegen Gängelung.

Nach Gedichten, die den Ton der BuckowerElegien Brechts aufnahmen, fand K. seineneigenen »anscheinend einfachen« (K. im Ge-spräch mit M. Dau) Ton, seine Haltung, die»am Detail des Alltags die Richtigkeit ge-sellschaftlicher Prozesse erkunden und her-zeigen« will. K. arbeitet didaktisch; seineGelegenheits- u. Gebrauchslyrik (Der Fluß der

Dinge. Bln./Weimar 1964. Flugbrett für Engel.Ebd. 1974. Fundsachen. Ebd. 1984), seine Lie-besgedichte (Du. Ebd. 1971), Balladen (ebd.1971, erw. u. d. T. Der besoffene Fluß. Ebd.1991) u. Kinderbuchverse sind stärker vonErkenntnissen als von Empfindungen ge-prägt. Er bevorzugt die »Sicht von unten«,den lakon., spruchhaften Sprachgestus, dernicht unkritisch seine Zeit überprüft (Quer-holz. Bln. 1989). K. ist neben Eva Strittmatterder meistgelesene Lyriker der ehem. DDR,dessen Schaffen nach 1989 neben wenigenEinzelpublikationen v. a. retrospektive Wür-digung erhält (Eines beliebigen Tages. Ebd.1989. So oder so. Ebd. 1992. Sämtliche Gedichteund andere Werke. Ebd. 2005). Von bleibenderBedeutung sind K.s Nachdichtungen u.Übersetzungen aus dem Amerikanischen,Chinesischen, Französischen, Jiddischen,Lettischen, Russischen, Spanischen u. Unga-rischen.

Weitere Werke: Maisfibel. Bln./DDR 1960(Chronik). – Lyrik: Hoffnung lebt in den Zweigendes Caiba. Bln./DDR 1954. – Probe. Ebd. 1956. –Mikroskop u. Leier. Mchn./Esslingen 1964. – Bö-gen. Ausgew. Gedichte 1950–80. Bln./DDR 1980. –Lob des Sisyphus. Lpz. 1982. – Daß es dich gibtmacht mich heiter. Düsseld. 1982. – Kaspers Waa-ge. Bln. 1992. – Zweisam. Bln. 1999. – Kinderbücher:Schaumköpfe. Bln./DDR 1972. – Der Ritterspornblüht blau. Ebd. 1972. – Wenn Karolin Geburtstaghat. Ebd. 1974. – Konrads Traktor. Lpz. 1974. – DasEiszapfenherz. Bln./DDR 1975. – Der Früchte-mann. Bln./DDR 1976. – Besuch bei Jancu. Ebd.1983. – Hurra! Hurra! Hurra! Die Feuerwehr ist da!Halle 1988. Neuausg. Weinheim u. a. 2008. –Spieglein, Spieglein in der Hand ... Ein Mini-Be-nimmbuch für Pioniere. Bln./DDR 1988. – DieHäsin Paula. Bln./DDR 1989. – Fernseh- und Hör-spiele, Theater und Filme: Poet der Brotlosen. Defa1953. – Steinzeitballade. Defa 1961. – Und das amSonntag. Defa 1962. – Auf der Sonnenseite (zus. mitGisela Steineckert). Defa 1962. – Verliebt u. vorbe-straft (zus. mit Erwin Stranka). Defa 1963. – DerMusterschüler. Urauff. Bln./DDR 1969. – Dienackte Wahrheit. Defa 1970. – Die kluge Susanne.Urauff. Bln./DDR 1973. – Das Durchgangszimmer.Urauff. Halle 1973 (Musical). – Galoschenoper.Urauff. Bln./DDR 1978.

Literatur: Mathilde Dau: Interview mit H. K.In: WB 18 (1972), H. 5, S. 61–70. – M. u. RudolfDau: Wege zum Publikum. Zur Lyrik H. K.s. In:ebd., S. 71–91. – Jurek Becker: Nichtigkeiten. In:

Kahlau 246

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 23: Kafka Killy Lexikon

Liebes- u. andere Erklärungen. Hg. Annie Voigt-länder. Bln./Weimar 1972, S. 161–166. – GüntherDeicke: Laudatio. Johannes-R.-Becher-Preis 1981für H. K. In: NDL 29 (1981), H. 8, S. 165–170. –Hannes Schwenger: H. K. In: KLG.

Konrad Franke / Günter Baumann

Kahlenberg, Hans von, auch: Eva H. vonMontbart, eigentl.: Helene Keßler, * 23.2.1870 Heiligenstadt/Thüringen, † 8.8.1957 Baden-Baden. – Prosaautorin.

K., Tochter des preuß. Offiziers Erich vonMontbart, erhielt im Stift Koppel/Westfaleneine Mittelschulausbildung. 1888 absolviertesie das Lehrerinnenexamen. 1908 heiratetesie den Forstmeister Wilhelm Keßler.

K. thematisierte in ihren zahlreichen Ro-manen eine in allen Gesellschaftsschichtenanzutreffende egoistisch-materialistische Le-bensauffassung, die bedingt ist durch einenerbitterten Kampf ums Dasein. In ihren frü-hen Romanen schilderte sie das Elend imArbeitermilieu (Ein Narr. Dresden/Lpz. 1895.Die Junge. Dresden 1896). K. richtete ihreAufmerksamkeit auch auf die sich wandelndeBeziehung zwischen Mann u. Frau u. kriti-sierte die bürgerl. Sexualmoral. Dabei nähertsie sich der Darstellungsweise pikanter Lite-ratur, z.B. in der Novelle Das Nixchen. EinBeitrag zur Psychologie der höheren Töchter(Dresden 1899. 61905), die 1903 in Berlinkonfisziert wurde.

Weitere Werke: Die Familie v. Barchwitz. Bln.1899 (R.). – Die Sombritzkys. Bln. 1899 (R.). – EvaSehring. Gesch. einer Jugend. Bln. 1901. – Der Alte.Bln. 1901 (R.). – Ulrike Dhuym. Eine schöne Seele.Bln. 1902 (R.). – Die starke Frau v. Gernheim. Lpz.1904. – Der Weg des Lebens. Bln. 1905 (Kultur-R.).– Der König. Bln. 1906 (R.). – Ediths Karriere. Bln.1907 (R.). – Der liebe Gott. Eine Kindheitsgesch.Bln. 1908. – Der enigmat. Mann. Bln. 1909. –Ahasvera. Bln. 1910 (R.). – Der Kaiser. Bln. 1911(Trag.). – Verliebte Gesch.n. Bln. 1912. – Sünde.Bln. 1912 (R.). – Die süßen Frauen v. Illenau. Bln.1914 (R.). – Mutter! Zürich 1917. – Lisa Gorst. Bln.1921 (R.). – Des Teufels Schachspiel. Bln. 1923 (R.).– Die andere Welt. Bln. 1928 (R.). – Die WitweScarron. Bln. 1934.

Literatur: Gaby Pailer: ›Nixchen‹ u. ›Halbtier‹.Die Entmythisierung der Wasserfrau bei H. v. K.(= Helene v. Montbart) u. Helene Böhlau. In: Mari-

anne Henn u. Britta Hufeisen (Hg.): Frauen – Mit-Sprechen, MitSchreiben. Stgt. 1997, S. 256–273.

Gisela Brinker-Gabler / Red.

Kahlert, (Karl) August (Timotheus), * 5.3.1807 Breslau, † 29.3.1864 Breslau. – Mu-sik- u. Literaturkritiker, Ästhetiker, Er-zähler, Lyriker.

Nach Studienanfang in Breslau bezog K.,Sohn eines Privatlehrers u. späteren -gelehr-ten, 1827 die Berliner Universität, wo er dieVorlesungen Hegels, Gans’ u. Savignys be-suchte. Zurückgekehrt nach Breslau, trat er1829 eine juristische Laufbahn an, die er je-doch schon 1833 aus Gesundheitsgründenaufgeben musste. Danach widmete er sichausschließlich seinen literar. wie krit. Nei-gungen. 1835 publizierte K. die von denZeitgenossen viel beachtete Arbeit überSchlesiens Antheil an deutscher Poesie (Breslau).Nach der Promotion 1836 u. der anschlie-ßenden Habilitation wurde er a. o. Professoru. hielt bis 1846 philosophische u. literatur-geschichtl. Vorlesungen. Ein Rückenmarks-leiden zwang ihn zum vorzeitigen Rückzug.Zusammengefasst hat K. seine ästhetischensowie musik- u. literaturkrit. Ansichten inseinem weitgehend von Hegel geprägtenSystem der Aesthetik (Lpz. 1846). Neben einerVielzahl musik- u. literaturgeschichtl. Arbei-ten, insbes. wieder über schles. Dichter des17. u. 18. Jh., so die Monografie Angelus Sile-sius (Breslau 1853), schrieb K. eine Reihe vonepigonalen literar. Werken (Erzählungen,Novellen, Lyrik).

Weitere Werke: Ewald u. Bertha. Idyll. Epos insechs Gesängen. Lpz. 1829. – Bl. aus der Brieftascheeines Musikers. Breslau 1832. – Novellen. Ebd.1832. – Romanzen. Ebd. 1834. – De homoeoteleutinatura et indole. Diss. Ebd. 1836. – Breslau vorhundert Jahren. Auszüge aus einer handschriftl.Chronik. Ebd. 1840.

Literatur: Karl Gabriel Nowack: Schles.Schriftstellerlexikon. H. 1, Breslau 1836. – Her-mann Palm: K. A. T. K. In: ADB. – Maria KatarzynaLasatowicz (Hg.): Literaturgeschichtl. Schlüssel-texte zur Formung schles. Identität. KommentierteStudienausg. Bln. 2005 (darin: ›Schlesiens Antheilan dt. Poesie‹). Werner Jung / Red.

Kahlert247

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 24: Kafka Killy Lexikon

Kain, Franz, * 10.1.1922 Bad Goisern/Oberösterreich; † 27.10.1997 Linz. – Ro-mancier, Erzähler, Essayist, Journalist,Politiker.

K., Sohn eines Bauarbeiters u. einer Köchin,war nach dem Besuch der Volks- u. derHauptschule in Bad Goisern Waldarbeiter.1941 wurde er wegen illegaler antifaschisti-scher Betätigung verhaftet u. zu drei JahrenZuchthaus verurteilt, 1942 in die Strafbriga-de 999 versetzt. Nach amerikan. Kriegsge-fangenschaft (1943–1946) trat er in die Kul-turredaktion der »Neuen Zeit« in Linz ein,wo er mit Arnolt Bronnen zusammenarbei-tete. 1953–1956 lebte er in Berlin.

Nach Anfängen als Lyriker (u. a. vier So-nettenkränze) wandte sich K. der erzählendenProsa u. Essayistik zu. Hauptthema seinerWerke ist die österr. Provinz mit ihren »art-eigenen Tücken« als Nähr- u. Resonanzbodengrößerer sozialer u. polit. Zusammenhänge.In einer rauhen, aber nicht aggressiven Spra-che erzählt K. als »zornig Liebender« aus ei-ner Perspektive, die sich dem »volkstümli-chen Realismus« im Sinne Brechts verpflich-tet weiß. K.s Stärke liegt in der Gestaltungder Schicksale der »kleinen Leute«. Einge-woben in diese Zusammenhänge sind häufigauch Naturbeschreibungen von spröderSchönheit, fernab vermarktbarer Idyllisie-rung. K.s Werk hat in Österreich lange Zeitnicht die ihm gebührende Beachtung u.Würdigung gefunden. Diese Situation hatsich erst mit der Herausgabe seiner Bücherdurch den Verlag Bibliothek der Provinz ge-ändert.

K. erhielt 1989 den Literaturpreis des Lan-des Oberösterreich.

Weitere Werke: Romeo u. Julia an der BernauerStraße. Bln./DDR 1955 (N.). – Der Föhn bricht ein.Ebd. 1962. (R.). Neuaufl. Weitra 1995 (mit einemNachw. v. Friedbert Aspetsberger). – Das Ende derEwigen Ruh. Bln./DDR 1959. (R.). Neuaufl. Wienu. a. 1996. – Am Taubenmarkt. Damasus. Weitra/Linz 1991. Neuauf. u. d. T. Auf dem Taubenmarkt.Damasus. Weitra 2003 (R.). – In Grodek kam derAbendstern. Weitra/Linz 1993. – Erzählsammlungen:Die Lawine. Bln./DDR 1959. Neuaufl. Weitra 1994.– Die Donau fließt vorbei. Wilhelmshaven 1969.Neuaufl. Weitra 1993. – Der Weg zum Ödensee.Bln./Weimar 1973. Neuaufl. Weitra 1996 (mit ei-

nem Vorw. v. Klaus Amann). – Das Schützenmahl.Bln./Weimar 1986. – Der Schnee war warm u. sanft.Weitra/Linz 1989. – Im Brennnesseldickicht. Ebd.1989.

Literatur: Judith Gruber: F. K. Eine Monogr.Diss. Wien 1985. – Erik Adam: Gesch. mit Hilfe v.Gesch.n beleuchten. Zu Leben u. Werk desSchriftstellers F. K. In: ÖGL 32 (1988), H. 3/4,S. 162–173. – Porträt F. K. (Die Rampe. H.e für Lit.Sonderh.). Linz 1994. Erik Adam

Kaiser, Friedrich (Anton), * 3.4.1814 Bi-berach/Württemberg, † 6.11.1874 Wien. –Bühnenautor.

K., Sohn eines k. k. Leutnants, kam als Kindnach Wien. Nach philosophsichen Studien ander dortigen Univ. war er bis 1838 Praktikantbeim Hofkriegsrat. K.s lebenslange Bezie-hungen zum Wiener Theater begannen alsSchauspieler u. Rezensent. Von Karl Carl zu-erst 1840 als Theaterdichter engagiert,schrieb er nachweislich 162 Stücke, von de-nen zumindest 150 in Wien aufgeführt wur-den u. 78 im Druck erschienen (37 in derReihe »Wiener Theater-Repertoir«); 31 sindverschollen oder nur fragmentarisch erhal-ten. Er stand sprachlich unter dem EinflussNestroys, mit dem er den Spielplan der Vor-stadttheater in den 1840er u. 1850er Jahrenbeherrschte. Bedeutung kommt ihm als Er-finder des »Lebens- oder Charakterbilds« zu,das mit der eher satirisch-witzigen Posse derZeit rivalisieren sollte, indem es »Scherz« mit»Ernst« verband. Von konservativen Thea-terkritikern, die schon lange ein sentimen-tales, tendenzvoll-idealisierendes »wahresVolksstück« verlangten, wurde es gegenNestroy ausgespielt. Dieser verspottete daserste Beispiel der neuen Gattung, Wer wirdAmtmann? (Urauff. 1840. Wien 1842), im Ta-lisman als »traurige Posse«.

Konsequent freiheitlicher Gesinnung – erredigierte 1846/47 die illustrierte satir. Vor-märzzeitschrift »Der Kobold« (Nachdr. Hil-desh. 1995) –, war K. 1848 aktiver Revolu-tionär. Er war es, der am 15. März mit demkaiserl. Manifest, das die neue Konstitutionverkündete, durch die Straßen Wiens ritt, u.noch im Okt. nahm er im Akademikerkorpsan den Straßenkämpfen teil. K.s drei Erin-

Kain 248

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 25: Kafka Killy Lexikon

nerungsbände (Theater-Director Carl. Wien1854. Friedrich Beckmann. Wien 1866. Unterfünfzehn Theater-Direktoren. Wien 1870) sindwertvoll für die Geschichte des WienerTheaters. Sein Schaffen schlägt die Brückezwischen der Lokalposse der 1840er Jahre u.dem neuen Volksstück der 1870er Jahre; An-zengruber berief sich ausdrücklich auf ihn.

Weitere Werke: Theaterstücke: Geld! Urauff.1841. Wien 1842. – Stadt u. Land. Urauff. 1844.Wien 1845. – Der Krämer u. sein Commis. Urauff.1844. Wien 1845. – Sie ist verheirathet. Urauff.1845. Wien 1846. – Der Rastelbinder. Urauff. 1843.Wien 1850. – Die Schule des Armen. Urauff. 1847.Wien 1850. – Eine Posse als Medizin. Urauff. 1849.Wien 1850. – Junker u. Knecht. Wien 1850. – DerSchneider als Naturdichter. Urauff. 1843. Wien1851. – Verrechnet! Wien 1851. – Dienstbothen-wirtschaft. Urauff. 1840. Wien 1852. – Doktor u.Friseur. Urauff. 1845. Wien 1853. – Der letzteHanswurst. Wien 1853. – Palais u. Irrenhaus. Wien1854. – Unrecht Gut! Wien 1855. – Die Frau Wir-thin. Wien 1856. – Eine neue Welt. Wien 1860. –Neu-Jerusalem. Wien 1869. – Erinnerungen: 1848.Ein Wiener Volksdichter erlebt die Revolution. Hg.Franz Hadamowsky. Wien 1948. – Briefe: Briefe vonu. an F. K. Hg. Jeanne Benay. Bern 1989.

Literatur: Walter Pöll: Der Wiener Theater-dichter F. K. Diss. Wien. 1947. – Erich JoachimMay: Wiener Volkskom. u. Vormärz. Bln. 1975,S. 192–213, 265–292. – W. E. Yates: An Object ofNestroy’s Satire: F. K. and the ›Lebensbild‹. In:Renaissance and Modern Studies 22 (1978),S. 45–62. – Jeanne Benay: Das Wiener Volkstheaterals Intention u. Strategiedramaturgie. Ein Beispiel:F. K. u. seine frz. Vorlagen. In: Das österr. Volks-theater im europ. Zusammenhang 1830–1880. Hg.Jean-Marie Valentin. Bern 1988, S. 107–132. –Hugo Aust u. a.: Volksstück. Mchn. 1989,S. 182–188. – J. Benay: F. K.: Gesamtprimärbiliogr.seiner dramat. Produktion zwischen 1835–1874(Nachl. 1875). Bern 1991. – Dies.: F. K. (1814–1874)et le théâtre populaire en Autriche au XIXe siècle. 2Bde., Bern 1993. – J. Benay: Vom Domestiken zuden kleinen Leuten. Dienerrollen im ›Lebens- u.Charakterbild‹ F. K.s. In: Nestroyana 14 (1994),H.3/4, S. 67–80. – Volker Röhr: Der Magdalena-Typus im Wiener Volksstück K.scher Prägung. Diss.Univ. Mchn. 1994. – J. Benay: VolksästhetischerHistorismus in der Spätdramatik F. K.s. In: Nes-troyana 16 (1996), H.1/2, S. 52–65. – RichardReutner: Dialekt u. Sprachspiel bei Nestroys Vor-gängern u. Zeitgenossen: am Beispiel von FranzXaver Gewey (1764–1819) u. F. K. (1814–1874). In:

Dt. Sprache in Raum u. Zeit. FS Peter Wiesinger.Hg. Peter Ernst. Wien 1998, S. 105–124. – Ders.:Ein kleines Dialektwörterbuch: zusammengestelltaus Belegen in den gedruckten Volksstücken F. K.s.In: Beharrsamkeit u. Wandel. FS Herbert Tatzreit-er. Hg. Werner Bauer u. Hermann Scheuringer.Wien 1998, S. 179–204. – Goedeke Forts.

W. Edgar Yates

Kaiser, Georg, * 25.11.1878 Magdeburg,† 4.6.1945 Monte Verità, Ascona/Schweiz;Grabstätte: Friedhof Morcote, LuganerSee/Schweiz. – Dramatiker, Romancier,Lyriker, Essayist.

In einem bürgerl. Elternhaus – der VaterFriedrich (* 1829) war angesehener Kauf-mann, »ein ernster ruhiger gütiger Mann«,die um sechzehn Jahre jüngere Mutter Anto-nie »ein Mensch, der nur in Extremen da war,entweder in Tränen schwamm oder glückse-lig war« – wuchs K. als fünfter Sohn inMagdeburg auf, »ein nervöses Kind, das un-ter Zuckungen und Unruhe litt«. Mit dermittleren Reife verließ er die Klosterschule»Unserer Lieben Frauen« u. wurde Lehrlingin einer Buchhandlung. Nach nur wenigenWochen trat er in ein Geschäft für Export/Import ein, brach dort die Lehre wiederum abu. fuhr 1899 nach Buenos Aires, wo er eineStelle als Kontorist bei der AEG fand.

Im Herbst 1901 zwang ihn sein Gesund-heitszustand aus Argentinien zurückzukeh-ren. K. wurde in eine Nervenklinik einge-wiesen u. verbrachte 1902 vier Monate imSanatorium Haus Schönow in Berlin. In denJahren danach war er abwechselnd Gast beiden Brüdern. Die Abhängigkeit von Eltern u.Brüdern stellte sein Selbstbewusstsein immerwieder in Frage. Bis auf Gelegenheitsdich-tungen, die im engsten Familienkreis zu bes.Anlässen dargeboten wurden, sah K. sich vonkeinem Publikum gewürdigt.

1905 lernte er Margarethe Habenicht ken-nen, eine Magdeburgerin aus wohlhabendemElternhaus. Die Briefe an sie 1906–1908drücken K.s Hoffnungslosigkeit der Zukunftgegenüber aus: Er war überzeugt von seineraußerordentl. Begabung u. suchte nach einerExistenzgrundlage. Als er im Okt. 1908Margarethe heiratete, ermöglichte die an-sehnl. Mitgift K. nicht nur ein Haus in See-

Kaiser249

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 26: Kafka Killy Lexikon

heim/Bergstraße zu kaufen, sondern es auchluxuriös auszustatten mit einer Einrichtungaus den ersten Kaufhäusern Berlins. DieMitgift war bei dieser anspruchsvollen Da-seinsführung bald verbraucht, u. als 1912 diegemietete Villa in Weimar hinzukam, war derfinanzielle Zusammenbruch vorprogram-miert. 1918 hatten die Schulden derartüberhand genommen, dass das gesamte Ei-gentum in Seeheim u. Weimar konfisziertwerden musste.

Es dauerte lange, ehe ein Werk von K. ver-öffentlicht wurde. 1903–1906 waren neunDramen entstanden, aber erst 1911 erschienein erstes bei Fischer in Berlin. Danach ent-standen in kurzer Reihenfolge König Hahnrei(1913), Der Kongress (1914) u. Die Bürger vonCalais (1914), Großbürger Möller (1915) u. Eu-ropa (1915).

Seit 1916 stand K. mit Gustav Landauer ineinem Briefwechsel; ihm ist zu verdanken,dass Die Bürger von Calais im Jan. 1917 imNeuen Theater Frankfurt/M. zur Urauffüh-rung kamen. Auguste Rodins Denkmal zurErinnerung an die Belagerung von Calaiswährend des Hundertjährigen Kriegs(1339–1453) diente K. zur Anregung: Wennnicht sechs Bürger »barhäuptig und unbe-schuht – mit dem Kittel des armen Sündersbekleidet und den Strick im Nacken!« denSchlüssel der Stadt Calais überreichen, drohtder König von England Hafen u. Stadt zuzerstören. Der Hauptmann Duguesclins willdie Stadt verteidigen, also kämpfen; seinGegenspieler Eustache de Saint-Pierre jedochHafen u. Stadt vor der Zerstörung bewahren,indem er sich als Opfer zur Verfügung stelltu. weitere sechs Bürger seinem Beispiel fol-gen. Die Selbstaufgabe des Einzelnen zumWohl der Gemeinschaft weist den Weg zumneuen Menschen: Es ist der Aufbruch zu ei-nem pazifistischen u. humanistischen Zeit-alter, eines der wichtigsten Themen des Ex-pressionismus.

Obwohl Die Bürger von Calais nicht durch-gehend gelobt wurden, erzielte K. mit diesemmodernen Drama den langersehnten Durch-bruch. Im selben Jahr spielte man seineWerke auf den großen Bühnen Deutschlands:Die Sorina (Bln. 1917) im Berliner LessingTheater, Von morgens bis mitternachts (Potsdam

1916) u. Die Koralle (Bln. 1917) in denMünchner Kammerspielen, Die Versuchung(Bln. 1917) im Thalia-Theater Hamburg, DerZentaur (Bln. 1916) im Frankfurter Schau-spielhaus.

1918 sind acht weitere Uraufführungen zuverzeichnen, darunter die des wohl bedeu-tendsten Dramas Gas (Bln. 1918). In dem fürden Expressionismus typischen Telegramm-stil (obwohl hier moderat) setzt es sich mitden Problemen der modernen Industriege-sellschaft auseinander. Die Figuren (DerMilliardärssohn, der Ingenieur, der Offizier,die schwarzen Herren, Arbeiter) sind Ideen-träger, die dialektische Gegenüberstellungdieser Ideen eine K. eigene Form der Dra-menkonstruktion. »Was ist Gas? Was sindhier Arbeiter? Mittel der Gegenwart, um insMenschunendliche vorzudringen; aus diesenFiguren abzuleiten das Gleichnis, das be-ständig gültig ist; den Aufruf zu uns, der soam schärfsten laut werden kann« (in: EinDichtwerk in der Zeit. In: Werke, Bd. 4, S. 566).

Im Juli 1919 verließ K. den S. Fischer Ver-lag u. wechselte zum Gustav KiepenheuerVerlag (GKV), der sämtl. Verlagsrechte anseinem Werk übernahm. Er hatte Kiepen-heuer 1915 in Weimar kennen gelernt, u. esverband sie bald eine tiefe Freundschaft.Kiepenheuer stand K. zur Seite, als das Chaosüber ihn hereinbrach. Trotz hoher Einnah-men aus seinen Werken waren die Schuldennicht zu decken. 1920 wurde er in Berlinverhaftet u. wegen Unterschlagung u. Betrugin München vor Gericht gestellt. Der Prozesswar eine Sensation in Deutschland, denn. K.war in kaum zwei Jahren berühmt u. zu ei-nem der meistgespielten Dramatiker gewor-den.

Am 15.2.1921 wurde er zu einem Jahr Ge-fängnis verurteilt, jedoch am 16.4.1921 ausder Strafanstalt Stadelheim entlassen. DerGKV übernahm die Bürgschaft für alleSchulden. K. ließ sich mit der Familie inGrünheide/Mark in der Nähe Berlins nieder,da der GKV inzwischen nach Potsdam um-gesiedelt war, ab 1928 dann in Berlin.

In Grünheide begann K.s produktivsteSchaffensperiode u. damit auch seine glück-lichste Zeit. Seine Berlinaufenthalte dientendazu, wichtige Kontakte zu knüpfen u. auf-

Kaiser 250

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 27: Kafka Killy Lexikon

rechtzuerhalten. Er verkehrte mit Weill u.Lenya, mit Brecht u. Fritz Stiedry. K. gehörtezur kulturellen Szene – nicht nur Berlins,sondern ganz Deutschlands. Er galt als der»geistigste« unter den Geistigen u. war einerder wichtigsten Repräsentanten nicht nur desExpressionismus sondern auch der NeuenSachlichkeit. Ende der zwanziger Jahrebahnte sich ein weiterer Zusammenbruch an.Das gemietete Grundstück Waldeck 4 mit denzwei Villen direkt am Peetzsee wurde 1927käuflich erworben. Der GKV war kaum in derLage, den Lebensstil seines Starautors zu fi-nanzieren: Auto mit Chauffeur, Hauslehrerfür die Kinder, diverse Dienstboten. Mehr alseinmal drohte dem gesamten Eigentum dieZwangsversteigerung, bis es 1932 endgültigverloren ging. Die Familie zog nach Karls-horst, dann zurück nach Grünheide.

Nach der Machtübernahme durch die Na-tionalsozialisten wurden mehr als 75 Prozentder Kiepenheuer Verlagsproduktion verbo-ten, u. a. die Werke K.s. Völlig mittelloskonnte er nun keine der aufgelaufenenSchulden decken. Die Situation war derma-ßen hoffnungslos, dass er den Entschlussfasste, in die Schweiz zu gehen, wo er mitVerdienstmöglichkeiten rechnete. Seine FrauMargarethe blieb zurück, ebenso die drei er-wachsenen Kinder. Offiziell folgte er sowohleiner Einladung des Schweizer DramatikersCäsar von Arx als auch einer weiteren vonRichard Revy, dessen wohlhabende Schwie-germutter Alma Staub-Terlinden ein Anwe-sen in Männedorf am Zürichsee besaß.

Niemand durfte wissen, dass K. nicht alleinin die Schweiz gekommen war, sondern inBegleitung seiner heiml. Familie: Maria vonMühlfeld, aus einer großbürgerl. jüd. Berli-ner Familie stammend u. seit 1920 bereitsseine Geliebte, u. die 1927 geborene TochterOlivia. Vor allen versteckt u. doch immer inseiner Nähe teilten sie die sieben Jahre Exilmit ihm, zu dem der Schweizer Aufenthaltschließlich geworden war. In dieser Zeit warK. ungeheuer produktiv, aber die Werkewurden so wenig gespielt oder gedruckt, dasser auf den Beistand u. die finanzielle Unter-stützung v. a. von Frau Staub angewiesenwar, die er in dem Glauben ließ, weltweitüber ungeheure Reichtümer zu verfügen. Sie

wiederum sonnte sich in dem Glanz ihresberühmten Gastes, von dem sie erwartete,dass er jeden Sommer mehrere Wochen inMännedorf verbrachte.

K. starb im Alter von 67 Jahren an einerThrombose, kaum einen Monat nach Kriegs-ende. Seine Familie in Deutschland hatte ernie wieder gesehen.

Weitere Werke: G. K. Werke. Hg. Walter Hu-der. Bln. 1970–72. – G. K. in Sachen G. K. – Briefe1916–33. Hg. Gesa M. Valk. Lpz./Weimar 1989.

Literatur: Interpr.en zu G. K. Hg. Armin Ar-nold. Stgt 1980. – G. K. Symposium. Hg. HolgerPausch u. Ernest Reinhold. Bln./Darmst. 1980. –The Reception of G. K. (1915–45). New York/Ffm.1984. – Ärztl. Gutachten, verfasst. v. Dr. EugenKahn, Teil der Prozessakte, Fotokopie im G. K.Archiv der Akademie der Künste, Berlin. – CarolAnne Diethe: Aspects to distorted sexual attitudesin German expressionist drama. With particularreference to Wedekind, Kokoschka and K. NewYork u. a. 1988. – Hans-Jörg Knobloch: Zur Datie-rung der Komödien G. K.s. In: ZfdPh 109 (1990),S. 217–238. – Audrone B. Willeke: G. K. and thecritics. A profile of expressionism’s leading play-wright. Columbia, SC 1995. – Stephanie Pietsch:›Noli me tangere‹. Liebe als Notwendigkeit u. Un-möglichkeit im Werk G. K.s. Bielef. 2001. – MarcusSander: Strukturwandel in den Dramen G. K.s1910–1945. Ffm. u. a. 2004. – Frank Krause (Hg.):G. K. and modernity. Gött. 2005. Gesa M. Valk

Kaiser, Ingeborg, * 7.8.1935 Neuburg/Do-nau. – Erzählerin, Lyrikerin, Hörspiel-autorin.

K. war nach dem Abitur in Buchhandel u.Behörde tätig. Nach ihrer Heirat ging sie1960 nach Basel. K. war 1984/85 Hausautorinam Stadttheater Chur. Sie schloss sich derGruppe Olten u. dem Netzwerk an.

K. hinterfragt Rollenklischees in der mo-dernen Gesellschaft, die Situation von Frauenin Ehe, Familie u. Öffentlichkeit. Im Mittel-punkt ihres literar. Schaffens steht die Suchenach authent. weibl. Identität. K.s Frauenfi-guren verlieren sich in bürgerl. Überanpas-sung, vorgefertigten Rollen u. Beziehungs-mustern; sie finden zu sich selbst, nachdemsie die vom Mann geformten »Steinbilder«zertrümmert haben. Selbstverlust u. existen-zielle Einsamkeit werden in K.s Werk häufig

Kaiser251

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 28: Kafka Killy Lexikon

über Kälte-, Eis- u. Steinmetaphern trans-portiert; ihre Frauenfiguren »erfrieren inEinsamkeit«. Im Roman Die Puppenfrau (Zü-rich 1982) trennt sich Pupa – sie ist 40, ver-heiratet mit einem erfolgreichen Physiker u.Mutter dreier Kinder – auf dem Weg zumWinterurlaub von der Familie, zieht sich inein unbewohntes Haus zurück, wo sie sichmit ihrem erstickenden Eheschicksal ausein-andersetzt u. den Ausbruch aus dem »Eis-land« reflektiert. Dem Schicksal selbstloserFrauen, die als Anima u. inspirierende Musenzur »Schattenfigur am Wegrand der Genies«verkümmern, spürt sie in der Titelerzählungder Sammlung Ein Denkmal wird zertrümmert(Basel 1984) nach. Der Problematik weibl.Sensibilität u. weibl. Aktivismus stellt sich K.auch in ihren weiteren Werken – allen voranin Róza und die Wölfe. Biografische Recherchen zuRosa Luxemburg (Basel 2002).

K. erhielt u. a. 1983 den Deutschen Kurz-geschichtenpreis der Stadt Arnsberg, 1984den 1. Preis der Gesellschaft Schweizer Dra-matiker u. den Förderpreis des Bundesamtesfür Kulturpflege Bern u. 2005 den Anerken-nungspreis des Berner Lyrikwettbewerbs..

Weitere Werke: Staubsaugergesch.n. Zürich1975. – Die Ermittlung über Bork. Aarau 1978 (P.).– Verlustanzeigen. Aarau 1982 (P.). – manchmalfahren züge. Gedichte. Zürich 1983 (L.). – Eulen-weg. Notizen einer Hausautorin. Chur 1986. –Möblierte Zeit. Tgb. u. Erzählungen. Basel 1992. –heimliches laster. Episches Gedicht u. Lyrik. Bern1992. – Regenbogenwahn. Novelle. Bern 1995. –Mord der Angst. Roman. Bern 1996. – Den Flussüberfliegen. Erzählung. Bern 1998. – zeittasten.Gedichte. Zelg-Wolfhalden. 2002. – galgenmut.Gedichte. Zürich 2007. – Alvas Gesichter. Roman.Riehen 2008. – matou. Gedichte. Riehen 2008.

Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek

Kaiser, Joachim, * 18.12.1928 Milken/Ostpreußen. – Literatur-, Theater- u.Musikkritiker.

K. studierte in Göttingen, Frankfurt/M. u.Tübingen, wo er 1958 über Grillparzers dra-matischen Stil (Mchn. 1961) promovierte. Erwar als Kritiker rasch erfolgreich. Schon ersteRezensionen brachten ihn mit Adorno, An-dersch und H. W. Richter in Kontakt. K. war1954–1958 Redakteur beim Hessischen

Rundfunk u. wechselte dann zum Feuilletonder »Süddeutschen Zeitung«, das er1969–1977 zusammen mit Rudolf Gold-schmit leitete u. mit dem er weiterhin ver-bunden ist. 1977–1996 lehrte er Musikge-schichte an der Staatlichen Hochschule fürMusik u. Darstellende Kunst in Stuttgart.

K. ist der wichtigste dt. Kritiker, der sichzgl. mit Literatur, Theater u. Musik befasst.Sein Schwerpunkt liegt unter einem emphat.Werkbegriff bei Oper u. Klaviermusik, derauch selbstständige Buchveröffentlichungenüber Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre In-terpreten (Ffm. 1975) u. Große Pianisten in un-serer Zeit (Mchn. 1965. Erw. Neuausg. 1989)gewidmet sind. K. scheut sich nicht, subjek-tive Eindrücke u. Urteile zu formulieren, u.wirkt durch Hörfunksendungen, Kolumnen,Rezensionen u. Hunderte von Vorträgen, v. a.im Münchner Gasteig, in hohem Maße mei-nungsbildend.

Weitere Werke: Kleines Theatertagebuch.Reinb. 1965. – Hamlet heute. Ess.s u. Analysen.Ffm. 1965. – Erlebte Musik. Hbg. 1977. 2 Bde.,Mchn. 1982. – Mein Name ist Sarastro. Die Ge-stalten in Mozarts Meisteropern v. Alfonso bisZerlina. Mchn. 1984. – Wie ich sie sah u. wie siewaren. Zwölf kleine Porträts. Mchn. 1985. – DenMusen auf der Spur. Reiseber.e aus drei Jahrzehn-ten. Mchn. 1986. – Erlebte Lit. Vom ›Doktor Faus-tus‹ zum ›Fettfleck‹. Dt. Schriftsteller unserer Zeit.Mchn. 1988. – Leben mit Wagner. Mchn. 1990. –K.s Klassik. 100 Meisterwerke der Musik. Mchn.1997. – Von Wagner bis Walser. Neues zu Lit. u.Musik. Mchn. 1999. – ›Ich bin der letzte der Mo-hikaner‹ (zus. mit Henriette Kaiser). Bln. 2008.

Literatur: K.-Verz. Bibliogr. der Publikationenu. Sendungen v. J. K. Hg. Gesa Ansaar u. GertRabanus. Mchn. 2003.

Stephan Speicher / Christophe Fricker

Kaiser, Karl, * 1868 Straßburg, † unbe-kannt. – Lyriker.

Als Sohn eines schwäb. Schlossers, der wäh-rend des Deutsch-Französischen Kriegs 1871Straßburg verlassen musste, ging K. in Zürichzur Schule u. erlernte dann in Stuttgart denBeruf des Klaviermechanikers, den erschließlich in München ausübte. Dort schlosser sich noch in der Zeit des Sozialistengeset-zes, kaum 20-jährig, der Arbeiterbewegung

Kaiser 252

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 29: Kafka Killy Lexikon

an u. wurde zusammen mit Ernst Klaar dertragende Mitarbeiter des von Eduard Fuchsredigierten »Süddeutschen Postillon«, derprofiliertesten literarisch-satir. Zeitschrift deslinken Flügels der Sozialdemokratie. Seineletzten Gedichte auf die Pariser Communedatieren aus dem Jahr 1901; danach verliertsich seine Spur.

K. war eine der herausragenden Begabun-gen der frühen sozialistischen Literatur inDeutschland. Die Gedichte u. Epigramme,die in der von ihm zusammen mit Fuchs u.Klaar 1894 in München zusammengestelltenAnthologie Aus dem Klassenkampf. Soziale Ge-dichte (neu hg. u. eingeleitet von Klaus Völ-kerling. Bln./DDR 1978) enthalten sind, he-ben sich von dem vorherrschend allegor. u.abstrakt-idealist. Bekenntniston der zeitge-nöss. sozialdemokrat. Lyrik ab durch eineVerbindung von intellektueller Schärfe u.sprachl. Witz, die politisch an Marx u. äs-thetisch an Heine gemahnt.

Weitere Werke: In: Stimmen der Freiheit.Blütenlese der hervorragendsten Schöpfungen un-serer Arbeiter- u. Volksdichter. Hg. u. mit biogr.Notiz v. Konrad Beißwanger. Nürnb. 1899. – DiePariser Kommune im dt. Gedicht. Hg. v. BrunoKaiser. Bln/DDR 1958.

Literatur: Ursula Münchow: Arbeiterbewe-gung u. Lit. Bln./Weimar 1981, S. 380–396.

Martin Rector

Kaiser und Abt. – Nürnberger Fast-nachtspiel des 15. Jh.

Das aufgrund stilistischer (v. a. Stichreim-technik) u. inhaltlicher Parallelen Hans Folzzuschreibbare Nürnberger Fastnachtspiel(269 Verse) ist nur in einer AugsburgerHandschrift ohne Autornennung überliefert(terminus ante quem 1494). Dem Spiel liegtder ubiquitär verbreitete Erzähltypus zu-grunde, in dem ein listiger Rätsellöser dreioder mehr schwierige Fragen auf paradox-schlagende Weise beantwortet. Dieser Typuswurde vor u. nach K. u. A. in zahlreichenVarianten u. von namhaften Autoren (demStricker, dem Verfasser des Ulenspiegel, Jo-hannes Pauli, Hans Sachs) auch in derdeutschsprachigen Literatur aufgegriffen, bishin zum gleichnamigen, jedoch deutlich dif-

ferierenden Gedicht Gottfried August Bür-gers. Bei K. u. A. handelt es sich im Vergleichmit den übrigen Versionen um eine eigen-ständige, evtl. auf zeitgenöss. polit. Verhält-nisse anspielende Bearbeitung.

Der Kaiser, der Raub u. Mord in seinemReich zu unterbinden sucht, bittet zunächstdrei hohe Adlige um Rat; diese verweisen ihnjedoch an den Abt, dessen bisherige schlechteRatschläge an den Zuständen Schuld seien.Der Kaiser stellt ihn mit drei Fragen auf dieProbe: Wieviel Wasser ist im Meer? Wer istdem Glück am nächsten? Wieviel ist derKaiser wert? Der Abt, der Bedenkzeit ver-langt, sucht Hilfe beim Prior, der ihn wie-derum an den für seine listige Klugheit be-kannten Müller verweist. Dieser erklärt sichumgehend bereit, gegen reichl. Belohnungals Abt verkleidet vor den Kaiser zu treten u.die Fragen zu beantworten. Die erste Antwortlautet, dass drei Kufen, wären sie nur großgenug bemessen, alles Wasser im Meer auf-nehmen könnten. Die Antwort auf die dritteFrage ist ebenso einfach: Der Müller schätztden Wert des Kaisers auf höchstens 28 Pfen-nige (d.h. vier Groschen im Wert von siebenPfennigen), da Christus selbst um nur dreißigPfennige verraten wurde. Als Höhepunktfolgt schließlich die Antwort auf die zweiteFrage, weil sich der Müller hier zu erkennengibt: Er selbst sei der Glücklichste, da erplötzlich vom einfachen, ungelehrten Müllerzum Abt geworden sei. Der Kaiser ist zufrie-den u. bestätigt den Müller in seinem neuenAmt.

Die Spielhandlung sieht insgesamt 13 un-terschiedl. Sprecherrollen, mehrfache Orts-wechsel u. den Einsatz verschiedener Requi-siten vor. Damit steht K. u. A. in einer Reiheanderer, handlungs- u. intertextuell anspie-lungsreicher Fastnachtspiele des Hans Folz,die außerfastnächtl. literar. Traditionen auf-greifen u. diese in Spielform adaptieren (vgl.Salomon und Markolf). Die Einbindung desSpiels in die Fastnachtsgeselligkeit erfolgtüber gattungstypische Elemente wie Ein- u.Ausschreierstrophen sowie eine Tanzeinlageder Bauernfiguren. Es muss jedoch offenbleiben, ob es sich bei K. u. A. aufgrund seinerkomplexen Struktur tatsächlich um ein zur

Kaiser und Abt253

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 30: Kafka Killy Lexikon

Aufführung als Fastnachtspiel gedachtesWerk handelt.

Ausgabe: Adelbert v. Keller: Fastnachtspiele ausdem fünfzehnten Jh. Tl. 1, Stgt. 1853, Nr. 22,S. 199–210.

Literatur: Eckehard Catholy: Das Fastnacht-spiel des SpätMA. Tüb. 1961, S. 151–156, 371. –Lutz Röhrich: E.en des späten MA u. ihr Weiterle-ben in Lit. u. Volksdichtung bis zur Gegenwart.Bd. 1, Bern/Mchn. 1962, S. 146–172, 180–188(stoffgeschichtl. Parallelen, Lit.). – Johannes Janota:K. u. A. In: VL (Lit.). – Tomas Tomasek: Das dt.Rätsel im MA. Tüb. 1994, S. 93. – Eckehard Simon:Die Anfänge des weltl. Schauspiels 1370–1530.Tüb. 2003, S. 206–208, 232 (Lit.).

Ulla Williams / Martin Przybilski

Kaiser Lucius’ Tochter. – Spätmittelal-terliches Märe, erste Hälfte oder Mitte des15. Jh.

Die vermutlich in nur einer (nunmehr alsverschollen geltenden) Hs. fragmentarischüberlieferte Kurzerzählung, von der 619Verse erhalten sind, lässt sich evtl. dem ost-schwäb. Berufsschreiber Matthias von Günz-burg zuschreiben, der seine Initialen amSchluss nennt. Basis der Versnovelle ist das imSpätMA international verbreitete Motiv vomFleischpfand, das auch noch Shakespeare fürsein Drama Der Kaufmann von Venedig frucht-bar machte.

Erzählt wird von einem Ritter am Hof desKaisers Lucius (evtl. der Mitregent von MarcAurel von 161 bis 169 n. Chr.), der sich in desKaisers Tochter verliebt. Sie gestattet ihmzweimal, gegen die Zahlung von je 1000Gulden die Nacht mit ihr zu verbringen, erjedoch schläft jedes Mal sofort ein. Um eindrittes Stelldichein zu finanzieren, leiht sichder Ritter bei einem reichen Stadtbürgerweitere 1000 Gulden u. bietet als Pfand sovielvon seinem eigenen Fleisch, wie die 1000Gulden wiegen. Mit Hilfe eines naturkundi-gen Gelehrten ergründet er außerdem denSchlafzauber des Mädchens, das in seinemBett ein einschläferndes »brieflin« (ein StückPapier oder ein Kissen) aufbewahrt, u. ge-langt in der dritten Nacht an sein Ziel, indemer das magische »brieflin« heimlich entferntu. das Mädchen zunächst mit Gewalt zumBeischlaf zwingt. Nachdem – genderkli-

scheegerecht – dann aber auch die Kaiser-tochter die Freuden des Liebesspiels kennengelernt hat, verstreicht darüber der Rück-zahlungstermin für die 1000 Gulden. DerBürger, der sich auch durch das Angebot ei-ner beliebig hohen Geldzahlung nicht vomVerzicht auf sein Pfand abbringen lässt,strengt einen Prozess an, in dem er das Herzdes beklagten Ritters fordert. Vor dem Ur-teilsspruch erscheint die als Mann verkleideteTochter des Kaisers als Rechtskundiger vordem Richter u. erwirkt die Freilassung desRitters mit dem Argument, dass nicht nur dasgeforderte Fleisch herausgeschnitten, son-dern dabei auch Blut vergossen würde – u.dies in Zorn –, was nach geltendem Rechtbedeute, dass der Blutvergießer das Gleicheerleiden müsse.

Neben den spezif. gender-theoret. Aspek-ten (der anfänglich genarrte Liebhaber; das›cross-dressing‹ u. klug-›männliche‹ Verhal-ten der incognito vor Gericht auftretendenPrinzessin etc.) weist diese Kurzerzählunginsbes. eine Körperthematik auf, die eine ei-genwillige Logik von Fleisch u. Blut entfaltet.

Ausgaben: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Mären-dichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 71–88. – KlausGrubmüller: ›K. L.’ T.‹. Zur Vorgesch. v. Shake-speares ›Kaufmann von Venedig‹. In: Lit. u. Recht.Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in dieGegenwart. Hg. Ulrich Mölk. Gött. 1996,S. 94–137, hier S. 106, 137 (Text nach Fischer, mitnhd. Übers.).

Literatur: H. Fischer, a. a. O., S. 530–532. –Michael Curschmann: K. L. T. In: VL. – K. Grub-müller, a. a. O. – Ute v. Bloh: Die Sexualität, dasRecht u. der Körper. Kontrollierte Anarchie in viermittelalterl. Mären. In: Ulrike Gaebel u. ErikaKartschoke (Hg.): Böse Frauen – Gute Frauen.Darstellungskonventionen in Texten u. Bildern desMA u. der Frühen Neuzeit. Trier 2001, S. 75–88. –Bettina Bildhauer: If you prick us do we not bleed?Making the body in Mären. In: Mark Chinca, TimoReuvekamp-Felber u. Christopher Young (Hg.):Mittelalterl. Novellistik im europ. Kontext. Kul-turwis. Perspektiven. Bln. 2006, S. 148–169.

Corinna Laude

Kaiser Lucius’ Tochter 254

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 31: Kafka Killy Lexikon

Kaiserchronik. – Anonyme Reimchronik(17.283 Verse); Regensburg, zweitesDrittel des 12. Jh.

Die wichtigen Fragen der genaueren Datie-rung (Beginn u. Abbruch des Werks) u. derAuftraggeberschaft sind ungelöst. Umstrittenist auch aufgrund einer mehrdeutigen Text-stelle (VV. 10.619–10.627), ob das Werk ei-nem einzigen Autor oder mehreren (unter derLeitung eines führenden Kopfes?) zuzu-schreiben sei. Unbezweifelt ist aber klerikaleAutorschaft. Die K. wurde noch im 12. Jh.sprachlich bearbeitet, im 13. mehrfach fort-gesetzt u. rückte in der kompilatorischenChronistik späterer Zeit selbst zum Rang ei-nes Quellenwerks für volkstüml. Geschichts-vorstellungen auf. Deutsche Dichter bis hinzu Wolfram haben aus ihr geschöpft.

Das Werk gibt sich im Prolog selbst denTitel »Cronica« u. bezeichnet als seinen Ge-genstand die Geschichte des röm. Reichs,seiner Päpste u. seiner guten wie bösen Kaiserbis in die Gegenwart (VV. 15–26). Im Sinneder mittelalterl. Weltchronistik, die Ge-schichtsschreibung von der Erschaffung derWelt bis zur Gegenwart, gegliedert in diesechs Weltalter christlich-augustin. Lehrebzw. gemäß den vier Weltreichen der bibl.Danielsprophetie, bieten will, präsentiert dieK. einen Ausschnitt dieses universalen Pro-gramms, der nur die zur Zeit des Chronistennoch andauernde Phase des röm. Reichs be-handelt, die bei ihm nahezu deckungsgleichmit dem sechsten augustinischen Weltalterist. Im Danielstraum u. in dessen Auslegung(Hieronymus) nimmt das röm. Reich dievierte Stelle ein u. endet mit der Herrschaftdes Antichrist. Diese Einordnung ändert dieK., indem sie dem röm. Reich die dritte Stelleim Weltreiche-Schema einräumt, währenddem Reich des Antichrist die vierte u. letzte,erst in der Zukunft des Chronisten liegendezugewiesen wird. Nach einer summar. Dar-stellung der älteren röm. Geschichte gilt vonCaesar an eine Gliederung nach den Regie-rungszeiten von 55 Kaisern bis zu Konrad III.(1137–1152). Mitten in dessen Regierungs-zeit bricht die K. mit der Schilderung derKreuzzugspredigt Bernhards von Clairvauxvor Konrad (Weihnachten 1146) unvollendet

ab. Die Päpste spielen – außer Silvester u. Leobei Konstantin dem Großen u. Karl demGroßen an entscheidenden histor. Wende-punkten – als Handlungspartner der Kaiserkeine bedeutende Rolle. Die K. ist wederpäpstlich noch kaiserlich gesonnen, sondernhält an Idealvorstellungen von einem christ-lich-röm. Reich fest, wie es durch das nochnicht in unterschiedl. Rollenvorstellungenvon Kaiser u. Papst gespaltene, einträchtigeZusammenwirken beider Mächte realisiertwerde. Den durch Kaisernamen bezeichnetenGeschichtsetappen des röm. Reichs werdensynchronistisch Erzählstoffe zugeordnet,nicht selten so, dass sie nur in einem losenoder auch gar keinem handlungsmäßigenZusammenhang mit den Taten des jeweiligenKaisers stehen. Die Stoffe der Erzählungenstammen erst für die Zeit von Karl demGroßen an vorwiegend aus Quellen der lat.Historiografie. Für die frühere Zeit sind sieeinem sehr weitgespannten Bereich durchausunhistor., lat. Erzählquellen entnommen,zum größten Teil aus der christl. Legende,der freilich im mittelalterl. Verständnis his-tor. Quellenwert zukommt, u. der röm. Sageu. Lokalsage (Mirabilia Romae). Die Einarbei-tung älterer dt. Dichtung lässt sich in größe-rem Umfang nur für einen Fall (Annolied)nachweisen, in einem weiteren ist sie sehrwahrscheinlich (Crescentia-Erzählung); dt.Heldensage (Dietrich/Theoderich von Bern,aber auch anderes) wird im Sinne klerikaler u.chronografischer Kritik über gelehrte Quel-len rezipiert; wirksam ist jedoch auch dieKenntnis mündl. Tradition in der Volksspra-che.

Die chronolog. Reihung der Kaiserbiogra-fien, als Kompositionsprinzip so unabge-schlossen wie die Geschichte selbst, wirdformal nachdrücklich herausgearbeitet durchdie formelhaft gleichförmige Einführung je-des neuen Herrschernamens u. durch die aufJahr, Monat u. Tag genaue Angabe der Re-gierungsdauer beim Tod des Herrschers;Datierungen nach absoluten Jahreszahlengibt es nicht. Damit ist das Gattungsmusterder mittelalterl. Chronik formal zitiert. In-haltlich verfährt die K. jedoch erstaunlichfreizügig u. unterschiedlich. Sie ändert dievon der historiografischen Tradition einheit-

Kaiserchronik255

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 32: Kafka Killy Lexikon

lich vorgegebenen Nachrichten über die Re-gierungsdauer u. die chronolog. Folge derHerrscher, erfindet unhistor., legendäre Kai-ser u. lässt historische fort. Griechenfeindlichunterdrückt sie die in der Historiografie des12. Jh. verbreitete Vorstellung vom Übergangdes röm. Kaisertums auf Byzanz u. von dortauf Karl den Großen u. die Franken zuguns-ten einer unmittelbaren Translatio von denRömern auf diese. Eigens für diese Idee kon-struiert sie ein kaiserloses Interregnum vom6. Jh. bis zu Karl dem Großen. Erst von seinerZeit an stimmen die Angaben der K. imGanzen mit denen der lat. Geschichtsschrei-bung überein.

Die Gründe für diesen eigentüml. Umgangmit der Tradition sind im einzelnen unge-klärt. Vermutungen einer zahlensymbolischbegründeten Manipulation der Herrscher-zahlen u. Regierungsjahre (Ohly, Urbanek)halten einer Detailanalyse nicht stand; auchwären so die chronolog. Umstellungen ein-zelner Kaisergeschichten nicht erklärbar. Aufalle Fälle wird aber deutlich, dass der Begriffder histor. Wahrheit für die volkssprachige K.grundlegend anders akzentuiert ist als in derlat. Historiografie. Der Wahrheitswert derGeschichte liegt für die K. über deren bloßeFaktizität hinaus im moralisch Exemplari-schen ihrer Geschichten nach christlich geistl.Verständnis. So betont es schon der Prolog(VV. 1–14, 27–42). In der Liebe Gottes beginntder Autor das Werk. Er kontrastiert einem»vernünftigen« Publikum, dem das Anhörender Geschichten von vorbildl. Taten ange-nehm ist, ein törichtes, dem alle Weisheits-lehre, die weltl. Ehre u. Seelenheil fördernkönnte, lästig fällt. Als verbreitete Gewohn-heit beklagt der Autor, wie oft man in seinerZeit Lügengeschichten erfinde u. mit »sco-phelîchen« Worten ausgestalte. Der Termi-nus deutet auf spielmänn. Dichtung unter-haltenden Charakters, die auch sagenhaftgeschichtl. Inhalts sein konnte. SolchesDichten stehe außerhalb der Gottesliebe, u. essei zu fürchten, dass die Seelen seiner Dichterdereinst im Strafgericht brennen müssten.Auch bedeute es eine Irreführung der Jugend,die der Nachwelt derlei Lügengeschichten alsWahrheit überliefern werde, allen Verständi-gen zum Gräuel. Zum einen wird hier die

Wahrheit geschichtl. »facta« der Lügenhaf-tigkeit bloß erfundener »ficta« gegenüber-gestellt, die den Wahrheitsgehalt des histo-risch Faktischen entbehren, wie er nur in dergelehrten Schriftüberlieferung als verbürgterscheint. In diesem Sinne will die K. auchnicht als »Dichtung« verstanden werden,sondern als »Sachliteratur«. Zum andern u.zgl. werden die Verständigen u. die Törichtenunter den Autoren u. Rezipienten einanderentgegengestellt wie in den Geschichten derK. die guten u. bösen Herrscher. Auf die ex-emplarische Erkenntnis von Gut u. Böse inder geschichtl. Wirklichkeit kommt es letzt-lich an. Unter diesem Aspekt werden alleGeschichten in der K. ausgewählt u. erzähle-risch strukturiert, u. dieser Sinn wird formalbei der formelhaften Angabe der Regie-rungsdauer am Ende einer jeden Kaiserge-schichte mit einem unverschlüsselten Urteilüber Gut u. Böse herausgearbeitet, das seineBestätigung in der Schilderung der ehren-vollen oder schändl. Todesart des Herrschersfindet.

Über solch exemplarische Sinngebung dereinzelnen Geschichten hinaus wurde demDichter der K. die bewusste, aber verschwie-gene Gestaltung eines durchgängig oderteilweise geltenden typolog. Steigerungsver-hältnisses zwischen den einzelnen Geschich-ten der K. unterstellt (Ohly). Bedingt vorbildl.Helden aus heidn. Zeit würden übertroffenvon uneingeschränkt vollkommenen christl.Helden. Die größte Leistung des K.-Dichtersbestehe in der bewussten Gestaltung nachdiesem, der typolog. Bibeldeutung christl.Theologie entlehnten Prinzip, das Auswahl,Anordnung u. innere Strukturierung derQuellen maßgeblich lenke u. in dem Dichtereinen schöpferischen Geist von hohem Rangerkennen lasse.

Demgegenüber bleibt festzuhalten, dassein derartiges typolog. Gestaltungsprinzipweder explizit nachweisbar noch implizit mitausreichender Sicherheit fassbar ist. Auch hatsich am Beispiel der Lucretia-Erzählung in derK. zeigen lassen (Mohr), dass die typolog.Interpretation literaturgeschichtlich dortversagt, wo es darum geht, die Eigenart derErzählkunst der K. zu erfassen u. ihren Standim Rahmen der Entwicklung eines epischen

Kaiserchronik 256

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 33: Kafka Killy Lexikon

Menschenbilds zu bestimmen, wie es zwi-schen den Stationen des archaischen Reckender mündlichkeitsnahen Heldenepik u. deshöf. Minneritters im literarisch kultiviertenRitterroman des HochMA angesiedelt ist.

Ausgaben: Der keiser u. der kunige buoch oderdie sog. K. Hg. Hans Ferdinand Massmann. 3 Bde.,Heidelb. 1848/49 u. 1854. – Die K. eines Regens-burger Geistlichen. Hg. Edward Schröder. Bln.1895. Neudr. Bln./Zürich 1964.

Literatur: Ernst Friedrich Ohly: Sage u. Le-gende in der K. Münster 1940. Neudr. Darmst.1968. – Wolfgang Mohr: Lucretia in der K. In: DVjs26 (1952), S. 433–446. – Eberhard Nellmann: DieReichsidee in dt. Dichtungen [...]. Bln. 1963,S. 82–163. – Ferdinand Urbanek: Herrscherzahl u.Regierungszeiten in der K. In: Euph. 66 (1972),S. 219–237. – Joachim Bumke: Mäzene im MA.Mchn. 1979, S. 78–85. – E. Nellmann: K. In: VL u.VL (Nachträge u. Korrekturen). – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlich-keit im hohen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den An-fängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,2). Ffm.1986, S. 109–113. – Karl Stackmann: Dietrich v.Bern in der K. Struktur als Anweisung zur Deu-tung. In: Idee, Gestalt, Geschichte. FS Klaus v. See.Hg. Gerd Wolfgang Weber. Odense 1988,S. 137–142. – Tibor Friedrich Pézsa: Studien zuErzähltechnik u. Figurenzeichnung in der dt. ›K.‹.Ffm. u. a. 1993. – Kurt Gärtner: Die K. u. ihre Be-arb.en. Editionsdesiderate der Versepik des 13. Jh.In: ›bickelwort‹ u. ›wildiu maere‹. FS E. Nellmannzum 65. Geburtstag. Hg. Dorothee Lindemann u. a.Göpp. 1995, S. 366–379. – Ernst Hellgardt: Diet-rich v. Bern in der dt. K. Zur Begegnung mündl. u.schriftl. Traditionen. In: Dt. Lit. u. Sprache. FSUrsula Hennig zum 65. Geburtstag. Hg. AnnegretFiebig u. Hans-Jochen Schiewer. Bln. 1995,S. 93–110. – Roswitha Wisniewski: ›Pestis patriae‹.Die Ungarneinfälle in der K. In: ebd., S. 347–357. –Matías Martínez: Fortuna u. Providentia. Typender Handlungsmotivation in der Faustinianerzäh-lung der K. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einerTheorie ästhet. Formen. Hg. M. Martínez. Paderb.Mchn. u. a. 1996, S. 83–100. – Claus Riesner: DerDichter der ›K.‹, ein Rompilger ›sui generis‹. In:Studi germanici 35 (1997), S. 175–204. – StephanMüller: Vom ›Annolied‹ zur ›K.‹. Zu Text- u. For-schungsgesch. einer verlorenen dt. Reimchronik.Heidelb. 1999. – Claudia Bornholdt: Tricked intothe tower: the ›Crescentia‹-tower-episode of the K.as proto-Märe. In: JEGPh 99 (2000), S. 395–411. –Alexander Rubel: Caesar u. Karl der Große in der K.Typolog. Struktur u. die ›translatio imperii adFrancos‹. In: Antike u. Abendland 47 (2001),

S. 146–163. – Vera Milde: ›si entrunnen alle scen-tlîchen dannen‹. Christl.-jüd. Disput in der Sil-vesterlegende der K. In: Juden in der dt. Lit. desMA. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfer-tigungen. Hg. Ursula Schulze. Tüb. 2002, S. 13–34.– Vickie L. Ziegler: Trial by fire in medieval Germanliterature. Drawer Camden House 2004. – GraemeDunphy: Die ›Wîlsælde‹-Disputation. Zur Ausein-andersetzung mit der Astrologie in der K. In: ZfdPh124 (2005), S. 1–22. – Christoph Fasbender: DerErfurter Discissus der ›K.‹ (A). In: ZfdA 135 (2006),S. 435–448. Ernst Hellgardt

Kalbeck, (Julius) Max (Heinrich), auch:Jeremias Deutlich, * 4.1.1850 Breslau,† 4.5.1921 Wien. – Musikschriftsteller u.-kritiker, Lyriker, Librettist, Herausgeberu. Übersetzer.

K., Sohn eines Ober-Postkommissärs u. einerSängerin, erhielt früh Geigen- u. Gesangs-unterricht. Nach abgebrochenem Jurastudi-um in Breslau u. München, während dessener sich auch mit Geschichte, Literatur- u.Kunstgeschichte sowie mit Philosophie be-schäftigte, besuchte er 1873/74 die Kgl. Mu-sikschule in München u. substituierte alsGeiger am dortigen Hoftheater. Paul Heyse,mit dem ihn eine lebenslange Freundschaftverband, führte ihn in die Dichtergesellschaft»Krokodile« ein. Nach der Rückkehr nachBreslau im Okt. 1874 war K. als Musik-,Kunst-, Theater- u. Literaturkritiker tätig,zunächst für die »Schlesische Zeitung«, ab1879 für die »Breslauer Zeitung«, u. arbeitetezudem als Direktionsassistent am Schlesi-schen Museum. 1880 ging er nach Wien, woer auf Vermittlung von E. Hanslick Musikre-ferent der »Wiener Allgemeinen Zeitung«wurde (ab Juli auch Feuilletonredakteurvon deren »Wissenschaftlicher Beilage«).1883–1890 war K., seit 1881 mit Julie LouiseLion, geb. Freund, der Tochter des Begrün-ders der »Breslauer Morgenzeitung«, verhei-ratet, Musikreferent der »Neuen FreienPresse«, 1890–1895 der »Wiener Montags-Revue« u. danach des »Neuen Wiener Tag-blatts«; ab 1886 betätigte er sich daneben alsBurgtheaterkritiker.

Unter seinem Pseud. trat K. ab 1870 mitGedichten hervor, die den Einfluss seinesFörderers Karl von Holtei sowie E. Geibels

Kalbeck257

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 34: Kafka Killy Lexikon

zeigen (u. a. Aus Natur und Leben. Breslau 1871.21873). Mehrere Gedichte K.s wurden ver-tont, u. a. von E. d’Albert, J. Brahms, I. Brüll,J. B. Gänsbacher u. R. Heuberger. Ab 1885übersetzte u. bearbeitete K. im Auftrag meh-rerer Verlage u. Bühnen Opern, u. a. von W. A.Mozart (Don Juan. Wien 1886. Neu bearb.Lpz./Wien 1917. Die Hochzeit des Figaro. Lpz./Wien [1906]), J. Massenet (Der Cid. Bln. 1887),G. Rossini, P. I. Tschaikowsky (Pique Dame.Hbg./Lpz. [1891]), G. Verdi (Falstaff. Milanou. a. 1893), B. Smetana (die Oper Prodaná ne-vesta trat erst in der Übersetzung K.s – Dieverkaufte Braut. Bln. [1892] – ihren Siegeszugüber die dt. Bühnen an) u. G. Puccini. Erverfasste auch, z.T. zusammen mit anderenAutoren, eigene Libretti, darunter Jakuba(zus. mit Gustav Davis. Lpz. 1894) für JohannStrauß Sohn.

In seiner Wiener Zeit entwickelte sich K. zueinem der einflussreichsten Musikkritiker inder Geisteshaltung des Liberalismus u. inentschiedener Gegnerschaft der »Neudeut-schen Schule« um R. Wagner u. A. Bruckner.Zum engsten Freundeskreis Brahms’ zäh-lend, schrieb er dessen Biografie (JohannesBrahms. 4 Bde., Wien/Lpz., ab Bd. 2 Bln.1904–14. Ausg. letzter Hand, Bln. 1912–21.Nachdr. Tutzing 1976), die dank ihres Mate-rialreichtums noch heute eine wichtige mu-sikhistor. Quelle darstellt. K. machte sichauch durch die Herausgabe von Teilen desBriefswechsels Brahms’, der Feuilletons vonDaniel Spitzer u. des Briefwechsels zwischenP. Heyse u. G. Keller verdient.

Weitere Werke: Neue Dichtungen. Breslau1872. – Das Bühnenfestspiel zu Bayreuth. Eine krit.Studie. Breslau 1–21877. 3. Aufl. u. d. T. RichardWagner’s Nibelungen. Breslau 1883. – Nächte. Ly-rische Dichtungen. Hirschberg 1878. Bln. 21880. –Zur Dämmerzeit. Gedichte. Lpz. 1881. – WienerOpernabende. Bln./Wien o. J. [1884]. Erw. Aufl.1898 (ges. Kritiken). – (Jeremias Deutlich) Gereim-tes u. Ungereimtes. Skizzen u. Epigramme. Bln.1885. – Aus alter u. neuer Zeit. Ges. Gedichte. Bln.1890. – Humoresken u. Phantasien. Wien 1896. –Opern-Abende. Beiträge zur Gesch. u. Kritik derOper. 2 Bde., Bln. 1898. – Capricen. Skizzen u.Bilder. Wien/Lpz. 1905. – Herausgeber: Ein dt.Dichterbuch. Aus Originalbeiträgen dt. Dichter ges.u. hg. Stgt. o. J. [1874]. – Neue Beiträge zur Biogr.des Dichters Johann Christian Günther. Lpz. 1879.

– Daniel Spitzer: Letzte Wiener Spaziergänge. Miteiner Charakteristik seines Lebens u. seiner Schr.en.Wien 1894. – Johannes Brahms im Briefw. mitHeinrich u. Elisabet Herzogenberg. 2 Bde., Bln.1907. 4., durchges. Aufl. Tutzing 1974. – DanielSpitzer: Ges. Schr.en. 3 Bde., Mchn./Lpz. 1912–14(zus. mit Otto Erich Deutsch). – Johannes Brahms:Briefe an Joseph Viktor Widmann, Ellen u. Ferdi-nand Vetter, Adolf Schubring. Bln. 1915. Nachdr.Tutzing 1974. – Johannes Brahms. Briefe an P. J.Simrock u. Fritz Simrock. 4 Bde., Bln. 1917–19.Nachdr. Tutzing 1975. – Paul Heyse u. GottfriedKeller im Briefw. Hbg./Braunschw./Bln. 1919. –Antike u. romant. Musen. Lpz./Wien 1920 (Horaz-Übers.en).

Literatur: Michael Musgrave: Brahms u. K.Eine mißverstandene Beziehung? In: Kongreßbe-richt. Brahms-Kongreß. Wien 1983. Hg. SusanneAntonicek u. Otto Biba. Tutzing 1988, S. 397–404.– Sandra McColl: M. K. and Gustav Mahler. In:19th Century Music 20 (1996), H. 2, S. 167–184. –Dies.: Karl Kraus and Music Criticism. The Case ofM. K. In: The musical quarterly 82 (1998), H. 2,S. 279–308. – Uwe Harten u. Salome Reiser: M. K.In: MGG. – Goedeke Forts. – M. K. (1850–1921).Wiedenczyk z Wrocl/ awia. Sympozjum naukowe,Wrocl/ aw, 17.11.2001. Hg. Piotr Szalsza u. RomualdKaczmarek. Dresden 2006. – M. K. zum 150. Ge-burtstag. Skizzen einer Persönlichkeit. Breslau, 4.Jänner 1850 – Wien, 4. Mai 1921. Symposion Wien,21.-24. Mai 2000. Bericht. Hg. U. Harten. Tutzing2007. Bruno Jahn

Kalchberg, Johann (Nepomuk) Ritter von,* 15.3.1765 Pichl im Mürztal/Steiermark,† 3.2.1827 Graz. – Lyriker, Dramatiker,Novellist u. Historiker.

K. wurde zunächst auf dem väterl. Schloss inPichl (der Vater war landständ. Gutsbesitzer),später von einem Pfarrer in Hohenwang un-terrichtet. Anschließend besuchte er das Se-minar in Graz, wo er neben literar. auch his-tor. u. juristische Studien betrieb. 1785–1788war er als Jurist in Graz tätig. 1791 u. erneut1796 wurde er zum ständ. Ausschussrat ge-wählt; 1810 u. 1816 zum zweiten, 1817 zumersten Verordneten des Ritterstands der Stei-ermark. Nach 1796 widmete er sich ganzpolit. u. kulturpolit. Aufgaben in diversenDeputationen u. Kommissionen. Der stan-desbewusste Adlige zeigte bei seinen vielfäl-tigen Aktivitäten ein derart starkes soziales

Kalchberg 258

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 35: Kafka Killy Lexikon

Engagement, dass er von Erzhzg. Johannzum Mitcurator des Erziehungsinstituts»Joanneum« berufen wurde. K. war überdiesMitbegründer des Steiermärkischen Lese- u.Musikvereins u. gab eine Zeitlang die »Stei-ermärkische Zeitschrift« mit heraus.

Lange Jahre beschäftigte sich K. auch mitder Geschichte der Steiermark. Seine bedeu-tendsten territorialhistor. Publikationen sindUrsprung und Verfassung der Stände Steiermarks u.Ursprung und Beschaffenheit der Urbarialabgabenin Innerösterreich (beide in: Historische Skizzen.Graz 1800). In die Literaturgeschichte ging K.mit mehreren, den Einfluss von Goethes Götzvon Berlichingen sowie von patriotischen Stü-cken der Münchner Aufklärer Babo u. Tör-ring verratenden histor. Dramen ein. Bekanntwurde er mit dem auch empfindsame Zügeenthaltenden Schauspiel Agnes, Gräfin vonHabsburg (Graz 1786. Später umgearbeitet inWülfing von Stubenberg. Wien 1794). Dengrößten, lang anhaltenden Erfolg erzielte ermit Die Ritterempörung. Eine wahre Begebenheitder Vorzeit (Graz 1792). K. erreichte mit seinenhistor. Dramen Popularität u. Wertschätzungwie kaum ein zweiter österr. Dramatiker desausgehenden 18. Jh. Darunter sind jeneSchauspiele am bedeutendsten, in denen ersich als Anhänger der konfessionellen Tole-ranzidee des Lessing’schen Nathan zu erken-nen gibt: die in Jambenform gedichtetenDramen Die Tempelherren (Graz 1788) u. Diedeutschen Ritter in Accon (Graz 1796).

K. stand zeitweise unter dem EinflussSchillers, mit dem er korrespondierte u. derin der »Neuen Thalia« 1793 das Dramen-fragment Szenen aus dem Leben Kaiser HeinrichsIV. abdruckte. Auf Schiller dürfte auch dieVorliebe für das Genre der Ballade zurück-gehen. Während die Balladen wie auch an-dere Gedichte u. Fabeln (überwiegend Klop-stock u. Gellert verpflichtet) wenig originellsind, kommt K. als Mitherausgeber des Mu-senalmanachs »Früchte vaterländischer Mu-sen. Herausgegeben zum Besten der leiden-den Menschheit« (2 Bde., Graz 1789/90)größere Bedeutung zu. Der Provinzialalma-nach zeigt K. als reformfreudigen, aber zgl.katholisch-traditionsgebundenen Territo-rialaufklärer, der dem Josephinismus verhal-ten-distanziert gegenüberstand u. der poeto-

logisch zeitlebens an der mittleren Aufklä-rung einerseits, an Lessing u. Schiller ande-rerseits orientiert blieb. K., von Karl AugustBöttiger noch 1817 anlässlich des Erscheinensder ersten Gesamtausgabe wegen seines Stilsgelobt, der »geistreich und ungeschmückt,ohne aufgedunsenen Wortprunk, ohne mys-tische Süßigkeit« sei, war die führende Per-sönlichkeit in der Literatur der Steiermarkzwischen Aufklärung u. Romantik. Er warseit 1793 Mitgl. der Deutschen Gesellschaft inJena.

Weitere Werke: Lyr. Gedichte. Graz 1788. – DieGrafen v. Cilli. 2 Tle., Graz 1790–93 (Trauersp.). –Maria Theresia, ein dramat. Gedicht. Graz 1793. –Gedichte. Graz 1793. – Ges. Werke. 2 Bde., Graz1793. – Attila, König der Hunnen, dramat. Gedicht.Wien/Graz 1806. – Sämmtl. Werke. 9 Bde., Wien1816/17. – Ges. Schr.en. Hg. Anton Schlossar. 4Bde., Wien 1878–80.

Literatur: Anton Schlossar: J. N. v. K. In:Mittheilungen des Histor. Vereins der Steiermark26 (1878), S. 3–57. – Josef Fleck: J. Ritter v. K.1765–1827. Ein Lebensbild aus der Zeit der Auf-klärung. Diss. Graz 1951. Wilhelm Haefs

Kalckreuth, Wolf Graf von, * 9.6.1887Weimar, † 9.10.1906 Bad Cannstatt (heutezu Stuttgart). – Lyriker u. Übersetzer.

Der Sohn des Malers Leopold von Kalckreuthu. dessen Frau Berta Gräfin Yorck von War-tenburg teilte mit seiner Generation das Déjà-vu-Gefühl des Fin de siècle. Sein lyr. Werk istschmal u. in der kurzen Zeit zwischen seinem17. u. 19. Lebensjahr entstanden.

In seinen formvollendeten Gedichtensuchte K., wie der junge Hofmannsthal, dieZwischentöne, die Augenblicke des Über-gangs zwischen Tag u. Nacht, Leben u.Traum zu evozieren, jene Momente des»müden Abendgrauens«, in denen die Ge-wissheit des Todes den Gehalt des verlö-schenden Lebens zuletzt am reinsten auf-scheinen lässt. Seine ausgeprägte Vorliebe fürroman. Formen (Sonett, Stanze, Alexandri-ner), die er streng zu handhaben wusste u.mit einer dichterischen Sprache verband, deres v. a. auf Wohlklang u. Gewähltheit desAusdrucks ankam, verdankte sich der Liebezur (zeitgenöss.) frz. Dichtung. Seine Über-

Kalckreuth259

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 36: Kafka Killy Lexikon

setzungen von Verlaine u. Baudelaire (LesFleurs du Mal), die fast zeitgleich mit denenGeorges entstanden, sind von bleibendemRang u. zeichnen sich durch formale Genau-igkeit u. sprachl. Nähe zum Original aus. DieErinnerung an K. wird nicht zuletzt durchRilkes berühmtes Requiem wachgehalten,das dieser, erschüttert vom Freitod des viel-versprechenden Dichters, im Nov. 1908schrieb u. in dem es nicht frei von Vorwurfheißt: »Daß du zerstört hast. Daß man diesvon dir / wird sagen müssen bis in alle Zei-ten.«

Weitere Werke: Gedichte u. Übertragungen.Hg. Hellmut Kruse. Heidelb. 1962.

Literatur: Hellmut Kruse: W. G. v. K. Diss.Hbg. 1949. – Frauke Velden-Hohrath: W. G. v. K.Das lyr. Werk zwischen Todessehnsucht u. Kriegs-lust. Würzb. 1998. – Jutta Rosenkranz: Der DichterW. v. K. 1887–1906. In: Castrum peregrini 48(1999), S. 134–143. Peter König / Red.

Kaldenbach, Christoph, auch: Celadon,Lycon, Lykabas, * 11.8.1613 Schwiebus,† 16.7.1698 Tübingen. – Lyriker u. Kom-ponist.

K.s Vater, der als Tuchmacher zum Zunft-meister in Schwiebus aufstieg, war zeitweiseauch kgl. Richter u. Bürgermeister der Stadt;sein Großvater mütterlicherseits war Rats-herr u. Syndikus in Liebenau. Die schul.Ausbildung übernahm zunächst der Vater,die Anfänge in der Musikerziehung ein Bru-der der Mutter. Wegen der Kriegswirrenschickten die Eltern den neunjährigen Sohnnach Frankfurt/O., anscheinend zu einemVerwandten, der wohl auch die weitere Aus-bildung K.s überwachte. Neben der akadem.Vorbereitung auf das Universitätsstudiumerhielt der musikalisch begabte ZöglingKompositionsunterricht. Im Frühjahr 1631floh K. vor schwed. Truppen u. immatriku-lierte sich am 1. Juli an der Universität Kö-nigsberg. Nun musste er seinen Lebensun-terhalt selbst bestreiten u. nahm eine Stelleals Hauslehrer östlich von Memel an. Nachder Wiederaufnahme des Studiums (1633)blieb K. auf Einkünfte durch Privatunterrichtu. Auftragsdichtungen angewiesen. SeinePromotion zum Magister erfolgte spät

(wahrscheinlich 1647, nach Arnoldts Univer-sitätsgeschichte sogar erst 1655), als K. bereitsfest im Beruf stand.

Wie der Weg des befreundeten Dach führteK.s Werdegang über eine KönigsbergerStadtschule zum Lehramt an der Universität.Der Berufung zum Konrektor an die Alt-städtische Lateinschule 1639 folgte sechsJahre später die Beförderung zum Prorektor;seit 1651 verwaltete er an der KönigsbergerUniversität die Professur für Griechisch, of-fenbar ohne das Ordinariat zu erhalten. 1656wurde K. Professor für Geschichte, Dichtungu. Beredsamkeit an der Universität Tübingen.In seiner Tübinger Zeit schloss er insg. vierEhen. Drei Frauen verlor er durch den Tod;die vierte, die er als fast 70-Jähriger ehelichte,überlebte ihn. Aus zweiter Ehe stammte seineinziger Sohn, der 1683 u. 1687 an der Her-ausgabe von K.s Werken beteiligt war, aberschon 1692 starb.

K. verdankt die entscheidenden künstleri-schen Anregungen den Königsberger Dich-tern um Roberthin, Albert u. Dach. Die ge-sellige Pflege von Musik u. Wortkunst, diedort betrieben wurde, entsprach K.s Neigun-gen als Sänger, als Verfasser weltl. u. religiö-ser Lyrik wie auch als Komponist von Lied-texten. Einige seiner Lieder wurden durchAlberts Arien (1638–54) bekannt, viele gab er –mit Noten versehen – selbst heraus, so dieDeutsche Sappho (Königsb. 1651), die, fürwürttembergische Schulen bearbeitet, nocheinmal 1687 in Stuttgart erschien.

Wie die übrigen Königsberger Dichter umdie sog. Kürbishütte stand K. zunächst ganzunter Opitz’ Einfluss, doch war er in höheremMaße für die poetolog. Neuerungen emp-fänglich, die sich nach Opitz’ Tod durch-setzten. So greift er in der für den TübingerLehrbetrieb verfassten Poetice Germanica(Nürnb. 1674) wiederholt auf Buchner, Ze-sen, Schottelius, Tscherning u. Kindermannzurück, die den Daktylus benutzten u. auchmetr. Mischformen gelten ließen. Zwar ver-wahrte er sich – wie andere Poetiker der Zeit –gegen den Missbrauch »so edler Kunst«, dochkonzentrierte er seine dichtungstheoret. An-weisungen auf die im gesellschaftl. u. literar.Leben damals in Blüte stehende Kasualpoesie.Seine in lat. Sprache gehaltene Poetik blieb

Kaldenbach 260

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 37: Kafka Killy Lexikon

ohne größeren Einfluss, trug aber entschei-dend dazu bei, die Königsberger Gelegen-heitsdichtung im Südwesten bekannter zumachen.

Der größte Teil von K.s poetischem Werkerschien in kasualen Einzeldrucken. Danebenlegte er mehr als 20 Buchpublikationen vor,zumeist von ihm veranstaltete Sammelaus-gaben seiner Dichtungen. Seit der Wieder-aufnahme seines Studiums entwickelte sichK. in Königsberg zu dem nach Dach pro-duktivsten Gelegenheitsdichter; auch inWürttemberg blieb er als Kasuallyriker ge-fragt. Dabei betätigte er sich nicht nur in dt.u. lat. Sprache, sondern verfasste auch Versein griech. u. hebräischer Sprache sowie einumfangreiches poln. Lobgedicht (HoldownaKlio. Königsb. 1641). K. besaß das ausge-prägte Selbstverständnis eines »poeta doc-tus«, der das eigene poetische Schaffen u. dieakadem. Lehrtätigkeit zur Einheit zu bringensuchte. Seine Deutsche[n] Eclogen (Königsb.1648) weisen ihn als Form bewussten, sou-verän über Traditionen u. Konventionenverfügenden gelehrten Dichter aus, die Deut-schen Grab-Gedichte vom selben Jahr zeigen denGelegenheitsdichter, der scheinbar mühelos,doch mit Feingefühl den Ansprüchen seinerAdressaten gerecht wird. Die umfangreicheSammlung Deutsche Lieder und Getichte (Tüb.1683), die seine Lyrik aus der Königsberger u.Tübinger Zeit enthält, lässt die beachtl.Spannweite seines Schaffens erkennen. Mehrals die meisten Opitz-Schüler verstand sich K.als Bewahrer der lat. Dichtungstradition (Ly-ricorum libri tres. Braunsberg 1651. Internet-Ed. in: CAMENA. Silvae Tubingenses. Tüb.1667. Internet-Ed. in: CAMENA), die für ihnebenbürtig neben seiner dt. Dichtung stand.Noch als Student versuchte sich K. erstmalsan einer Tragödie für das Schultheater (Her-kules am Wege der Tugend und Wollust. Königsb.1635). Ein späterer Versuch, die dt. Bühne imSinne von Opitz mit einer »Tragoedie« zuerneuern, blieb ohne Wirkung (BabylonischerOfen. Königsb. 1646). Trotz fünfaktiger Auf-teilung u. Verwendung des Alexandrinersstand auch dieses Werk noch zu stark in derTradition des protestantischen Schuldramas.Zudem entstanden im Zusammenhang mitseiner akadem. Lehrtätigkeit zwei Lehrbü-

cher sowie zahlreiche Orationes u. von ihmpräsidierte Dissertationes in lat. Sprache.

Eine nachhaltige Wirkung war K. nichtbeschieden. Zwar schätzte Gottsched ihnnoch als Neulateiner neben Hutten u. Johan-nes Secundus u. erwähnte ihn neben Opitz,Fleming u. Tscherning als dt. »Meister inOden«, doch war er als Dichter in der zweitenHälfte des 18. Jh. nahezu vergessen. Amlängsten überdauerte sein Rhetorik-Lehrbuchfür württembergische Schulen, CompendiumRhetorices (Ffm. 1682), das bis 1765 mindes-tens fünf Auflagen erlebte u. – versehen mit»den nöthigen Zusätzen und Verbesserun-gen« – noch auf die Generation des jungenSchiller wirkte.

Weitere Werke: Dissertatio Musica. 1664. –Gottselige Andachten. Tüb. 1668. – Parodiae inlocos communes. Tüb. 1671. – In satyricos tres La-tinorum. Tüb. 1688. – Der Glorwürdigste Daphnis.o. O. 1689.

Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 144–150. – C.K. Ausw. aus dem Werk. Hg. Wilfried Barner. Tüb.1977 (mit ausführl. Einl. u. Werkregister).

Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl.Bd. 2, S. 2214–2257. – Axel E. Walter: Caldenba-chiana in St. Petersburg. Ein Beitr. zur Bibliogr. desKönigsberger Dichterkreises. In: Kulturgesch.Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. KlausGarber u. a. Tüb. 2001, S. 963–993. – Weitere Titel:Programmata funebria. Tüb. 1698. – Daniel Hein-rich Arnoldt: Ausführl. u. mit Urkunden vers.Historie der Königsberg. Universität. Bd. 2. Kö-nigsberg 1746. Nachdr. Aalen 1994. – Kl.: C. K. In:ADB. – Peter Ukena: C. K. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 388 f. – Reinhard Aulich: Von der›Sorgfalt etwas gutes zu erfinden‹. C. K.s Ver-ständnis vom Umgang mit dem Wort. Zur litera-rhistor. Einordnung eines wieder entdeckten Poetadoctus. In: Daphnis 22 (1993), S. 393–412. – Ta-deusz Oracki: Krzysztof K. – poeta z Królewca(1613–1698). In: Królewiec a Polska. Praca zbio-rowa pod redakcja Mariana Biskupa i WojciechaWrzesinskiego. Olsztyn 1993, S. 89–98. – WilfriedBarner: Tübinger Poesie u. Eloquenz im 17. Jh.: C.K. In: Ders.: Pioniere, Schule, Pluralismus. Studienzu Gesch. u. Theorie der Literaturwiss. Tüb. 1997,S. 69–96. – George J. Buelow: K. In: New Grove. –Ulrike Aringer-Gran. C. K. In: MGG. 2. Aufl.(Pers.). – W. Barner: Barockrhetorik. Tüb. 2002,S. 425–447. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2,S. 959–964. Ulrich Maché / Axel E. Walter

Kaldenbach261

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 38: Kafka Killy Lexikon

Kaléko, Mascha, eigentl.: M. Aufen-Engel,* 7.6.1907 Schidlow/Galizien (Chrzanów/Polen), † 21.1.1975 Zürich; Grabstätte:ebd. – Lyrikerin.

Als Tochter russisch-jüd. Emigranten wuchsK. in kleinbürgerl. Verhältnissen auf. 1914flüchtete die Familie nach Deutschland. ErsteStationen waren Frankfurt/M. u. Marburg; ab1918 hatte sie ihren Wohnsitz in Berlin, da-mals ein Zentrum jüd. Lebens. Nach dermittleren Reife durchlief K. eine Lehre bei derArbeiterfürsorge der jüd. OrganisationenDeutschlands, daneben belegte sie Abend-kurse in Philosophie u. Psychologie an derHumboldt-Universität. 1928 heiratete sie denJournalisten Dr. Saul Kaléko, Mitarbeiter der»Jüdischen Rundschau«. Ab 1929 erschienenerste Gedichte in der »Vossischen Zeitung«,dem »Berliner Tageblatt«, der »Welt amMontag« u. der »Weltbühne«. Ernst Rowohltentdeckte sie u. verlegte 1933 ihr erstes BuchDas lyrische Stenogrammheft (Bln. Neuausg.Hbg. 1956. 312007), kurz darauf das KleineLesebuch für Große (Bln. 1935), eigenwillig-ironisch, schnoddrig-unsentimentale Mo-mentaufnahmen aus dem Berliner Groß-stadtalltag. Man feierte K. im RomanischenCafé, Treffpunkt der literar. Boheme. Kla-bund, Tucholsky, Ringelnatz, Thomas Mannu. Hesse rühmten den neuen Ton ihrer Zeit-gedichte, gemischt aus Skepsis u. Trauer,Humor u. Wehmut.

K.s Dichtungen hatten Erfolg, aber keineWirkung mehr. 1935 verbrannten die Natio-nalsozialisten in Berlin ihre Bücher; 1938floh K. mit ihrem zweiten Mann, dem chas-sid. Musiker u. Musikwissenschaftler ChemjoVinaver, u. ihrem Sohn nach New York. Sieschrieb für die deutschsprachige Exilzeit-schrift »Aufbau« u. verdiente ihren Lebens-unterhalt als Werbetexterin. 1945 erschienenihre Verse für Zeitgenossen (Cambridge/Mass.,Hbg. 1958. 2007); 1960 emigrierte sie mitihrer Familie nach Jerusalem, wo 1968 ihrSohn u. fünf Jahre später ihr Mann starben.Im Heine-Gedenkjahr 1956 reiste sie zumersten Mal wieder nach Europa; im Sommer1974 unternahm sie ihre letzte Lesereise nachDeutschland u. in die ehem. Reichshaupt-stadt. Ihre Gedichtbände Verse in Dur und Moll

(Olten 1967), Das himmelgraue Poesie-Album(Bln. 1968. Mchn. 1986. 61995), Hat alles seinezwei Schattenseiten (Düsseld. 1973) blieben zurZeit ihres Erscheinens von Kritik u. Öffent-lichkeit weithin unbeachtet.

Die Erfahrungen des Exils bestimmen K.sPoesie nach 1938. In den späten Gedichtenaus den New Yorker u. Jerusalemer Jahrenleistet sie eine unbarmherzige Inventur ihresLebens, ihres Heimwehs nach der verlorenenHeimat. Ihre Lyrik hat manches mit Kästner,Morgenstern u. Ringelnatz gemeinsam, ihrwirkl. Geistesverwandter aber blieb der»Flüchtling Heinrich Heine«. Sie ist seinelegitime Erbin.

Weitere Werke: In meinen Träumen läutet esSturm. Gedichte u. Epigramme aus dem Nachl.Mchn. 1977. 1997. – Heute ist morgen schon ges-tern. Gedichte aus dem Nachl. Hg. u. eingel. v.Gisela Zoch-Westphal. Bln. 1980. Mchn. 1983.51991. – Der Gott der kleinen Webefehler. Spa-ziergänge durch New Yorks Lower Eastside u.Greenwich-Village. Mit einem Nachw. v. HorstKrüger. Bln. 1981 (P.). – M. K. [Ausw. DorotheaOehme]. Bln. 1990. – Die paar leuchtenden Jahre.Mit einem Ess. v. Horst Krüger. Hg. u. eingel. v.Gisela Zoch-Westphal. Mit der Biogr. ›Aus densechs Leben der M. K.‹ v. G. Z.-W. Mchn. 2003.72008. – Ich bin von anno dazumal. Chansons,Lieder, Gedichte. Mchn. 1987. – Mein Lied gehtweiter. Hundert Gedichte. Hg. G. Zoch-Westphal.Mchn. 2007. – Liebesgedichte. Ausw. u. Nachw. v.Elke Heidenreich. Ffm./Lpz. 2007.

Literatur: Irene Astrid Wellershoff: Vertrei-bung aus dem ›kleinen Glück‹. Das lyr. Werk v. M.K. Diss. Aachen 1982. – Gisela Zoch-Westphal: Ausden sechs Leben der M. K. Biogr. Skizzen, ein Tgb.u. Briefe. Bln. 1987. – Birgit Lermen: Dt. Dichte-rinnen jüd. Herkunft. M. K. – Hilde Domin. Aachen1990. – Tanja Lange: Kulturkonflikte (über)leben.Die sprachl. u. literar. Strategien der jüd.-dt.Schriftstellerin M. K. In: Dies.: Lit. u. Kultur inGrenzräumen. Ffm. u. a. 2002, S. 111–124. – An-dreas Nolte: ›Mir ist zuweilen so, als ob das Herz inmir zerbrach‹. Leben u. Werk M. K.s im Spiegelihrer sprichwörtl. Dichtung. Ffm. u. a. 2003. – Ka-rina Tippelskirch: Mimikry als Erfolgsrezept. M.K.s Exil im Exil. In: Helga Schreckenberger (Hg.):Ästhetiken des Exils. Amsterd. 2003, S 157–171. –Lex. dt.-jüd. Autoren. – Hans Richard Brittnacher:›Auf meinem Herzen geh ich durch die Straßen‹.Die Berliner L. M. K.s. In: Matthias Harder u. Al-mut Hille (Hg.). ›Weltfabrik Berlin‹. Würzb. 2006,S. 115–128. – Nevana Hadjieva: Interkulturalität in

Kaléko 262

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 39: Kafka Killy Lexikon

›Lower Eastside‹ u. ›Greenwich Village‹ v. M. K.?In: Interkulturalität u. Nationalkultur in derdeutschsprachigen Lit. Dresden 2006, S. 261–270.– Sonja Hilzinger: ›Heimat du, wievielte‹. Facetteneines Amerika-Bildes in der Lyrik v. Rose Ausländeru. M. K. In: Jochen Vogt u. Alexander Stephan(Hg.): Das Amerika der Autoren. Mchn. 2006,S. 149–167. – Andreas Nolte (Hg.): ›Ich stimme fürMinetta Street‹. FS aus Anlass des 100. Geburtstagsv. M. K. Burlington 2007. – Jutta Rosenkranz: M. K.Biogr. Mchn. 2007. – Anne-Gabriele Michaelis: DieWelt der Poesie für neugierige Leser. Bd. 2: Dt.-jüd.Dichterinnen: Rose Ausländer, Hilde Domin, M.K., Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, NellySachs. Lpz. 2007. Beate Pinkerneil / Red.

Kalenter, Ossip, eigentl.: JohannesBurckhardt, * 15.11.1900 Dresden, † 14.1.1976 Zürich. – Erzähler, Lyriker, Reise-schriftsteller.

Nach dem Studium der Kunstgeschichte u.Germanistik in Heidelberg u. Leipzig war K.Mitarbeiter u. Korrespondent der »Frank-furter Zeitung«, des »Berliner Tageblatts« u.der »Vossischen Zeitung«. Seine ersten Ge-dichtbände wie Der seriöse Spaziergang (Dres-den/Bln. 1920) oder Die Idyllen um Sylphe(Hann. 1922) waren stilistisch von einem ge-mäßigten Expressionismus geprägt.1924–1934 lebte K. als freier Schriftsteller inItalien u. siedelte dann nach Prag über, wo erjournalistisch für das »Prager Tagblatt« tätigwar. 1939 musste er vor den Nationalsozia-listen in die Schweiz fliehen. K. war 1945Gründungsmitglied des InternationalenSchutzverbandes deutschsprachiger Schrift-steller u. wurde 1957 zum Präsidenten desP.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autorenim Ausland gewählt.

Nachdem K. bis Kriegsende hauptsächlichin den verschiedensten Bereichen als Journa-list u. Übersetzer – u. a. von Prosper Mériméeu. Evelyn Waugh – gearbeitet hatte, begannab 1950 seine zweite schriftstellerischeSchaffensperiode. Charakteristisch für dieseZeit sind seine heiter poetischen Prosami-niaturen wie Soli für Füllfeder mit obligater Oboe(Basel 1951). Weiterhin wurde K. bekanntdurch seine Stadt- u. Reisebilder, gesehen mitden Augen eines Flaneurs. Seine ausdrückl.Vorliebe galt hierbei bes. den Menschen u.

Landschaften Italiens, die er in Werken wieVon irdischen Engeln und himmlischen Land-schaften (Zürich 1955) oder Die Abetiner. Glückund Glanz einer kleinen Mittelmeerstadt (Zürich1950. Ffm. 1959) sehr einfühlsam u. liebevollcharakterisierte.

Weitere Werke: Das goldene Dresden. EineArabeske. Hann. 1922. – Das gereimte Jahr. Ge-dichte für Kinder. Zürich 1953. – Ein gelungenerAbend. Komische Gesch.n. Zürich/Stgt. 1955. – DieLiebschaften der Colombina. Ebd. 1957. – Ren-dezvous um Mitternacht. Seltsame Liebesgesch.n.Ebd. 1958. – Von Genua bis Pisa. Bildbd. mit KarlJud. Ebd. 1959 (Reisebuch). – Olivenland. Ital. Mi-niaturen. Ebd. 1960. – O. K. zum hundertsten Ge-burtstag: Der seriöse Spaziergänger. Arabesken.Vorw. v. Wulf Kirsten u. Nachw. v. Norbert Weiß.Dresden 2000 (Signum Sonderh.).

Literatur: Hans Kühner: O. K. zum 60. Ge-burtstag. In: Dt. Rundschau 86 (1960),S. 1104–1106. Heiner Widdig / Red.

Kalisch, David, auch: D. J. Schalk, * 23.2.1820 Breslau, † 21.8.1872 Berlin; Grab-stätte: ebd., Friedhof der St. Matthäi-Ge-meinde. – Bühnenautor, Journalist.

K. entstammte einem aufgeklärt-liberalerTradition verpflichteten jüd. Elternhaus. Derfrühe Tod des Vaters, eines Pelzhändlers,führte zur Verarmung der Familie u. zwangdem Gymnasiasten K. 1837 eine kaufmänn.Lehre auf. Der sich anbahnenden Handels-karriere ging er aus dem Weg, als er sich 1844nach Paris wandte, dort in wechselndenStellungen sein Leben fristete u. Bekannt-schaft (wohl weniger mit polit. Emigrantenals) mit dem Boulevardtheater schloss. InBerlin seit 1846, reüssierte K. 1847 schon mitseinem Possenerstling Ein Billet von Jenny Lindoder Das erste Debüt in Schöneberg (Bln. 1846),erzielte mit Einmalhunderttausend Thaler!(Urauff. 1847 am Königsstädtischen Theater.Bln. 1848) den endgültigen Durchbruch u.blieb in der Folge einer der meistgespieltendt. Bühnenautoren.

Im Berlin der 48er-Revolution erschiendie erste Nummer seines »Kladderadatsch«(= Krach, Umsturz), des politisch-satir. »Or-gans für und von Bummler«, das – trotz an-fängl. behördl. Nachstellungen wegen dertreffsicheren Satire gegen Militär, Obrigkeit,

Kalisch263

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 40: Kafka Killy Lexikon

Geistlichen – als einziges Witzblatt dieser Artauch nach 1848 noch Bestand hatte (bis 1944).Dem Redaktionskollegium gehörten nebenK., der Glossen, Parodien u. Travestien bei-steuerte, seine Vettern Ernst Dohm u. RudolfLöwenstein sowie Wilhelm Scholz an, ohnedessen Illustrationen stehende Figuren K.swie Zwickauer, Karlchen Mießnick, Müller u.Schultze kaum zu ihrer Popularität gelangtwären.

»Das Wetterleuchten der Ideen, / Der jun-gen Freiheit Fahnenwehen« (aus: Prolog zuBerlin bei Nacht. Bln. 1849), bis dahin wesentl.Momente von K.s politisch auf der Höhe derZeit stehenden, anspielungsreichen Possen(oft nach frz. Urtext), fielen nach der miss-glückten Revolution dem Hinckeldey’schenTheaterzensurerlass von 1851 zum Opfer;krit. Impulse lebten in K.s umgearbeitetenbzw. später entstehenden Stücken nur inentschärfter Form fort, ja schienen sich inPolitpossen wie Faust, der zu spät bekehrte De-mokrat (Bln. 1853) ins Gegenteil zu verkehren(»Habe nun, ach! Demokratie, / Wühlerei undCommunismus [...]«). Nach der Schließungdes Königsstädtischen Theaters (1851) wurdeK. Hausautor des späteren Wallner-Theatersu. feierte Erfolge mit Kleinbürgermisere u.schließliches Glück im Winkel präsentieren-den Volksstücken wie Berlin, wie es weint undlacht (Nach O. F. Berg. Bln. 1858).

Das soziale Weichbild der werdendenWeltstadt, die »feinen Leute und des Stra-ßengesindel, / Mit eenem Wort, den BerlinerSchwindel« (Prolog zur 100. Auff. des Ak-tienbudikers, 1856), nahmen sich K.s Stückezum Vorwurf. Tagesaktueller Zuschnittinsbes. der Couplets war dabei notwendigeBedingung. Den »poetischen und bleibendenWert« seiner Bemühung hat ihm schon Kel-ler, gegen »die literarischen Schlafmützen«gerichtet, bescheinigt (Brief an Hettner,4.3.1851).

Weitere Werke (Ort jeweils Bln.): Berliner aufWache. 1848. – Junger Zunder – Alter Plunder.1851. – Ein März-Gefangener (später: Er verlangtsein Alibi!). 1854. – Die Bummler von Berlin. 1854.– Doctor Peschke oder: Kleine Herren. Urauff.1857. In: Lustige Werke. 5 H.e, 1870. – Ein gebil-deter Hausknecht, oder Verfehlte Prüfungen.Urauff. 1858. In: ebd. – Berliner Leierkasten.

Couplets. 1858. 91861. – Einer v. unsere Leut’.Urauff. 1859. – Namenlos. 1864. – Krethi u. Plethi.Urauff. 1865. Hg. Heidrun Kerstein. Ffm. u. a.1989. – Haussegen, oder Berlin wird Weltstadt.Urauff. 1866. In: Lustige Werke, a. a. O. – Hun-derttausend Taler. Altberliner Possen 1849–51. Hg.Manfred Nobel. 2 Bde., 1988.

Literatur: Max Ring: D. K. Der Vater desKladderadatsch u. Begründer der Berliner Posse.Bln. 1873. – Curt Meyer: Alt-Berliner Polit. Volks-theater (1848–50). Emsdetten 1951. – Erika Wi-scher: Das Wallner-Theater [...]. Das Berliner Lo-kalpossen-Theater des Nachmärz. Diss. Mchn.1967. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution.Mchn. 1973. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater.Mchn. 1980. – Hugo Aust u. a.: Volksstück. Mchn.1989. – Orsolya Hanusz: Metamorphosen des Ge-sprochenen. Sprachl. Signale einer Schicksalswendein den Possen v. D. K. u. Johann Nepomuk Nestroy.In: Der Text als Begegnungsfeld zwischen Litera-turwiss. u. Linguistik. Hg. Lajos Szalai. Szom-bathely 2000, S. 247–256. – Urs Helmensdorfer:Berlin wird Weltstadt. D. K. – ein preuß. Nestroy?Versuch einer Annäherung. In: Nestroyana 21(2001), H. 3/4, S. 132–149. – Lex. dt.-jüd. Autoren.

Arno Matschiner / Red.

Kalisch, Ludwig, * 7.9.1814 Polnisch-Lissa/Posen, † 3.3.1882 Paris. – Journalist,Lyriker, Verfasser erzählender u. satiri-scher Schriften, Übersetzer.

Seit 1835 studierte K., der aus einer jüd. Fa-milie stammte, in Heidelberg u. MünchenMedizin. Eine Sammlung von Balladen, Lie-bes- u. Freiheitsgedichten veröffentlichte er1836 u. d. T. Barbiton oder Stunden der Muse(Heidelb.). 1838 ging er nach Bingen, 1840nach Mainz, wo er sich als Schriftsteller u.Privatlehrer niederließ u. eine rege publizis-tische Tätigkeit entfaltete. 1843 wurde erRedakteur, 1844 auch Herausgeber derMainzer Karnevalszeitung »Narrhalla«. Un-ter dem Schutz der Narrenkappe verspotteteer in seinen Artikeln die reaktionären polit.Zustände u. setzte sich für bürgerl. Freiheitenein. In Gießen wurde er nach sprach- u. lite-raturwissenschaftl. Studien 1847 zum Dr.phil. promoviert. 1848 gab er in Mainz dieZeitung »Der Demokrat« heraus, die dasSprachrohr des »Demokratischen Vereins« u.des Mainzer Arbeiterbildungsvereins war u.die Interessen der »Besitzlosen« vertrat.

Kalisch 264

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 41: Kafka Killy Lexikon

Die 1840er Jahre waren die produktivsteZeit im Leben K.s. Neben seiner redaktionel-len Tätigkeit veröffentlichte er mehrere Bü-cher mit Humoresken, Satiren u. Parodien, indenen er sich über Kleinmut u. Lethargie des»deutschen Michels« mokierte (Schlagschatten.Mainz 1844. 21849. Das Buch der Narrheit.Mainz 1845. Lose Hefte. 2 Bde., Lpz. 1847).Seine oft bissige polit. Polemik machte auchvor den bürgerl. Abgeordneten der Frank-furter Nationalversammlung nicht Halt, dieeher bereit waren, mit der Reaktion als mitdem Proletariat gemeinsame Sache zu ma-chen (Shrapnels. Ffm. 1849). – Nach der Nie-derschlagung der Revolution – im Mai/Juni1849 war K. Mitgl. der provisorischen Re-gierung der Pfalz, 1851 wurde er in Abwe-senheit zum Tod verurteilt – floh K. nachParis. Über das Alltagsleben in der frz.Hauptstadt u. in London veröffentlichte er1851 zwei Bände mit Reportagen, die ihn alssensiblen u. kritisch-engagierten Beobachterlokaler u. nationaler Eigenarten zeigen (Parisund London. Ffm. Neuausg. u. d. T. Künstler,Quäker, Demokraten. Impressionen aus Paris undLondon. Hg. Therese Erler. Bln./DDR 1970).

Im Pariser Exil arbeitete K. als Lehrer,Übersetzer u. Zeitungskorrespondent u. un-terhielt Verbindungen zu dt. Emigranten wieMoses Hess. Über seine Besuche bei demtodkranken Heine berichtete er in der »Gar-tenlaube«. Hier schrieb er auch über JacquesOffenbach (beides erneut abgedruckt in: Pa-riser Leben. Bilder und Skizzen. Mainz 1880.21882), von dem er mehrere Operettentexteins Deutsche übersetzte. Einen Beitrag zurKulturgeschichte des Ostjudentums stellenseine Kindheitserinnerungen (Bilder aus mei-ner Knabenzeit. Lpz. 1872) dar, die wenigereine Autobiografie als eine Schilderung derSitten u. Gebräuche in der jüd. Gemeindeseiner Vaterstadt sind. Mit diesem Buch plä-dierte K. zgl. für Toleranz gegenüber einerreligiösen u. ethn. Minderheit.

Weitere Werke: Poetische E.en. Siegen/Wiesb.1845. 21854. – Heitere Stunden. N.n u. E.en. 2 Bde.,Bln. 1872. – Streifzug durch die Narrhalla. Satiri-sches, Lustiges u. Bedenkliches. Hg. Heinz Seydel.Bln./DDR 1974.

Literatur: Barbara Glauert: Paris: Avenue deMatignon Nr. 3. L. K.s Unterhaltungen mit Hein-

rich Heine. In: Das Neue Mainz. Wirtschaft, Ver-kehr, Kultur (1972), H. 12, S. 2–4. – Josef Heinzel-mann: L. K. In: NDB. – Julius H. Schoeps: An derSeite der Unterdrückten. L. K. [.. .]. In: Ders. u.Walter Grab (Hg.): Juden im Vormärz u. in derRevolution v. 1848. Stgt./Bonn 1983, S. 331–351. –Adolf Wild: Bingen aus der unromant. Sicht desSchriftstellers L. K. In: Bingen u. die Rheinroman-tik 22 (2002/03), S. 117–128. – Anton Maria Keim:L. K. Karneval u. Revolution. Ingelheim 2003. –Lex. dt.-jüd. Autoren. Peter Langemeyer / Red.

Kaltenboeck, Bodo, auch: Kaka, * 15.12.1893 Stuttgart, † 5.11.1939 Wien. – Er-zähler, Essayist.

Im dt. Kaiserreich aufgewachsen, diente K. imErsten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger in derösterreichisch-ungarischen Armee u. wurdemit der Goldenen Tapferkeitsmedaille aus-gezeichnet. Nach dem Krieg schloss er seinStudium in Graz ab u. lebte anschließend inWien. Im Ständestaat wurde K. 1936/37 fürein Jahr wegen illegaler nationalsozialisti-scher Betätigung inhaftiert; einen Berichtvon dieser Zeit gab er in Das törichte Auge. DieSelbstgespräche eines Unentwegten (Wien/Lpz.1938). Zu Beginn des Zweiten Weltkriegsrückte er als Kommandeur eines Landes-schützenbataillons ein; wenige Monate spä-ter erlag er einer Krankheit.

K.s Eintreten für einen soldatischenDeutschnationalismus spiegelt sich in polit.Schriften wie in der 1924 unter dem Pseud.»Kaka« erschienenen Satire Lehrbuch der Dem-agogie, aber auch in literar. Arbeiten wie in deraltertümelnden Erzählung Der Unfug inn derOrtenau (Ein Buch unter Lachen unnd Weynen.Wien/Lpz. 1937). Der zwischen realistischerDarstellung u. pathetisch-heroischer Über-höhung angesiedelte Kriegsroman Armee imSchatten. Die Tragödie eines Reiches (Innsbr./Wien/Mchn. 1932; bis 1942 mehrfach wiederaufgelegt u. dabei um eine mystisch-symbo-lische »Totenfeier« erweitert) zielt auf eineEhrenrettung der k. k. Armee: Weil sie alsVielvölkergemisch in ihrer Schlagkraft ein-geschränkt gewesen sei, habe sie zu Unrechtim Schatten des dt. Militärs gestanden. In-dem K. das altösterr. Heer als »schönsteSchöpfung deutschen Geistes« auffasst, gerät

Kaltenboeck265

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 42: Kafka Killy Lexikon

auch sein Roman zur Propaganda für diegroßdt. Reichsideologie.

Weitere Werke: F. T. Vischer’s ›Auch einer‹,eine amplificatio der ›Aesthetik‹. Diss. Graz 1920. –Dtschld. – Österreich. Irrtum u. Richtung. Wien/Lpz. 21934 (polit. Ess.). Ernst Fischer

Kaltenbrunner, Karl (Carl) Adam, * 30.12.1804 Enns/Oberösterreich, † 6.1.1867Wien; Grabstätte: ebd., Matzleinsdorferkatholischer Friedhof (jetzt: Waldmül-lerpark). – Lyriker, Dramatiker, Erzähler,Kritiker.

Aus einer der ältesten Sensenschmiedefami-lien des Kremstales stammend, besuchte K.,dessen Vater das einträgl. Handwerk nurkurze Zeit ausübte u. dann ein Gasthausübernahm, in Admont u. Linz die Schule u.trat 1823 in die Linzer Staatsbuchhaltung ein.1842–1867 war er in der k. k. Hof- u. Staats-druckerei in Wien tätig, ab 1859 als Vizedi-rektor dieses Instituts. K., der bereits wäh-rend seiner Linzer Zeit Mittelpunkt des obe-rösterr. literar. Lebens war, insbes. als Thea-terkritiker für das »Bürgerblatt«, widmetesich auch in Wien ganz der Dialektdichtung.Besonders bekannt wurde er mit den Ge-dichtbänden Obderennsische Lieder (Linz 1845),Alm und Zither (Wien 1846) u. ÖsterreichischeFeldlerchen (Nürnb. 1857), in denen es ihmgelingt, Ursprünglichkeit u. Kraft des Dia-lekts zu bewahren. Auch als Erzähler u. Dra-matiker hatte er einigen Erfolg, etwa mit demVolksstück Die drei Tannen, das 1862 amCarltheater uraufgeführt wurde. K. warMitgl. der »Concordia«, des »Hesperus« u.der Ritterschaft »Grüne Insel«.

Weitere Werke: Vaterländ. Dichtungen. Linz1835 (L.). – Aus dem Traungau. Oberösterr. Dorf- u.Volksgesch.n. Wien 1863.

Literatur: Joseph Wihan: K. A. K. als mundartl.Dichter. Linz 1904. – Hildegard Dunzinger: K. A.K. Diss. Wien 1949. – Goedeke Forts.

Johannes Sachslehner / Red.

Kaltneker, Hans, * 2.2.1895 Temesvár/Banat, † 29.9.1919 Gutenstein/Nieder-österreich. – Erzähler, Dramatiker, Lyri-ker.

Der Sohn eines österr. Offiziers wuchs inWien auf. Als Gymnasiast gab er zusammenmit Flesch-Brunningen u. Paul Zsolnay eineliterar. Zeitschrift heraus. 1912 erkrankte eran Tuberkulose; 1915 begegnete er Klabundim Sanatorium in Davos.

Bis 1917 entstanden drei Erzählungen,zahlreiche Gedichte, darunter ein Sonetten-zyklus für die Burgschauspielerin ElseWohlgemuth u. das Mysterium für Musik DieHeilige, das Hans Müller u. Erich WolfgangKorngold zur Oper Das Wunder der Heliane(Mainz 1927) umarbeiteten. 1917 legte K. dieerste juristische Staatsprüfung ab. 1918/19verfasste er drei Dramen u. das MärchenspielSchneewittchen. Sein postum erschienenesWerk enthält christl. Motive. Mit expressio-nistischem Pathos schrieb K. von Schuld u.Sühne, Leid u. Erlösung, ähnlich verzweifeltwie Trakl oder Albert Ehrenstein, v. a. in demDrama Das Bergwerk (Wien 1921) zgl. enga-giert wie ein österr. Ernst Toller.

Weitere Werke: Dichtungen u. Dramen. Hg.Paul Zsolnay. Vorw. Felix Salten. Bln./Wien/Lpz.1925. – Die drei Erzählungen. Ebd. 1929. – Ge-richtet! Gerettet! Hg. Hellmuth Himmel. Graz/Wien 1959.

Literatur: Emmy Wohanka: H. K. Diss. Wien1933. – Hellmuth Himmel: Die Problematik imWerk K.s u. ihr Ort in der österr. Lit. Diss. Graz1951. – Nikolaus Britz: Der Expressionismus u.sein österr. Jünger H. K. Wien 1975. – Jaak de Vos:Gefangenschaft in den Dramen H. K.s. Diss. Gent1981. – Norbert Frei: ›Wir sind nicht gut genugzueinander‹. Zum Werk von H. K. In: In: KlausAmann u. Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismusin Österr. Die Lit. u. die Künste. Wien/Köln/Wei-mar 1994, S. 499–514. – Jaak De Vos: ›Schwesterder Welt!!!‹ Androgynie als ›coincidentia opposi-torum‹ im ethisch-religiösen Spannungsfeld bei H.K. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Androgynie u.Inzest in der Lit. um 1900. Salzb. u. a. 2005,S. 27–150. Wilfried Ihrig / Red.

Kaltenbrunner 266

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 43: Kafka Killy Lexikon

Kaminer, Wladimir, *19.7.1967 Moskau.– Verfasser essayistischer Kurzerzählun-gen.

K. wuchs als Sohn jüd. Eltern in der Sowjet-union auf, lernte Toningenieur für Theater u.Rundfunk u. absolvierte Ende der 1980erJahre ein Studium der Dramaturgie amMoskauer Theaterinstitut. Im Frühjahr 1990emigrierte er in die DDR. Nach der Wieder-vereinigung als so genannter Kontingent-flüchtling anerkannt, erhielt K. 1991 ein un-befristetes Aufenthaltsrecht u. lebt seitdemmit seiner Frau u. seinen beiden Kindern inBerlin.

1998 veröffentlichte K. in der »taz« seineerste Kurzgeschichte, Wie die Russen Weih-nachten feiern. Mit dem Erzählband Russendis-ko (Mchn. 2000) avancierte er 2000 zu einemder gefragtesten deutschsprachigen Jung-autoren. Seinen Erzählungen wurden inmehr als 20 Sprachen übersetzt. Ungeachtetder bewussten Popularität seiner Texte dis-tanziert sich K. explizit von der neuendeutschsprachigen Popliteratur, deren Ver-tretern er Selbstbezüglichkeit vorwirft. SeineKurzgeschichten über den Alltag osteuropäi-scher, meist russ. Emigranten in Berlin sindbestimmt von einer iron. Mischung aus All-tagsbegebenheiten u. polit. Agitation u.zeichnen sich stilistisch durch die Nähe zumSituationismus aus. Dass K. hierbei v. a. vonseinen eigenen Erlebnissen ausgeht, verleihtseinen Erzählungen ihre Authentizität u. ih-ren Witz. In der Chronologie der Bücherwerden seine Geschichten zgl. zu einem mitdem Blick des Außenstehenden verfasstenLangzeitdokument über die kulturelle Neu-bestimmung eines Landes u. lesen sich alsChronik der dt. Alltagskultur seit der Wie-dervereinigung.

Mit Ausnahme der Kolumne in der »RusskiBerlin«, der Regionalausgabe einer russisch-dt. Wochenzeitung, schreibt K. ausschließlichauf deutsch. Er ist langjähriges Mitgl. der1995 auf Initiative von Hans Duschke u. BovBjerg gegründeten Berliner Lesebühne »Re-formbühne Heim & Welt«, die seit 1999 jedenSonntag in der »Tanzwirtschaft Kaffee Bur-ger« in Berlin/Mitte gastiert. Daneben hat K.mit »Russendisko unplugged« eine wö-

chentl. Sendung beim RBB »radiomultikulti«sowie eine unregelmäßig gesendete Rubrikbeim »ZDF-Morgenmagazin«. Sein erstesTheaterstück, Marina. Wiedersehen in der Rus-sendisko, wurde im Januar 2003 vom »JungenTheater« in Göttingen aufgeführt. Gemein-sam mit dem aus der Ukraine stammenden,in Berlin lebenden Musiker u. PerformerYuriy Gurzhy (RotFront, Shtetl Superstars)gründete K. die zweiwöchentlich stattfin-dende »Russendisko«, die zu einem Hypezeitgenöss. russ. Rockmusik in Berlin führteu. die Initiatoren wie das »Kaffee Burger«(dort seit 2000) weit über die Grenzen Berlinshinaus bekannt machte. Inzwischen gastiertK. sowohl als Autor als auch als DJ regelmä-ßig in allen größeren dt. Städten.

Weitere Werke: Schönhauser Allee. Mchn.2001. – Militärmusik. Mchn. 2001. – Helden desAlltags. Ein lichtbildgestützter Vortrag über dieseltsamen Sitten der Nachkriegszeit (zus. mit Hel-mut Höge). Mchn. 2002. – Die Reise nach Trulala.Mchn. 2002. – Mein dt. Dschungelbuch. Mchn.2003. – Ich mache mir Sorgen, Mama. Mchn. 2004.– Karaoke. Mchn. 2005. – Küche totalitär. DasKochbuch des Sozialismus (zus. mit Olga Kaminer).Mchn. 2006. – Ich bin kein Berliner. Ein Reise-führer für faule Touristen. Mchn. 2007. – MeinLeben im Schrebergarten. Mchn. 2007. – SalvePapa! Mchn. 2008. – Es gab keinen Sex im Sozia-lismus. Mchn. 2009. – Herausgeber: Frische Gold-jungs. Storys. Mchn. 2001.

Literatur: Falko Hennig (Hg.): Volle Pulle Le-ben. Zehn Jahre Reformbühne Heim & Welt. Mchn.2005. – Irgendwann verschwindest Du. In: NZZ amSonntag, 1.8.2004 (Interview v. Marina Rum-janzewa). Hania Siebenpfeiffer

Kaminski, André, eigentl. Andrzei HenrikK., * 19.5.1923 Genf, † 12.1.1991 Zürich.– Erzähler, Verfasser von Theater- u.Fernsehstücken.

Nach dem Studium der Geschichte in Genf u.Zürich (Dr. phil.; Der Niedergang der städtischenHoheitsrechte des Bischofs von Genf. Ambilly1947) wanderte K., Sohn eines Psychiaters,1945 als überzeugter Kommunist in das Landseiner Vorfahren nach Polen aus. Er arbeitetedort bis zu seiner Ausbürgerung 1968 fürRundfunk u. Fernsehen. In die Schweiz zu-

Kaminski267

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 44: Kafka Killy Lexikon

rückgekehrt, war er bis 1985 als Dramaturg u.Drehbuchautor für das Fernsehen tätig.

K. war fasziniert von Menschen, deren Vi-talität auch unter den widrigsten Umständennicht zu besiegen ist. In dem Band Die Gärtendes Mulay Abdallah. 9 wahre Geschichten ausAfrika (Ffm. 1983. 81995) porträtiert er Men-schen, deren Lebenskunst den lebenshungri-gen Westeuropäer, der sie beobachtet, inStaunen versetzt. In seinem äußerst erfolg-reichen Roman Nächstes Jahr in Jerusalem (Ffm.1986. 81987) sind es die Nachkommen zweierostjüd. Familien, die auf ihren labyrinthi-schen Lebenswegen Schlauheit u. Ausdauerunter Beweis stellen u. die Fantasie ihresEnkels anregen, der als Erzähler deren Ge-schichte rekonstruiert. Kaum mehr ange-messen ist K.s Fabulierkunst, seine Vorliebefür Pointen u. grelle Farben, den Schicksalenaus dem vom Krieg gezeichneten Polen der1950er u. 1960er Jahre, die im Roman Kiebitz(Ffm. 1988) geschildert werden.

Weitere Werke: Herzflattern. 9 wilde Gesch.n.Ffm. 1984. 81991. – Schalom allerseits. Tgb. einerDeutschlandreise. Ffm. 1987. 31987. – Flimmer-gesch.n. Ffm. 1990. – Adam, Eva u. die Dampf-walze. Bln. 1990. – Der Sieg über die Schwerkraftu. a. E.en. Ffm. 1990. – Kaminski erzählt. Ffm./Lpz.1991 (enth. ›Die Gärten des Mulay Abdallah‹ u.›Herzflattern‹).

Literatur: Albrecht Classen: The Encounterwith the Other World. A. K.’s Search for the JewishPast. In: Carol Aisha Blackshire-Belay (Hg.): TheGermanic Mosaic. Westport, CT 1994, S. 253–265.– Ders.: Große fremde Welt – Afrika literarischverarbeitet. Dem Lachen zu trotz, wir verstehen unsnicht. In: Ernest W. B. Hess-Lüttich, ChristophSiegrist u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Fremdver-stehen in Sprache, Lit. u. Medien. Ffm. 1996,S. 123–139. – Ders.: Die Überwindung derSchwerkraft. Begegnungen mit der Fremde im li-terar. Diskurs. A. K.s Kulturthesen. In: RomeySabalius (Hg.): Neue Perspektiven zur deutsch-sprachigen Lit. der Schweiz. Amsterd. 1997,S. 167–185. Dominik Müller / Red.

Kamossa, Käthe, * 15.12.1911 Berlin,† 8.7.1989 Berlin; Grabstätte: ebd., Städ-tischer Friedhof Steglitz. – Lyrikerin.

K. entstammte einer ostpreuß. Klavierbauer-familie. Sie wuchs in Königsberg auf u. kam

1925 nach Berlin. Nach dem Schulbesuch ar-beitete sie kurzfristig als Kinderbetreuerinsowie in Buchhandlungen u. Verlagen. Sietrat in kleinen Rollen auf Berliner Bühnenauf, zuletzt 1969 in Ostrowskis Wölfe undSchafe.

Gefördert durch den Lyriker Gustav Stolzeschrieb K. seit Anfang der 1930er Jahre Ge-dichte, die zuerst im »Berliner Lokalanzei-ger« erschienen. Der erste Lyrikband, Auf-bruch, kam 1934 heraus (Bln.). 1942–1945bedrohte sie ein schwebendes polit. Verfahrenwegen pazifistischer Äußerungen. K. schriebhauptsächlich religiös betonte Lyrik, die vonNaturgefühl u. Musikalität bestimmt wird.Einige Gedichte wurden von Martin Grabertu. Prinz Louis Ferdinand von Preußen ver-tont. 1949 veröffentlichte sie ein KinderbuchKathrinchen (Bln. Neuaufl. u. d. T. Kathrinchenskleine Welt. Stgt. 1958). Als Stipendiatin derBerliner Akademie der Künste reiste sie zwi-schen 1967 u. 1976 dreimal zu Studienauf-enthalten nach Olevano/Italien.

Weitere Werke: Kleine Sinfonie. Prag 1942 (L.).– Lyr. Vesper. Prag 1943 (L.). – Stationen. Gedichte,Messe in A-Dur, Trag. Schausp. Bln. 1970. – Essays,Gedichte. Darmst. 1978. Detlef Krumme

Kamphausen, Felix, * 14.4.1944 Krefeld.– Erzähler, Lyriker; bildender Künstler.

Nach der frühen Scheidung der Eltern lebteK. zunächst bei der berufstätigen Mutter,später bei einer Großmutter u. in Erzie-hungsheimen. 1959–1964 verbüßte er Ju-gendstrafen. Wegen gemeinschaftlich ver-suchten Mordes wurde K. 1970 in Düsseldorffestgenommen u. 1973 im sog. Minouche-Prozess zu einer lebenslangen Freiheitsstrafeverurteilt. 1974 brach er aus dem Gefängnisaus u. versuchte, die Öffentlichkeit auf seineangeblich ungerechte Bestrafung aufmerk-sam zu machen – eine Episode, die nach zwölfTagen mit einer erneuten Festnahme endeteu. in der Erzählung Der Sprung (Düsseld. 1979)beschrieben ist. In der Haft holte K. denHauptschulabschluss nach. Nach seiner vor-zeitigen Entlassung 1985, für die sich u. a.Heinrich Böll, Ingeborg Drewitz u. LuiseRinser eingesetzt hatten, lebt K. als Schrift-steller in Düsseldorf.

Kamossa 268

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 45: Kafka Killy Lexikon

Das biografisch motivierte Hauptthemaseines literar. u. künstlerischen Werks ist dasHäftlingsleben. In Erzählungen wie Transport(Krefeld 1978), in Gedichten u. in den auto-biogr. Aufzeichnungen Zu früh zu spät. Auf-zeichnungen aus dem Jugendstrafvollzug (Ffm1981) schildert K. unter Verwendung desGefängnisjargons in lakonisch knapper All-tagssprache das Haftleben. Seine Texte wen-den sich gegen einen unwürdigen u. demo-ralisierenden Strafvollzug. K. ist einer derbekanntesten neueren Vertreter der zeitge-nöss. dt. Gefangenenliteratur, die in den1960er Jahren mit Henry Jäger einsetzte. K.organisierte auch literar. Aktivitäten von an-deren Häftlingen durch die Herausgabe vonZeitschriften u. Anthologien u. durch dieGründung eines Verlags.

Weitere Werke: Gabriel. Krefeld 1979 (E.). –Die Psychiatrierung. Dortm. 1981 (E.en). – F. K.u. a. (Hg.): Aufbruch. Dortm. 1981 (Anth.). – EinenBaum umarmen. Briefe 1976–1991 (zus. mit AstridGehlhoff-Claes). Krefeld 1991.

Literatur: Raimund Hoghe: Wo es nichts zuweinen gibt. Ein Porträt des Lebenslänglichen F. K.In: Die Zeit, 10.1.1986. Matías Martínez

Kamphoevener, Elsa Sophia Baronin von,auch: Else Marquardsen-Kamphövener,* 14.6.1878 Hameln, † 4.8.1963 Traun-stein/Obb. – Lektorin; Dramaturgin, Er-zählerin.

K. kam dreijährig in die Türkei, wo ihr Vaterdie Armee reformierte. Sie erhielt Privatun-terricht, lernte neun Sprachen u. durch-streifte als Mann verkleidet die Türkei. Derberühmte Märchenerzähler Fehim Bey nahmsie in die Gilde der Märchenerzähler auf. DasVerbot, die 800 Jahre alten Märchen aufzu-schreiben, durchbrach sie erst im hohen Al-ter, um dieses wertvolle Kulturgut zu erhal-ten. K. schrieb 20 Romane aus der arab. Welt,arbeitete 1921–1931, nach 40 Jahren in derTürkei, bei der Ufa-Tobis als Dramaturgin u.war als Übersetzerin u. Vortragskünstlerin(u. a. als »Kamerad Märchen« an der Front)tätig.

Berühmt wurde sie durch die Veröffentli-chung türk. Märchen, Legenden u. Erzäh-lungen (An Nachtfeuern der Karawan-Serail.

2 Bde., Hbg. 1956 f. Anatolische Hirtenerzäh-lungen. Hbg. 1960. Ffm. 1993), deren Leitbil-der »Heldentum, Liebe und Treue, Wahr-haftigkeit und Edelmut, soziales Empfindenund Ergebenheit im Glauben an Allah unddas Kismet« sind (Eckert).

Weitere Werke: Der weiße Scheich. Wien 1957(Jugendbuch). – Am alten Brunnen des Bedesten.Hbg. 1958. 1993 (E.). – Damals im Reiche der Os-manen. Gütersloh 1959 (Biogr. ihres Vaters).

Literatur: Otto Eckert: K. In: Der Romanfüh-rer. Bd. 13, Stgt. 1964, S. 179–181. – Helga Moe-ricke: Leben u. Werk der Märchenerzählerin E. S. v.K. 1878–1963. Als Ms. gedruckt. Aachen 1996. –Eva Chrambach: Die Märchenerzählerin E. S. v. K.u. ihr Schahin-Verlag. In: Aus dem Antiquariat(2002), H. 3, S. A141-A147.

Winfried Hönes † / Red.

Kandinsky, Wassily, * 5.12.1866 Moskau,† 13.12.1944 Neuilly-sur-Seine. – Maler,Grafiker, Kunsttheoretiker; Dramatiker,Lyriker.

Zwischen 1896 u. 1901 absolvierte K. eineAusbildung zum Maler u. Grafiker bei AntonAzbé u. Franz von Stuck in München. Seit1908, in den Landschaftsbildern aus Murnau,wandelte sich seine folkloristisch inspirierte,symbolistisch stilisierte Malweise, die Ele-mente des frz. Spätimpressionismus inte-grierte, zu einer expressiven Malweise, de-ren fortschreitende Verselbstständigung vonFarbe u. Form 1910 schließlich zur Loslösungvom Gegenstand im »Ersten abstraktenAquarell« führte.

K. u. Franz Marc traten 1909 aus der von K.gegründeten »Neuen KünstlervereinigungMünchen« aus u. organisierten 1911 die fürdie Kunst der Moderne wegweisende Aus-stellung der Künstlervereinigung »Der BlaueReiter«. 1914–1921 lebte K. wieder in Mos-kau, wo er – insbes. ab 1918 – kulturpolitischtätig war. Seit 1922 war er Lehrer am »Bau-haus« in Weimar u. ab 1925 in Dessau bis zurSchließung durch die Nationalsozialisten1933. Unter dem Einfluss von Suprematis-mus u. Konstruktivismus veränderte sich seinMalstil von expressiver zu geometr. Abstrak-tion. Noch 1933 emigrierte K. nach Frank-reich; seitdem traten amöboide, zoomorpheu. hieroglyph. Formen in seinen Bildern auf.

Kandinsky269

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 46: Kafka Killy Lexikon

Die Innovation der abstrakten Malereifundierte K. in seiner programmat. SchriftÜber das Geistige in der Kunst (Mchn. 1912. Rev.Neuaufl. Bern 2004; Vorw. u. Kommentarvon Jelena Hahl-Koch, Einf. von Max Bill). Erpropagiert die Befreiung der Kunst aus derAbbildungsfunktion der Wirklichkeit, dieVermittlung des »inneren Klangs« der ent-pragmatisierten Dinge u. damit die Herauf-kunft einer »Epoche des großen Geistigen«.

Die Bühnenkomposition Der gelbe Klangbildete den konzeptionellen Zielpunkt desvon K. u. Marc herausgegebenen Almanachs»Der Blaue Reiter« (Mchn. 1912. Mchn. 2004.2008, Faks. der Ausg. von 1912), der die Be-dingungen für eine mögl. Synthese derKünste untersucht u. selbst antizipierendverwirklicht. Dieses Gesamtkunstwerk, dia-log- u. handlungslos, ist ganz auf die kon-trastiven Synästhesien von Musik, Tanz u.Farblicht abgestimmt. K.s rudimentäre u.zgl. emphat. Verwendung von Sprache er-langte bestimmenden Einfluss auf Hugo BallsEntwicklung des dadaistischen Lautgedichtsu. die Wortkunsttheorie des »Sturm«-Kreisesum Herwarth Walden.

Klänge (Mchn. 1913) ist ein Kompendiumaus deskriptiv bis alogisch, assoziativen Ge-dichten u. folkloristischen bis abstraktenHolzschnitten, die sich um eine latente Be-deutung zentrieren: Pilgerschaft zum Geis-tigen gegen die Anfechtungen des Materiel-len.

Weitere Werke: Punkt u. Linie zu Fläche. Bei-trag zur Analyse der maler. Elemente. Mchn. 1926.Bern 1964. 2006. – Über das Theater = Du théâtre.W. K. Hg. Jessica Boissel. Köln 1998. – Ges. Schr.en1889–1916. Farbensprache, Kompositionslehreu. a. unveröffentlichte Texte. Hg. Helmut Friedel.Mit Ess.s v. Boris P. Chichlo. Mchn. u. a. 2007.

Literatur: Will Grohmann: W. K. Leben u.Werk. Köln 1958. 1981. – Richard Sheppard: K.’sAbstract Drame ›Der gelbe Klang‹. An Interpr. In:Forum for Modern Language Studies 11 (1975), Nr.2, S. 165–176. – Ders.: K.’s ›Klänge‹. An Interpre-tation. In: GLL 33 (1980), Nr. 2, S. 135–146. – PeterAnselm Riedl: W. K. Mit Selbstzeugnissen u. Bild-dokumenten. Reinb. 1983. 102004. – Gisela Kleine:Gabriele Münter u. W. K. Biogr. eines Paares. Ffm./Leipzig 1990. – Dörte Zbikowski: GeheimnisvolleZeichen. Fremde Schr.en in der Malerei des 20. Jh.Paul Gauguin, W. K., Paul Klee, Willi Baumeister,

Julius Bissier, Joaquín Torres-García, AdolphGottlieb, Mark Tobey. Gött. 1996. – Claudia KöhlerEmmert: Bühnenkompositionen u. Gedichte v. W.K. im Kontext eschatolog. Lehren seiner Zeit.1896–1914. Ffm. u. a. 1998. – Elke Linda Buchholz:W. K. Leben u. Werk. Köln 2000. – Barbara Mak-kert-Riedel: W. K. über eigene Bilder. Zum Pro-blem der Interpretation moderner Malerei. Weimar2002. – Reinhard Zimmermann: Die Kunsttheoriev. W. K. Bln. 2002. – Hajo Düchting: W. K. Mchn.u. a. 2008. – Helmut Friedel u. Evelyn Benesch(Hg.): W. K. Mchn. u. a. 2008.

Armin Schulz / Red.

Kanehl, Oskar, * 5.10.1888 Berlin, † 28.5.1929 Berlin. – Lyriker, Publizist; Regis-seur.

Nach dem Schulbesuch in Berlin studierte K.,Sohn eines Volksschullehrers, Deutsch, Eng-lisch, Französisch u. Philosophie. Sein inWürzburg gescheitertes Promotionsvorhabenkonnte er 1912 in Greifswald erfolgreich ab-schließen (Der junge Goethe im Urteile des jungenDeutschland. Greifsw. 1913). Seit Aug. 1913gab K. den »Wiecker Boten« (verboten 1914)heraus, benannt nach dem nahe gelegenenFischerdorf, in dem er seit 1912 mit Freundenlebte. Das Engagement der frühexpressio-nistischen Zeitschrift galt der studentischenJugend u. geistigen Revolte. Eigene Gedichteu. publizistische Beiträge veröffentlichte er inPfemferts »Aktion«. Das Kriegserlebnis ander Front radikalisierte K.s Gesellschaftskri-tik. Er war kurze Zeit Mitgl. der KPD, wichjedoch linkskommunistisch von der Parteili-nie ab. Dann trat er für die »Allgemeine Ar-beiter-Union, Einheitsorganisation« (AAUE)u. später den »Spartakusbund Nr. 2« ein. Von1921 bis zu seinem Freitod war K. als Regis-seur bei den Berliner Rotter-Bühnen, einemBoulevardunternehmen, tätig. Mehrfachmusste er sich wegen seiner Texte vor Gerichtverantworten.

Durch seine antimilitaristische Lyrik DieSchande. Gedichte eines dienstpflichtigen Soldatenaus der Mordsaison 1914–18 (Bln. 1922. Liech-tenstein 1973. Mikrofiche Bln. 2006) sollte»der ganze patriotische Himmel entgöttertwerden, alle Rauschromantik zerfledert«. Dievom Aktivismus geprägten Gedichte derVerkündigung eines neuen Menschen aus der

Kanehl 270

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 47: Kafka Killy Lexikon

ersten Nachkriegszeit hatten einen unbe-stimmt utop. Gehalt, den K. später politischkonkretisierte. Seine Agitations- u. Kampf-gedichte aus den Sammlungen Steh auf, Prolet!(Erfurt 1920. Erw. Aufl. Bln. 1922) u. Straßefrei (Bln. 1928. Zuletzt Reutlingen 1981), diein der sozialistischen Bewegung populärblieben, setzten auf Eingängigkeit u. klareAntithesen. Mit satirisch-parodist. Mittelnattackierte er den polit. Gegner – bis hin zurKPD, der er ihre straffe Führung u. Moskau-orientierung vorwarf (Völker hört die Zentrale).Mit der Enttäuschung seiner revolutionärenHoffnungen verstärkte sich das resignativeMoment in K.s Lyrik.

Literatur: Ernst Friedrich: O. K. Der proletar.Dichter. Bln. 1924. – Ian Wallace: The Life andWork of O. K. Diss. Oxford 1970. – Friedrich Al-brecht: Dt. Schriftsteller in der Entscheidung. Bln./Weimar 1970. – Lothar Peters: Literar. Intelligenzu. Klassenkampf. Die Aktion 1911–32. Köln 1972. –Walter Fähnders u. Martin Rector: Linksradikalis-mus u. Lit. Reinb. 1974. – Ute Druvins: O. K. Einpolit. Lyriker der expressionist. Generation. Bonn1977. – Elke Ritter: Der ›Wiecker Bote‹. Zum pu-blizist. u. lyr. Schaffen O. K.s im Spiegel seinerEntwicklungsbedingungen. Diss. Greifsw. 1982. –Walter Pallus: Revolutionserwartung u. literar.Wirkung: zu O. K.s literar. Strategie der 20er Jahre.In: Greifswalder germanist. Forsch.en 6 (1985),S. 93–100. – Angelika Janz: ›Mumiensprache derfalschen Würde‹. Wie der Prinz Jussuf von Theben,der Wiecker Bote (mit seinem Herausgeber u. ElsesDichterzeitgenossen O. K.) u. Wolfgang Koeppenim literar. Greifswald 2002 zusammenfinden. In:Ulla Hahn u. Hajo Jahn (Hg.): In meinem Turm inden Wolken. Ein Else-Lasker-Schüler-Almanach.Wuppertal 2002, S. 145–152. Anneli Hartmann

Kanne, Johann Arnold, auch: WaltherBergius, Johannes Author, Anton vonPreußen, * 28.(?), 31.(?) 5.1773 Detmold,† 17.12.1824 Erlangen. – Sprachforscher,Mythologe, Schriftsteller.

Nach dem Studium der Philologie bei Heynein Göttingen war K., Sohn eines Schuhma-chermeisters, an verschiedenen Orten alsLehrer bzw. Privaterzieher tätig u. unter-nahm erste schriftstellerische Versuche in derManier Jean Pauls. Materielle Not veranlassteihn 1802, durch Konskription in den österr.Militärdienst einzutreten, aus dem er sich

1805 loskaufte. In Würzburg u. Jena widmeteer sich mythologisch-geschichtsphilosophi-schen Studien. Innerhalb eines Jahres ver-fasste er die Neue Darstellung der Mythologie derGriechen und Römer (Lpz. 1805) u. Erste Urkun-den der Geschichte der Allgemeinen Mythologie –ein Werk, das die Leipziger Zensurbehördewegen des Verdachts der Häresie nicht zurVeröffentlichtung freigeben wollte u. das erstdurch Vermittlung Jean Pauls (der auch eineVorrede dazu schrieb) 1808 in Bayreuth (Hof21815) erscheinen konnte. Bereits 1806 ließsich K. jedoch erneut vom Militär, diesmaldem preußischen, anwerben. Nach seinerFlucht aus frz. Gefangenschaft schloss er sichnoch einmal dem österr. Heer an u. wurde aufVeranlassung Jean Pauls von Friedrich Hein-rich Jacobi freigekauft, der ihm 1809 auch zueiner Anstellung als Professor für Geschichteam neu gegründeten, von Gotthilf HeinrichSchubert geleiteten Realinstitut in Nürnbergverhalf.

Hier setzte K. seine sprach- u. mythenar-chäolog. Untersuchungen fort (Pantheum derältesten Naturphilosophie. Die Religion aller Völ-ker. Tüb. 1811. System der indischen Mythe. Lpz.1813), verfolgte aber auch wieder literar.Ambitionen (u. a. das Lustspiel Comedia hu-mana oder Blepsidemus Hochzeit und Kindtaufe.Bayreuth 1811). 1818 wurde er als Professorfür oriental. Literatur u. Sprachen nach Er-langen berufen.

K. gehört zu den weniger bekannten Ver-tretern einer insbes. an Schelling u. FriedrichSchlegel anknüpfenden Geschichtsmetaphy-sik, die sich auf vergleichende Mythendeu-tung u. auf Spekulationen über symbolhaftebzw. sprachgenealogisch zu bestimmendeArchetypen einer histor. Tiefenstruktur ver-legte. Ähnliche Ansätze finden sich beiCreuzer, Görres u. Jacob Grimm.

Um 1814 vollzog K. im Zeichen eines pie-tistischen Erweckungsglaubens einen radi-kalen Bruch mit seinem bisherigen philoso-phischen Schaffen. Der neu erwachte religiöseEnthusiasmus fand Ausdruck in Schriften wieSammlung wahrer und erwecklicher Geschichtenaus dem Reiche Christi und für dasselbe (Nürnb.1815–22) oder Leben und aus dem Leben merk-würdiger und erweckter Christen (2 Bde., Bam-

Kanne271

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 48: Kafka Killy Lexikon

berg/Lpz. 1816/17. Lpz. 21842. Forts. Ffm.1824).

Weitere Werke: Bl. v. Aleph bis Kuph. Lpz.1801. – Kleine Handreise. Penig 1803. – Blepside-mus oder Nicolais literar. Liebesbrief. Lpz. 1803(D.). – Über die Verwandtschaft der griech. u.teutschen Sprache. Lpz. 1804. – Gianetta, dasWundermädchen Roms. Bayreuth 1809. – Gesch.des Zwillings a pede. Nürnb. 1811. – Zwanzig krit.Paragraphen u. histor. Noten zum Text der Zeit.Lpz. 1814. – Sämundis Führungen. Ein Roman ausder Gesch. der freien Maurer im ersten Jh. Nürnb.1816. – Worte der Warnung. Nürnb. 1817. – Bibl.Untersuchungen. Erlangen 1819 f. – Zwei Beiträgezur Gesch. der Finsternis in der Reformationszeit.Ffm. 1822.

Literatur: Erich Neumann: J. A. K., ein ver-gessener Romantiker. Ein Beitr. zur Gesch. dermyst. Sprachphilosophie. Diss. Erlangen 1927. Bln.1928. – Dieter Schrey: Mythos u. Gesch. bei J. A. K.u. in der romant. Mythologie. Tüb. 1969. – MartinHirzel: Lebensgesch. als Verkündigung. JohannHeinrich Jung-Stilling – Ami Bost – J. A. K. Gött.1998. – Stefan Willer: Buchstäbl. Berührungen.Semiotisches Sprachdenken bei Jacob Grimm u. J.A. K. In: Dirk Jürgens (Hg.): Mutual exchanges.Ffm. u. a. 1999, S. 93–102. – Stefan Willer: ›über-setzt: ohne Ende‹. Zur Rhetorik der Etymologie beiJ. A. K. In: Stephan Jaeger (Hg.): Das Denken derSprache u. die Performanz des Literarischen um1800. Würzb. 2000, S. 113–129.

Jochen Fried / Red.

Kannegießer, Karl Friedrich Ludwig,* 9.5.1781 Wendemark/Altmark, † 14.9.1861 Berlin. – Übersetzer, Literaturwis-senschaftler, Dramatiker, Lyriker.

K., Sohn eines Pfarrers, studierte in HalleTheologie u. Philosophie, wurde 1807 Lehrerin Berlin u. promovierte 1808 in Erlangenzum Dr. phil. 1811 wechselte er nach Prenz-lau, 1822 nach Breslau. Dort wirkte ergleichzeitig als Gymnasialdirektor u. Uni-versitätsdozent, bis er sich 1843 ins Privatle-ben nach Berlin zurückzog. K. repräsentiertdie praktisch-akadem. Seite der romant. Li-teraturwissenschaft mit dem Schwerpunkteiner Vergegenwärtigung des gesamteurop.Literaturspektrums.

K. verfasste Zeitschriftenbeiträge, wissen-schaftl. Aufsätze, philolog. Schulprogrammeu. speziell Interpretationen zu Goethes Ge-

dichten (gesammelt Breslau 1835), von denenseine Deutung zur Harzreise im Winter (1820)beim Dichter selbst wohlwollende Aufnahmefand u. als frühes Beispiel der Goethe-Exe-gese bestehen blieb. 1810 gab er mit JohannGustav Gottlieb Büsching drei Bände derZeitschrift »Pantheon« heraus. K.s zahlreicheeigene Dichtungen jeder Gattung, v. a. Dra-men (z.B. Adrast. In: Dramatische Spiele. Bln.1810. Dorothea. 1829 aufgeführt. Isenbart. Bln.1843. Iphigenia. Lpz. 1843) u. Gelegenheitsly-rik, blieben ohne Wirkung. K.s Hauptbedeu-tung beruht auf seinen vielfältigen Aktivitä-ten als Vermittler fremdsprachiger Literatur;spätestens seit 1803 publizierte er Überset-zungen oder Nachdichtungen, wobei er sichdie älteren Sprachstufen des Deutschen sowiedas Griechische u. Lateinische, Englische,Dänische, Schwedische, Polnische, Provenza-lische, Französische u. bes. das Italienische zueigen machte. 1809–1821 erschien erstmalsseine Übertragung von Dantes Göttlicher Ko-mödie (Amsterd. bzw. Lpz.); 1827 folgten (inZusammenarbeit mit Karl Witte) dessen Lyri-sche Gedichte u. 1845 die Prosaischen Schriften(beide Lpz.). K.s Andenken lebt daher v. a. inden Annalen der dt. Dante-Forschung.

Weitere Werke: Märchen für Kinder. Breslau1835. – Abriß der Gesch. der Philosophie. Lpz.1837. – Abriß der Gesch. der dt. Lit. Bunzlau 1838.– Der dt. Redner. Lpz. 1845. – Übersetzungen:Beaumont u. Fletcher: Dramat. Werke. Bln. 1808. –Horaz: Oden. Prenzlau 1820. – Chaucer: Canter-burische Erzählungen. Zwickau 1827. – Mickie-wicz: Konrad Wallenrodt. Lpz. 1834. – Leopardi:Gesänge. Lpz. 1837.

Literatur: Karl Gabriel Nowack: Schles.Schriftstellerlexikon. Breslau 1836. – FriedrichAugust Eckstein: K. In: Ersch/Gruber 2, 32. –Goedeke. – Hermann Palm: K. F. L. K. In: ADB. –Friedrich August Eckstein: Nomenclator philolo-gorum. Lpz. 1871. – W. Theodor Elwert: K. F. L. K.In: NDB. Achim Hölter

Kant, Hermann, * 14.6.1926 Hamburg. –Erzähler u. Essayist.

K., Sohn eines Gärtners, wuchs in kleinbür-gerlich-proletar. Milieu auf u. absolvierteeine Elektrikerlehre, ehe er kurz vor Kriegs-ende zur Wehrmacht einberufen wurde u.nach wenigen Wochen in poln. Gefangen-

Kannegießer 272

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 49: Kafka Killy Lexikon

schaft geriet. Er verbrachte vier Jahre im Ar-beitslager Warschau u. wurde dort Grün-dungsmitgl. eines »antifaschistischen« Ko-mitees u. Lehrer an einer Antifaschule. Nachder Entlassung 1949 entschied er sich für dieSBZ/DDR u. wurde Mitgl. der SED. K. be-suchte die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät(ABF) in Greifswald, studierte in Berlin Ger-manistik u. wurde dort 1956 wissenschaftl.Assistent. Später war er Redakteur der vomSchriftstellerverband herausgegebenen Zeit-schrift »Neue Deutsche Literatur« u. polit.Feuilletonist beim »Neuen Deutschland«.1978 wurde er nach neunjähriger Vizepräsi-dentschaft zum Präsidenten des Schriftstel-ler-Verbands der DDR gewählt. Anfang 1990musste er nach heftigen Protesten OstberlinerAutoren, die ihm v. a. seine Haltung beimVerbandsausschluss von neun Kollegen 1979verübelten, zurücktreten. 1981–1990 war K.Abgeordneter der Volkskammer, 1986–1989Mitgl. des ZK der SED; 1990 wurde er Mitgl.der PDS, später Die Linke. 1967 erhielt K. denHeinrich-Mann-Preis, 1973 den National-preis I. Klasse der DDR, 1983 den National-preis der DDR für Kunst u. Literatur u. 1986den Orden der Völkerfreundschaft desObersten Sowjet der UdSSR. 1992 wurde K.sIdentität als engagierter Stasi-IM Martinaufgedeckt, die er selbst störrisch bestreitet.Über 2000 Seiten aussagekräftiger Akten auseiner fast 20-jährigen Zuarbeit bieten aber einpolit., literar. u. psycholog. Panorama, dasideolog. Fixierung u. machtpolit. Stringenzüberdeutlich belegt.

Vor diesem Hintergrund werden K.s immerauch autobiogr. Romane u. Erzählungen zu-nehmend kritisch gelesen, in ihrer literar.Bedeutung aber weiterhin weitgehend aner-kannt. K. brachte einen iron. u. damitdurchaus modernen Ton in die DDR-Litera-tur ein, der bereits in seinen ersten Erzäh-lungen (Ein bißchen Südsee. Bln./DDR 1962)anklingt, in denen Kindheit, Kriegserlebnisseu. Alltagsszenen aus der DDR beobachtet u.witzig beschrieben werden. Der leichte u.verspielte Stil, der genau darin ein krit. Po-tenzial haben könnte, wird heutigen Lesernzum Ärgernis, wo er dazu dient, gegenläufi-ges Handeln des Autors zu entschuldigen.

Berühmt wurde K. durch den Roman DieAula (Bln./DDR 1965). Am Werdegang vonStudenten des ABF-Jahrgangs 1949 schilderter die Heranbildung einer sozialistischen In-telligenz u. bekennt sich zur DDR-Gegen-wart. Ereignisse auf den verschiedenen Zeit-ebenen sind in einer losen Folge von Episo-den u. Figurenerinnerungen assoziativ ver-knüpft. Mit einer Fülle von schnurrigen De-tails u. skurrilen Einfällen ist das Buch au-ßerordentlich unterhaltsam. IdeologischePrämissen der DDR bilden den unhinter-fragten, meist nur impliziten Rahmen. EinGrund für den Erfolg des Buchs in der DDRwar, dass K. mit der Aula eine Art kollektiverAutobiografie gelang, die heute von histor.Interesse sein kann. K.s Erzähltalent beför-derte wesentlich die internat. Wirkung derDDR-Literatur.

Das Erscheinen des zweiten Romans (DasImpressum. Bln./DDR 1972) verzögerte sichaufgrund offizieller Vorbehalte, die anhandder nunmehr vorliegenden Stasi-Aktennachzuvollziehen sind, um mehrere Jahre.Der Roman schildert einen Arbeitstag im Le-ben eines Journalisten, der Minister werdensoll, sich dagegen sträubt u. den Entschei-dungsprozess zu Rückschau u. Selbstreflexi-on nutzt. Auch hier durchdringen Erinne-rungen, Episoden u. Anekdoten die erzähl-zeitlich gegenwärtigen Ereignisse u. formie-ren sich beiläufig zur Lebensgeschichte einesAufsteigers. Im Mittelpunkt steht die Selbst-befragung eines sozialistischen Intellektuel-len, die mit einem klaren Bekenntnis zurTrennung von Hand- u. Kopfarbeit endet.Indem der Roman Erreichtes beschönigt, ge-winnt er Züge eines Traktats. In Der Aufenthalt(Bln./DDR 1977) greift K. die Themen Krieg,Verantwortlichkeit u. Mitschuld auf. In derweitschweifigen Geschichte des Kriegsgefan-genen Mark Niebuhr erkennt dieser –fälschlich von einer Polin des Mordes be-schuldigt u. in der Haft mit Nationalsozia-listen unterschiedlichster Provenienz kon-frontiert –, dass auch er hätte schuldig wer-den können. Der Held ist am Ende einsichtigu. immun gegen künftigen Faschismus; derRoman entpuppt sich als sozialistische Ver-sion des tradierten Entwicklungsromans.

Kant273

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 50: Kafka Killy Lexikon

In seiner Kurzprosa (Eine Übertretung. Bln./DDR 1975. Der dritte Nagel. Ebd. 1981), v. a.dem ungewohnt scharfzüngigen Bronzezeit(ebd. 1986) erweist sich K. als versierter Rhe-toriker, dessen durchaus witzige Detailkritikaber in systemtreuer Plauderei aufgeht. Seineziellose Eloquenz, die zu seiner kulturpolit.Stringenz in Widersprucht steht, kommtauch in feuilletonistischen Äußerungen u.Reden zur Geltung (Zu den Unterlagen. Publi-zistik 1957–1980. Bln./Weimar 1981) u. wirdseit 1989 als Feigheit u. Manierismus kriti-siert.

K.s Autobiografie Abspann. Erinnerung anmeine Gegenwart (Bln. 1991), begonnen nochzu DDR-Zeiten, wurde als leichtfertigesWeißwaschen eines kontroversen Lebensverurteilt. Rahmen des stark autobiogr. ge-färbten Romans Kormoran (ebd. 1994) ist dieGeburtstagsfeier eines Autors; sie bietet An-lass zu bitteren, polem. Stellungnahmen zurZeitgeschichte, v. a. gegen die Aufarbeitunggewaltsamer Aspekte der DDR-Geschichte.

Der Roman Okarina (ebd. 2002) erzählt aufsNeue, aber im gewohnten, unterhaltsamen,wortverliebt indirekten Stil einen Lebenslaufvon der Wehrmacht über das Hamburg der1950er Jahre, die DDR bis in die Gegenwart.Die Begegnung mit einem Flöte spielendenStalin wird zum ideologisch prägenden Er-lebnis eines Kriegsgefangenen; seine folgen-de kulturpolit. Parteiarbeit u. Stasi-Mitarbeitwerden als histor. Unfall heruntergespielt.Nach dem Mauerfall zieht sich der Protago-nist nach Mecklenburg zurück, wo auch K.heute lebt. Autobiografische u. fiktive Ele-mente durchdringen sich u. lassen Geschichteim subtilen Sprachspiel aufgehen. K.s kom-positor. Talent prägt auch den recht kurzenRoman Kino (ebd. 2005), der trotz einer kon-zentrierten Anlage (der Protagonist campiertin der Hamburger Innenstadt, um sich selbstu. die Passanten zu studieren) anspielungs-reich leitmotivisch u. sprachvirtuos ist. Nachdem Wegfall ideolog. Verpflichtungen klin-gen diese als melanchol. Reminiszenzen inpostmoderner Beliebigkeit nach, auf derenBasis sich in Zeiten globalisierungskrit. Un-korrektheiten womöglich Deutungsansätzeauch für K.s Werk vor 1989 ergeben könnten.

Weitere Werke: In Stockholm. Bln./DDR 1971(Texte zu einem Bildbd. v. Lothar Reher). – DieSumme. Bln./DDR 1987 (E.).

Literatur: Leonore Krenzlin: H. K. Bln./DDR31988. – Die Akte Kant. IM ›Martin‹, die Stasi u. dieLit. in Ost u. West. Hg. Karl Corino. Reinb. 1995. –Manfred Jäger u. Nicolai Riedel: H. K. In: KLG. –Marie-Hélène Quéval u. Isabelle Ruiz: Lecturesd’une œuvre. ›Die Aula‹, H. K. Paris 1999. – KatrinHillgruber: H. K. In: LGL.

Hannes Krauss / Christophe Fricker

Kant, Immanuel, * 22.4.1724 Königsberg,† 12.2.1804 Königsberg; Grabstätte: ebd.,Dom. – Philosoph.

Als viertes von neun Kindern des Riemer-meisters Johann Georg Kant besuchte K.1732–1740 das streng pietistische Gymnasi-um Fridericianum seiner Heimatstadt Kö-nigsberg. 1740–1746 studierte er an derdortigen Universität. Besonderen Einflusshatte der Professor der Logik u. Metaphysik,Martin Knutzen (1713–1751), der K.s leb-haftes Interesse an den Naturwissenschaftenweckte u. ihm Newtons Werke bekanntmachte.

1746, nach dem Tod des Vaters (die Mutterwar bereits 1737 gestorben), schloss K. mitder Erstlingsschrift Gedanken von der wahrenSchätzung der lebendigen Kräfte (Königsb. 1746)sein Studium ab. Er versuchte hier zwischenDescartes u. Leibniz hinsichtlich der Bestim-mung des Kraftmaßes aus Masse u. Ge-schwindigkeit zu vermitteln. Die Schriftbrachte ihm Lessings Spott ein: »Er schätzetdie lebendgen Kräfte, nur seine schätzt ernicht« (Sämtliche Schriften. Bd. 1, Stgt. 1886,S. 41).

K. begann eine etwa neunjährige Zeit alsHauslehrer (Hofmeister) bei verschiedenenFamilien in Ostpreußen, wie damals bei un-bemittelten jungen Gelehrten üblich. 1754,nach Abschluss der ersten bedeutenden Ab-handlung Allgemeine Naturgeschichte und Theo-rie des Himmels (Königsb./Lpz. 1755), kehrte K.nach Königsberg zurück, wurde zum Magis-ter promoviert, habilitierte sich u. nahm einethematisch überaus breite, erfolgreiche u.auch einträgl., aber sehr zeitraubende (16 bis26 Wochenstunden) Vorlesungstätigkeit auf.Er las über Logik, Metaphysik, Moralphilo-

Kant 274

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 51: Kafka Killy Lexikon

sophie, Mathematik, Physik, Geografie, spä-ter auch über Anthropologie, Pädagogik,Naturrecht, natürl. Theologie, gelegentlichsogar über Festungsbau. Außer in der Geo-grafie, die er als akadem. Lehrfach eingeführthat, las er entsprechend dem damaligen ob-ligator. Brauch anhand anerkannter Lehrbü-cher, freilich mit souveräner Freiheit u. inständiger krit. Auseinandersetzung mit derVorlage; er regte dadurch seine Hörer zuselbständigem Nachdenken u. krit. Distanzgegenüber allen Autoritäten an.

Der vielseitig interessierte u. gebildetejunge Gelehrte wurde als anregender Ge-sprächspartner auch in der Königsberger Ge-sellschaft geschätzt; er nahm an ihrem Lebengern Anteil u. hieß der »elegante Magister«.Hamann, mit dem K. eine nicht ungestörtefreundschaftl. Beziehung (trotz stark diver-gierender Grundansichten) aufrecht erhielt,bedauerte brieflich, wohl übertreibend, K.werde »durch einen Strudel gesellschaftlicherZerstreuungen fortgerissen« (an JohannGotthelf Lindner, 1.2.1764).

K.s ungesicherte wirtschaftl. Lage bessertesich erst 1770, als ihm die schon 1758 ver-geblich erhoffte Professur für Logik u. Meta-physik übertragen wurde. Rufe nach Erlan-gen (1764) u. Jena (1770) hatte K. abgelehnt.Er folgte auch nicht einer ehrenvollen Beru-fung zu günstigen Bedingungen nach Halle(1778), trotz dringender Bitte des ihm gewo-genen Kultusministers Karl Abraham vonZedlitz (dem K. 1781 die Kritik der reinen Ver-nunft widmete).

Aus den Schriften der »Magisterzeit« sindDer einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demon-stration des Daseins Gottes (Königsb. 1763), dieweithin wirksamen Beobachtungen über das Ge-fühl des Schönen und Erhabenen (ebd. 1764), dieTräume eines Geistersehers, erläutert durch Träumeder Metaphysik (ebd. 1766) über Swedenborg u.die lat. Inauguraldissertation (anlässlich derÜbernahme des Ordinariats) De mundi sensi-bilis atque intelligibilis forma et principiis (ebd.1770) v. a. zu nennen. Nach 1770 verfiel derbis dahin so fruchtbare wissenschaftl. u.philosophische Autor in ein den Zeitgenossenunverständl. Schweigen; er arbeitete aber mitäußerster Anstrengung an der Auflösung derin der Inauguraldissertation behandelten

Probleme des Verhältnisses von Anschauungu. Verstand, von Erfahrungs- u. Vernunfter-kenntnis. 1781 legte er, inzwischen 57-jährig,die Ergebnisse in der Kritik der reinen Vernunft(Riga) vor, die er nach Vorarbeiten durch»mehr als zwölf Jahre [...] in etwa vier bis fünfMonaten« (an Garve, 7.8.1783. AA 10, Nr.187. 2. Aufl. Nr. 205) niedergeschrieben hat-te. Im folgenden Jahrzehnt kam es zur Ver-öffentlichung der weiteren Werke, die alsDokumente der krit. Philosophie Epoche ge-macht haben: die Prolegomena zu einer jedenkünftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wirdauftreten können (Riga 1783), ein Versuch, dieLehre der Kritik der reinen Vernunft knapp u.fasslich darzustellen u. zgl. gegen Missver-ständnisse zu verteidigen; 1785 veröffent-lichte K. die Grundlegung zur Metaphysik derSitten (Riga), 1786 die Metaphysischen Anfangs-gründe der Naturwissenschaft (Riga) – genau 100Jahre nach Newtons Philosophiae NaturalisPrincipia Mathematica u. in Anspielung aufderen Titel. 1787 kam die zweite, wesentlichveränderte Auflage der Kritik der reinen Ver-nunft (Riga) heraus, 1788 die Kritik der prakti-schen Vernunft, schon 1790 die Kritik der Ur-teilskraft (Bln./Libau).

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßenVernunft (Königsb. 1793) verwickelte K. in ei-nen ernsten Konflikt mit der preuß. Regie-rung unter Friedrich Wilhelm II. u. seinemKultusminister von Wöllner. Durch Kabi-nettsordre vom 1.10.1794 wurde K. jedeweitere Religionskritik verboten; bei »fort-gesetzter Renitenz« wurden ihm »unange-nehme Verfügungen« angedroht. K. fügtesich dem Verbot der Veröffentlichung (aufDauer der Lebenszeit des Königs, wie er ein-schränkend interpretierte), ohne in der Sacheetwas zu widerrufen oder zurückzunehmen.1795 erschien die Schrift Zum ewigen Frieden(Königsb.) mit dem zukunftsweisenden Vor-schlag eines Völkerbunds republikan. Staa-ten, der die Herrschaft des Rechts auch unterden Völkern befördern sollte, 1797 die Meta-physik der Sitten (ebd.) mit ihren beiden Teilen,den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechts-lehre u. den Metaphysischen Anfangsgründen derTugendlehre, 1798 der Streit der Fakultäten u. imselben Jahr die Anthropologie in pragmatischerHinsicht (beide Königsb.). Im Juli 1796 stellte

Kant275

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 52: Kafka Killy Lexikon

K. seine überaus erfolgreiche u. weit über diePhilosophie hinaus wirksame Vorlesungstä-tigkeit ein; 1801 zog er sich aus den akadem.Ämtern zurück. Nach allmähl. Erschöpfungder geistigen u. (ohnehin stets zarten) kör-perl. Kräfte starb K. kurz vor seinem 80. Ge-burtstag.

Die philosophische Entwicklung K.s kannman in zwei Perioden einteilen: die vor-kritische (1746–1770) u. die kritische(1770–1804). Die erste Periode kann in zweiPhasen 1746–1756 u. 1756–1770 unterteiltwerden. Die krit. Periode lässt sich ebenso indie Zeit der Entfaltung der krit. Transzen-dentalphilosophie u. die der Alterswerke (ab1790) gliedern.

Bis zur kosmolog. Abhandlung von 1755(Allgemeine Naturgeschichte [. . .]) war K.s Inter-esse v. a. der philosophischen Durchdringungder am Modell Newtons orientierten Natur-wissenschaften gewidmet. Sein Ruhm alsUrheber der Revolution der Philosophie ver-dunkelt die Tatsache, dass ihm aufgrundseiner Schriften der vorkrit. Zeit auch in derGeschichte der Naturwissenschaften ein eh-renvoller Platz zusteht: Sein Versuch einerrein mechan. Erklärung der Entstehung desUniversums u. des Sonnensystems wurde,lange Zeit nicht beachtet, im 19. Jh. unterdem – irreführenden – Namen »Kant-Laplacesche Theorie« eine Diskussions-grundlage der Astronomie (Laplace hatte1796, unabhängig von K., eine ähnl., aber inwichtigen Punkten abweichende Erklärunggegeben). K. war auch der Erste, der die Ver-mutung aussprach, die sog. »Nebelsterne«seien in Wahrheit entfernte Galaxien, diezusammen mit unserer Milchstraße einmöglicherweise bis ins Unendliche hierar-chisch gegliedertes System von Sternensyste-men bilden könnten. K.s These (1754), dassdie Reibungseffekte der Gezeiten die Erd-umdrehung allmählich verlangsamen müss-ten, ist ebenfalls erst nach einem Jahrhundertvon Neuem aufgestellt worden (RobertMayer, 1848; K. hatte den Effekt allerdingsum den Faktor 100 zu hoch angesetzt). Auchmit der Hypothese, die Passat- u. Monsun-winde gingen auf die Erdumdrehung zurück(1756), betrat K. wissenschaftl. Neuland.

In der zweiten Phase der vorkrit. Zeit(1756–1770) war K.s Interesse an den Natur-wissenschaften noch lebhaft, aber in denVordergrund trat allmählich die Auseinan-dersetzung mit der Leibniz-WolffschenSchulphilosophie, die, bes. mit dem Konzepteiner rationalen Metaphysik u. Moralphilo-sophie, die philosophische Diskussion inDeutschland noch beherrschte. Der Einzigmögliche Beweisgrund von 1763 verwirft dreider traditionellen Gottesbeweise, u. auch denvierten, den ontolog. Gottesbeweis, lehnte K.in der von Descartes vorgelegten Form ab,hielt ihn aber in einer anderen Version fürstringent, oder, genauer, hielt es für möglich,dass aus der angegebenen Beweisidee einschlüssiger Beweis entwickelt werde.

Die Untersuchung über die Deutlichkeit derGrundsätze der natürlichen Theologie und der Mo-ral von 1764 (als Preisschrift der Kgl. Akade-mie der Wissenschaften in Berlin eingereicht,die den Preis an Moses Mendelssohn vergab,K. aber einen ehrenvollen zweiten Platz ein-räumte u. die Abhandlungen in einem Bandveröffentlichte) ist noch von der begründetenAussicht bestimmt, in der Metaphysik u. ra-tionalen Theologie strikte Evidenz zu errei-chen; hinsichtlich der Moralphilosophie lässtK. es aber offen, ob die Grundsätze der Moralaus dem Erkenntnisvermögen oder dem Ge-fühl zu gewinnen seien (im Gegensatz zuseiner späteren Vernunftethik).

Unmittelbar an die Grenzen der krit. Phi-losophie führte dann die Inauguraldisserta-tion von 1770 (De mundi sensibilis): Hier wer-den Anschauung u. Verstand als zwei von-einander unabhängige Quellen der Erkennt-nis betrachtet; die Anschauung, deren sub-jektive Bedingungen Raum u. Zeit sind, lie-fert uns Erkenntnis von den Dingen als Er-scheinungen; der Verstand vermittelt unsErkenntnis von den Dingen, wie sie sind. DieWidersprüche der Metaphysik rühren aus ei-ner Vermischung der reinen Verstandeser-kenntnis mit sinnl. Anteilen her. Wie K.selbst brieflich (an Markus Herz, 1.5.1781.AA 10, Nr. 151. 2. Aufl. Nr. 164) sagt, ist dieKritik der reinen Vernunft aus weiteren Refle-xionen auf die in der Dissertation von 1770zuerst behandelten Probleme hervorgetreten.

Kant 276

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 53: Kafka Killy Lexikon

Die Grundfrage, die K. in der Kritik der rei-nen Vernunft beantworten will, ist die nach derMöglichkeit von Erkenntnis aus »reiner Ver-nunft«: Können wir durch bloßes Nachden-ken, d.h. ohne uns auf Erfahrung u. damitzuletzt auf sinnl. Wahrnehmung zu stützen,etwas über die Elemente u. Strukturen derWirklichkeit wissen? Es geht also um diePrüfung der Reichweite menschl. Vernunft,zgl. um die Grenzziehung zwischen demBereich, innerhalb dessen reine Vernunft zuobjektiver Einsicht gelangen kann, ohne aufWahrnehmung gestützt zu sein, u. jenemBereich, in dem ihr solche Einsichten ver-schlossen sind.

In diesem Zusammenhang spricht K. vonder »kopernikanischen Revolution«, die erauch für die Metaphysik vorschlagen will:Das Beispiel der Logik u. Mathematik zeige,dass die Vernunft in den Gegenständen dieserWissenschaften nur das wiederentdeckt, wassie, im Falle der Logik mit den korrektenDenkformen, im Falle der Geometrie durchBegriffsbildung u. Konstruktion im An-schauungsraum, implizit den Gegenständenschon eingeprägt habe. Das gelte auch für diePhysik, denn auch in der Natur sieht »dieVernunft nur das ein, was sie selbst nach ih-rem Entwurfe hervorbringt« (Kritik der reinenVernunft, B XIII. AA 3, S. 10). Auch die Meta-physik, so K.s Programm, muss den Spurender spontanen Tätigkeit der Vernunft nach-gehen, wenn sie Wissenschaft werden will:»Bisher nahm man an, alle unsere Erkennt-niß müsse sich nach den Gegenständen rich-ten; [...] man versuche es [...] einmal, ob wirnicht [...] damit besser fortkommen, daß wirannehmen, die Gegenstände müssen sichnach unserem Erkenntniß richten« (B XVI.AA 3, S. 11 f.). So habe auch Copernicus zurbesseren Erklärung der Himmelsbewegun-gen die Annahme, die Gestirne drehten sichum uns, durch die Hypothese ersetzt, derZuschauer drehe sich, während die Sterneruhen. Copernicus hatte nun nicht behauptet,a ll e Bewegungen der Himmelskörper seienScheinbewegungen. Ebensowenig will K. alleEigenschaften der Gegenstände auf unsereErkenntnisart zurückführen. Genau der Be-reich des Inbegriffs solcher Eigenschaften,welche die Dinge, die wir erkennen, eben

deshalb haben, weil sie unsere Erfahrungs-gegenstände sind, ist das Gebiet, in demwahre Aussagen über die Wirklichkeit mög-lich sind, die vor aller Erfahrung, d.h. apriori, gelten. Die erste Frage, die sich nachdiesem neuen Programm einer wissenschaftl.Metaphysik stellt, ist die, wie man den Anteilfeststellen kann, den unsere bes. Erkennt-nisart zur Erfahrungswirklichkeit beisteuert.

Hier wird das zentrale Lehrstück von dens y n t h e t i s c h e n U r t e i l e n a p r i o r i be-deutsam. Die Strukturen unseres Erkennt-nisvermögens sind uns offenbar nicht in in-nerer Wahrnehmung unmittelbar zugäng-lich. Wir können sie nur indirekt am Wider-schein dieser Strukturen in den Eigenschaf-ten der Gegenstände ablesen. DurchgehendesMerkmal solcher struktureller Eigenschaftenist ihre strikte Allgemeinheit u. Notwendig-keit. Erfahrungserkenntnis (die sich in Ur-teilen a posteriori ausspricht) kann niemalsSätze von strikter Allgemeingültigkeit u.Notwendigkeit liefern. Es gibt aber auch all-gemeingültige u. notwendige Sätze, die nichtüber die Struktur der Wirklichkeit informie-ren, sondern nur über logische Zusammen-hänge zwischen benutzten sprachl. Ausdrü-cken.

K. unterscheidet daher drei Gruppen vonErkenntnissen: 1. Erfahrungserkenntnisse(Beispiele: »Alkoholgenuß verringert dieFahrtüchtigkeit« oder »Gestern herrschte ander Nordseeküste Sturm«); 2. Erkenntnisse,die logische Beziehungen von Begriffen be-treffen (Beispiele: »Rappen sind schwarzePferde« oder »Wenn A Vater von B ist, dannist B Sohn oder Tochter von A«); u. 3. die(eigentlich interessante u. problemat.) Grup-pe von Erkenntnissen, die solche Eigen-schaften von Gegenständen betreffen, die mitden formalen Bedingungen aller Erfahrunggesetzt sind (Beispiele: »Der Raum hat dreiDimensionen« oder »Jede Veränderung hateine Ursache«). Zur Unterscheidung dieserGruppen führt K. die Begriffspaare a priori –a posteriori u. analytisch – synthetisch ein. Apriori ist erfahrungsunabhängige, a poste-riori erfahrungsabhängige Erkenntnis. Ana-lytisch heißen Urteile, die bloß erläutern, wasin den verwendeten Begriffen schon implizitenthalten ist. Synthetische Urteile fügen et-

Kant277

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 54: Kafka Killy Lexikon

was hinzu, das aus den bloßen Begriffen nochnicht folgt. Es ergibt sich sofort, dass analyt.Urteile a priori gültig sein müssen; dass essolche Urteile gibt, zeigen die Beispiele.Synthetische Urteile können a priori oder aposteriori sein. Synthetische Urteile a poste-riori sind problemlos; ob es aber tatsächlichsynthet. Urteile a priori gibt, ist eine (bisheute) umstrittene Frage.

K. war entschieden der Meinung, es gebesie: Klare Fälle sind für ihn die Urteile derGeometrie u. Arithmetik, aber auch die vonihm so genannten Grundsätze der »reinenNaturwissenschaft« wie das Trägheitsgesetz,das Prinzip der Erhaltung der Substanz(heute würde man vorziehen: der Energie) u.das Kausalprinzip. Grundfrage der Kritik derreinen Vernunft ist daher: »Wie sind syntheti-sche Urteile a priori möglich?« (B 19. AA 3,S. 39).

K. legt zugrunde, »daß es zwei Stämme dermenschlichen Erkenntnis gebe, die vielleichtaus einer gemeinschaftlichen, aber uns un-bekannten Wurzel entspringen, nämlichSi n nl ic h ke i t und V e r st a nd , durch derenersteren uns Gegenstände g e g e be n, durchden zweiten aber g e d a c ht werden« (B 29. AA3, S. 46). Jeder der beiden »Stämme« enthältapriorische Erkenntnisbedingungen: Im Be-reich der Sinnlichkeit sind es die Anschau-ungsformen Raum u. Zeit; für den Verstandsind es die reinen (erfahrungsfreien) Ver-standesbegriffe, die »Kategorien«.

Den Beweis, dass Raum u. Zeit subjektive,aber für menschl. Erkennen notwendige An-schauungsformen sind, führt K. in der über-aus kurzen Transzendentalen Ästhetik (AA 3,S. 49–73); er zeigt, dass Raum u. Zeit nichtdurch Erfahrung gewonnen werden können,weil sie allen Wahrnehmungen als Ord-nungssysteme schon immer zugrunde liegen.Die Geometrie ist die Strukturbeschreibungunserer Raumanschauung, die Arithmetik istentsprechend in unserer Zeitanschauungfundiert (wie, bleibt bei K. eher dunkel). Derphysikal. Raum u. alles, was sich in ihm ab-spielt, muss den Gesetzen der euklidischenGeometrie genügen, weil er für K. nur dasintentionale Korrelat unserer subjektivenRaumanschauung ist. (Die Gleichsetzung vonAnschauungsraum, geometr. Raum u. physi-

kal. Raum ist eine der Schwächen der kanti-schen Theorie.)

Auch dem Denken weist K. einen Grund-bestand apriorischer Strukturen zu. DerNachweis ist aber hier ungleich schwierigerals im Fall der Anschauungsformen Raum u.Zeit. Denn diese bestimmen jeden Erfah-rungsgegenstand, aber nicht jede Erschei-nung repräsentiert schon die reinen Verstan-desbegriffe u. ihre Funktionen. Es bedarfdaher eines neuen Ansatzes, den K. in derTranszendentalen Analytik (AA 3, S. 83–233)stufenweise durchführt. Er sieht sich vor dieFrage gestellt, wie es dazu kommt, dass wiruns als e i n Subjekt in e i ne r Welt von Ge-genständen u. Vorgängen erleben, obwohl dieuns zunächst zugängl. Sinnesdaten eineräumlich u. zeitlich ausgebreitete unüber-sehbare Mannigfaltigkeit bilden. Wie wirdaus dem »Gewühl von Empfindungen« e in eNatur? Und wie aus dem Chaos von wech-selnden Bewusstseinsinhalten e i ne Person,e i n Subjekt? K.s Antwort: Dies ist die Leis-tung der einheitsstiftenden Funktion desDenkens. Nächster Schritt: Wo finde ich dieseEinheitsfunktion des Denkens? K.s Antwort:In der Logik, deren Urteilsformen die ver-schiedenen Griffe ausdrücken, mit denen dasDenken verschiedene Vorstellungen in einemUrteil vereinigt. Aus den zwölf Urteilsformender herkömml. Logik (K. legt sich diesesSystem freilich für seine Zwecke etwas zu-recht!) ergeben sich so die zwölf Kategorien,als »Begriffe von einem Gegenstand über-haupt, dadurch dessen Anschauung in Anse-hung einer der logischen Funktionen zu ur-teilen als bestimmt angesehen wird« (B 128.AA 3, S. 106).

So liefert die Urteilsform des bejahendenUrteils die Kategorie »Realität«, das kategor.Urteil der Form »S ist P« die Kategorie von»Substanz und Akzidenz«, das hypothet.Urteil »Wenn p dann q« die Kategorie der»Kausalität« usf. Aus den Empfindungsdatenerschafft die denkende Bearbeitung der Er-scheinungen zunächst Gegenstände; dieweitere Durchdringung der Erscheinungenführt zu komplexen Gruppen von Gegen-ständen, die in Prozesse eingebettet sind, u.schließlich zu einer von Naturgesetzen be-herrschten einheitl. Erfahrungswelt.

Kant 278

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 55: Kafka Killy Lexikon

Woher können wir aber wissen, dass dieseKategorien keine »Hirngespinste« sind, son-dern objektive Realität haben? Diese Fragebeantwortet K. in dem schwierigsten Kapitelder Kritik der reinen Vernunft, der »Transzen-dentalen Deduktion der reinen Verstandes-begriffe«. Die hierfür maßgebende Einsichtist, dass alle meine Vorstellungen unter denBedingungen der systemat. Einheit des Den-kens stehen müssen, weil sie sonst nichtm e in e Vorstellungen sein könnten (B 138.AA 3, S. 112). Denn das »Ich d e nk e « mussalle meine Vorstellungen begleiten k ö nn e n(B 131. AA 3, S. 108). Das Ich ist für K. keineSubstanz mehr, wie noch für Descartes. Es istnur der Beziehungspol für die einheitsstif-tende Funktion des Denkens, ja es ist diesesDenken selbst. Die Einheit des Ich u. dieEinheit der Welt sind für K. nur zwei Aspektederselben Sache. Die Integration des Subjektsgeschieht u. wird erhalten durch die Auf-bauleistung einer gegliederten, aber bruchloszusammenhängenden Welt der Erscheinun-gen.

Damit ist die Grundfrage nach den synthet.Urteilen a priori u. ihrer Gültigkeitsbasis be-antwortet: Es gibt sie, u. sie haben objektiveGültigkeit, weil sie sich auf die reinen An-schauungsformen Raum u. Zeit u. die reinenVerstandesbegriffe, die Kategorien, beziehen,die zusammen den Rahmen aller mögl. Er-fahrung festlegen. Es gibt also allgemein-gültige u. notwendige Aussagen über dieGegenstände der Wirklichkeit, die nicht erstdurch Erfahrung beglaubigt werden müssen.Freilich gilt dies nur für den Bereich mögl.Erfahrung; über die Dinge, wie sie unab-hängig von den Bedingungen mögl. Erfah-rung sein mögen, können wir schlechterdingsnichts wissen.

Dies ist K.s – geniale – Synthese von Ra-tionalismus u. Empirismus. Bloße Vernunftlehrt uns etwas über die Wirklichkeit, wie dieRationalisten behaupten, aber das gilt nur fürGegenstände mögl. Erfahrung. Tatsächlichist, wie die Empiristen meinen, alle unsereWirklichkeitserkenntnis an Erfahrung ge-bunden, aber nun nicht nur, wie David Humewollte, an tatsächl. Erfahrung (impressions),sondern an mögl. Erfahrung. Darum kannz.B. das Kausalprinzip gegen Humes skept.

Argumente als objektiv gültig erwiesen wer-den: Es gehört zu den Bedingungen derMöglichkeit aller Erfahrung.

Diese neue Metaphysik der Natur definiertdie Grenzen mögl. Erfahrung u. damit denBereich der objektiven Wissenschaft; die alte,nun nicht mehr haltbare Metaphysik kanndadurch charakterisiert werden, dass sie ver-suchte, diese menschl. Erkenntnis gezogenenGrenzen zu überschreiten.

Der umfangreiche zweite Teil der Kritik derreinen Vernunft u. d. T. der TranszendentalenDialektik ist dem Nachweis gewidmet, dassjede solche Grenzüberschreitung der Ver-nunft ins Unbedingte zu Leerlauf u. Selbst-widersprüchen führen muss. Die unaufhörl.Streitigkeiten über Endlichkeit oder Unend-lichkeit der Welt nach Raum u. Zeit, dieExistenz Gottes, die Unsterblichkeit der See-le, Freiheit oder Determinismus im menschl.Handeln – sie alle rühren daher, dass dieAnschauungsformen u. Kategorien, die alleinzur Ordnung des Erfahrungsstoffs taugen,auf Gegenstände angewendet werden, dieprinzipiell nicht Erfahrungsgegenständewerden können.

K.s Ethik ist das hervorragende Beispieleiner autonomen, d.h. von keiner anderenAutorität als der menschl. Vernunft abhän-gigen, u. deontologischen, d.h. moralischeGebote um ihrer selbst willen, nicht um an-derer vorausgesetzter Zwecke willen, als ver-bindlich erklärenden Moralphilosophie. Sieist außerdem, mit dem Zentralbegriff des»Kategorischen Imperativs«, wenn auch oftmissverstanden, so wirkungsvoll geworden,dass die Nachzeichnung des kantischen Ge-dankengangs kurz sein kann.

Nach K. unterwerfen wir Menschen unserHandeln gewissen Regeln. Von diesen Regelnsind nun die einen hypothetisch, die anderenkategorisch, d.h., die einen sind für uns nurdann verbindlich, wenn wir uns bestimmteZwecke vorgesetzt haben, die anderen, die K.»kategorisch« nennt, erheben den Anspruch,unbedingt, also ohne Ansehen irgendeinesbestimmten Zwecks, gültig zu sein. Beispielefür hypothet. Imperative: »Wenn Du glück-lich leben willst, so achte auf Deine Gesund-heit!« oder »Wenn Du Violinvirtuose werdenwillst, so übe fleißig!« Zwischen diesen bei-

Kant279

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 56: Kafka Killy Lexikon

den besteht noch der Unterschied, dass nurwenige Leute Violinvirtuosen werden wollen,während jeder Mensch nach Glück strebt.Aber beiden gemeinsam ist, dass sie die ge-botene Handlung nur als zu einem Zweckegut empfehlen. Dagegen gebieten Forderun-gen wie »Lüge nicht!« oder »Halte DeineVersprechen!« ohne jeden Hinweis auf ir-gendeinen Zweck oder Erfolg; sie sind alskategor. Imperative bedingungslos gültig.Was macht nun solche Imperative für unsverbindlich? Bei den hypothet. Regeln ist esoffensichtlich unser W un sc h , das angege-bene Ziel zu erreichen, der uns verpflichtet,auch das Mittel zu wollen. Kategorische Im-perative nehmen auf unsere Wünsche keineRücksicht; darum muss ihre Verbindlichkeitin ihnen selbst liegen, u. K.s epochemachen-der Gedanke war, dass es die reine Allge-meinheit dieser Forderung selbst sein könn-te, die uns zum Gehorsam ihnen gegenüberverpflichtet.

Das Prinzip aller kategor. Imperative ist diebekannte Formulierung: »Handle nur nachderjenigen Maxime, durch die Du zugleichwollen kannst, dass sie ein allgemeines Ge-setz werde!« (Grundlegung zur Metaphysik derSitten, S. 52. A.A. 4, S. 421). Damit ist etwaszunächst Einfaches gemeint: Wer sich über-legt, ob er lügen darf, muss sich sagen, dass,wenn alle lügen würden, das nicht nur nichtschön wäre (dies meint die sog. »GoldeneRegel«), sondern dass dieser Zustand allg.Lügens nicht sinnvoll vorgestellt werdenkönnte. Die Lüge setzt voraus, dass sie ge-glaubt wird; aber gerade dies wäre ausge-schlossen, wenn jeder wüsste, dass ihm jederandere nach Belieben die Unwahrheit sagt.Allgemein: Jede sittlich schlechte Handlungmuss die Bedingungen ihrer eigenen Mög-lichkeit aufheben. Der Mensch ist als Ver-nunftwesen frei, d.h., er muss sich die Ge-setze seines Handelns selbst geben. Sichselbst aber ein Gesetz geben, das nicht alsallg. Gesetz dienen kann, heißt, sich ein Ge-setz geben, das kein Gesetz ist, u. das ist einWiderspruch, unwürdig eines vernünftigenWesens.

So leitet K. aus der Tatsache, dass derMensch ein Vernunftwesen ist, seine Ver-pflichtung ab, den kategor. Imperativ zu be-

folgen. Damit hätten wir ein Kriterium dessittl. Werts von Handlungen, das selbst keinemoralischen Begriffe voraussetzt. Denn esgenügt ja der Begriff der Verallgemeine-rungsfähigkeit einer Regel. Jedoch hat K.wohl die Tragweite seines Ansatzes über-schätzt. Nur für das Beispiel der Lüge (daswohl deshalb so in den Vordergrund rückt) istein formaler innerer Widerspruch zwischender Maxime u. ihrer Verallgemeinerungkonstruierbar. Bei K.s anderen Beispielen,wie beim Verbot des Selbstmords u. bei derPflicht, anderen zu helfen, liegt ein solcherformaler Widerspruch nicht vor. Jedoch hatK. ein wesentl. Teilgebiet moralischer Ver-pflichtung richtig gekennzeichnet: Für Mit-glieder eines Gemeinwesens besteht die Not-wendigkeit, Regeln für ihr Verhalten zu ent-wickeln, u. für den Einzelnen gilt die mora-lische Verpflichtung, die von der Gemein-schaft akzeptierten Regeln zu befolgen, so-lange nicht wichtigere moralische Gründe imEinzelfall dagegen sprechen.

Die Kritik der reinen Vernunft hat für diekantische Ethik insofern die Basis geschaffen,als die Einschränkung unseres Wissens aufden Bereich mögl. Erfahrung die Möglichkeitoffenlässt, unser Handeln als (in prakt. Ab-sicht) frei anzusehen. Durch das »Faktum derVernunft« (Kritik der praktischen Vernunft,S. 56. AA 5, S. 31), das Bewusstsein derPflicht, wird die Freiheit, als Voraussetzungdieses Pflichtbewusstseins, für prakt. Zweckegesichert. Als Vernunftwesen ist der Menschfrei u. autonom, als Naturwesen der lücken-losen Kausalität unterworfen. Freiheit, Un-sterblichkeit u. die Existenz eines gerechtenGottes sind für K. »Postulate« eines morali-schen Vernunftglaubens, die als Vorausset-zungen der Realisierung des »höchsten Gu-tes«, nämlich des angemessenen Verhältnis-ses von moralischem Wert u. menschl. Glück,unabdingbare Forderungen der Vernunftdarstellen. In diesem Sinne ist K.s berühmtesDiktum zu verstehen, dass er »das Wissenaufheben« mußte, »um zum G l a ub e n Platzzu bekommen« (Kritik der reinen Vernunft,Vorrede B XXX. AA 3, S. 19). In einem solchenmoralischen Vernunftglauben sieht K. auchden rationalen Kern der christl. Religion.

Kant 280

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 57: Kafka Killy Lexikon

Offenbar erst spät fühlte K. das Bedürfnis,theoretisch zwischen dem Reich der Natur u.dem der Freiheit zu vermitteln. Dies ist diebes. Aufgabe der Urteilskraft, die als drittes»oberes Erkenntnisvermögen« neben Ver-stand u. Vernunft treten soll. Sie ist, nach K.,bes. zur Begründung des »Geschmacks-urteils«, als ästhetische Urteilskraft, u. zurBegründung der Annahme von Naturzwe-cken, als teleolog. Urteilskraft, zu einer sol-chen Vermittlungstätigkeit berufen.

Die »Schönheit« von Naturgegenständenu. Kunstwerken führt K. auf den besonderen,als lustvoll erlebten Zustand des Gefühls »desfreien Spiels der Vorstellungskräfte [Sinn-lichkeit und Verstand] an einer gegebenenVorstellung zu einem Erkenntnisse über-haupt« (Kritik der Urteilskraft, S. 28. AA 5,S. 217) zurück. Damit wird das ästhetischeUrteil subjektiviert, zgl. aber, wegen des beiallen Menschen ähnl. Ablaufs des Erkennt-nisprozesses, als intersubjektiv gültig ange-sehen. Entsprechend erklärt K. auch die te-leolog. Betrachtung der Natur unter Ge-sichtspunkten materialer Zweckmäßigkeit,wie sie sich v. a. bei Organismen nahelegt, alseine Leistung der reflektierenden Urteils-kraft, die, in Analogie zur zielsetzenden Tä-tigkeit der menschl. Vernunft, Gesichts-punkte zur Beurteilung der inneren Zweck-mäßigkeit organisierter Wesen entwickelt,wo die – im strikten Sinne allein wissen-schaftliche – kausale Erklärung an ihreGrenzen stößt.

K.s radikale Neubegründung einer wis-senschaftl. Philosophie durch transzenden-tale Reflexion auf die Bedingungen mögl.Erkennens u. Handelns hat die Philosophieder Folgezeit bis heute tiefgreifend beein-flusst. Seine Fragestellungen bildeten weit-hin die Grundlage der Diskussion, auch wennseine Lösungen modifiziert oder ganz aufge-geben wurden. Die Ethik des kategor. Impe-rativs hat in Deutschland weit über die ge-bildeten Schichten hinaus gewirkt, wobei dieunbedingte Pflicht gegenüber dem Ver-nunftgesetz oft in Gehorsam gegenüber derObrigkeit umgedeutet wurde.

Weitere Werke: Ges. Schr.en [zitiert: AA], hg.v. der Preuß. Akademie der Wiss.en (später Aka-demie der Wiss.en der DDR, seit 1992 Berlin-

Brandenburgische Akademie der Wiss.en). Bln.1902 ff. (Bde. 1–9 Werke, Bde. 10–13 Briefe,Bde. 14–23 Handschriftl. Nachl., Bde. 24–29 –noch nicht vollständig – Vorlesungen, Bde. 30 ff.Kant-Index). Bde. 10–12, 21922. Bde. 1–9 auch alsStudienausg. Bln. 1968. – Werke. Hg. Ernst Cas-sirer. 11 Bde., Bln. 1912–22. – Werke. Hg. WilhelmWeischedel. 6 Bde., Wiesb. 1956–64. Paper-backausg. in 12 Bdn., Ffm. 1968. – Briefe v. u. an K.(Ausw.). Hg. Jürgen Zehbe. Gött. 1970/71. – GuteEinzelausg.n von verschiedenen Herausgebern in:Philosophische Bibl. Hbg.

Literatur: Hilfsmittel: Kant-Studien. 1896 ff.(führen seit Bd. 60, 1969, eine fortlaufende Biblio-gr. von Arbeiten über K.; von 1952 an nachgeholt).– Kantstudien-Ergänzungshefte. 1906 ff. – RudolfEisler: K.-Lexikon. Nachschlagewerk zu K.s sämtl.Schr.en, Briefen u. handschriftl. Nachl. Bln. 1930.Nachdr. Hildesh. 1961. – Andreas Roser u. ThomasMohrs (Hg.): K.-Konkordanz. Zu den Werken I. K.s.10 Bde., Hildesh./Zürich/New York 1992–95. –Gerd Irrlitz: K.-Hdb. Leben u. Werk. Stgt./Weimar2002. – Georg Mohr, Jürgen Stolzenberg u. MarcusWillaschek: K.-Lexikon. 3 Bde., Bln./New York (inVorb.). – Allgemein: Stephan Körner: K. Gött. 1967.– Friedrich Kaulbach: I. K. Bln. 1969. – OtfriedHöffe: I. K. Mchn. 1983. 7., überarb. Aufl. 2007. –Jean Grondin: I. K. zur Einf. Hbg. 1994. 42007. –Reinhard Brandt u. Werner Stark (Hg.): Autogra-phen, Dokumente u. Ber.e. Zu Ed., Amtsgeschäftenu. Werk I. K.s. Hbg. 1994. – K. u. die BerlinerAufklärung. Akten des IX. Internat. K.-Kongresses,Berlin, 2000. Hg. Volker Gerhardt u. a. 5 Bde., Bln./New York 2001. – V. Gerhardt: I. K. Vernunft u.Leben. Stgt. 2002. – Günther Lottes u. Uwe Steiner:I. K. German professor and world-philosopher.o. O. [Laatzen] 2007. – Constantin Rauer: Wahn u.Wahrheit. K.s Auseinandersetzung mit dem Irra-tionalen. Bln. 2007. – Biografien: Karl Vorländer: I.K.s Leben. Lpz. 1911. Hbg. 31974. – Kurt Staven-hagen: K. u. Königsberg. Gött. 1949. – UweSchultz: I. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddoku-menten. Reinb. 1965. Überarb. u. erw. Neuausg.2003. – Arsenij Gulyga: I. K. Ffm. 1981. Neuausg.Ffm. 2004. – Manfred Kühn: K. A Biography.Cambridge 2001. Dt. Übers. Mchn. 2003. – SteffenDietzsch: I. K. Eine Biogr. Lpz. 2003. – Werkanalyse:Gerhard Krüger: Philosophie u. Moral in der Kan-tischen Ethik. Tüb. 1931. 21967. – Gottfried Mar-tin: I. K. Ontologie u. Wissenschaftstheorie. Köln1951. 41969. – Wolfgang Bartuschat: Zum syste-mat. Ort v. K.s Kritik der Urteilskraft. Ffm. 1972. –Gerold Prauss (Hg.): K. Zur Deutung seiner Theorievom Erkennen u. Handeln. Köln 1973. – LewisWhite Beck: K.s Kritik der prakt. Vernunft. Ein

Kant281

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 58: Kafka Killy Lexikon

Komm. Mchn. 1974 (engl. 1960). – Dieter Henrich:Identität u. Objektivität. Eine Untersuchung überK.s transzendentale Deduktion. Heidelb. 1976. –Jens Kulenkampff: K.s Logik des ästhet. Urteils.Ffm. 1978. – Henry E. Allison: K.’s theory of free-dom. Cambridge u. a. 1990. – Paul Guyer: K. andthe experience of freedom. Essays on aesthetics andmorality. Cambridge/New York 1993. – V. Ger-hardt: I. K.s Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹. EineTheorie der Politik. Darmst. 1995. – Dieter Hüningu. Burkhard Tuschling: Recht, Staat u. Völkerrechtbei I. K. Marburger Tagung zu K.s ›MetaphysischenAnfangsgründen der Rechtslehre‹. Bln. 1998. – G.Mohr u. M. Willaschek (Hg.): I. K. Kritik der reinenVernunft. Bln. 1998. – B. Sharon Byrd u. a. (Hg.):200 Jahre K.s Metaphysik der Sitten / 200th anni-versary of K.’s Metaphysics of morals. Bln. 1998. –Darius Koriako: K.s Philosophie der Mathematik.Grundlagen – Voraussetzungen – Probleme. Hbg.1999. – Brigitte Falkenburg: K.s Kosmologie. Diewiss. Revolution der Naturphilosophie im 18. Jh.Ffm. 2000. – P. Guyer: Kant on freedom, law, andhappiness. Cambridge 2000. – H. E. Allison: K.’stheory of taste. A reading of the Critique of aes-thetic judgment. Cambridge 2001. – O. Höffe:›Königliche Völker‹. Zu K.s kosmopolit. Rechts- u.Friedenstheorie. Ffm. 2001. – Ders.: I. K. Kritik derprakt. Vernunft. Bln. 2002. – Ders.: K.s Kritik derreinen Vernunft. Die Grundlegung der modernenPhilosophie. Mchn. 2003. 2., durchges. Aufl. Mchn.2004. – H. E. Allison: K.’s transcendental idealism.Rev. and enl. ed. New Haven/London 2004. – O.Höffe: I. K. Kritik der Urteilskraft. Bln. 2008. –Wirkungsgeschichte: Entstehung u. Aufstieg desNeukantianismus. Die dt. Universitätsphilosophiezwischen Idealismus u. Positivismus. Ffm. 1986. –George MacDonald Ross u. Tony McWalter (Hg.):K. and his influence. Bristol 1990. – GerhardSchönrich u. Yasushi Kato (Hg.): K. in der Diskus-sion der Moderne. Ffm. 1996. – Alain Renaut: K.aujourd’hui. Paris 1997. – Dietmar H. Heidemannu. Kristina Engelhard (Hg.): Warum K. heute?Systemat. Bedeutung u. Rezeption seiner Philoso-phie in der Gegenwart. Bln./New York 2004.

Günther Patzig / Red.

Kant, Uwe, * 18.5.1936 Hamburg. – Kin-der- u. Jugendbuchautor.

Nach dem Schulbesuch in Parchim/Mecklen-burg studierte K., Bruder Hermann Kants,1956–1961 Germanistik u. Geschichte inRostock u. Ost-Berlin. 1961–1964 arbeitete erals Lehrer, anschließend drei Jahre als Lite-

raturredakteur. Seit 1967 lebt K. als freierSchriftsteller u. Journalist.

An K.s erster Erzählung Das Klassenfest(Bln./DDR 1969, verfilmt 1971), welche dieAuseinandersetzung u. Annäherung zwi-schen dem 15-jährigen Schüler Otto Hintz u.seinem jungen Lehrer Anton Nickel schildert,wurde v. a. die geschickte Verwendung desStilmittels der Ironie gelobt – ein Novum fürdie Kinderliteratur der DDR. K.s Erfahrun-gen als Lehrer sind spürbar auch in den fol-genden Erzählungen Die liebe lange Woche(Bln./DDR 1971) u. Der kleine Zauberer und diegroße Fünf (ebd. 1974, verfilmt 1977), währendspätere Texte autobiogr. Elemente derKriegszeit aufnehmen (z.B. Vor dem Frieden.Ebd. 1979). Immer wieder verweist K. seinejugendl. Leser auf den Prozess des Schreibens,auf die Schwierigkeit, Geschichten zu erzäh-len, wie in dem Bilderbuch Wie Janek eine Ge-schichte holen ging (ebd. 1980). Im KinderbuchHeinrich verkauft Friedrich (Bln. 1993) wird derJunge mit der Arbeitslosigkeit u. der Verbit-terung des Vaters konfrontiert. Heinrich willdie prekäre finanzielle Situation mit demVerkauf seines Wellensittichs verbessern.Durch ein Rollenspiel – der Vater mimt einenfrz. Touristen u. potentiellen Käufer – initi-iert K. einen Perspektivwechsel. Im Spiel ge-lingt es dem Vater, wieder mit seinem Jungenins Gespräch zu kommen u. die schwierigefamiliäre Lage aus der Perspektive des Kindeszu betrachten. Der Roman Mit Dank zurück(Bln. 2000) erzählt die bizarre Geschichte desSchriftstellers Mungk, dessen Bücher von ei-nem jugendl. Leser zurückgesandt werden.Tief verletzt macht sich Mungk auf den Weg,um den Abtrünnigen zur Rede zu stellen.Gleichzeitig ist diese Suche eine verwirrendeZeitreise in die eigene Vergangenheit. AlsResultat seiner DDR-Odyssee bringt Mungkden Stoff zum vorliegenden Roman mit.

Weitere Werke: Roter Platz u. ringsherum.Bln./DDR 1977 (Reiseführer für Kinder). – DieReise v. Neukuckow nach Nowosibirsk. Ebd. 1980(E.). – Alfred u. die stärkste Urgroßmutter der Welt.Ebd. 1988. – Panne auf Poseidon Sieben. Ebd. 1989.– Wer hat den Bären gesehen? Bilder v. Gesa De-necke. Weinheim. 1995. – Weihnachtsgesch.n. MitBildern v. Rolf Bunse. Ravensburg 1999. – Die liebelange Woche. Mit Illustrationen v. Rainer Sacher.

Kant 282

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 59: Kafka Killy Lexikon

Bln. 2000. – Hörspiele: Die Nacht mit Mehlhose.1972. – Fahrt mit Persigehl. 1985. – Der Mitneh-mer. Ein Funkmonolog. 1986.

Literatur: U. K. In: Meinetwegen Schmetter-linge. Gespräche mit Schriftstellern. Bln. 1973,S. 5–15. – Werner Schwitzke: U. K. – ein ›exem-plarischer Fall‹ unserer Kinderlit.? In: Deutsch alsFremdsprache 22 (1985), Sonderh., S. 78–83. –Anneliese Löffler: Interview mit U. K. In: WB 32(1986), H. 5, S. 783–796. – Dies.: Realitätsgewinn –Phantasie – Wortkunst. Zur Arbeit von U. K. In:ebd., S. 797–810. – Ulrich Kaufmann: U. K. In:Hans Jürgen Geerdts (Hg.): Lit. der DDR. Bd. 3,Bln./DDR 1987, S. 130–145. – Benno Pubanz: EineKleinstadt in Mecklenburg. Begegnungen mit U. K.In: ›Berührungen‹. Kinder- u. Jugendbuchthemender Gegenwart. Hg. Hans Joachim Nauschütz u.Steffen Peltsch. Frankfurt/Oder 1997, S. 35–38. –Gotthard Lerchner: Zaubern als Sprachkunst.Sprachfunktion u. Sprachspiel in U. K.s Kinder-buch ›Der kleine Zauberer und die große 5‹. In:Ders.: Schr.en zum Stil. Hg. Irmhild Barz u. a. Lpz.2002, S. 120–133. Karin Rother / Elke Kasper

Kantorowicz, Alfred, auch: HelmuthCampe, * 12.8.1899 Berlin, † 27.3.1979Hamburg. – Germanist, Verfasser auto-biografischer u. biografischer Schriften,Publizist.

Der aus einem großbürgerlich-jüd. Eltern-haus stammende K., Sohn eines Kaufmanns,nahm mit 17 Jahren freiwillig am ErstenWeltkrieg teil. Nach Jura- u. Literaturge-schichtsstudium war er von 1924 an zunächstLiteraturkritiker der »Vossischen Zeitung«,Redakteur u. Theaterkritiker der »NeuenBadischen Landeszeitung« in Mannheim u.in der Nachfolge Kurt Tucholskys PariserKulturkorrespondent der »Vossischen Zei-tung« sowie anderer Ullstein-Blätter. 1929kehrte er nach Berlin zurück, wurde 1931Mitgl. der KPD u. arbeitete seit HitlersMachtergreifung im Untergrund, ehe er nachParis ins Exil ging u. dort als ehrenamtl. Ge-neralsekretär des »Schutzverbandes Deut-scher Schriftsteller im Exil« tätig war.

K. begründete die »Deutsche Freiheitsbi-bliothek«, die unter dem Präsidium von Ro-main Rolland, André Gide, Herbert GeorgeWells u. Heinrich Mann im NS-Deutschlandverbotene Bücher sammelte u. zugänglichmachte. Am Spanischen Bürgerkrieg nahm K.

vom Herbst 1936 an teil. Seine Erfahrungenresümierte er in seinem Spanischen Tagebuch(Bln. 1948). Als K. 1938 nach Frankreich zu-rückkehrte, wurde er im Lager Les Milles in-terniert. Seine 1941 geglückte Flucht in dieUSA hat Seghers in ihrem Roman Transit ge-schildert. K. selbst dokumentierte diesenAbschnitt seines Lebens distanziert in demBuch Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten undDenkwürdigkeiten (Bremen 1971).

Während seines amerikan. Exils arbeiteteK. bei der CBS als Chef der Abteilung Aus-landsnachrichten. Ende 1946 ging er nachOst-Berlin u. wurde Herausgeber der Zeit-schrift »Ost und West«, die 1949 vom Polit-büro der SED verboten wurde. 1949 erhielt K.einen Ruf an die Humboldt-Universität u.wurde Direktor des germanistischen Insti-tuts. Darüber hinaus leitete er das Heinrich-Mann-Archiv bei der Deutschen Akademieder Künste u. gab das Gesamtwerk seinesFreunds u. Vorbilds im Aufbau-Verlag her-aus. Kurz nachdem er sich geweigert hatte,eine SED-Resolution gegen den ungarischenAufstand zu unterzeichnen, verließ er imAug. 1957 die DDR u. suchte in Bayern polit.Asyl, das ihm zunächst versagt wurde, da ersich »nicht in einer besonderen Zwangslage«befunden u. der »Unmenschlichkeit Vor-schub geleistet« habe. Seit 1965 bis zu seinemTod lebte K. in Hamburg u. widmete sichpublizistisch bes. der Erforschung der Exil-literatur. Sein literar. Werk bezieht seinenRang aus der gewissenhaften u. schonungs-losen Dokumentation seines Lebens, der »Il-lusionen, Irrtümer, Widersprüche, Einsich-ten und Voraussichten« (Deutsches Tagebuch.Mchn. 1960).

Weitere Werke: In unserem Lager ist Dtschld.Reden u. Aufsätze. Paris 1936. Neu hg. v. MarkusBerg. Rostock 2006. – Ost u. West. Beiträge zukulturellen u. polit. Fragen der Zeit 1947–49.Nachdr. Königst./Taunus 1979. – Meine Kleider.Bln. 1957. Ffm. 1993. – Heinrich u. Thomas Mann.Die persönl., literar. u. weltanschaul. Beziehungender Brüder. Bln./DDR 1956. – Dt. Schicksale. Wien/Köln 1964. – Politik u. Lit. im Exil. Hbg. 1978. –Nachtbücher. Aufzeichnungen im frz. Exil 1935 bis1939. Hg. Ursula Büttner u. Angelika Voss. Hbg.1995. – A. K. 100. Texte, Zeugnisse, Dokumente,Briefe, Gedichte. Red. Klaus Täubert. In: Europäi-sche Ideen (1999), H. 116 (Sonderh. zu A. K.).

Kantorowicz283

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 60: Kafka Killy Lexikon

Lietratur: Sigrid Thielking: ›Etwas ist ausge-blieben, was alles ins Maß gerückt hätte‹. A. K. alsVermittler v. Exillit. nach 1945. In: Dieter Sevin(Hg.): Die Resonanz des Exils. Amsterd. 1992,S. 231–243. – Wolfgang Gruner: A. K. (1899–1979).Ein dt. Schicksal. Ausstellung der Staats- u. Uni-versitätsbibl. Hamburg, 6.10.–20.11.1999. Hbg.1999. – Klaus Körner: A. K. (1899–1979). Ein dt.Schicksal. In: Aus dem Antiquariat (1999), H. 12, S.A723–A728. – Klaus Täubert: A. K. In: Dt. Exillit.Bd. 3, Tl. 2, S. 184–212. – Wolfgang Gruner: A. K.Wanderer zwischen Ost u. West. In: Claus-DieterKrohn u. Axel Schildt (Hg.): Zwischen den Stühlen.Hbg. 2002, S. 294–315. – Josie McLellan: The Po-litics of Communist Biography. A. K. and the Spa-nish Civil War. In: German history 22 (2004),S. 536–562. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Klaus Schil-ling: Chronist im Niemandsland. A. K.’ Haltungzum Judentum. In: Aschkenas 16 (2006), H. 1,S. 177–193. – W. Gruner: ›Ein Schicksal, das ichmit sehr vielen anderen geteilt habe‹. A. K. – seinLeben u. seine Zeit v. 1899 bis 1935. Kassel 2006. –Dirk Klose: ›Unser Sorgenkind ist uns ans Herzgewachsen‹. Vor 60 Jahren gründete A. K. dieZtschr. ›Ost u. West‹. In: Dtschld.-Archiv 40 (2007),S. 613–621. Jörg-Dieter Kogel / Red.

Kantorowicz, Ernst (Hartwig), * 3.5.1895Posen, † 9.9.1963 Princeton/New Jersey;Grabstätte: ebd. – Historiker.

K., Spross einer jüd. Fabrikantenfamilie,verdankte dem humanistischen Gymnasiumseiner Vaterstadt die Grundlagen, die es ihmermöglichten, der Humanist zu werden, alsden ihn sein Leben u. sein Werk ausweisen.Nach Studienbeginn Kriegsfreiwilliger,nahm er noch 1919 als Freikorps-Soldat anden Kämpfen in Posen, Berlin u. Münchenteil, um gleichzeitig das Studium der Natio-nalökonomie in München u. seit Herbst 1919das der Kameralistik u. der Alten Geschichtein Heidelberg fortzusetzen. Hier wurde er1922 über Das Wesen der muslimischen Hand-werkerverbände promoviert u. hier fand erdurch Friedrich Gundolf Zugang zum Geor-ge-Kreis, bald auch zu George selbst. AlsFrucht dieser Begegnung entstand die großeBiografie Kaiser Friedrich der Zweite (Bln. 1927.Erg.-Bd. 1931. Neudr. Düsseld./Mchn. 1963),die schnell Berühmtheit erlangte, aufgrundder myth. Überhöhung der Gestalt des Stau-fers zur Verkörperung u. zum Sinnbild mit-

telalterl. Herrschertums in der zeitgenöss.Geschichtswissenschaft aber auch heftig um-stritten war. Seit 1930 als Honorarprofessor,seit 1932 als Ordinarius für Mittlere u.Neuere Geschichte an der Universität Frank-furt/M. entfaltete K. eine erfolgreiche Lehr-tätigkeit. Er ließ sich aus Protest gegen dieantisemitische Gesetzgebung des NS-Staatsfür das Sommersemester 1933 beurlauben u.nach kurzer Wiederaufnahme seiner Lehrtä-tigkeit im Wintersemester – mit einer An-trittsvorlesung über Das Geheime Deutschland –1934 emeritieren; den von allen Beamtengeforderten Eid auf Hitler hatte er verwei-gert. Als Mitarbeiter der »Monumenta Ger-maniae Historica« harrte K. bis 1938 in Berlinaus. In diesem Jahr verhalfen ihm Freundezur Emigration, die ihn über Oxford in dieUSA führte. Nach Zwischenstation in Balti-more fand er 1939 an der Universität Berkeleyeine neue Wirkungsstätte. K.s Weigerung,den antikommunistischen Loyalitätseid ab-zulegen, endete 1950 mit seiner Entlassung;seine Haltung in der Loyalty-Oath-Affair1949/50 hat er in der Schrift The FundamentalIssue (San Francisco 1950) dokumentiert. In-zwischen auch in den USA als einer der füh-renden Mediävisten anerkannt, wurde er1951 an das Institute for Advanced Studynach Princeton berufen.

Hier veröffentlichte K. sein Hauptwerk TheKing’s Two Bodies. A Study in Mediaeval PoliticalTheology (Princeton, New Jersey 1957. Dt.u. d. T. Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zurpolitischen Theologie des Mittelalters. Mchn.1990), das das Königtum als Ganzes erfasst u.die Grenzen der histor. Disziplin überschrei-tet. Es macht seine Besonderheit aus, dass K.darin im Ausgriff auf Politik u. Recht, Theo-logie, Liturgie u. Kunst die Kräfte aufspürte,die das Königtum geformt haben, u. darauseine Typologie des Königtums gewann, in derzgl. seine verschiedenen Entwicklungsstufenerkennbar werden. Es ist in der Sprache vonK. der Weg vom »christ-centred kingship«zum »man-centred kingship« u. zgl. der Wegvon der im König verkörperten Herrschaftzum Staat als Korporation – das Ganze inseiner subtilen Klarheit, jetzt ohne das Pathosdes Friedrich-Buchs, auch sprachlich einMeisterwerk.

Kantorowicz 284

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 61: Kafka Killy Lexikon

Weitere Werke: Laudes regiae. A Study in Li-turgical Acclamations and Mediaeval Ruler Wor-ship.With a Study of the Music of the Laudes andMusical Transcriptions. Berkeley 1946. – SelectedStudies. Locust Valley, New York 1965 (mit vollst.Bibliogr.). Dt. Übers.: Götter in Uniform. Studienzur Entwicklung des abendländ. Königtums. Hg.Eckhart Grünewald u. Ulrich Raulff. Stgt. 1998.

Literatur: Edgar Salin: E. K. In: HZ 199 (1964),S. 551–557. – Josef Fleckenstein: E. K. zum Ge-dächtnis. In: Frankfurter Universitätsreden 34(1964), S. 11–27. – Friedrich Baethgen: E. K. In: Dt.Archiv für Erforsch. des MA 21 (1965), S. 1–17. –Ralph E. Giesey: E. H. K. In: Yearbook of the LeoBaeck Institute 30 (1985), S. 191–202. – EckhartGrünewald: E. K. u. Stefan George. Wiesb. 1982. –Tumult. Schr.en zur Verkehrswiss. 16. E. H. K.Geschichtsschreiber. Wien 1991. – Alain Boureau:K. Gesch.n eines Historikers. Stgt. 1992. – JerzyStrzelczyk (Hg.): E. K. (1895–1963). Soziales Milieuu. wiss. Relevanz. Poznán 1996. – Robert L. Bensonu. Johannes Fried (Hg.): E. K. Erträge der Doppel-tagung Institute for Advanced Study, Princeton,Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt.Stgt. 1997. – Wolfgang Ernst u. Cornelia Vismann(Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von E. H. K.Mchn. 1998. – Barbara Schlieben u. a. (Hg.): Ge-schichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wiss.Gött. 2004. – Olaf B. Rader: E. H. K. In: Lutz Ra-phael (Hg.): Klassiker der Geschichtswiss. Bd. 2,Mchn. 2006, S. 7–26.

Josef Fleckenstein † / Ernst Osterkamp

Kantorowicz, Gertrud, auch: Gert. Pauly,* 9.10.1876 Posen, 19./20. 4. 1945 There-sienstadt. – Kunsthistorikerin, Lyrikerin.

K. entstammte ebenso wie ihr Cousin, derHistoriker Ernst K., einer angesehenen u.wohlhabenden jüd. Fabrikantenfamilie. InBerlin, später auch in München, studierte sieseit 1898 Kunstgeschichte, Archäologie u.Philosophie u. wurde 1903 mit der Disserta-tion Über den Meister des Emmausbildes in SanSalvatore zu Venedig (Neu-Ruppin 1904) an derUniversität Zürich promoviert. In engstemKontakt stand sie mit dem MalerehepaarLepsius, mit Edith Landmann, MargareteSusmann u. vor allem mit Georg Simmel,dem Vater ihrer 1907 geborenen, unehel.Tochter »Angi«. Auf Simmels Anregungübersetzte sie Henri Bergsons L’évolution créa-trice (Schöpferische Entwicklung. Jena 1912). DieBeziehung zu Rudolf Pannwitz erlebte Hö-

hen u. Tiefen. In Berlin teilte K. zeitweiligihre Wohnung mit Stefan George, der sie»Huldin« oder »Poetessa« nannte, u. veröf-fentlichte unter dem selbstgewählten Pseud-onym Gert. Pauly 1899 als einzige Frau in den»Blättern für die Kunst«. Die elf feierlich-preziösen Gedichte des Zyklus Einer Toten .. .weisen deutl. George-Anklänge auf. Zu wei-teren, von der Redaktion erwünschten Pu-blikationen in Georges Zeitschrift kam esnicht.

Im Ersten Weltkrieg arbeitete K. durchauspatriotisch gesinnt als Krankenschwester,u. a. seit 1916 in Konstantinopel. NachdemSimmel 1918 gestorben war, gab sie seineFragmente u. Aufsätze aus dem Nachlassheraus (Mchn. 1923). 1921 zog die Kennerinantiker Literatur nach Herrlingen bei Ulm,1926 vorübergehend nach Heidelberg, u.widmete sich der nie ganz abgeschlossenen,lebensanschaul. Studie Vom Wesen der griechi-schen Kunst (Heidelb./Darmst. 1961. Mit Ge-dichtabdrucken u. einem verschiedentlichwieder aufgelegten Essay hg. v. MichaelLandmann). Während der NS-Herrschaft halfsie, vor allem in Berlin, vielen Verfolgten u.unternahm ausgedehnte Reisen, von denensie jedoch stets nach Deutschland zurück-kehrte. Nach einem gescheiterten Fluchtver-such 1942 nach Theresienstadt deportiert,starb K. dort 1945 an einer Hirnhautentzün-dung. Die schicksalsverarbeitenden Verse ausTheresienstadt erschienen 1948 in einem Pri-vatdruck. Bisher sind K.s verstreute Kor-respondenzen, so wie ihre großteils nurhandschriftlich überlieferte Lyrik, lediglichim Einzelfall systematisch gewürdigt. Be-achtenswert wäre etwa eine bedeutende Reihevon Michelangelo-Übersetzungen. Die krit.Edition des lyr. Werks steht vor dem Ab-schluss.

Weitere Werke: Über den Märchenstil derMalerei u. die Sienes. Kunst des Quattrocento. In:Edith Landmann-Kalischer, Gertrud Kühl-Claasenu. G. K.: Beiträge zur Ästhetik u. Kunstgesch. Bln.1910, S. 137–254. – Michelangelo Buonarroti: Ge-dichte. In: Der Obelisk. Literaturbeilage der Österr.Rundschau 19 (1923), H. 12, S. 1147 f. – MargareteSusman, Die Frauen der Romantik. In: Der Morgen6 (1930), S. 207–209. – (Gert [!] Pauly:) Die Stimme

Kantorowicz285

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 62: Kafka Killy Lexikon

spricht v. Karl Wolfskehl. In: Schweizer Annalen 36(1936), S. 65 f.

Literatur: Ludwig Curtius: In MemoriamTheresienstadt. In: Merkur 2 (1948), S. 474 f. (mitGedichtabdrucken). – Barbara Paul: G. K.(1876–1945). Kunstgesch. als Lebensentwurf. In:Frauen in den Kulturwiss.en. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt. Hg. Barbara Hahn.Mchn. 1994, S. 96–109. – Angela Rammstedt: ›Wirsind des Gottes der begraben stirbt ...‹. G. K. u. dernationalsozialist. Terror. In: Simmel-Newsletter 6(1996), S. 135–177 (Wieder in: Montfort. Vjs. fürGesch. u. Gegenwart Vorarlbergs 49, 1997,S. 134–176). – Petra Zudrell (Hg.): Der abgerisseneDialog. Die intellektuelle Beziehung G. K. – Mar-garete Susman oder die Schweizer Grenze bei Ho-henems als Endpunkt eines Fluchtversuchs. Inns-br./Wien 1999 (mit Gedichtabdrucken). – JürgenEgyptien: Schwester, Huldin, Ritterin. Ida Co-blenz, G. K. u. Edith Landmann. Jüdische Frauenim Dienste Stefan Georges. Castrum Peregrini 53(2004), S. 73–119. – Robert E. Lerner: Poetry of G.K. Between ›Die Blätter für die Kunst‹ and There-sienstadt. In: George-Jb. 5 (2004/2005), S. 98–109(mit Gedichtabdrucken). – Rüdiger Reitmeier: G.K. In: Prominente in Berlin-Westend u. ihreGesch.n. Hg. Burkhardt Sonnenstuhl. Bln. 2007,S. 112–118. Philipp Redl

Kantzow, Thomas, um 1505 vermutlichStralsund,† 25.9.1542 Stettin. – Ge-schichtsschreiber.

K. bezog am 10.4.1526 als Stralsunder(»Sundensis«) die Universität Rostock u. er-warb vermutlich dort den später von ihmgeführten Magistergrad. Bereits 1528 trat erals Sekretär in die Kanzlei der pommerschenHerzöge in Stettin ein. Nach der ErbteilungPommerns 1532 wurde er Sekretär HerzogPhilipps I. in Wolgast, der Residenz des westl.Landesteils. In dieser Stellung wirkte er ander Durchführung der Reformation in Pom-mern mit. Mit finanzieller Förderung desHerzogshauses nahm K. im Sommersemester1538 in Wittenberg erneut ein Studium auf.1542 erkrankt, kehrte er nach Pommern zu-rück.

K.s historiografisch-literar. Nachruhm be-ruht auf seiner im Geist humanistischen Ge-schichtsinteresses geschriebenen PommerschenChronik, die in der Hauptsache in vier von ihmhergestellten Redaktionen vorliegt: in einer

niederdt. Fassung von etwa 1536/37 (Hg.Wilhelm Böhmer. Stettin 1835), in der erstenhochdt. Chronik von etwa 1538/39 (Hg. Ge-org Gaebel. Stettin 1898), der zweiten hochdt.Chronik um 1539 (Hg. G. Gaebel. Stettin1897) u. der dritten hochdt. Fassung: Pome-rania. Ursprunck Altheit und Geschicht der Volkerund lande Pomeren, Cassuben, Wenden, Stettin undRhügenn (Hg. G. Gaebel. Stettin 1908). Auchdiese letzte Redaktion darf seit 1973 im We-sentlichen als K.s eigene Arbeit gelten; derTextanteil seines Nachlasserben Nikolaus vonKlempzen ist weitaus geringer als bis dahinvermutet.

K., in dessen Lebenswerk der ÜbergangNorddeutschlands vom Niederdeutschenzum Hochdeutschen als Schriftsprache ex-emplarisch sichtbar wird, begründet dievolkssprachl. Geschichtsschreibung Pom-merns u. führt sie zu einer ersten Blüte. Vielepommersche Historiografen des 16. u. 17. Jh.stützen sich direkt oder indirekt auf K. ZweiKarten Pommerns in der Pomerania machen K.überdies zum frühesten uns bekannten Kar-tografen des Landes.

Ausgaben: T. K.s Chronik v. Pommern in nie-derdt. Mundart, sammt einer Ausw. aus den übri-gen ungedr. Schriften desselben [...] hg. u. mitEinl., Glossar u. einigen anderen Zugaben vers.durch Wilhelm Böhmer. Stettin 1835. Nachdr.Walluf 1973. Vaduz 1990. – Dass. hg. Georg Gaebel.Stettin 1929. – Dass. in poln. Übers.: Pomerania:kronika pomorska z XVI wieku. Hg. u. komm. v.Tadeusz Biaecki u. a. 2 Bde., Stettin 2005.

Literatur: Fr. Groenwall: T. K. u. seine Pom-mersche Chronik. In: Balt. Studien 39 (1889),S. 257–354 (mit Teiled.). – Hermann Bollnow: Diepommerschen Herzöge u. die heim. Geschichts-schreibung. In: Balt. Studien N. F. 39 (1937),S. 1–35. – Wiktor Fenrych: Kroniki Jana Bugenha-gena i Tomasza Kantzowa o dziejach PomorzaZachodniego w latach 1370–1464. Studium z za-kresu ideologii politycznej. Stettin 1965 (mit engl.Zusammenfassung). – Jürgen Petersohn: Die drittehochdt. Fassung v. K.s Pommerscher Chronik.Identifikation eines verkannten Geschichtswerks.In: Balt. Studien N. F. 59 (1973), S. 27–41. – Rode-rich Schmidt: T. K. In: NDB. – Bogislav v. Ar-chenholz: Bürger u. Patrizier. Ein Buch v. Men-schen u. Städten des dt. Ostens. Erw. Ausg. Ffm./Bln. 1992, S. 211 ff. – Herbert Blume: T. K.sHochdeutsch. Zum Sprachstand der ersten hochdt.Fassung seiner ›Pommerschen Chronik‹. In: Pom-

Kantzow 286

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 63: Kafka Killy Lexikon

mern in der Frühen Neuzeit. Lit. u. Kultur in Stadtu. Region. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Lan-ger. Tüb. 1994, S. 171–185. – Ulf-Hermann Bader:Innerer Auftrag u. Erfüllung. Zur Funktion von T.K.s ›Chronik von Pommern in niederdt. Mundart‹.In: Die Funktion außer- u. innerliterar. Faktorenfür die Entstehung dt. Lit. des MA u. der FrühenNeuzeit. Hg. Christa Baufeld. Göpp. 1994,S. 257–266. – Katarina Berger: Erzählungen u. Er-zählstoffe in Pommern 1840 bis 1938. Münster u. a.2001. – Jakob Liefer: Bellum Sundense. Der Sun-dische Krieg. Eine zweisprachige Ed. Hg., übers. u.komm. v. Matthias Kruske. Köln u. a. 2004,S. 155–158. Herbert Blume / Red.

Der Kanzler. – Oberdeutscher Lied- u.Sangspruchdichter des späteren 13. Jh.

Der Name des Dichters kann ein Beinamesein, ist aber auch als Familienname häufigbelegt. Mit keiner der urkundlich nachge-wiesenen Personen lässt sich der K. jedochsicher identifizieren. Der Sprache nach war eroberdt., vielleicht alemann. Herkunft; dieBehauptung in der Literaturgeschichts-schreibung der Meistersinger, er sei ein Fi-scher aus der Steiermark gewesen (so zuerst inzwei um bzw. nach 1500 verfassten Liedernvom Rosengarten der Zwölf Meister u. vom»vrsprung des maystergesangs«), hat kaumeinen wahren Kern. Nach Strophe XVI 6 zuschließen, führte der K. das Leben einesFahrenden. Seine Schaffenszeit fällt wohl insspätere 13. Jh. Den terminus ante quem gibtdie Überlieferung in der Großen HeidelbergerLiederhandschrift – hier beschließt das K.-Opusden zu Anfang des 14. Jh. beendeten Grund-stock – u. auf dem Basler Fragment einerPergamentrolle aus dem Ende des 13. Jh.Politische Situationen, auf die der K. in seinenSprüchen anspielt, sind zeitlich nicht genauerzu fixieren.

Das erhaltene Werk des K.s umfasst zwölfLieder mit insg. 36 Strophen (IV–XV) u. vierSpruchtöne mit 41 oder 42 echten Strophen(I–III, XVI). Lied- u. Spruchdichtung sind alsoungefähr gleichgewichtig vertreten. Das ist,seitdem Walther von der Vogelweide erstmalsbeide Genres verbunden hatte, recht seltender Fall, z.B. bei Konrad von Würzburg. Fürdie Geschichte der Differenzierung u. Ver-

mischung der Gattungen ist das Œuvre desK.s daher von bes. Interesse.

Die Lieder stehen in der von Gottfried vonNeifen geprägten artistischen Minnesangtra-dition u. lassen speziell den Einfluss Konradsvon Würzburg erkennen. Sie sind durchwegdreistrophig, bevorzugen auftaktlose Verse u.zeichnen sich z.T. durch Refrain (VII, XI) oderbes. Reimschmuck aus (XIII, XIV). Das Motivdes persönl. Minnedienstes ist ausgespart.Nur in Lied IV spricht das Sänger-Ich in derRolle des Minnenden von »der lieben frou-wen mîn«. Sonst leitet ein ausgedehnter Na-tureingang den allg. Preis der »wîbe« ein:Sommers u. winters erscheinen sie als Inbe-griff u. Quell der »fröide«; »wîp« wird vomK., ähnlich wie von Frauenlob, als »Wunne InParadîse« gedeutet (VI). Ein Beispiel derGattungsinterferenz bietet XIII: Als Sprach-rohr der Freude etabliert, schlüpft der Lied-sänger in die Rolle des rügenden Spruch-dichters u. schließt an die Winterschelte einevehemente Klage über die sich versagende»Milte« u. die Herrschaft der »Schande« an.

Für seine Spruchdichtung verwendet der K.mit Vorliebe die ausladenderen Töne II u.XVI. Die Mehrzahl der Strophen hat er nochals in sich geschlossene Einheiten konzipiert;frühe Zeugnisse der Entwicklung zummehrstrophigen Meisterlied sind der Trini-tätspreis II 1–3 u. XVI 14–16 über die »scha-me«. Das Themenspektrum des K.s ist breit,das Repertoire seiner Stilmittel vielfältig.Religiöse Themen beanspruchen auffallendwenig Raum. Insgesamt dominiert die Her-renlehre. Seine Spruchdichter-Kompetenzdemonstriert der K., indem er sich immerwieder gegenüber Rivalen abgrenzt: treulo-sen Ratgebern der Herren, »kunstlôsen«Sängerkollegen oder »gernden«, wie er sie inII 8 aufzählt. Ein Zeugnis bes. Gelehrsamkeitsind die Astronomie-Strophen II 10–11. DasHauptthema seiner Lieder greift er in II 9 (u.evtl. II 12) auf.

Im späten MA u. in der frühen Neuzeitlebte der Name des K.s dank seinen Spruch-tönen weiter. Heinrich von Mügeln benütztin seiner kunstvollen lat. Ungarnchronik(etwa 1359) neben anderen Meistertönen TonXVI »cancellarii rethoris«. Ins Repertoire derMeisterlieddichter hat Ton II als »Goldener

Kanzler287

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 64: Kafka Killy Lexikon

Ton« Eingang gefunden (die Kolmarer Lieder-handschrift überliefert zwei Melodien dazu);er ist noch im 17. Jh. in Gebrauch. MehrereTöne, die erstmals in Meisterliedersamm-lungen des 15./16. Jh. bezeugt sind, werdendort wohl zu Unrecht als Schöpfungen des K.sausgegeben. In Dichterkatalogen u. Namen-listen hat der K. seit dem 15. Jh. einen festenPlatz (öfter neben Frauenlob). Seit dem frü-hen 16. Jh. rechnen die Meistersinger ihn zuden zwölf Begründern ihrer Kunst unterKaiser Otto I.

Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen(Hg.): Minnesinger. 4 Tle., Lpz. 1838. Tl. 2,S. 387–399. – KLD I, S. 185–217 (zitiert); wird er-gänzt durch: Steinmann (s. Lit.). – Weitere Nach-weise, bes. zu den Meisterliedern in Tönen des K.su. in ihm zugeschriebenen Tönen, in: RSM (s. Lit.).– Hinzu kommen u. a.: Geistl. Gesänge des dt. MA.Melodien u. Texte handschriftl. Überlieferung bisum 1530. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 1 ff., Kassel u. a.2003 ff., Nr. 95. 191. 372. 424. 700. – Spruchsang.Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15.Jh. Hg. Horst Brunner u. Karl-Günther Hartmann.Kassel u. a. (im Druck).

Literatur: Harald Krieger: Der K. Ein mhd.Spruch- u. Liederdichter um 1300. Diss. Bonn 1931.– Johannes Siebert: Die Astronomie in den Ge-dichten des K.s u. Frauenlobs. I. In: ZfdA 75 (1938),S. 1–14; Ergänzung in ZfdA 83 (1951/52), S. 184 f.– Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 1952.21967. – KLD 2, S. 244–264 (Lit.). – Horst Brunner:Die alten Meister. Mchn. 1975. – Olive Sayce: TheMedieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982. –Gisela Kornrumpf: Der K. In: VL (Lit.). – FriederSchanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v.Mügeln u. Hans Sachs. 2 Bde., Mchn. 1983/84. – H.Brunner u. Johannes Rettelbach: ›Der vrsprung desmaystergesangs‹. In: ZfdA 114 (1985), S. 221–240.– RSM 4. Bearb. v. F. Schanze u. Burghart Wa-chinger. Tüb. 1988, S. 93, 149–168, 252 f. (Lit.). –Martin Steinmann: Das Basler Fragment einerRolle mit mhd. Spruchdichtung. In: ZfdA 117(1988), S. 296–310. – J. Rettelbach: Variation –Derivation – Imitation. Untersuchungen zu denTönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger.Tüb. 1993. – Margreth Egidi: Höf. Liebe: Entwürfeder Sangspruchdichtung. Heidelb. 2002. – H.Brunner: K. In: MGG, Personenteil. – Shao-Ji Yao:Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung.Würzb. 2006. – J. Rettelbach: Minnelied u. Sang-spruch: Formale Differenzen u. Interferenzen beider Tonkonstitution im 13. Jh. In: Sangspruch-dichtung. Hg. Dorothea Klein u. a. Tüb. 2007,

S. 153–168. – Jens Haustein: Gattungsinterferenzin Sangspruch u. Minnelied des K.s. Ebd.,S. 169–186. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach.Tüb. 2009. Gisela Kornrumpf

Kapielski, Thomas, *16.9.1951 Berlin. –Autor, Künstler, Musiker, Performer.

K. ist in Berlin-Charlottenburg u. Berlin-Neukölln aufgewachsen u. studierte Geogra-fie, Philosophie u. Musikwissenschaft an derFreien Universität. Ende der 1970er Jahrebegann er mit seinen künstlerischen u. mu-sikal. Experimenten: Fotografien, Collagen,Texte, Geräuschkompositionen, »Diashows«– anarchisch-avantgardistische Versuchsrei-hen. Die erste literar. Veröffentlichung er-schien 1984: Der bestwerliner Tunkfurm (Ei-genverlag). K. begann ein Theologiestudium,machte sich in den 1980er Jahren in derWestberliner Künstlerbohème einen Namenu. schrieb Kolumnen für die »taz«, welche dieZusammenarbeit mit ihm wegen der Be-zeichnung einer Diskothek als »gaskammer-voll« 1988 beendete. Er veröffentlichte dannanekdotenhafte Betrachtungen über das All-tagsleben, u. a. Aqua Botulus (Bln. 1992), u.schrieb für »Die Zeit«, die »Frankfurter All-gemeine Zeitung« u. die »FrankfurterRundschau«. Einer größeren Öffentlichkeitbekannt wurde er durch seine »Gottesbewei-se«, Davor kommt noch (Bln. 1998) u. Danachwar schon (Bln. 1999). 2001 erschien seinumfangreichstes u. dichtestes Buch Sozialma-nierismus (Bln. Verb. u. erw. Neuausg. Ffm.2003). Tagebuchartig berichtet K. von denJahren 1999 u. 2000. Anekdoten, Sprachwit-zigkeiten u. Zotiges mischen sich mit Refle-xionen über das »richtige Leben« u. letzteFragen. In seinem charakterist. Stil aus Ge-stelztheit, Schnoddrigkeit u. verbaler Vir-tuosität entwirft er sich selbst als Kunstfigur,die medien-, zeit- u. sprachkritisch über dasDasein philosophiert, das »politisch Korrek-te« verachtet, dem Bierkonsum zugeneigt istu. mit melanchol. Granteln (spaß)gesell-schaftl. Moden attackiert. K. schreibt iro-nisch, bissig u. sinnierend über das Leben inBerlin-Lichtenrade mit Frau u. Sohn, überseine Zeit als Gastprofessor an der Hoch-schule für Bildende Künste in Braunschweig

Kapielski 288

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 65: Kafka Killy Lexikon

u. über seine (scheiternde) Teilnahme am In-geborg-Bachmann-Preis-Wettbewerb in Kla-genfurt. Die Weltgunst (Bln. 2004), in der erdie Jahre 2002–2004 protokolliert (u. a. seineScheidung), ist aphoristischer gehalten. Auchhier mischt sich Albernes mit Moralischem,trifft Gekalauertes auf philosophisch Raffi-niertes. Wie K. seinen Texten Bilder u. Foto-grafien beifügt, so pflegt er in den »Hörbü-chern« Abstehende Röhren (Ffm. 2002) u. Ring-kompressor (Ffm. 2006) auch das akustisch-musikal. Experiment mit seinen Texten. Erlegt Wert auf seine Mitgliedschaft beim»Original Oberkreuzberger Nasenflötenor-chester« u. stellt weiterhin seine Kunst-Ob-jekte aus, u. a. »Emolumente – Sammler zei-gen ihre Kapielskis« (2006).

K.s literar. Wirken ist mit dem Westberli-ner »Kiez« verbunden; nach dem Verlust desGeheimtippstatus Ende der 1990er Jahreschätzte man ihn als »Kult-Autor«, dessensprachmächtige »Protokollierung des Zeit-geistes und seines Wahns« (L. Jäger) mitunterals »barock« eingestuft wird. Wegen seinerSprachkunst stellt man ihn auch in die Tra-dition Lichtenbergs u. Jean Pauls. Unter denzeitgenöss. Autoren ist K. in der Nähe von M.Goldt u. E. Henscheid anzusiedeln.

K. erhielt 1999 den Sprengel-Preis für Bil-dende Kunst u. den Ben-Witter-Preis.

Weitere Werke: Leid ›light‹. Bln. 1993. – DerEinzige u. sein Offenbarungseid. Verlust der Mittel.Bln. 1994. – Anblasen. Texte zur Kunst. Bln. 2006.– Mischwald. Ffm. 2009. – Ortskunde. Eine kleineGeosophie. Basel/Weil am Rhein 2009.

Literatur: Franz Maria Sonner: T. K. In: LGL.

Oliver Müller

Kapp, (Johann) Gottfried, * 27.3.1897Mönchengladbach, † 21.11.1938 Frank-furt/M. – Verfasser von Lyrik, Romanen u.Kurzprosa.

Nach der Volksschule besuchte K., Sohn einesEisengießers u. einer Weberin, ein Lehrerse-minar in Odenkirchen, danach in Linnich,von dem er jedoch 1916 wegen einer Ord-nungswidrigkeit verwiesen wurde. Nach demErsten Weltkrieg, an dem K. wegen Dienst-unfähigkeit nicht teilgenommen hatte, lebteer zunächst in Lippstadt u. ab 1923 in Berlin,

wo er durch die Bekanntschaft des kath. So-zialpredigers Carl Sonnenschein in der Zeit-schrift »Germania« eine Möglichkeit fand,Aufsätze u. kleinere Arbeiten zu veröffentli-chen u. als freier Schriftsteller zu leben. Nacheinem einjährigen Aufenthalt in Capri u.Italien ging er 1934 nach Kronberg/Taunus.Aufgrund seiner Kontakte zu Juden wurde erals Volksfeind eingestuft. 1938 erfolgte dieBeschlagnahmung seiner beiden letzten Ta-gebücher aus den Jahren 1933–1938, in de-nen er sich gegen Völkerhass u. Nationalstolzgewandt hatte u. die somit Argumente fürseine Verhaftung lieferten. Während einesGestapo-Verhörs in Frankfurt/M. fand er denTod.

K.s erste Arbeiten thematisieren Stoffe derBibel u. des AT. Nach anfängl. lyr. Versuchenentstanden 1915 das Drama Kain (Dülmen1964) u. 1924 die Erzählung Melkisedek, die1928 in der Reihe »Junge Deutsche« desLeipziger Reclam Verlags erschien (Neuaufl.Dülmen 1962). K. verband hier religiöseThemen u. bibl. Milieu mit Motiven desOrients. 1929 veröffentlichte wiederum derReclam Verlag den Roman Das Loch im Wasser(Neuaufl. Dülmen 1961), der den Weg einesArbeitersohns zum Architekten beschreibt u.die erste Umsetzung von K.s Idee des »un-geschichtlichen Helden« bedeutet, die in demRoman Peter van Laac (Dülmen 1960; ent-standen 1931), für den K. keinen Verlegerfand, fortgesetzt wird. K. übernimmt dieStruktur des Entwicklungsromans in derNachfolge Goethes u. Stifters. Aktuelle polit.Aspekte werden nur nebensächlich behan-delt, da Literatur »nicht vom sozialen undpolitischen Standpunkt beurteilt« u. ge-schrieben werden soll. Zudem fordert er stattobjektiv-realistischer Erzählweise eine durch»Mitleiden, Gefühl und dichterische Phanta-sie« bestimmte Darstellung, die zur »Besee-lung der Dinge« beitragen soll.

Neben seiner entschiedenen Ablehnungdes Expressionismus, den er der »Natur-schändung und Formzertrümmerung« be-zichtigte, wandte sich K. somit auch gegendie Strömungen der Arbeiterdichtung u. derNeuen Sachlichkeit. Der zeitgenöss. Modernesetzte er anachronistisch »Harmonie, die

Kapp289

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 66: Kafka Killy Lexikon

Normen der Natur« sowie »die Liebe als Er-kenntnismittel« entgegen.

Weitere Werke: Das Abendopfer. Bln./Zürich1930. Neuaufl. Dülmen 1961 (N.). – Die Muttervom Berge. Stgt. 1956 (E.). – Wandellose Götter (E.).– Tgb. aus Italien. Dülmen 1960. – Gedichte – Derstarke Helmes (Singsp.). Dülmen 1961. – Briefe.Dülmen 1963.

Literatur: Luise Kapp: ... in deinem Namen.Lebensbild des Dichters G. K. Dülmen 1960. –Walter Huder: Über G. K. Ein Beitr. zur Erkenntnisseines Werks. In: G. K.: Kain. Drama. Dülmen1964. – Alfred Kantorowicz: Dt. Schicksale. Intel-lektuelle unter Hitler u. Stalin. Wien 1964. – DorisSessinghaus-Reisch u. Hans Schürings (Bearb.): G.K. Schriftsteller der Unmittelbarkeit. Dokumenta-tion zur Ausstellung des Stadtarchivs Mönchen-gladbach im Haus Zoar. Mönchengladbach 1992. –H. Schürings: Traum, Rausch u. Tod. G. K. u. daskath. Arbeitermilieu Mönchengladbachs. In: Juni(1993), H. 19, S. 142–155. – Alfred Kornemann: G.K. (1897–1938). In: Literaten u. Lit. aus Lippstadt.Lippstadt 1999, S. 93–106. – Hildegard Eilert u.Italo Michele Battafarano: ›O, dass die Welt manuns zur Heimat lasse‹. G. K.s Erzählslg. ›Wandel-lose Götter‹. In: GLL 53 (2000), H. 3, S. 325–339. –D. Sessinghaus-Reisch: Leben u. Werk des Mön-chengladbacher Schriftstellers G. K. Mönchen-gladbach 2001. Sabina Becker / Red.

Kappacher, Walter, * 24.10.1938 Salz-burg. – Prosa-, Hörspiel- u. Drehbuch-autor.

K. absolvierte eine KFZ-Mechanikerlehre,wurde 1960 Schauspielschüler in Gauting beiMünchen u. arbeitete seit 1961 hauptsächlichin Reisebüros in Salzburg u. Berlin. Seit 1978ist er als freier Schriftsteller tätig. K. lebt seit1996 in Obertrum/Salzburg. 2003 begann er,in einer Bucht bei Mattsee beinahe täglich dasSchilf zu fotografieren.

Nach eher konventionell erzählten Ge-schichten zeigte K. im Roman Morgen (Salzb.1975. Neuausg. Wien 1992) die souveräneBeherrschung von Erzähltechniken. ZeitlicheRückblenden u. abrupte Schnitte spiegeln dieGespaltenheit der Handelnden wider. DieHauptfiguren der Romane, die meist Salz-burg u. die Provinz zum Schauplatz haben,leiden unter den unbefriedigenden Lebens- u.Arbeitsverhältnissen, finden aber in ihrerApathie meist erst nach alltägl. Katastrophen

wie Kreislaufkollaps oder Autounfall dieEnergie zur Veränderung. Die Technik u. ihrVernichtungspotential treten durch die emo-tionslose Nüchternheit u. Distanz des Er-zählers in ihrer Bedrohlichkeit u. Faszinationfür die Figuren um so deutlicher hervor. Auchim Reisebericht über die Toskana Cerreto(Salzb. 1988) ist die Zerstörung der Land-schaft durch Industrie u. Tourismus eines derLeitmotive, welche die subjektiven Erfah-rungen überlagern.

Auch in der Erzählung Rosina (Stgt. 1978.Verfilmung ORF/ZDF 1982, Regie: HeidePils) geht es um eine ›déformation professio-nelle‹, dieses Mal – in 177 Textminiaturen –am Beispiel der Büroangestellten Rosina Gall.Die Utopie einer besseren Welt thematisiertder Roman Der lange Brief (Stgt. 1982. Über-arb. Ausg. Wien 2007), in dem K. den Tage-buchnotizen Rofners, eines Angestellten inder Salzburger Niederlassung einer Pensi-onsversicherungsanstalt, der nur vage Vor-stellungen davon hat, wie er seinem tristenLeben einen neuen Sinn geben könnte, dieAufzeichnungen des Aussteigers Simon ent-gegensetzt; darin wird von der Revolte derBewohner Detroits berichtet, in der sieZehntausende fabrikneuer Autos zerstören.Obgleich Simons Versuch, nach der Nieder-schlagung des Aufstands an den utop. OrtMoville in Australien zu gelangen u. dort die»erste Natur« des Menschen – als Alternativezur verwalteten Welt – zu finden, scheitert,identifiziert sich Rofner mit diesen Fiktionenu. kündigt sein Arbeitsverhältnis.

Die Möglichkeit, sich einer Leidenschafthinzugeben, einem Zauber zu erliegen, bietetdie Motorradwelt in dem Roman Die Werkstatt(Salzb. 1975. Überarb. Fassung. Stgt. 1981).Ein eigenes Leben kann der um Selbstverge-wisserung bemühte Protagonist auch in demEinwicklungsroman Ein Amateur (Wien 1993)gestalten, in dem Simon, die Hauptfigur, alsMechaniker, Schauspielschüler u. Mitarbeiterin einem Reisebüro Stationen K.s auf demWeg zum Schriftsteller durchläuft. Die frü-here Begeisterung für den Motorsport wird indem Roman Silberpfeile (Wien/Mchn. 2000)von einer krit. Geschichtsbetrachtung über-lagert: Der Motorsportjournalist Mautner istdabei, ein Buch über den Ingenieur Paul

Kappacher 290

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 67: Kafka Killy Lexikon

Windisch zu schreiben, der wesentlich zumErfolg der Auto Union in den 1930er Jahrenbeigetragen hat, wird dabei aber auch mitdessen Mitwirkung an der Entwicklung derV2-Raketen im Zweiten Weltkrieg konfron-tiert.

Wie in Der lange Brief ist die Sehnsucht nachMenschen- u. Naturfreundschaft Thema desvon Adalbert Stifter u. Jean Paul inspiriertenRomans Selina oder Das andere Leben (Wien2005), mit dem K. erstmalig breitere Leser-schichten erreichte. Das Buch handelt vondem jungen Lehrer Stefan aus Salzburg, dersich eine Auszeit nimmt u. ein verfallendesBauernhaus in der Toskana bewohnt. Mitdem in der Nähe seinen Lebensabend ver-bringenden Heinrich Seiffert, der ihm dasHaus zur Verfügung stellt, sucht er das in-tellektuelle Gespräch. Neben der toskan.Landschaft u. dem Alltag bilden die Sehn-sucht des Protagonisten nach einem »anderenLeben«, das dieser sich mit Selina, der NichteSeifferts, vorstellen kann, u. die KunstweltItaliens ein Bezugssystem des Romans.

Ab Mitte der 1990er Jahre beschäftigte sichK. zunehmend mit dem Werk Hugo vonHofmannsthals, das ihn zu dem CapriccioVorübergehende Abwesenheit (Privatdruck 2001)anregte, einer Art Vorstudie zu Der Fliegenpa-last (St. Pölten 2008). Ausgehend von demverbürgten Aufenthalt Hofmannsthals, ausder Schweiz kommend, in Bad Fusch imSalzburger Pinzgau – einem Sommerfri-schenort, den er von Aufenthalten mit seinenEltern kennt – Anfang Aug. 1924, bevor er zuseiner Familie nach Bad Aussee weiterfuhr,wird in einem Spiel zwischen Realität u.Fiktion von einem alternden, sich als ge-scheitert empfindenden Künstler erzählt. In-nere Monologe sowie imaginierte Gespräche– mit Carl Jacob Burckhardt, mit seiner Ehe-frau Gerty, der Tochter Christiane, den ver-storbenen Eltern – geben seinen Erinnerun-gen u. Wünschen Ausdruck, legen aber auchseine emotionale Zerrüttung offen.

K. erhielt 1977 den Förderpreis zumÖsterreichischen Staatspreis für Literatur,1984 den Rauriser Literaturpreis der Länder-bank Wien, 1986 den Literaturpreis des Kul-turkreises im Bundesverband der DeutschenIndustrie, 2004 Hermann-Lenz-Preis, 2006

den Großen Kunstpreis (Literatur) des LandesSalzburg u. 2009 den Georg-Büchner-Preis;seit 2005 ist er Mitgl. der Deutschen Akade-mie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.2008 wurde K. von der Universität Salzburgdie Ehrendoktorwürde verliehen

Weitere Werke: Nur fliegen ist schöner u. a.Gesch.n. Salzb. 1973. – Die ird. Liebe. Stgt. 1979(E.en). – Die Jahre vergehen. Zwei Drehbücher (zus.mit Peter Keglevic). Salzb./Wien 1980. – Gipskopf.Graz 1984 (E.). – Touristomania oder Die Fiktionvom aufrechten Gang. Wien 1990. – Aus demNachl. v. James Joyce. Ein Interview. Eggingen1991. – Wer zuerst lacht. Wien/Mchn. 1997 (E.en).– Hellseher sind oft Schwarzseher. Erinnerungenan Erwin Chargaff. Warmbronn 2007. – Hörspiele:Enfant terrible. HR 1979. – Die ird. u. die himml.Liebe. ORF 1981. – Bänder. ORF 1983. – DerHeimkehrer. ORF 1984. – Filme: Der Zauberlehr-ling (zus. mit P. Keglevic). ORF 1978. – Die Jahrevergehen (zus. mit P. Keglevic). ORF 1980. – Diekleinen Reisen des Herrn Aghios. Nach Italo Svevo.ORF 1981. – Der stille Ozean (zus. mit GerhardRoth). ORF/ZDF 1983. – Unser Mann in Bangkok(zus. mit Andreas Gruber). ORF 1984.

Literatur: ... und v. a.: keine Masche! W. K.zum 60. Geburtstag. Salz. Ztschr. für Lit. 24 (1998),H. 93. – Norbert Schachtsiek-Freitag: W. K. In:KLG. – Anton Thuswaldner: W. K. In: LGL. – Cor-nelius Hell: Luftschmecken u. Nachdenken. W. K.zum 70. Geburtstag. In: LuK 43 (2008), H. 427/428,S. 23–31. Johann Sonnleitner / Bruno Jahn

Kappeler, Ernst, * 14.6.1911 Uster/Kt.Zürich, † 20.5.1987 Uitikon/Kt. Zürich. –Lyriker, Erzähler, Verfasser von Jugend-büchern u. Hörspielen.

K. war zunächst Primar- u. dann Sekundar-lehrer in Andelfingen, Winterthur u. Zürich.1965 gab er den Lehrerberuf auf u. lebte alsfreier Schriftsteller u. Mitarbeiter von Ju-gendzeitschriften. K. debütierte mit demGedichtband Versuchte Stufe (Zürich 1935), derdie Zustimmung Hesses fand, u. entwickelteseine konventionell gearbeitete, aber ge-danklich tiefgründige Lyrik in Bänden wieDer Kreis (Zürich 1942), Am Rand der Nacht(Zürich 1947) u. Der Unruhpflug (Zürich 1961)konsequent weiter, wandte sich jedochgleichzeitig immer stärker auch dem sehr vielvolkstümlicheren zürichdeutschen Mundart-gedicht zu: Es Püscheli Chruut (Winterthur

Kappeler291

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 68: Kafka Killy Lexikon

1943), A der Ärde (Zürich 1945), Wäägluegere(Zürich 1957). Seine eigentl. Lebensaufgabefand K., als er sich als Berater u. Ansprech-partner ganz den Problemen junger Men-schen zuwandte, was in Büchern wie Warum?Junge Menschenfragen (Solothurn 1967) oder Esschreit in mir. Briefdokumente junger Menschen(ebd. 1979) seinen Niederschlag fand. SeinenLebensweg hat K. beschrieben in In Uster ge-boren (Zürich 1975) u. Probezeiten (Solothurn1986). Charles Linsmayer

Kapper, Siegfried, urspr. Salomon IsraelK., * 21.3.1821 Smíchov/Prag, † 7.6.1879Pisa. – Übersetzer slawischer Poesie u.Verfasser von Gedichten, Prosa u. Reise-büchern.

Vom Vater, der vor der Geburt des Sohnesfünfzehn Jahre lang u. a. als Lehrer an Gym-nasien im Elsass, in Süddeutschland u. derSchweiz tätig war, erhielt K. in jungen JahrenUnterricht in der dt. Sprache; 1830–1836besuchte er ein Gymnasium auf der PragerKleinseite. Später fasste er die Erlebnisse sei-ner Jugendjahre in dem Prosatext Herzel undseine Freunde. Federzeichnungen aus dem böhmi-schen Schulleben (Lpz. 1853) zusammen. K.sTalent wurde von seinen Lehrern früh er-kannt. Er übersetzte in dieser Zeit bereitsGoethes Iphigenie in lat. Verse u. schrieb kleineDramen, die allerdings nicht mehr erhaltensind.

Die für die Zulassung zu einem Fachstu-dium obligatorischen philosophischen Stu-dien absolvierte K. vom Herbst 1837 bis zumSommer 1839 am Prager Klementinum, wo erAlfred Meißner u. Moritz Hartmann kennenlernte, die mit ihm das Interesse an der böhm.Geschichte u. die Begeisterung für die Dich-tungen Nikolaus Lenaus u. des JungenDeutschlands teilten. Der schon in der PragerZeit ausgeprägte Anspruch, zwischen dt. u.slaw. Kultur zu vermitteln, manifestiert sichzunächst in Übersetzungen slowak. u. böhm.Volkslieder für die von Rudolf Glaser her-ausgegebene Zeitschrift »Ost und West«, dieteilweise in die Ludwig August Frankl ge-widmete Sammlung Slawische Melodien (Lpz.1844) aufgenommen wurden. Entscheidendfür K.s lebenslange Beschäftigung mit der

Literatur u. Kultur der Slawen wurde indes-sen während seines Medizinstudiums inWien (1841–1846) die Begegnung mit dembekannten Sammler serb. Volkslieder, VukStefanowic Karadzic, dessen von Talvij (d. i.Therese Albertine Luise Robinson) ins Deut-sche übertragene Sammlung Volkslieder derSerben (2 Tle., Halle 1825/26) auch von Goetheu. Jacob Grimm gerühmt wurde. Bis zurPromotion zum Dr. med. Ende 1846 – imRigorosumszeugnis taucht erstmals statt derVornamen Salomon Israel der Name Siegfriedbzw. Segofredus auf – veröffentlichte K. inPaul Aloys Klars Jahrbuch »Libussa« zahlrei-che Gedichte u. drei Erzählungen aus derVorzeit des Prager Ghettos (Genenda. 1845. Dieversunkene Synagoge. 1846. Glimmende Kohlen.1849). Auch in der umfangreichen ErzählungFalk (Dessau 1853) stehen wie in den Ghet-togeschichten Leopold Komperts, SalomonKohns u. des etwas jüngeren Michael Klapp»Genrebilder aus dem Ghettoleben« (Donath)im Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeitfand K.s in tschech. Sprache publizierte Ge-dichtsammlung Ceské listy (Prag 1846), in derdas Dilemma von Assimilation u. Emanzipa-tion einer ganzen Generation dt.-(österr.-)böhm. Autoren zur Sprache kommt. DieSammlung gilt als wegweisendes Dokumentder sog. tschecho-jüd. Bewegung, die von jüd.Seite von K. u. David Kuh, auf tschech. Seitevon K.s langjährigem Freund Wenzel Ne-besky vorangetrieben wurde. Die – allerdingshauptsächlich im Hinblick auf die Frage, ob»israelitische Autoren« überhaupt zurtschech. Nation gehörten u. tschechisch-na-tional gesinnte Lyrik schreiben sollten – ver-nichtende Rezension der Gedichte durch denNestor des tschech. Nationalismus, KarelHavlícek, machte die von K.s Prager Freun-deskreis in Wien vorangetriebenen Bemü-hungen um eine tschechisch-jüd. Annähe-rung schnell zunichte.

Seine freiheitlich-liberale Gesinnung u.Motivation zur Teilnahme an den revolutio-nären Aufständen in Wien 1848 hat K. in denGedichten Befreite Lieder. Dem jungen Oestreich(Wien 1848) verarbeitet, die Anastasius Grüngewidmet sind u. sowohl mit ihrer teils satir.Schreibart als auch restaurationskrit. Stoß-richtung dezidiert an Grüns Gedichtsamm-

Kapper 292

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 69: Kafka Killy Lexikon

lungen Der letzte Ritter (1830) u. Spaziergängeeines Wiener Poeten (1831) anknüpfen.

Nach der gescheiterten Revolution führteK. ein unstetes Leben u. war Berichterstatterfür verschiedene Zeitungen. Zwischen denzahlreichen Reisen durch Slawonien, Serbien,Bulgarien, der Wojwodina u. der Walachei(1850 u. 1851), durch Deutschland u. Italien(1852 u. 1853) versuchte er immer wieder,sich – in Wien u. Karlsbad – als Arzt nieder-zulassen. Das gelang ihm erst, als er nach derHochzeit mit der Schwester Moritz Hart-manns (1854) nach Dobrís übersiedelte u.dort eine Praxis eröffnete. Wenngleich K. dengesamten Balkan bereiste, so galt doch in denauf diese Reisen zurückgehenden Publika-tionen sein ethnografisches u. histor. Inter-esse bes. den Serben als Volksstamm. Dabeiknüpfte er neben Darstellungen zur jüngstenGeschichte (Die serbische Bewegung in Südun-garn. Ein Beitrag zur Geschichte der ungarischenRevolution. Bln. 1851) auch an seine früherenÜbersetzungen u. die dort mit Verweis aufGoethe u. Talvij propagierte Bedeutung derVolkspoesie an. Sein Anliegen, mit der insDeutsche übertragenen Sammlung Lazar derSerbencar. Nach serbischen Sagen und Heldenge-sängen (Wien 1851) die bereits von Karadzicgesammelten Lieder um die Schlacht vonKossovo (1389) u. den Untergang des groß-serb. Reiches zu einem Zyklus zu ordnen –für den K. auch die Vergleiche mit den großengriech. Epen nicht scheute – weist auf K.sIntention hin, die Idee der Volkseinheit ander ruhmreichen u. »freien« Vergangenheitzu schulen, was auch für seine späteren u.umfangreicheren Übertragungen gilt (DieGesänge der Serben. 2 Tle., Lpz. 1852).

Neben seiner Arztpraxis fand K. immerwieder Zeit, literar. Studien nachzugehen,gab das »Jahrbuch deutscher Belletristik«(1857/58) heraus u. hatte mit seinem aus derPerspektive des im Eisenbahnabteil sitzendenBetrachters geschriebenen Reisebuch Dieböhmischen Bäder (Lpz. 1857), das in derBrockhaus-Reihe »Reisebibliothek für Eisen-bahn und Dampfschiffe« erschien, Anteil anden auf den techn. Fortschritt reagierendenneuen Formen der Reiseliteratur.

Nachdem sich K. zwischenzeitlich inJungbunzlau als Arzt niedergelassen hatte

(1860), kehrte er 1867 nach Prag zurück, woer, gezeichnet von einem schweren Lungen-leiden, nur noch wenig publizierte. Er erlagseiner Krankheit auf einer Reise durch Italienin Pisa. Schon gegen Ende des 19. Jh. lebte dievon K. initiierte tschecho-jüd. Bewegung inVereinsgründungen wieder auf. In Erinne-rung an K. änderte der 1876 gegründeteVerband der tschechischen jüdischen Akade-miker seinen Namen in Akademischer Ver-band Kapper. Zwar wurde K.s Bedeutung alsVermittler der Kulturen in den ForschungenDonaths u. auch jüngeren Beiträgen gewür-digt, doch findet er in der tschech. Literatur-geschichte mehr Beachtung als in der deut-schen. Bislang fehlt eine vollständige Über-sicht seiner in Zeitschriften u. Zeitungenpublizierten Beiträge.

Weitere Weke: Südslav. Wanderungen imSommer 1850. Lpz. 1851. – Christen u. Türken. EinSkizzenbuch v. der Save bis zum eisernen Tore. 2Bde., Lpz. 1854. – Vorleben eines Künstlers. Nachdessen Erinnerungen. Prag/Lpz. 1855. – Die Hss. v.Grünberg u. Königinhof. Altböhm. Poesien ausdem IX. bis XIII. Jh. Prag 1859. – Das Böhmerland.Wanderungen u. Ansichten (zus. mit WilhelmKandler). Prag 1865. – Prager Ghettosagen [ent.Genenda, Der seltsame Orach, Glimmende Koh-len]. Prag o. J. [1870].

Literatur: Oskar Donath: S. K. als Ghettodich-ter. In: Monatsschr. für Gesch. u. Wiss. des Juden-tums 56 (1912), S. 513–545. – Ders.: S. K. [mitDokumentenanhang] In: Jb. der Gesellsch. fürGesch. der Juden in der Cechoslovak. Republik 6(1934), S. 323–442. – Margarita Pazi: Jüd.-dt.Schriftsteller in Böhmen im 19. Jh. In: GegenseitigeEinflüsse dt. u. jüd. Kultur v. der Epoche der Auf-klärung bis zur Weimarer Republik. Hg. WalterGrab. Tel Aviv 1982, S. 231–257. – Peter Demetz:Tschechen u. Juden: Der Fall S. K. (1821–1879). In:Allemands, Juifs et Tchèques a Prague. Ed. MauriceGodé, Jacques Le Rider u. Françoise Mayer. Mont-pellier 1996, S. 19–27. – Lex. dt.-jüd. Autoren. –Václav Maidl: Die Anfänge der jüd. Emanzipationin Böhmen in den 1840er Jahren. In: Juden zwi-schen Deutschen u. Tschechen. Sprachl. u. kultu-relle Identitäten in Böhmen 1800–1945. Hg. MarekNekula u. Walter Koschmal. Mchn. 2006, S. 1–18.

Bernhard Walcher

Kapper293

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 70: Kafka Killy Lexikon

Karasek, Hellmuth, auch: Daniel Doppler,* 4. 1. 1934 Brünn/CSR. – Journalist,Kritiker; Erzähler, Dramatiker; Drama-turg, Theaterwissenschaftler.

K. wuchs in Bielitz/Oberschlesien auf. 1944floh seine Familie nach Bernburg/Saale. Nachdem Abitur 1952 übersiedelte K. in die BRDeutschland u. begann in Tübingen ein Stu-dium der Germanistik, Anglistik u. Ge-schichte, das er 1958 mit der Promotion ab-schloss. 1960 startete K. seine journalistischeLaufbahn bei der »Stuttgarter Zeitung«. Inder Theatersaison 1965/66 arbeitete er alsChefdramaturg des WürttembergischenStaatstheaters in Stuttgart. Zur gleichen Zeiterschienen seine Einführungen in das dra-mat. Werk von Carl Sternheim (Velber 1965) u.Max Frisch (Velber 1966). Von der »StuttgarterZeitung« wechselte K. als Theaterkritiker u.Feuilletonredakteur 1968 zur Wochenzei-tung »Die Zeit« nach Hamburg. Ab 1974 ar-beitete er beim Nachrichtenmagazin »DerSpiegel«; dort leitete er viele Jahre lang dasKulturressort. Ein Porträt dieser Ära lieferteK. in dem kontrovers aufgenommenen Ro-man Das Magazin (Reinb. 1998). Unter demNamen Daniel Doppler – Protagonist in DasMagazin u. Alter Ego des Autors – hatte K.bereits zwischen 1984 u. 1990 drei Boule-vardkomödien veröffentlicht, darunter DieWachtel (Urauff. Osnabr. 1985). Einen hohenBekanntheitsgrad als Literaturkritiker er-langte K. in den neunziger Jahren an der Seitevon Marcel Reich-Ranicki in der ZDF-Fern-sehsendung »Das literarische Quartett«. Vorallem durch seine auto- u. generationenbiogr.Bücher (u. a. Auf der Flucht. Erinnerungen. Bln.2004) machte er sich auch als Erzähler einenNamen. All seinen Erzählwerken gemeinsamist der anekdot. Stil. Nach seinem Abschiedvom »Spiegel« gab K. 1997–2004 den Berli-ner »Tagesspiegel« mit heraus. Seit 1992 ister Honorarprofessor am Theaterwissen-schaftlichen Institut der Universität Ham-burg. Heute lebt K. mit seiner Familie inHamburg u. schreibt für verschiedene Ta-geszeitungen.

Weitere Werke: Dtschld., deine Dichter. DieFederhalter der Nation. Hbg. 1970. – BertoltBrecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassikers.

Mchn. 1978. – K.s Kulturkritik. Lit. – Film –Theater. Hbg. 1988. – Billy Wilder. Eine Nahauf-nahme. Hbg. 1992 (Biogr.). – Mein Kino. Die 100schönsten Filme. Hbg. 1994. – Go West! Eine Biogr.der 50er Jahre. Hbg. 1996. – Hand in Handy. Hbg.1997. – Mit Kanonen auf Spatzen. Gesch.n zumBeginn der Woche. Köln 2000 (Glossen). – Betrug.Bln. 2001 (R.). – Karambolagen. Begegnungen mitZeitgenossen. Mchn. 2002. – Freuds Couch &Hempels Sofa. Köln 2004. – Süßer Vogel Jugendoder Der Abend wirft längere Schatten. Hbg. 2006.– Vom Küssen der Kröten u. a. Zwischenfälle. Hbg.2008 (Glossen). Robert Steinborn

Karasek, Horst, * 7.10.1939 Wien, † 25.11.1995 Sainte Vertu/Frankreich. – Publi-zist, Erzähler.

K. verbrachte Kindheit u. Jugend in Stollbergim Erzgebirge, Bernburg, Laichingen u.schließlich in Würzburg, wo er mit Karl-Heinz Roth u. anderen die literar. Zeitschrift»Die Sonne« herausgab. Er studierte ohneAbschluss Psychologie, Germanistik u. So-ziologie in Würzburg, München u. Frank-furt/M.

K. war ein produktiver polit. Autor, derVorfahren der 68er-Bewegung ausfindigmachte u. sie in histor. Dokumentationenvorstellte. Dabei interessierte er sich für ge-scheiterte, meist blutig niedergeschlageneutop. Bewegungen wie die MünsteranerKommune der Wiedertäufer (Bln. 1977) Anfangdes 16. u. die dt. anarchistische Bewegung inChicago am Ende des 19. Jh. (Haymarket!1975). Er war fasziniert von histor. Figuren,die Konfrontationen mit staatl. Macht ge-sucht hatten u. hingerichtet worden waren.So untersuchte er den Aufstand eines Frank-furter Lebkuchenbäckers kurz vor Beginn desDreißigjährigen Kriegs (Der Fedtmilch-Auf-stand. Bln. 1979), Prozess u. Hinrichtung desgescheiterten Königsmörders Damiens 1757in Paris (Die Vierteilung. Bln. 1994) u. das Le-ben Marinus’ van der Lubbe, der 1933 denReichstag angezündet hatte u. von den Na-tionalsozialisten funktionalisiert worden sei(Der Brandstifter. Lehr- und Wanderjahre desMaurergesellen Marinus van der Lubbe [. . .] . Bln.1980). Diese Bücher changieren zwischenparteilich-publizistischer Darstellung u. derreinen Dokumentation. Nur im Fall von Die

Karasek 294

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 71: Kafka Killy Lexikon

Stelzer (Ffm. 1990), einem Roman über dasLeben zweier Brüder im DreißigjährigenKrieg, eines Priesters u. eines Landsknechts,hat K. sich ausdrücklich für die Fiktion ent-schieden.

K. hat stets auch aktuelle polit. Stoffe ver-handelt, u. a. in einer Chronik des Wider-stands gegen die Frankfurter Startbahn West(Das Dorf im Flörsheimer Wald. Darmst./Neu-wied 1981). Die meiste Beachtung fanden je-doch seine autobiogr. Werke über den Verlaufseiner Krankheit: Mitte der 1970er Jahrewurde Niereninsuffizienz diagnostiziert. K.beschrieb detailliert die wachsende Behinde-rung durch die Krankheit (Blutwäsche. Chronikeines eingeschränkten Lebens. Darmst./Neuwied1985) u. schließlich die letzten Monate, die erim Haus seiner Schwester in Frankreich ver-bringen konnte. Die überlebensnotwendigeBauchfelldialyse ließ ihm vier Stunden Zeit,sich außerhalb zu bewegen. Er beschreibtseine Touren auf dem Moped durch Yonne alskärgliche, glücklicherweise verbliebene Frei-heit: Rasend das Herz. Chronik eines zu Ende ge-henden Lebens (postum, Mchn. 1998).

Weitere Werke: Wohnhaft im Westend (zus.mit Helga M. Novak). Neuwied/Bln. 1970. – DasGasthaus Zum Faß ohne Boden. Hann. 1973. –Propaganda u. Tat. Ffm. 1975. – Belagerungszu-stand! Reformisten u. Radikale unter dem Sozia-listengesetz 1878–1890. Bln. 1978. – Das Haus ander Grenze. Eine Fluchtgesch. Darmst./Neuwied1987.

Literatur: Italo Michele Battafarano: H. K.shistor. Roman ›Die Stelzer‹ (1990). Oder wie sich›ein paar Kunstgriffe bei Grimmelshausen ab-schauen lassen‹, ohne daß die Literaturkritik esmerkt. In: Simpliciana 14 (1992), S. 131–144. –Henning Burk: Der Schriftsteller u. der Tod. Erin-nerungen an H. K. In: Listen, H. 44 (1996), S. 40 f. –Thomas Kraft: H. K. In: LGL. Sven Hanuschek

Karasholi, Adel, * 15. 10. 1936 Damaskus/Syrien. – Lyriker, Übersetzer.

K.s erste Gedichte entstanden in Damaskus,wo er eine Literaturzeitschrift gründete u.jüngstes Mitgl. des arab. Schriftstellerver-bands war. Nach dessen Auflösung verließ K.Syrien 1959 u. ging über Beirut, München u.Berlin (West) nach Leipzig, wo er am»Johannes-R.-Becher«-Institut Literatur u.

Theaterwissenschaft studierte u. 1970 überdie arab. Brecht-Rezeption promovierte.1968–1993 war er Lektor an der UniversitätLeipzig. Seit 1993 ist K. als Lyriker u. Über-setzer aus dem Arabischen u. ins Arabischetätig.

K.s literar. Beginn in Ostdeutschland fiel indie Zeit der ostdt. Lyrikwelle; 1968 erschie-nen seine Gedichte als dt. Nachdichtungenvon Rainer Kirsch, Heinz Kahlau u. KlausSteinhaußen (Wie Seide aus Damaskus. Berlin/DDR). Ab 1978 veröffentlicht K. in dt. Spra-che. Die frühe »operative Lyrik« setzte sichmit dem bestehenden Araberbild in (Ost-)Deutschland u. mit der eigenen syrisch-dt.Identität auseinander: Der Dichter ist Daheimin der Fremde (Lpz. 1984). Ab Mitte der 1980erJahre zog er sich vom Ostdeutschen zurück u.wurde nach der Wiedervereinigung im ge-samtdt. Literaturbetrieb anerkannt. Exiler-fahrung u. Erinnerungen an die HeimatstadtDamaskus bleiben stets präsent u. verdichtensich zu Bildern (»Minze«, »Olivenbaum«),die in Art u. Gestaltung an die arab. Lyrikanknüpfen. Die Exotisierung als »orientali-scher« Dichter weist K. zurück; der Lyrikergeht eigene Wege entlang der dt. u. arab.Lyrik. Sein Gedichtband Also sprach Abdulla(Mchn. 1995) ist eine Zwiesprache mit demAlter ego in der Tradition arab. Literatur, inder er über das Sein als Einheit im Ganzenreflektiert: »Dein Zuhause bist du allein.«

K. erhielt 1985 den Kunstpreis der StadtLeipzig, 1992 den Adelbert-von-Chamisso-Preis.

Weitere Werke: Umarmung der Meridiane.Halle/Lpz. 1978. 21981. – Wenn Damaskus nichtwäre. Mchn. 1992. – ›wo du warst u. wo du bist‹.Nachdichtungen arab. Gedichte des palästinens.Dichters Mahmoud Darwisch. Mchn. 2004.

Literatur: Heinz Czechowski: Exotik ist nichtangesagt. Über A. K. Nachw. in: A. K.: Wenn Da-maskus nicht wäre, a. a. O., S. 85–90. – Mustafa Al-Slaiman: ›nimmt man das vaterland an seinenschuhsohlen mit?‹ anmerkungen zur interkultu-rellen lit. in dtschld. In: Aglaia Blioumi (Hg.): Mi-gration u. Interkulturalität in neueren literar.Texten. Mchn. 2002, S. 136–146. – Uta Aifan:Araberbilder. Zum Werk dt.-arab. Grenzgängerau-toren der Gegenwart. Aachen 2003. – Cornelia

Karasholi295

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 72: Kafka Killy Lexikon

Zetzsche: A. Suleiman K. In: LGL. – www.karasholi.com Karin E. Yesilada

Karl und Elegast. – Mitteldeutsche Er-zählung im Umkreis der Chansons degeste, vermutlich 14. Jh.

Anders als die mittelniederländ. Zeugnisse(siehe Artikel Karlmeinet) ist der Text (1830Verse) nur unikal u. mit Schreiberverderb-nissen überliefert. Ob bzw. wie weit man, wasdie Entstehungszeit des Werks angeht, vonder ins Jahr 1455 zu datierenden Handschriftbis ins 14. Jh. zurückgehen kann bleibtebenso unklar wie der genauere Entste-hungsort. Ebenso lassen sich über die Vorlagedes mitteldt. Verfassers nur Hypothesen äu-ßern. Der mittelniederländ. K. ende E. kommtzumindest in der erhaltenen Form (auch inder ripuar. Übertragung des Karlmeinet) alsdirekte Vorlage nicht in Frage, könnte aberauf einer älteren, mit dem mitteldt. Text ge-meinsamen mittelniederländ. Vorlage fußen.Frankreich, das übl. Importland, überliefertkeine entsprechende Dichtung, nur Anspie-lungen in Chansons de geste u. in der Chro-nistik auf eine zumindest ähnl. Geschichteum Karl u. Basin, die, wohl auf einer wallon.Quelle basierend, ebenfalls in der Karlamagnússaga begegnet. Es ist also gegebenenfalls aucheine flandrisch-wallon. Sage anzunehmen,welche in der mittelniederländ. Literatur(bzw. der mitteldt. Version) u. in der frz. aberjeweils eigene Varianten ausgebildet habendürfte.

Der mitteldt. Text enthält die in denGrundzügen mit dem mittelniederländ. K. u.E. parallele, Ernst u. Komik verbindendeGeschichte von Karl dem Großen, der aufBefehl eines Engels nachts in ungewohnterDiebesrolle den Hof verlassen muss, um – wiesich herausstellt – sein Leben zu retten. DennElegast, der gerechte Räuber, den er einst ausgeringem Anlass rigoros verbannte u. der sichzu ihm gesellt, ohne ihn zu erkennen, decktKarl den geplanten Mordanschlag Eckerichsauf.

Neben der Vorlagenfrage, welche die For-schung lange beherrschte, haben jüngereUntersuchungen die variierende Ausgestal-tung der Geschichte durch den offensichtlich

belesenen u. literarisch versierten mitteldt.Verfassers in den Blick genommen. Ein Zugzur Parodie heldenepischer Kampfesheroik(etwa bei dem dem Rolandslied entnommenen,aber von der Tages- zur Nachtverlängerungumfunktionierten göttl. Wunder) u. Anspie-lungen auf Elemente des Tagelieds gebendem Werk ein eigenes Gepräge u. sprechenfür eine reflektierte, Vergnügliches mit Er-baulichem kombinierende Handhabung des(vermeintl.) »spielmännischen« Erzählstils.

Ausgaben: Josef Quint: Der mitteldt. K. u. E.nach der Zeitzer Hs. Bonn 1927. – Bernd Bastert,Bart Besamuca u. Carla Dauven-van Knippenberg(Hg. u. übers.): Karel ende Elegast u. K. u. E.Münster 2005.

Literatur: Fedor Bech: Zur Sage v. ›K. u. E.‹. In:Germania 9 (1864), S. 320–337 (mit Textauszug). –Gaston Paris: Histoire poétique de Charlemagne.Paris 21905, S. 315–322. – Marie Ramondt: K. endeE. oorsprongelijk? Utrecht 1917. – Eckhard L.Wilke: Der mitteldt. Elegast. Marburg 1969. – PaulAebischer: Textes norrois et littérature française duMoyen Age. Genf 1972. – Klaas Heeroma: De duitseen de nederlandse Elegast. In: Tijdschrift voorNederlandse taal- en letterkunde 89 (1973),S. 208–216. – Hartmut Beckers: K. u. E. In: VL. –Herbert Kolb: Chanson de geste parodistisch: Dermitteldt. ›K. u. E.‹. In: Wolfram-Studien 11 (1989),S. 147–165. – Carla Dauven-van Knippenberg: Ka-rel, Elegast en het mooiste Nederlandse ridder-verhaal. Een pleidooi voor ms. Zeitz. Domherren-bibl. Cod. 60 (olim XXXII). In: Joep Leerssen u.Marita Mathijsen (Hg.): Oerteksten. Amsterd. 2002,S. 95–109. – Siehe auch das Nachw. in der Ausg. v.Bastert, Besamuca u. Dauven-van Knippenberg,a. a. O., S. 197–212 (weitere Lit.). Edith Feistner

Karl und Galie ! Karlmeinet

Karl der Große und die schottischenHeiligen. – Klostergründungsgeschichtemit Legendenzügen u. Chanson-de-geste-Elementen aus der ersten Hälfte des14. Jh.

Bei dem nach zwei Handschriften edierten,aber durchaus häufiger überlieferten Text(vgl. etwa zwei weitere, bislang unberück-sichtigte Zeugnisse in Augsburg: Stadtarchiv,Selekte u. Mischbestände/Chroniken Nr. 4d,fol. 167ra-234rb ; Reichsstadt/Chroniken Nr.54, unfoliiert) handelt es sich um eine 9912

Karl und Elegast 296

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 73: Kafka Killy Lexikon

Reimpaarverse umfassende mhd. Bearbei-tung eines Ausschnitts aus dem Libellus defundacione ecclesie Consecrati Petri Ratispone (Hg.Pádraig A. Breatnach. Mchn. 1977), die wohlzwischen 1300 u. 1350 in Regensburg ent-standen ist.

Der Text erzählt von den Gründungendreier Klöster: des Priorats Weihsanktpeter,des Klosters St. Jakob (beide in Regensburg)u. des Klosters St. Jakob in Würzburg. Demersten Teil mit der Legende von Weihsankt-peter (Gründung 1089) kommt das Haupt-gewicht zu. Er stellt die anachronist., derMehrung des eigenen Ruhms dienendeRückbindung der Regensburger Ereignissean Karl d. Gr. her u. berichtet über die durchEngelsvisionen gelenkten Christianisie-rungsfeldzüge des Kaisers, der mit Hilfe einesweißen Reiters schließlich die Stadt erobert.Nachdem ihn ein Engel auf die Bedeutungder Iren (»Schotten«) für die BekehrungDeutschlands aufmerksam gemacht hat,treffen irische Mönche auch in Regensburgein (u. a. der zwischen 1074 u. 1080 belegteMarian). Auf göttl. Weisung lassen sie sichdort nieder u. erbauen eine Kirche. Der vonKarl geplanten Einweihung durch päpstl.Legaten kommt jedoch Petrus zuvor, weihtdie Kirche selbst u. rückt sie so zusammenmit dem Kloster in eine über alle ird. In-stanzen erhabene Beziehung zu Gott. DemPreis der Iren dient auch die Gründungsge-schichte von St. Jakob u. dem gleichnamigenKloster in Würzburg, das auf eine Erschei-nung des irischen Heiligen Kilian zurückge-führt wird.

Die Bearbeitung hält sich teils eng an dielat. Vorlage, teils erweitert sie diese aber auch,etwa durch verstärkten Einsatz von direkterRede u. konkretisierenden Beschreibungen.Wichtigere Zutaten sind die VerbindungKarls mit Papst Leo III. oder die wunderbareUnterscheidung der Leichen christl. u. heidn.Krieger.

Die Karlshandlung wurde später auch inProsa verarbeitet (u. a. Salzburg: Stiftsbibl. St.Peter, Kodex b IV 31, fol. 156r-163r ; Drucke inNürnberg bei Fritz Creußner, Ende 15. Jh., u.bei Johannes Stüchs, Anfang 16. Jh.); einesystemat. Erfassung insbes. der über das MAauch hinausreichenden u. keineswegs auf

Regensburg beschränkten handschriftl.Zeugnisse dieser Prosafassung fehlt jedochebenso wie eine Edition. Eine genauere lite-raturwissenschaftl. Würdigung ist derzeit inPlanung. Welch eminente Bedeutung dieseFassung weit über das urspr. »irische« Inter-esse hinaus für das städt. Selbstbewusstseinin Regensburg wie auch für die Außenwahr-nehmung Regensburgs hatte, zeichnet sichüberhaupt erst in jüngster Zeit ab, zumal seiteine vermeintl. Tischplatte von 1518 (heute:Germanisches Nationalmuseum Nürnberg)mit Szenen von Karls Kampf um Regensburgals Tafelbild Albrecht Altdorfers identifiziertworden ist, das wohl im Auftrag des Rats derStadt entstand u. als Vorlage für ein weiteresRezeptionszeugnis in der bildenden Kunstdiente, ein Steinrelief, das sich heute imSchlossmuseum Gotha befindet.

Ausgabe: Frank Shaw: Karl der Große u. dieschott. Heiligen. Bln. 1981.

Literatur: F. Shaw: Einl. zur Ed., S. XI–XCVIII,mit Bibliogr. bis 1978. – Ders.: K. d. G. u. d. s. H.In: VL. – Herbert Kolb: Der weiße Reiter. In: IASL12 (1987), S. 26–56. – Helmut Flachenecker:Schottenklöster. Irische Benediktinerkonvente imhochmittelalterl. Dtschld. Paderb. u. a. 1995. – Pe-ter Wolf: Bilder u. Vorstellungen vom MA. Re-gensburger Stadtchroniken der frühen Neuzeit.Tüb. 1999, S. 216–220. – Daniel Hess: AltdorfersWeg zur Alexanderschlacht. Eine Neubewertungseiner ›Tischplatte‹ im German. Nationalmuseum.In: Anzeiger des German. Nationalmuseums 2005,S. 77–96. – F. Shaw: K. d. G. u. d. s. H. Die fiktiveGründungslegende des Regensburger Schotten-klosters. In: Edith Feistner (Hg.): Das mittelalterl.Regensburg im Zentrum Europas. Regensb. 2006,S. 123–133. Edith Feistner

Karl der Kühne und die Burgunder-kriege. – Chroniken, Gedichte u. Liederzu den Ereignissen der Jahre 1474–1477.

Die aggressive Expansionspolitik HerzogKarls des Kühnen von Burgund, die mit sei-nem Tod in der Schlacht von Nancy am5.1.1477 endete, hat die Zeitgenossen starkbeschäftigt u. insbes. im deutschsprachigenRaum eine Fülle von Publizistik u. historio-grafischer Verarbeitung ausgelöst.

Die wichtigsten Texte sind Rückblicks-dichtungen nach dem Tod des Herzogs, die

Karl der Kühne und die Burgunderkriege297

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 74: Kafka Killy Lexikon

1477 oder in den folgenden Jahren entstan-den. Auf das große Interesse der Öffentlich-keit antwortete das neue Medium des Buch-drucks, indem in Straßburg 1477 allein vierDarstellungen erschienen. Die anonyme Bur-gundische Legende, eine Reimpaarchronik, er-lebte zwei Nachdrucke u. wurde mehrfach inHandschriften abgeschrieben. Sie wurde be-nutzt von dem Straßburger Hans ErhartTüsch für seine Burgundische Historie, ebenfallseine Reimchronik. Von den beiden Straß-burger Ausgaben dieses Werks ist eine mitHolzschnitten repräsentativ ausgestattet.Diese u. einen zusätzl. Holzschnitt weist diekürzere Reimchronik des Straßburger Kleri-kers Konrad Pfettisheim auf. Frühhumanis-tisches Gepräge trägt die lat. Prosa De proeliiset occasu ducis Burgundiae historia eines Nico-laus, den G. Himmelsbach jüngst ohne zu-reichende Gründe mit Nicolaus Salicetusidentifizierte.

Eine Reihe handschriftlich überlieferter,heuristisch noch kaum erschlossener kürze-rer lat. Gedichte (z.B. von dem SchlettstadterRektor Ludwig Dringenberg) widmete sichdem Tod des Herrschers. Eine rhetorischstark stilisierte lat. Darstellung legte 1477 derSchweizer Frühhumanist Albrecht von Bon-stetten vor. Sie existiert auch in dt. Fassung.Von dem ital. Humanisten Johannes MatthiasTiberinus (bzw. Tabarino) stammt ein Erz-herzog Sigismund von Tirol gewidmetes Ge-dicht in Hexametern De bello, strage et obitubellipotentis Caroli Burgundiae ducis, währenddas postum 1518 gedruckte Epos Liber Nan-céidos über die Schlacht von Nancy von Pierrede Blarru erst um 1500 entstand.

Mit der Verpfändung oberrheinischer Ge-biete durch Erzherzog Sigismund von Tirolan den Burgunderherzog 1469 u. der Ein-setzung des verhassten Peter von Hagenbachals Landvogt war man in Deutschland aufdie burgundischen Großmachtbestrebungenaufmerksam geworden. Neben der sehr um-fangreichen handschriftl. Breisacher Reimchro-nik (erst um 1480) beschäftigten sich zweiLieder (von einem Judenfint wohl aus Speyeru. einer Krämersfrau) u. ein lat. Dialog desHumanisten Jakob Wimpfeling am Ober-rhein mit dem Schicksal des 1474 in Breisachhingerichteten Hagenbach.

Die lange Belagerung der Stadt Neuss1474/75 durch Karl den Kühnen im Rahmender Kölner Stiftsfehde schilderte der NeusserNotar Christian Wierstraet in einer umfang-reichen Reimchronik, die wohl schon 1476 inKöln gedruckt wurde. Neben zwei deutsch-sprachigen Gedichten u. einem lat. Gedichtdes Münsterschen Frühhumanisten Rudolfvon Langen liegt in der von dem späterenLimburger Kleriker Johannes Gensbein zu-sammengetragenen Sammelhandschrift Ber-lin mgq 1803 ein aufschlussreiches zeitge-schichtl. Dossier zum Neusser Krieg u. zuKarl dem Kühnen vor. Neben Auszügen ausder Burgundischen Legende enthält es eine un-edierte Beschreibung der Festlichkeiten inTrier 1473, bei denen Karl die Anwesendendurch seine ungeheure Prachtentfaltung be-eindruckte, durch Gensbein selbst, ein un-ediertes Reimpaargedicht eines sonst nichtbekannten Bernhard Bleyßwyler über dieVerteidigung von Neuss durch Hermann vonHessen 1474/75 u. ein unediertes Reimpaar-gedicht über die Beteiligung der Limburgeran diesem Krieg. Auch in weiteren deutsch-sprachigen oder lat. Sammelhandschriftenfinden sich mehr oder minder umfangreicheTextzusammenstellungen (meist Prosabe-richte u. Urkundenkopien) zu Karl demKühnen u. den Burgunderkriegen. Chronis-ten wie der Basler Kleriker Johannes Knebeloder der Erfurter Kleriker Konrad Stolle ge-währten mitunter den Ereignissen viel Raum.

Nach Hagenbachs Hinrichtung 1474 be-gannen die eigentl. Burgunderkriege zwi-schen Karl u. der Schweizer Eidgenossen-schaft, die sich mit oberrheinischen Verbün-deten zu einer anti-burgundischen Allianz,der Niederen Vereinigung, zusammenge-schlossen hatte. Schweizer Liederdichter (VeitWeber, Mathis Zollner u. weitere) feierten diegroßen Schlachtensiege der Eidgenossen:1474 Héricout, 1476 Grandson u. Murten,1477 Nancy. Auf dem Gebiet der heutigenSchweiz 1477 u. später entstandene historio-grafische Werke, allen voran die hand-schriftlich weit verbreiteten Chroniken desBerners Diebold Schilling d.Ä., überliefertennicht nur diese Lieder, sondern bestimmtenmit ihren detailreichen Prosadarstellungendas eidgenöss. Geschichtsbild. Außer in Bern

Karl der Kühne und die Burgunderkriege 298

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 75: Kafka Killy Lexikon

entstanden eigene Burgunderkriegschroni-ken, soweit bekannt, in Basel u. in Freiburgim Üechtland. Die Rolle der Burgunderkriegeals epochales militärgeschichtl. Ereignis, ih-rer literarisch-historiografischen Wahrneh-mung u. ihrer gegenständl. Relikte (»Bur-gunderbeute« von Grandson) für die Ausbil-dung des eidgenöss. Selbstverständnisses darfnicht unterschätzt werden. Während desKonflikts selbst unterrichteten u. beeinfluss-ten ausführl. Prosaberichte (Missiven), dievon den städt. Nachrichtenzentren (außer-halb der Eidgenossenschaft v. a. Basel, Straß-burg u. Köln) weitergesandt wurden, die be-grenzte, aber durchlässige Öffentlichkeit derKanzleien.

Karl der Kühne wird in diesen Texten fastausnahmslos negativ dargestellt, als grausa-mer Tyrann. Man dämonisierte ihn als »Türkim occident« (so ein Lied zum Neusser Krieg)oder sogar als Antichrist. Häufig wird dieAlexander-Imitatio des Herrschers angespro-chen u. dem Leitmotiv der literar. Gestal-tungen, dem Hochmut Karls, untergeordnet.

Besondere Bedeutung kommt der Burgun-derkriege-Publizistik für die Ausbildung ei-nes nationalen, auf die »teutsche nation«bezogenen Diskurses zu. Karl u. seine Trup-pen stehen für die treulosen u. falschen»Welschen«. Als wichtige Trägergruppe die-ses auch in den amtl. Korrespondenzen stän-dig gegenwärtigen Diskurses lassen sich dieurbanen Zentren ausmachen. Hier verbandsich die Furcht vor Karl, den man aufgrundseines harten Vorgehens gegen Lüttich u.Dinant als Städtefeind sah, mit verbreiteterFürstenangst. Die Rolle des anti-welschenAusgrenzungsdiskurses u. die Berufung aufdie dt. Nation erschöpfte sich nicht in derFunktion als Propaganda während des Kon-flikts, mit der die dt. Reichsstände als Ver-bündete gewonnen werden sollten. Über die– teilweise ja auch gedruckten – Rückblicks-dichtungen fanden die nationalen Stereoty-pen u. der Stolz, die burgundische Bedro-hung besiegt zu haben, weite Verbreitung.

Quellen: Gottlieb Friedrich Ochsenbein: DieUrkunden der Belagerung u. Schlacht von Murten.Freib. 1876. – Basler Chroniken. Bd. 2, Lpz. 1880.Bd. 3, Lpz. 1887. Bd. 5, Lpz. 1895. – Recueil dePièces Historiques Imprimées sous le Règne de

Louis XI. Hg. Emile Picot u. Henri Stein. Bd. [1]-[2],Paris 1923. – Cramer, Bde. 2 u. 3.

Literatur: Iris u. Frieder Schanze: Karl derKühne u. die Burgunderkriege. In: VL. – ClaudiusSieber-Lehmann: Spätmittelalterl. Nationalismus.Die Burgunderkriege am Oberrhein u. in der Eid-genossenschaft. Gött. 1995. – Gerrit Himmelsbach:Die Renaissance des Krieges. Kriegsmonogr.en u.das Bild des Krieges in der spätmittelalterl. Chro-nistik am Beispiel der Burgunderkriege. Zürich1999. – F. Schanze: Überlieferungsformen polit.Dichtungen im 15. u. 16. Jh. In: Schriftlichkeit u.Lebenspraxis im MA. Erfassen, Bewahren, Verän-dern. Hg. Hagen Keller u. a. Mchn. 1999,S. 299–331 (grundlegend). – Karl der Kühne(1433–1477). Kunst, Krieg u. Hofkultur. Hg. SusanMarti, Till-Holger Borchert u. Gabriele Keck.[Ausstellungskat.]. Stgt. 2008. – http://de.wikisource.org/wiki/Burgunderkriege. Klaus Graf

Karlmeinet. – »Biografische« Karlskom-pilation, zwischen 1320 und 1350 ent-standen.

Das rund 36.000 Verse umfassende Werk mitdem heute üblichen (wenngleich bloß für denersten Teil mit der sog. Mainetsage zutref-fenden) Titel K. ist als Ganzes nur in einerKölner Handschrift des 15. Jh. erhalten. Eshandelt sich um ein ripuar. Karlsleben, dasder Kompilator aus urspr. eigenständigenDichtungen, zu einem geringeren Teil auchaus von ihm selbst stammenden Partien zu-sammengestellt hat. Der im Prolog rätselartigverschlüsselte Name des Verfassers bleibt bisheute unbekannt. Als Entstehungsort ist Aa-chen anzusehen. Die Entstehungszeit lässtsich nur ungefähr, wohl auf die Jahre zwi-schen 1320 u. 1350, eingrenzen.

Der Karl und Galie genannte erste Teil (bisA 216,28; rd. 14.000 Verse) berichtet, wie(Karl)Meinet – d.h. der junge Karl der Große– nach Pippins Tod mit einigen Begleitern vorden Usurpatoren Hoderich u. Hanfrat nachSpanien fliehen muss, vom SarazenenkönigGalafer aufgenommen wird u. die Liebe vondessen Tochter Galie gewinnt. Nachdem erbei den ersten Bewährungsproben als Rittermaßgeblich zum Sieg über Bremunt, denFeind seines Gastgebers, beigetragen hat,gelingt es ihm mit Galafers Hilfe, sein Erbezurückzuerobern u. Pippins Nachfolge an-

Karlmeinet299

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 76: Kafka Killy Lexikon

zutreten. Die Eheschließung mit der be-kehrten Galie rundet das Ende ab. DieserVersion der von Frankreich aus auch in Italienu. Spanien verbreiteten Geschichte liegt einewestripuar. Dichtung des frühen 13. Jh. zu-grunde, die ihrerseits auf einer verlorenenfrz. Chanson de geste aus dem Umkreis dersog. Enfances de Charlemagne basiert. Dortvermutlich schon vorhandene Höfisierungs-tendenzen sind in der ripuar. Dichtung wei-ter verstärkt u. führen so zu signifikantenInterferenzen zwischen christl. Heldenepiku. höf. Roman; Zitate von Minnesang-Topoikommen hinzu. Außerhalb des K. ist dieDichtung nur splitterhaft durch Fragmenteaus verschiedenen Handschriften erhalten,deren paläografischer Befund es erlaubt, sieals ältere, vor dem K. liegende Zeugnisse zubetrachten.

Der Morant und Galie genannte zweite Teil(A 216,29–293,38; rund 5600 Verse) zeigtKarl in Konfrontation mit verleumderischenHöflingen, die seinen getreuen BannerträgerMorant unerlaubter Beziehungen zu Galiebezichtigen. Der Text ist auch außerhalb desK. in einer weiteren Handschrift (um 1410/20) vollständig tradiert, die ihrerseits abervermutlich auf dem K. fußt. Daneben sindFragmente erhalten, die Zeugnis einer älte-ren, eigenständigen ripuar. Version seindürften. Wie bei dem (von einem anderenVerfasser stammenden) ripuar. Karl und Galieliegt eine frz. Vorlage zugrunde. Nach einemvirtuos gestalteten Prolog wird erzählt, dassdrei auf Umsturz bedachte Vasallen KarlsBannerführer Morant verleumden. Karl, umsein Ansehen wie um den Verlust der gelieb-ten Frau besorgt, beruft ein Fürstengerichtein. Im gerichtl. Zweikampf kann Morantseine (u. Galies) Unschuld beweisen. Wäh-rend er zur Versöhnung Galies FreundinFlorette als Frau erhält, werden die Verräterhingerichtet. Die Geschichte mit dem typi-schen Chanson de geste-Motiv des Verratskreist um den ausführlich entwickeltenRechtsgang mit umfangreichem fränkisch-dt.Wortschatz u. legt die Eigenständigkeit desripuar. Verfassers nahe. Das Werk ist alsAusfluss der Popularität des kultisch verehr-ten Karl im rheinischen, germanisch-roman.Grenzgebiet anzusehen, wo sich die frz.

Zentren Paris u. St. Denis mit den ripuar.Köln u. Aachen verbinden. So ist Morant undGalie wie auch das den Einfluss der höf.Dichtung aufnehmende Karl und Galie inner-halb der deutschsprachigen Literatur nur hierbezeugt.

Die Mittelpartie (A 293,39–373,64; rund5400 Verse) wurde unter Benutzung mehre-rer, z.T. noch unbekannter chronikal. Quel-len (u. a. des Speculum Historiale u. des dortvermittelten Pseudo-Turpin) vom Kompilatorselbst verfasst. Dem eigenständigen Gliede-rungsprinzip entsprechend folgt auf KarlsErhebung zum König mit anschließendenKämpfen (u. a. gegen die Sachsen u. Lombar-den) die Kaiserkrönung mit einer zweitenReihe von Kämpfen, nun gegen die Heidenim Hl. Land u. in Spanien. Zwischen diesebeiden in steigerndem Parallelismus anein-ander gefügten Reihungsgruppen tritt inzentraler Position die mit der Aegidius-Le-gende verbundene Aachener Gründungssagevon Karls magischer Liebe zu einer totenFrau.

In einem vierten Teil (A 374,1–394,49;1350 Verse) werden die Spanienkriege durchdie den Kaiser wieder als Einzelfigur profi-lierende Geschichte von Karl und Elegast un-terbrochen, die Karl in ungewohnter Diebes-rolle zeigt. Anders als die textgeschichtl. ei-genständige mitteldt. Version der Geschichte(siehe Artikel Karl und Elegast) bildet dieserTeil des K. eine in der Hauptsache nur dieSprachform verändernde ripuar. Übertra-gung der gut überlieferten, um 1250 ent-standenen mittelniederländ. Dichtung vonKarel ende Elegast.

Mit der Rolandslied-Bearbeitung im fünftenTeil (A 394,50–533,12; rund 9200 Verse),schließt sich der Rahmen, denn der Kompi-lator leitet – den in dieser berühmten Chan-son de geste geschilderten, krönenden u. zgl.verlustreichsten Sieg über die Heiden bio-grafisch funktionalisierend – zu dem von ihmselbst stammenden Schlussabschnitt vonKarls Lebensende über (A 533,13–540,49).Dieses Rolandslied stellt eine v. a. aus demWerk des Pfaffen Konrad u. der jüngeren frz.Rolandslied-Tradition kombinierte Fassungdar, in die zudem die stoff- wie textge-schichtlich ungeklärte Episode um den küh-

Karlmeinet 300

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 77: Kafka Killy Lexikon

nen Babylonier Ospinel eingeschoben ist (A408,60–425,20). Die ausführlicher gestaltetenersten Erfolge bei diesem erneuten Spanien-feldzug finden keine genauere Entsprechungin anderen erhaltenen Versionen. Obwohlanzunehmen ist, dass ein verlorenes nieder-rheinisches Rolandslied bereits weitgehend indieser Form vorgelegen hat, sind hier zu-mindest redaktionelle Eingriffe des Kompi-lators nicht auszuschließen. In jedem Fallbietet sich diese Version des Rolandslieds, die(nicht zuletzt durch die Einbindung derjüngeren frz. Tradition) Karl in seinem Leidüber den vom Verräter Wellis verschuldetenTod seiner besten u. liebsten Vasallen stärkerals anderswo profiliert, bes. für die Motiva-tion von Karls Lebensende an. Der Kompila-tor kehrt bei seinem Schlussabschnitt wiederzum Speculum Historiale bzw. zum Pseudo-Tur-pin zurück, stellt aber das unverändert nach-wirkende Leid als Ursache für die Krankheitdes Kaisers heraus. Mit dem ans Ende ge-rückten Karlsporträt schließt das Werk.

Der K. ist ein Zeugnis für die seit demspäteren 13. Jh. allg. Beliebtheit von Kompi-lationen. Er zeigt gegenüber anderen ver-gleichbaren Texten wie der Karlamagnús sagaoder dem Charlemagne des Girart d’Amiensein selbstständiges Gliederungsprinzip mitstrukturierter Einarbeitung der chronikal.Tradition u. planvoller Anordnung der dich-terischen Quellen, das Karl im Wechsel alsKrieger, Heerführer u. Einzelfigur beleuch-tet. Das Interesse an einem vielfältigen (durchdie Verbindung unterschiedl. gattungsspezif.Brechungen hybrid wirkenden) Bild des Kai-sers, dessen Größe selbst dort, wo er nichtsouverän auftritt, unangetastet bleibt, ist imK. ausgeprägter als das Bedürfnis, eine ein-deutige polit. Position zugunsten der mitKarl verbundenen »deutschen« oder »fran-zösischen« Ansprüche zu beziehen. Ange-sichts des von beiden Seiten, den Kaisern u.ebenso den frz. Königen, hofierten Entste-hungsorts Aachen bzw. der polit. wie kultu-rellen Sonderstellung des niederrheinischenRaumes überhaupt kann dies kaum verwun-dern. Der K. bildet, wiewohl mehr als nureine Sammelhandschrift, auch ein wichtigesZeugnis für die ripuar. Literatur u. beleuchtetderen spezif. Vernetzung mit dem frz. sowie

dem niederländ. Raum. Vor diesem Hinter-grund findet der von der Forschung langeZeit vernachlässigte K. neuerdings ein grö-ßeres Interesse nicht nur im Hinblick auf dieim gesamten dt. Sprachraum verbreitete Ro-landslied-Tradition, sondern auch auf jenevom K. bezeugten Werke, die sich innerhalbder dt. Literatur des MA charakteristisch mitder heute auf drei Nationalstaaten verteiltenKulturlandschaft des Rhein-Maas-Raumesverbinden.

Ausgaben: Karlmeinet insg.: Hg. Adelbert v.Keller. Stgt. 1858. Neudr. Amsterd. 1971. – Komm.Ed. des Karl und Galie-Teils u. der Fragmente v.Dagmar Helm. Bln. 1986 (siehe auch dies.: Karl u.Galie. Karlmeinet, Tl. 1 [...]. Aus dem Mhd. über-setzt. Göpp. 1999). – Morant und Galie: Hg. ErichKalisch. Bonn/Lpz. 1921. – Hg. Theodor Frings u.Elisabeth Linke. Bln. 1976 (hist.-krit. Ed.). – Zu Karlund Elegast siehe die synopt. Ed. der mittelnieder-länd. Textzeugen u. der Karlmeinet-Version v. An-tonius Maria Duinhoven. Zwolle 1969 (siehe auchBernd Bastert, Bart Besamuca u. Carla Dauven-vanKnippenberg: ›Karel ende Elegast‹ u. ›Karl u. Ele-gast‹. Hg. u. übers. Münster 2005).

Literatur: Bibliografie: Cola Minis: Bibliogr.zum K. Amsterd. 1971 (bis 1969). – Weitere Titel:Allgemein: Erik Rooth: Zur Sprache des K. Heidelb.1976. – Hartmut Beckers: K.-Kompilation. In: VL. –B. Bastert: Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter– die K.-Kompilation zwischen Oberdtschld. u. denNideren Landen. In: Angelika Lehmann-Benz u. a.(Hg.): Schnittpunkte. Dt.-Niederländ. Literaturbe-ziehungen im späten MA. Münster 2003,S. 125–143. – Ders.: ›der Cristenheyt als nücz alskein czelffbott‹. In: Ders. (Hg.): Karl der Große inden europ. Lit.en des MA. Tüb. 2004, S. 127–148,bes. S. 140–143. – Ders.: K.-Kompilation. In: Hel-mut Tervooren (Hg.): ›Van der Masen tot op denRijn‹. Ein Hdb. zur Gesch. der volkssprachl. mit-telalterl. Lit. im Raum v. Rhein u. Maas. Bln. 2006,S. 101–104. – Zu Karl und Galie: Gertrud J. Zandt:Die Sprache v. ›K. u. G.‹ - eine Vorstudie. Assen1973. – Hartmut Beckers: Die Liebesduettszene imLichte eines neuen Handschriftenfundes. In: PBB(Halle) 100 (1979), S. 323–337. – Ders: Paläograph.-kodikolog. u. sprachgeschichtl. Beobachtungen[...]. In: Volker Honemann u. Nigel F. Palmer (Hg.):Dt. Hss. 1100–1400. Tüb. 1988, S. 179–213. –Ders.: Ein neues ›K. u. G.‹-Bruchstück. In: ZfdPh108 (1989), Sonderh., S. 131–155. – Ders: DerAachener ›K. u. G.‹-Roman als Beispiel für dieSonderstellung der rhein. Karlsepik des 13. u. 14.Jh. In: Wolfram-Studien 11 (1989), S. 128–146. –

Karlmeinet301

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 78: Kafka Killy Lexikon

Ders.: Möglichkeiten u. Grenzen einer krit. Neu-ausg. v. ›K. u. G.‹ In: Anton Schwob (Hg.): Editi-onsber.e zur mittelalterl. dt. Lit. Göpp. 1994,S. 3–14. – Karl-Ernst Geith: Karl als Minneritter.Beobachtungen zu ›K. u. G.‹ In: Trude Ehlert (Hg.):FS Xenia v. Ertzdorff. Göpp. 1998, S. 63–82. –Heike Sievert: Karl u. Galie im Wechsel. In: Tho-mas Cramer u. a. (Hg.): Frauenlieder – Cantigas deamigo. [...]. Stgt. 2000, S. 151–161. – Dies.: Derfröhl. Text. Zur Erzählkonzeption von ›K. u. G.‹.In: Angelika Lehmann-Benz u. a. (Hg.): Schnitt-punkte. Dt.-Niederländ. Literaturbeziehungen imspäten MA. Münster 2003, S. 109–123. – Zu Morantund Galie: Cola Minis: Zur Sprache des Prozesses in›M. u. G.‹. In: Gedenkschr. Ingerid Dal. Tüb. 1988,S. 75–85. – H. Beckers: Paläograph.-kodikolog. u.sprachgeschichtl. Beobachtungen zu den altenPergamentbruchstücken v. ›K. u. G.‹ u. ›M. u. G.‹.In: V. Honemann u. N. F. Palmer (Hg.): Dt. Hss.1100–1400. Tüb. 1988, S. 179–213. – Zu Karl undElegast: Antonius Maria Duinhoven: Bijdragen totreconstructie van de ›K. u. E.‹. Tl. 1, Assen 1975;Tl. 2, Groningen 1981. – G. J. Zandt: Zur Rekon-struktion des Originals v. ›K. u. E.‹ mit Hilfe dermittelfränk. Version K. In: Leuvense Bijdragen 79(1981), S. 145–149. – Dies.: Enkele opmerkingenover de middelfrank. vertaling van ›K. u. E.‹. In:Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde97 (1981), S. 185–191. – Siehe auch die Literatur-angaben im Artikel ›Karl und Elegast‹. – Zum Ro-landslied: Udo v. der Burg: Konrads ›RL‹ u. das ›RL‹des K. In: Rhein. Vierteljahresbl. 39 (1975),S. 321–341. – Rüdiger Zagolla: Der K. u. seineFassung vom ›RL‹ des Pfaffen Konrad. Göpp. 1988.– Edith Feistner: Karl u. Karls Tod: Das ›RL‹ imKontext des sog. K. In: Wolfram-Studien 11 (1989),S. 166–184. – G. J. Zandt: Bemerkungen zu einerNeuausg. einiger Abschnitte des ›RL‹ -Teils aus derK.-Kompilation. In: ABäG 30 (1990), S. 151–158. –Vickie L. Ziegler: Trial by Fire and Battle in Me-dieval German Literature. Rochester, NY 2004,S. 21–113. Edith Feistner

Karlstadt, Carlstadt, Andreas (Rudolf) von,eigentl.: A. R. Bodenstein, * um 1477Karlstadt, † 24.12.1541 Basel. – Theologe,Reformator u. Schwärmer.

Der Vater des Andreas Bodenstein war Kel-lermeister u. zeitweise auch Bürgermeistervon Karlstadt. Andreas, der sich später »vonKarlstadt« nannte, studierte 1499–1503 inErfurt die Artes in der thomistischen Mon-tanerburse. 1505 ging er mit dem Titel eines

Baccalaureus biblicus an die neu gegründeteUniversität Wittenberg. Er trat ins Franzis-kanerkloster ein u. lehrte an der Artistenfa-kultät. Ab 1508 war K. Kanonikus im Aller-heiligenstift u. wurde 1510 zum Priester ge-weiht. Kurz nach der Promotion zum Dr.theol. wurde er zum Archidiakon am Stifternannt, womit eine theolog. Professur ver-bunden war. K. lehrte thomistische Scholas-tik. 1512 promovierte er Martin Luther zumDr. theol. Nach kanonistischen Studien reisteK. 1515/16 nach Rom, wo er an der Sapienzain beiden Rechten promoviert wurde. Dar-aufhin bewarb er sich ohne Erfolg in Wit-tenberg um die Propstei am Stift, die mit ei-ner kanonistischen Professur verbunden war.(Luther u. Spalatin favorisierten den vonErasmus umworbenen Justus Jonas.)

Die von Luther in Wittenberg angeregtenAugustinus-Studien bewirkten ab Frühjahr1517 eine Art Bekehrung, die sich in Pro Di-vinae graciae defensione sowie S. Augustini despiritu et litera niederschlug (erschienen suk-zessiv Wittenb.: Grunenberg 1517–19). In derheftigen Luther-Kontroverse v. a. mit Eck u.im rasch eskalierenden Prozess gegen Luthererwies sich K. als zuverlässiger akadem.Kampfgenosse. Höhepunkt war sein wichti-ger Part auf der Leipziger Disputation 1519.(Aus seinen Schriften sind zu nennen: Defensioadversus J. Eckii. 1518. Conclusiones contra J. Ec-cum. 1519. Ferner Epistola adversus Eckius arg-utatoris. Lpz.: Schumann 1519. Confutatio ad-versus defensivam epistolam J. Eckii. Wittenb.:Lotter 1520).

Diese von K. sowohl theologisch als auchjuristisch »maßvoll« (so Erasmus) geführtenKontroversen gerieten in eine neue polit.Dimension, als Eck auch K. auf der Bann-androhungsbulle gegen Luther (am21.9.1520 in Meißen) eintrug. Der nun alshäretisch qualifizierte K. brach radikal mitdem Papsttum. Während der krisenhaftenZuspitzung des Luther-Prozesses auf demWormser Reichstag war K. im Mai/Juni 1521in Dänemark, um König Christian II. über dieKirchenreform zu beraten. Durch Luthers»Schutzhaft« auf der Wartburg gewann K.eine ungewöhnl. Rolle in Wittenberg: Erdisputierte u. schrieb nicht nur über Refor-men in Kultus u. Lehre, er setzte sich an ihre

Karlstadt 302

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 79: Kafka Killy Lexikon

Spitze – bis hin zum aufsehenerregendenBildersturm. Er traute Geistliche u. heirateteim Jan. 1522 die 16-jährige Anna von Mo-chau. Luther machte nach seiner Rückkehrden für den Kurfürsten unkontrollierbar ge-wordenen Reformprozess mit seinen »Invo-cavit-Predigten« teilweise rückgängig. K.wurde auf seine akadem. Tätigkeit be-schränkt. Auf diese Ausgrenzung reagierte ermit dem Rückzug aus der Universität aufseine Pfründe Orlamünde, wo er schließlichals erwählter Pfarrer inmitten seiner Ge-meinde die Hl. Schrift auslegte. K. bezeich-nete sich in mehreren Schriften dieser Zeit als»ein newer Lay« (so in: Was gesagt ist : Sich ge-lassen [. . .] in hayliger schryfft begryffen vom April1523).

Die reformatorischen Werke K.s sind (ent-wickelt aus der Eck-Kontroverse 1518) an-fänglich dem Papsttum u. dem Zeremonien-unwesen gewidmet. Die »Wittenberger Be-wegung« wurde bestimmt durch die The-men: Gelübde, Abendmahl unter beiderleiGestalt, Ohrenbeichte, Abtuung der Bilder,Fürbitten Mariens. Daneben rückte, ausge-hend vom Augustinus-Kommentar De spirituet litera, mit der Autorität der Hl. Schrift derbibl. Kanon u. die Schriftauslegung in denVordergrund. Seit Anfang der 1520er Jahrewurden die Sakramentslehre vom Abend-mahl u. der Taufe mit weitgehenden Folge-rungen für die Gestaltung der Messe sowiedie Stellung des Pfarrers in der Gemeinde zuzentralen Themen seiner Werke. Die Ziel-richtung seines Denkens geht auf die Auto-nomie der Gemeinde, was sich als eigentl.Gegensatz zu der Wittenberger u. anderenReformbewegungen erweist. In seiner radi-kalen Schrift Ob man gemach faren, und des er-gernüssen der schwachen verschonen soll (1524)schreibt er bekenntnishaft: »Ein ieglich ge-mein / sie sey klein oder groß / sol für sichsehen / das sie recht unnd wohl thu / unndauff niemants warten.« Mit dem Hervortre-ten reformerischer Themen beginnt K. inDeutsch zu publizieren: erstmalig im April1519 in Außlegung und Lewterung etzlicher hey-ligenn geschriften (Wittenb.: Lotter 1519), stär-ker ab Mitte 1520, regelmäßig ab 1521/22.

K. wies zwar Luthers Verdikt, seine Lehrenseien wie die Müntzers schwärmerisch u.

aufrührerisch, heftig zurück; bei dem Jenen-ser Gespräch im Aug. 1524 kam es jedoch zukeinem Ausgleich. Darauf wurde K. aus sei-ner Gemeinde Orlamünde u. aus Kursachsenausgewiesen. Auf seiner Reise durch Süd-deutschland u. die Schweiz lernte er dieFührer der oberdt. Reformbewegungen ken-nen u. gab v. a. in der Sakramentslehre denZürcher u. Straßburger Reformatoren wich-tige Anregungen. Er wirkte auch nachhaltigauf die dort entstehende Täuferbewegungein. Wesentlicher Niederschlag sind die vonWesterburg in Basel herausgegebenen siebenSchriften v. a. zum Altarssakrament (Ob manmit heyliger schrifft erweysen müge, das Christusmit leyb, blut und sele im sacrament sey. DialogusVon dem grewlichen unnd abgöttischem mißbrauchdes sacraments. Wieder die alte und neue papisti-sche Messe. Aber auch: Was der Frey will vermöge.Alle: Basel: Thomas Wolff u. auch CratanderOkt./Nov. 1524. Zahlreiche Nachdrucke v. a.in Straßb.). Luther reagierte mit der wichti-gen Schrift Wider die himmlischen Propheten vonden Bildern und Sakrament (1524/25), die alsAuftakt des Abendmahlsstreits gilt.

Den Bauernkrieg erlebte K. in Rothenburgo. d. T., wo er mit Frau u. Kind Unterschlupfgefunden hatte. Seine eigenwillige Positionbrachte ihn zwischen alle Fronten. Nach demkatastrophalen Scheitern der Bauern drohteK. persönl. Verfolgung. In seiner hoffnungs-losen Lage suchte er Asyl in Kursachsen. Erfand Aufnahme durch Luthers Fürsprache,nachdem er einen bedingten Widerruf ge-leistet hatte. Mit den 1525er Ereignissenbrach vorerst jede gedruckte Verbreitung vonSchriften K.s ab. Versuche, eine bäuerl. Exis-tenz aufzubauen, scheiterten. Die gegensätzl.Auffassung in der Sakramentslehre ließ aufDauer eine Versöhnung mit Luther nicht zu.Der drohenden Verfolgung entzog sich K.durch Flucht. Nachdem er in Holstein u.Friesland keine Chance sah, fand er schließ-lich im Süden durch die Vermittlung vonZwingli eine vorläufige Bleibe als Diakon amZürcher Spital. Ab 1534 verbrachte er seineletzten Lebensjahre als Universitätsprofessoru. Prediger an St. Peter in Basel. In diesenJahren sind noch einige wenige Schriften ausseiner Lehrtätigkeit hervorgegangen, na-mentlich die Axiomata disputationes (1534) u.

Karlstadt303

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 80: Kafka Killy Lexikon

die Loci communes s. scripturae (1540). K. starban der Pest.

Ausgaben: Valentin Ernst Löscher: Vollst. Re-formations-Acta. 3 Bde., Lpz. 1720–29. – Der au-thent. Text der Leipziger Disputation 1519. Hg.Otto Seitz. Bln. 1903. – ›Von Abtuhung der Bilderu. das keyn bedtler vnther den Christen seyn sol-len‹. Wittenb. 1522. Bonn 1911. – ›De spiritu etlitera‹. In: Ernst Kähler: K. u. Augustin. DerKommentar des A. Bodenstein v. K. zu AugustinsSchr. ›De spiritu et litera‹. Halle 1952 (darin auchK.s 152 Thesen vom 26.4.1517). – K.s Schr.en ausden Jahren 1523–25. Hg. Erich Hertzsch. 2 Bde.,Halle 1956/57. – Ausw. an Texten in: Flugschr.ender frühen Reformationsbewegung (1518–1524).Hg. Adolf Laube u. a. 2 Bde., Bln./DDR 1983, u. in:Flugschr.en vom Bauernkrieg zum Täuferreich(1526–1535). Hg. A. Laube u. a. 2 Bde., Bln. 1992.

Literatur: Bibliografie: Ernst Frey u. HermannBarge: Verz. der gedr. Schr.en des A. Bodenstein v.K. In: Zentralblatt für das gesamte Bibliothekswe-sen 21 (1904), S. 153–179, 209–243, 305–331(Sonderdr. durch Bob de Graaf. Nieuwkoop 1965).– Weitere Titel: Heinrich Heppe: A. R. Bodenstein.In: ADB. – C. F. Jäger: A. Bodenstein v. Carlstadt.Stgt. 1856. – H. Barge: A. Bodenstein v. K. 2 Bde.,Lpz. 1905. – Karl Müller: Luther u. K. Tüb. 1907. –H. Barge: Frühprotestant. Gemeindechristentumin Wittenberg u. Orlamünde. 1909. – ErichHertzsch: K. u. seine Bedeutung für das Luther-tum. Gotha 1932. – Gerhard Fuchs: K.s radikal-reformator. Wirken u. seine Stellung zwischenMüntzer u. Luther. In: Wiss. Ztschr. der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg 3 (1953/54),S. 523–551. – Ronald J. Sider: A. Bodenstein v. K.Leiden 1974. – Ulrich Bubenheimer: ConsonantiaTheologiae et Jurisprudentiae. Tüb. 1977. – CalvinA. Pater: K. as the Father of the Baptist Movements.Toronto 1984. – Arnim Krause: A. Bodenstein v. K.Stgt. 1990. – Sigrid Looß: Desiderat der Forsch. zurReformationsgesch.: eine Werkausgabe des A. Bo-denstein aus Karlstadt (1486–1541). In: Editions-desiderate zur Frühen Neuzeit [...]. Hg. Hans-GertRoloff. 2 Tle., Amsterd./Atlanta 1997, Tl. 1,S. 553–566. – Querdenker der Reformation. A. Bo-denstein v. K. u. seine frühe Wirkung. Hg. UlrichBubenheimer. Würzb. 2001. – Shinichi Kotabe:Laienbild A. Bodenstein v. K. 1516–1524. Mchn.2005. Heinz Holeczek

Karlweis (Karlweiß), Carl, eigentl.: KarlWeiß, Weiss, * 23.11.1850 Wien, † 27.2.1901 Wien; Grabstätte: ebd., Matzleins-dorfer Friedhof. – Dramatiker, Erzähler,Musiker.

K. versuchte sich schon während seinerSchulzeit als Schauspieler u. Schauspieldi-rektor. 1838 wurde er Beamter der Staatsei-senbahn, zunächst in Graz, ab 1879 in Wien;seit 1891 war er Oberinspektor der Südbahn.

K. schrieb zunächst Feuilletons u. Erzäh-lungen, die im typischen Wiener Lokalkoloritverfasst sind. Den Durchbruch als Dramatikererzielte er erst mit dem satirisch angelegten»Wiener Schwank in vier Akten« Der kleineMann (Urauff. 1894. Stgt. 1896), für den er1896 den Raimund-Preis erhielt. Nach denfrüheren, eher erfolglosen »Volksstücken«Laufen lassen (1896; zus. mit Vincenz Chia-vacci) u. Aus der Vorstadt (1893; zus. mit Her-mann Bahr) schrieb K. nach dem Muster vonDer kleine Mann eine Vielzahl von Komödienu. Lustspielen, die er als »Wiener Aristopha-nes« (Hermann Bahr) ohne Differenzierung»Volksstücke« nannte. Den Erfolg von Derkleine Mann konnte er nur mit Das grobe Hemd(Wien 1901, mit Umschlagzeichnungen vonEmil Orlik) wiederholen. K.s dramaturgischeVerfahren schließen an die Possen u. SatirenJohann Nepomuk Nestroys an, ohne dass K.Nestroys Wortwitz u. satir. Schärfe erreichte.Die versöhnl. Lösungen der gesellschaftl.Konflikte zeigen K. eher als Humoristen,weniger als Zeitdiagnostiker u. Satiriker.Seine Volksromane (u. a. Wiener Kinder. Stgt.1897) u. Erzählungen (u. a. Adieu Papa. Wien1898) wurden um 1900 breit rezipiert; heutesind sie weitgehend vergessen. K.s Mitglied-schaft in den wesentlichen literar. Gruppie-rungen der Wiener Klassik der Moderne zeigthingegen sein Eingagement für eine Erneue-rung des Wiener Vorstadttheaters, des WienerFeuilletons (der »Neuen Freien Presse«) u. derLiteratur (als Mitarbeiter der Zeitschrift»Gegen den Strom«). Die Auseinanderset-zung mit Karl Kraus um K.s Komödie Der neueSimson (1902) zeigt, wie im Zentrum der li-terar. Moderne (etwa im Café Griensteidl) umneue Formen u. neue Ausdrucksmittel desDramatischen gerungen wurde.

Karlweis 304

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 81: Kafka Killy Lexikon

Weitere Werke: Wiener Kinder. Stgt. 1887 (R.).– Das gemüthl. Wien (Gegen den Strom. Bd. 1. H.5). Wien 1887. – Gesch.n aus Stadt u. Dorf. Stgt.1889. – Ein Sohn seiner Zeit. Wien 1892 (D.). –Reich werden. Stgt. 1894 (R.). – Das liebe Ich. Bln.1898 (D.). – Wenn es Euch gefällt. Wiener Revue.Zus. mit Hermann Bahr. Wien 1899. – Onkel Toni.Bln. 1900 (D.). – Martin’s Ehe. Novelle in Briefen.Wien 1901. – Wien, das bist du. Kleine E.en ausdem Nachl. Mit Begleitworten v. H. Bahr u. Vinc-enz Chiavacci. Stgt. 1903.

Literatur: Annemarie Gruber: C. K. Diss. Wien1949. – Katharina Drbohlav: C. K.’ dramat. Schr.en[...] u. seine Prosaschr.en. Diss. Wien 1950. – Ma-rijan Bobinac: Für den kleinen Mann muss endlichetwas geschehen! Wien 1996. – Dies.: Der kleineMann auf der Bühne. Aufsätze zum deutschspra-chigen Volksstück im 20. Jh. Wrocl/ aw 2005.

Rudolf Denk

Karoch von Lichtenberg, Samuel, auch:Samuel ex monte rutilo, * 1440 Lichten-berg bei Darmstadt (?), † 1500 (?). –Frühhumanistischer Schriftsteller u. Leh-rer.

K. führte ein unstetes Wanderleben, das ge-kennzeichnet war von immer wieder ge-scheiterten Versuchen, als Lehrer der huma-nistischen Fächer Fuß zu fassen. In Leipzig,wo er 1462 bis 1470 studierte, hatte er dieStudia humanitatis im Kreis um HeinrichStercker kennen gelernt. Nach einem erstenItalienaufenthalt tauchte er 1470/71 in Erfurtauf, ging aber schon 1472, nun als Magister,an die neu gegründete Universität Ingolstadt.Weitere Stationen waren u. a. Wien, Tübin-gen u. wieder Italien; es folgte um 1481/82eine kurze, aber fruchtbare Periode der Ruheals Lehrer u. Erzieher in Biberach. Über Hei-delberg u. Erfurt kam er 1485 nach Köln, woer das Studium des Zivilrechts aufnahm, abernicht beendete. Nach einem Aufenthalt inWien 1492 verliert sich seine Spur.

Mit seinen grammatisch-rhetor. Lehr-schriften (u. a. einer Rhetorica subtilis, u. einerSinonima partium indeclinabilium sowie zweiBrieflehren) wollte K. zu idealer lat. Schrift-lichkeit im Sinne des Humanismus anleiten,verschmähte aber nicht den Verweis auf mit-telalterl. Autoritäten. Auch das umfangreicheschriftstellerische Werk K.s, das Briefe, Re-

den, Gedichte u. Erzählungen umfasst, ver-steht sich zwar als Verwirklichung u. Musterhumanistischer Eloquenz, verwendet abergleichzeitig mittelalterl. inhaltl. u. formaleTraditionen. So verarbeitet sein 1485 in Kölngeschriebenes Ad divam Barbaram dictamenzwei ältere Fassungen der Barbaralegende.Die Arenga de commendatione studii humanitatis(1470) ist nicht in antikem Versmaß abge-fasst, sondern benutzt Rhythmik u. Reim-form der Meistersangstrophe.

Obwohl sich K., wie aus seinen Vorle-sungsankündigungen zu ersehen ist, als einerder Vorreiter der Studia in Deutschland ein-schätzte, war es gerade seine Verwurzelungnoch in nichthumanistischen Traditionen,die ihn seinen Nachfolgern suspekt erschei-nen ließ: 1499 berichtet Heinrich Bebel, K.»ziehe noch durch Deutschland, voller Al-bernheiten, säe Barbarismen und lehre nichtsanderes als nur ungebildete Rhythmen«.

Literatur: Wilhelm Wattenbach: S. K. v. L., einHeidelberger Humanist. In: Ztschr. für Gesch. desOberrheins 28 (1876), S. 38–50. – Ders.: S. K. In:ADB. – Heinz Entner: Frühhumanismus u. Schul-tradition in Leben u. Werk des Wanderpoeten S. K.v. L. Bln. 1968. – Vera Sack: Ein Gedicht des Wan-derpoeten S. K. v. L. zur Feier des Barbaratages inder Kölner Kartause. In: FS Otto Herding. Stgt.1977, S. 188–216. – Franz Josef Worstbrock: NeueSchr.en u. Gedichte S. K.s v. L. Mit einer Werk-bibliogr. In: ZfdA 112 (1983), S. 82–125. Abge-druckt in: Ders.: Ausgew. Schr.en. Hg. SusanneKöbele u. Andreas Kraß. Bd. 2, Stgt. 2005,S. 109–152. – Ders.: S. K. v. L. In: VL.

Frank Fürbeth / Red.

De Karolo rege et Leone papa. – Pan-egyrische Hexameter-Dichtung auf Karlden Großen, um 800.

Der in seiner Gattungszugehörigkeit u.Funktion (abhängig von der Einschätzung alsfragmentar. Rest eines Epos oder als voll-ständig erhaltenes Zeugnis) lange umstritte-ne Text von 536 Hexametern ist – ohne In-cipit u. Explicit – einzig in einer St. GallerHandschrift überliefert. Die früher u. a. An-gilbert zugeschriebene Autorschaft ist nochungeklärt; zuletzt wurde Einhard als mögl.Verfasser wieder zur Diskussion gestellt(Schaller) bzw., ganz abweichend davon, ein

Karolo rege et Leone papa305

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 82: Kafka Killy Lexikon

irischer Verfasser angenommen (Brunhölzl).Für die Datierung bietet die zwischen 804 u.814 entstandene, aus dem Karlsgedicht zi-tierende Ecloga Modoins einen ihrerseits nichtunbestrittenen terminus ante quem; die ge-naue zeitl. Situierung (zwischen 799 mit demBesuch Leos III. bei Karl in Paderborn u. demersten Jahrzehnt des 9. Jh.) wie die Lokali-sierung (Paderborn oder Aachen) hängen vonder Beurteilung des Textes insg. ab.

Mit bedeutenden literar. Anleihen aus derVita des als Apostel Galliens verehrten Bi-schofs Martin von Tours (in der Versbearbei-tung des Venantius Fortunatus) u. aus VergilsAeneis sowie den Laudes Iustini des Corippuswird Karl, dem »rex« u. »Augustus«, einbreiter Panegyricus gewidmet, der in derbisher der Stadt Rom vorbehaltenen, nun inKarl personalisierten Metapher vom »caputorbis« (v. 92) gipfelt. Auf die Schilderung deremsigen Arbeiten zum Bau von Aachen (sieheVergils Beschreibung Karthagos) als »Romasecunda« (v. 94) folgt anlässlich eines Jagd-ausflugs ein erneuter, auf Karls Frau u. Kin-der ausgeweiteter Lobpreis. Nach einerTraumvision vom blutbesudelten Papstschickt Karl Boten nach Rom, wo Leo tat-sächlich an Augen u. Zunge verstümmelt,aber wunderbar geheilt wird. Die Boten ge-leiten ihn nach Paderborn, u. der einen er-neuten Feldzug gegen die Sachsen vorberei-tende Karl empfängt ihn festlich. Entgegendem von der Forschung dem Werk verliehe-nen Titel steht also eindeutig Karl im Zen-trum.

Die schon in der älteren Forschung übl.Ansicht vom fragmentar. Charakter des Tex-tes führte Schaller weiter aus durch denNachweis von Parallelen zwischen dem Ex-ordium (vv. 1–13) u. der Einleitung zumdritten Buch von Venantius’ Vita Martini. Dasich auch das Ende in der überlieferten Formals intendierter Schluss bezweifeln lässt,könnte es sich um ein analog dem Vorbild desVenantius in vier Bücher gegliedertes, abernur in seinem dritten Buch erhaltenes Eposgehandelt haben, das unter dem Eindruck derKaiserkrönung im Umkreis des AachenerHofs entstanden wäre. Die Annahme einerfrüheren Datierung um 799 hingegen ver-bindet sich mit der These von der Vollstän-

digkeit des überlieferten Texts u. mit dessenStellenwert als Zeugnis der Vorgeschichte derKaiserkrönung im Sinne eines propäpstl.Plädoyers anlässlich der Paderborner Ver-handlungen oder als im vorab für den dorti-gen Empfang verfasstes Doppelenkomion,was angesichts des so deutlich auf Karl lie-genden Gewichts kaum überzeugt. AuchEbenbauer, der die Entstehung nach den Pa-derborner Verhandlungen, aber vor der Krö-nung annimmt, spricht von einem im Rah-men eines repräsentativen Akts rezitierbarenPanegyricus u. veranschlagt so die buchepi-schen Erzählmerkmale ebenfalls geringer.

Rezipiert wurde das Werk außer von Mo-doin auch von Ermoldus Nigellus in seinem –nach vier Büchern gegliederten – panegyr.Ludwigsepos (In honorem Hludovici). Späterscheint es auf die Carlias des Ugolino Verino(entstanden 1465–1506) u. auf den währendder Regierung des engl. Königs Karl I. tätigenDichter Denham (Cooper’s Hill, entst. um1641) gewirkt zu haben. – Die Geschichte vonKarls Hilfe für den verstümmelten Leo waransonsten in der lat. u. volkssprachl. Chro-nistik des MA in verschiedenen Variantenbekannt.

Ausgabe: Franz Brunhölzl: De Karolo rege etLeone papa. Hg. u. übers. Paderb. 1999 (Beih. zumBd. 36 der Studien u. Quellen zur westfäl. Gesch.). –Wilhelm Hentze [Hg.]: De Karolo rege et Leonepapa. Der Ber. über die Zusammenkunft Karls desGroßen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in ei-nem Epos für Karl den Kaiser. Mit vollst. Farbre-produktion nach der Hs. der Zentralbibl. Zürich,Ms. C 78, u. Beiträgen v. Lutz E. Padberg, JohannesSchwind u. Hans-Walter Stork).

Literatur: Helmut Beumann: Das PaderbornerEpos u. die Kaiseridee Karls des Großen. In: Karo-lus Magnus et Leo papa. Ein Paderborner Epos v. J.799. Paderb. 1966, S. 1–54. – Karl Hauck: DieAusbreitung des Glaubens in Sachsen. In: Früh-mittelalterl. Studien 4 (1970), S. 162–167. – OttoZwierlein: Karolus Magnus – alter Aeneas. In: FSKarl Langosch. Darmst. 1973, S. 44–52. – DieterSchaller: Das Aachener Epos für Karl den Kaiser. In:Frühmittelalterl. Studien 10 (1976), S. 134–168. –Ders.: Interpretationsprobleme im AachenerKarlsepos. In: Rhein. Vierteljahresbl. 41 (1977),S. 160–179. – Alfred Ebenbauer: Carmen Histori-cum I. Wien 1978, S. 34–90. – Roger P. H. Green:Modoin’s Eclogues and the ›Paderborn Epos‹. In:

Karolo rege et Leone papa 306

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 83: Kafka Killy Lexikon

Mlat. Jb. 16 (1981), S. 43–53. – D. Schaller: D. K. r.e. L. p. In: VL. – Robert Cummings: Denham’s›Cooper’s Hill‹ and ›Carolus Rex et Leo Papa‹. In:Philological Quarterly 64 (1985), S. 337–346. –Christine Ratkowitsch: Karolus Magnus – alterAeneas, alter Martinus, alter Iustinus. Zu Intentionu. Datierung des Aachener Karlsepos. Wien 1997. –Dies.: Karoli vestigia magna secutus. Die Rezeptiondes Aachener Karlsepos in der Carlias des UgolinoVerino. Wien 1999. – Dies.: Das Karlsbild in der lat.Großdichtung des MA. In: Bernd Bastert (Hg.): Karld. Gr. in den europ. Lit.en des MA. Tüb. 2004,S. 1–16. – F. Brunhölzl: Über die Verse D. K. r. e. L.p. In: Hist. Jb. 120 (2000), S. 274–283.

Edith Feistner

Karrillon, Adam, * 12.5.1853 Wald beiMichelbach/Odenwald, † 12.9.1938 Wies-baden; Grabstätte: Weinheim/Bergstraße,Alter Friedhof. – Erzähler, Romancier,Reiseschriftsteller.

Der Sohn eines Dorfschullehrers studierteMedizin u. lebte als Arzt überwiegend imOdenwald. Zur Unterbrechung des Arztall-tags unternahm K., teils als Schiffsarzt, aus-gedehnte Reisen, die er jeweils ausführlichbeschrieb: Vorderer Orient (Eine moderneKreuzfahrt. Weinheim 1898), Kamerun (ImLande unserer Urenkel. Ebd. 1909), Ostasien(Sechs Schwaben und ein halber. Eine Weltreise.Bln. 1919), Ostsee (Meine Argonautenfahrt. Bln.1929). Diese letzte Reisebeschreibung enthältzgl. die Fortsetzung seiner Autobiografie, dieK. mit Erlebnisse eines Erdenbummlers (Bln.1923) zunächst bis 1920 geführt hatte.

K.s literar. Hauptwerk ist Die Mühle vonHusterloh (Bln. 1908. Neudr. Pfungstadt1980), die Geschichte der Odenwälder Mül-lerfamilie Höhrle, die sich mit den Wand-lungen der modernen, sich technisierendenLebenswelt auseinanderzusetzen hat: DieWassermühle des alten Höhrle ist der Kon-kurrenz der Dampfmühle nicht mehr ge-wachsen; hinzu kommt, dass die Müllerin aufgroßem Fuß lebt, mit dem Sohn Hans »Hö-heres« im Sinn hat. Dieser unterhält währendseines Studiums ein Verhältnis mit einerKommerzienratsgattin u. muss flüchten, alsder Skandal aufkommt. Die Mühle brennt vorder drohenden Zwangsversteigerung ab; deralte Höhrle stirbt. Hans lebt später als Chir-

urg in Amerika. Das Ganze wird detailreichvon einem ironisch-distanzierten, oft humo-ristischen Erzähler gestaltet.

Die zeitgenöss. Kritik stellte K., der 1923mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde,neben Keller, Reuter, Raabe u. Rosegger. Inseiner Odenwälder Heimat wird sein Anden-ken heute bes. gepflegt.

Weitere Werke: Michael Hely. Der Dorfteufel.Weinheim 1900 (R.). – O domina mea. Bln. 1909(R.). – Bauerngeselchtes. Bln. 1914 (N.n). – AdamsGroßvater. Bln. 1917 (E.en). – Am Stammtisch›Zum faulen Hobel‹. Konstanz 1922 (E.en). – ViljoRonimus. Das Schicksal eines Kassenarztes. Bln.1925 (R.). – Unbekannte Kurzgesch.n u. Erzäh-lungen. Tl. 1. Pfungstadt 1984. – UnbekannteKurzgesch.n u. Erzählungen. Tl. 2: Derbe Neuig-keiten. Mit einem Vorw. u. einer Einf. in Leben u.Werk des Dichters v. Ralph Deschler. Mörlenbach1990. – Aphorismen aus Werken v. A. K. Ausw.Heinz Triebel. Wald-Michelbach 2000.

Literatur: Karl Esselborn (Hg.): A. K. Altes u.Neues über ihn u. v. ihm. Darmst. 1923. – RalphDeschler: K. Biogr. Weinheim 1978. – Begleitheftzur Ausstellung. Wald-Michelbach 1988.

Erwin Leibfried / Red.

Karsch, Anna Louisa, geb. Dürbach, gen.Karschin, * 1.12.1722 »Der Hammer«zwischen Züllichau u. Krossen/Nieder-schlesien, † 12.10.1791 Berlin; Grabstät-te: ebd., Alter Sophienkirchhof. – Lyri-kerin.

Von der Mutter wurde K. wegen ihrer Häss-lichkeit nicht geliebt; den liebenden Vater,einen Wirtshauspächter, verlor sie früh. Lesenu. schreiben lernte K. bei einem Großonkel inTirschtiegel/Posen, wurde aber als Zehnjäh-rige von der wieder verheirateten Mutter zu-rückgefordert u. diente als Magd u. Viehhir-tin. Mit 15 Jahren wurde sie an einen Tuch-weber verheiratet u. musste schwerste Arbeitleisten. Ein Rinderhirte vermittelte ersteheiml. Lektüre; es entstanden Geburtstags- u.Neujahrsständchen u. Trostgesänge. Nachelfjähriger Ehe ließ sich ihr Mann scheiden u.jagte die mit einem vierten Kind Schwangereaus dem Haus. Wenige Monate später zwangdie Mutter sie, den trunksüchtigen Schnei-dergesellen Karsch zu ehelichen, dem K. inspoln. Fraustadt folgte, wo sie drei weitere

Karsch307

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 84: Kafka Killy Lexikon

Kinder gebar. Hier lernte sie, sich u. dieKinder von Gaben für Gelegenheitsverse zuernähren. Lehrer u. Pfarrer wurden auf sieaufmerksam u. ermöglichten ihr 1755 dieÜbersiedlung ins preuß. Glogau. Im Sieben-jährigen Krieg schrieb K. Gesänge auf dieSiege Friedrichs des Großen, die, als Flug-blätter gedruckt, ihren Ruhm nach Berlintrugen, wo Mendelssohn ihr ein »ungemei-nes Genie« bescheinigte. Gönner befreiten sievon dem gewalttätigen Karsch (er wurdeeingezogen), u. ein Baron von Kottwitzbrachte sie im Jan. 1761 nach Berlin. Hierwurde sie durch ihre Stegreiflieder die Sen-sation der Salons. Durch ernstere Dichtungengewann sie auch Professoren u. Männer vomFach zu Bewunderern, wie Sulzer u. Ramler,die ihr Talent zu verfeinern suchten. Gleim,der sie in Berlin besuchte u. zu dem sie eineunerwiderte Liebe hinriss, führte die »deut-sche Sappho« seinen Domherren in Halber-stadt vor, wo sie feierlich zur Dichterin ge-krönt wurde. Anschließend wohnte sie einJahr, ebenso gefeiert u. reich beschenkt, imnahen Magdeburg u. knüpfte enge Bezie-hungen zum Hof der preuß. Königin, die vorden russ. Armeen dorthin geflohen war. Siebefreundete sich u. a. mit Herzog Ferdinandvon Braunschweig u. dem regierendenReichsgrafen Heinrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode, schrieb Kantaten für PrinzessinAmalie, die komponierende Schwester desKönigs, unterhielt einen regen Briefwechselmit führenden dt. Schriftstellern, u. Gleimsammelte ihre Gedichte für eine Pränumera-tionsausgabe.

Von der Höhe dieses Glücks wurde derSturz zurück ins Elend um so tiefer, als sie imOkt. 1762 nach Berlin zurückkehrte u. mitElendsquartieren vorliebnehmen musste. Aufeiner Audienz im Aug. 1763 versprach ihr derKönig ein Haus u. eine Jahrespension, dochhielt er sein Versprechen nicht. Das Urteil derKritiker über die Auserlesenen Gedichte (Bln.:Winter 1764, recte 1763. Neudr. hg. von Al-fred Anger. Stgt. 1966. Karben 1996) u. an-dere Veröffentlichungen fiel so nieder-schmetternd aus, dass es K. monatelanglähmte. Sie war immer unfähig gewesen, ihrehingeworfenen Improvisationen gründlichzu verbessern. Doch sie musste weiterdichten

– aus innerem Bedürfnis wie auch aus äuße-ren Notwendigkeiten. Das Versemachen warihr Broterwerb, ihre einzige Möglichkeit, zuexistieren u. für den wachsenden Kreis dervon ihr Abhängigen zu sorgen. So schrieb siebis an ihr Lebensende Huldigungsgesängeauf Fürsten, Gelegenheitsdichtungen fürNachbarn u. trat bei Festen als poetischeUnterhalterin auf. Daneben sang sie fast täg-lich ein Lied für sich selbst oder enge Freundeu. schrieb unzählige Briefe. Dass FriedrichWilhelm II. K. 1789 ein Haus bauen ließ,brachte ihr keine finanzielle Erleichterung. –Das Leben K.s war reich an Freunden, ihrAlter tief überschattet durch Eifersucht u.Hass ihrer dichtenden Tochter Karoline vonKlencke, die K. den Haushalt führte u. nachihrem Tod ihre Gedichte auf Pränumerationherausgab (Bln. 1792. Titelaufl. 1797. Neudr.Karben 1996).

Um die Leistung K.s gerecht zu würdigen,muss man zwischen Gelegenheits- u. Erleb-nisdichtung im Goethe’schen Sinn u. Kunst-produkten unterscheiden. Zu den Letzterengehört die Menge der Fabeln, Epigramme,Anakreontika, Idyllen u. Romanzen, die K.namentlich in den 1760er Jahren verfasste.Bei solchen Werken der feilenden Stilkunstversagte sie meistens. Doch schon aus vielenHuldigungsgedichten ist ihr eigener Tonherauszuhören, da sie die Fesseln der Ge-lehrsamkeit dieser Gattung durchbricht u.Freiräume für wahre Begeisterung u. persönl.Sympathie offenbleiben. Und wenn dieDichterin ihren natürl. Empfindungen freienLauf lässt, wenn sie sich im verhaltenenSchmerz oder ausbrechenden Glücksgefühlan Gott wendet, wenn sie neue Freundschaf-ten besingt oder sich dankbaren Herzens derWohltäter ihrer Kindheit erinnert, dann wirdsie zu einer der kühnsten Wortschöpferinnen(von Gerstenberg oder Herder öffentlich ge-priesen, von Goethe hoch geschätzt) u. be-rührt noch heute unmittelbar. Namentlich inihren Liebesgedichten u. -briefen an Gleim1761/62 zeigen sich diese Unmittelbarkeit u.Wahrheit, die man bis 1770 wohl vergeblichin der dt. Literatur suchen wird. Darüberhinaus ist K. die beste dt. Briefschreiberin des18. Jh.; in ihren Briefen spiegelt sich das reale

Karsch 308

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 85: Kafka Killy Lexikon

Leben, v. a. auch der unteren Stände, wie inkeinem anderen Briefwechsel der Zeit.

Weitere Werke: 1753–91 erschienen zahlreicheHuldigungsdichtungen, Oden, Gelegenheitsge-dichte usw. als Einzeldrucke. – Die Spazier-Gaengev. Berlin. Bln. 1761. Neudr. hg. v. Oskar Rauthe.Bln. 1921. – Einige Oden über verschiedene hoheGegenstände. Bln. 1764. – Kleinigkeiten. Bln. 1765.– Neue Gedichte. Mietau/Lpz. 1772. Neudr. Karben1996. – Gedichte u. Lebenszeugnisse. Hg. AlfredAnger (nach Hss. u. Erstdrucken). Stgt. 1987. –›Mein Bruder in Apoll‹. Briefw. zwischen A. L. K. u.J. W. L. Gleim. Bd. 1: Hg. Regina Nörtemann.Bd. 2: Hg. Ute Pott. Gött. 1996. – Die Sapph. Lie-der. Hg. Regina Nörtemann. Gött. 2009.

Literatur: Adolph Kohut: Die Dt. Sappho. IhrLeben u. Dichten. Dresden/Lpz. 1887. – ElisabethHausmann: Friedrich des Großen Volksdichterin.Ein Leben in Briefen. Ffm. 1933. – Reinhard M. G.Nickisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalterder dt. Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zurAufklärung. Bd. 2, Wolfenb. 1976, S. 29–65. – He-lene M. Riley: Wölfin unter Schäfern. Die sozial-krit. Lyrik der A. L. K. In: Dies.: Die weibl. Muse.6 Ess.s über künstlerisch schaffende Frauen derGoethezeit. Columbia 1986, S. 1–25. – A. L. K.(1722–1791). Von schles. Kunst u. Berliner ›Natur‹.Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag derDichterin. Hg. Anke Bennholdt-Thomsen u. AnitaRunge. Gött. 1992. – Uta Schaffers: ›Auf überlebtesElend blick ich nieder‹. A. L. K. Literarisierung ei-nes Lebens in Selbst- u. Fremdzeugnissen. Gött.1997. – Ute Pott: Briefgespräche. Über den Briefw.zwischen A. L. K. u. J. W. L. Gleim. Anhang: DerBriefw. zwischen Gleim u. Caroline Luise v. Klen-cke. Gött. 1998. – Anne Kitsch: ›offt ergreiff ich umBeßer zu sein die Feder‹. Ästhet. Positionssuche inder Lyrik A. L. K.s. Mit (16) bislang unveröffent-lichten Gedichten. Würzb. 2002. – Johannes Birg-feld: Patriot. Erregung als literar. Chance. VomEinfluss der Gesch. auf das Verhältnis v. Gattung u.Geschlecht im 18. Jh. oder A. L. K. u. die Kriegsly-rik. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 29 (2005),H. 2, S. 192–208. Alfred Anger

Karsthans. – Reformationsdialog.

Der wohl früheste u. meistgelesene deutsch-sprachige Reformationsdialog erschien An-fang 1521 anonym in Straßburg u. wurdeinnerhalb weniger Monate neunmal nachge-druckt. Wer die Schrift verfasste, ist trotz in-tensiver Nachforschungen ungewiss. Inhalt-lich u. stilistisch stellt sie eine Mischung von

Humanistensatire u. Reformationsdialog mitentsprechender Überlagerung der Sprach- u.Argumentationsebenen dar. So ist der ersteTeil eine Satire auf Thomas Murner, der kurzzuvor mit einigen Streitschriften gegen Lu-ther hervorgetreten war; erst im zweiten Teilbewegt sich die Auseinandersetzung auf all-gemeinerer Ebene.

Seinen Erfolg verdankte der Dialog v. a. derTitelfigur. Karsthans, urspr. ein Spottnamefür den mit der Feldhacke (= Karst) arbeiten-den Bauern, wurde durch ihn zum Ehrentitelfür den einfachen, unverbildeten u. wahrhaftgläubigen Christen, der die Lehren derPapstkirche als Lügengespinst entlarvt u. inLuther den Erneuerer des reinen Evangeli-ums begrüßt. Als Identifikationsangebot anden »gemeinen man« avancierte die Karst-hansgestalt rasch zu einer Symbolfigur derReformation, die speziell dort ins Feld ge-führt wurde, wo neben den religiösen auchsoziale u. wirtschaftl. Anklagen gegen diePapstkirche laut wurden. Noch im selben Jahrerschien das Bucer zugeschriebene GesprechBüchlin Neuw Karsthans, in dem Karsthans u.Franz von Sickingen u. a. das Problem einesgewaltsamen Vorgehens gegen die Kirche er-örtern, sowie der in Hexametern verfasste lat.Dialog Karsthans und Kegelhans. Auch in zahl-reichen anderen Flugschriften der frühenReformationszeit wurde auf den K. Bezuggenommen. Eine bes. Rolle spielte er in denSchriften des Wanderpredigers Johann Lo-cher; der Freiburger Arzt Hans Maurer (auch:Murer; gen. Zündauf, gest. nach 1525) trat ab1522 unter diesem Namen vorübergehend alsLaienprediger auf.

Ausgaben: K. (1521). Hg. Herbert Burckhardt.In: Flugschr.en aus den ersten Jahren der Refor-mation. Hg. Otto Clemen. Bd. 4, H. 1, Lpz. 1911.Nachdr. Nieuwkoop 1967, S. 75–133 (S. 1–74:Einl.). – K. In: Die Reformation im zeitgenöss.Dialog. 12 Texte aus den Jahren 1520 bis 1525. Hg.Werner Lenk. Bln. 1968, S. 67–90. – K. In: DieWahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit derReformation. Hg. u. mit einer Einl. v. RudolfBentzinger. Lpz. 1982 (21988. Ffm 1983), S. 85–126(Druckvorlage: Lenk 1968). – K. In: Dt. Lit. v. Lu-ther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CD-ROM).

Literatur: Bibliografien: VD 16. – Hans-JoachimKöhler: Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1:

Karsthans309

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 86: Kafka Killy Lexikon

Das frühe 16. Jh. Bd. 2, Tüb. 1992, Nr. 1974–1980.– Weitere Titel: Jakob Franck: K. In: ADB. – PaulBöckmann: Der gemeine Mann in den Flugschr.ender Reformation. In: DVjs 22 (1944), S. 186–230. –Barbara Könneker: Die dt. Lit. der Reformations-zeit. Mchn. 1975, S. 100–109. – Josef Schmidt:Lestern, lesen u. lesen hören. Kommunikations-studien zur Prosasatire der Reformationszeit. Bern/Ffm. 1977, S. 133–172. – Robert W. Scribner: Forthe sake of simple folk. Popular propaganda for theGerman Reformation. Oxford 21994 (zuerst 1981).– Ninna Jørgensen: Bauer, Narr u. Pfaffe [...]. Lei-den 1988. – Horst Langer: ›Karsthans‹. Wirkungs-strategie, Werkgestalt u. Rezeption eines Refor-mationsdialogs. In: ZfG N. F. 1 (1991), S. 28–36.

Barbara Könneker / Red.

Karsunke, Yaak, * 4.6.1934 Berlin. – Dra-matiker, Lyriker u. Romancier.

K., Sohn eines Fabrikdirektors u. einer Ver-lagsprokuristin, wuchs im Berliner StadtteilPankow auf. 1949 siedelte er nach Friedenauüber, wo er auf das Gymnasium ging u. 1953das Abitur ablegte. Das anschließende Jura-studium brach er nach drei Semestern ab u.besuchte stattdessen 1955–1957 die Max-Reinhardt-Schule für Schauspiel in Berlin.Danach arbeitete K. sieben Jahre als Hilfs- u.Gelegenheitsarbeiter. 1964 begann er, mitt-lerweile nach München übergesiedelt, mitschriftstellerischen Arbeiten. Als Mitbegrün-der der Zeitschrift »kürbiskern« war er1965–1969 deren Chefredakteur u. Mither-ausgeber. Seine ablehnende Haltung zumEinmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen indie CSSR führte 1969 zum Bruch mit derRedaktion, die damals auf den DKP-Kurseingeschwenkt war. Seit 1969 engagierte sichK. in der APO u. wurde zum Sprecher der(Ostermarsch-)»Kampagne für Demokratieund Abrüstung«. Sein später immer stärkerwerdendes Interesse am Medium Film ent-stand durch den freundschaftl. Kontakt mitR. W. Fassbinder, der ihn für drei seiner Fil-me auch als Schauspieler engagierte.1976–1979 lehrte K. als Fachberater für»Drehbuch und Dramaturgie« an der Deut-schen Film- u. Fernsehakademie; 1981–1999hatte er eine Gastprofessur an der Hochschuleder Künste in West-Berlin im Bereich»Schauspiel« inne. Als Schriftsteller wurde K.

1990 mit dem Deutschen Krimipreis u. 2005mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet.

K.s schriftstellerisches Werk ist vielfältig.Bekannt wurde er zuerst v. a. durch lyr. u.dramat. Arbeiten didakt. u. agitatorisch-polit. Charakters. Ausgangspunkt sind in denGedichten meist Alltagserfahrungen; ofthandelt es sich um Gegenentwürfe, z.B. zuBrechts Radwechsel. Ziel ist es, zum Denken u.Handeln anzuregen, polit. u. private Vor-gänge zu analysieren (Klassenphotos. In: dazwischen. 35 Gedichte & ein Stück. Bln. 1979). K.bedient sich einer bewusst unkomplizierten,dabei keineswegs kunstlosen Sprache. DurchCollage u. Montage, durch Wortspiele u.Zeilenbrüche erreicht er eine Unterbrechungdes Assoziationsflusses u. eine krit. Durch-leuchtung traditioneller Motive u. Denkge-wohnheiten.

Für seine Dramen wählte K. histor. Stoffe:Bauernkrieg, Ruhrkampf, Michael Kohlhaas,Zolas Germinal (Urauff. Ffm. 1974). Es gehtihm um von der bürgerl. Geschichtsschrei-bung »unterschlagene« Abschnitte u. Perso-nen. Mitunter verzichtet K. auf einen Helden;seine Figuren sind das Kollektiv: die namen-lose Gruppe der Bauern oder die streikendenArbeiter der Jahre 1919/20. Die Darstellungorientiert sich am Arbeiter- u. Politrevue-theater von Weimar, der Piscatorbühne der1930er Jahre u. dem Theater Brechts. Alsdramat. Mittel dienen Songs, Bänkellieder,Moritaten u. Zwischenkommentare, die Wis-sen vermitteln sollen. Der sprachl. Duktus istleidenschaftlich u. doch präzise. Sein größterErfolg, die Bauernoper, war eine Auftragsarbeitdes Landestheaters Tübingen (Urauff. 1973.Bln. 1976). Der histor. Bilderbogen zeigt inlocker geführten Szenen den Bauernkrieg imsüddt. Raum. Der Prolog weist K. dabei alsSkeptiker aus. Mit der Bauernoper stieß K. aufambivalente Reaktionen. Während ihm dieetablierte Kulturkritik trockenen Nachhilfe-unterricht im Sinne eines Geschichtsseminarsvorwarf, hielt die dogmat. Linke den Unter-haltungsaspekt für überflüssig u. schädlich.

In Des Colhas’ letzte Nacht (Urauff. Bln. 1978)kritisiert K. die aktuelle Situation der BRDeutschland: die Rituale der Macht mit allihren restaurativen Tendenzen. Er themati-

Karsunke 310

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 87: Kafka Killy Lexikon

siert den Kampf des Einzelnen um Gerech-tigkeit.

Sein literar. Schaffen während der siebzigerund achtziger Jahre zeigte K. als einen un-abhängigen Linken, als Skeptiker auch in deneigenen Reihen. Er galt als krit. Beobachterrestaurativer Entwicklungstendenzen in derBundesrepublik, wobei er v. a. die NeueRechte im Blick hat.

Mit seinem 1989 erschienenen, preisge-krönten Roman Toter Mann (Bln.) wandte sichK. dem Genre der Kriminalliteratur zu. DerRoman ist allerdings mehr als nur ein Krimi;er ist ein Panoptikum der Stadt Berlin u. alssolches illustriert er die spezif. Probleme, diesich aus ihrer Lage zwischen West u. Ost er-geben. Dazu greift K. auf das für einen Kri-minalroman ungewöhnl. Thema der kom-merziellen Fluchthilfe zurück. Durch eineLiebesbeziehung mit Vera, die in den siebzi-ger Jahren aus der DDR geflohen war, siehtsich der Hörfunkredakteur Siegbert Volmarmit den kriminellen Folgen der Fluchthilfekonfrontiert. Bei seinen Recherchen gerät erin einen kaum noch kontrollierbaren Wustaus Prostitution, Erpressung u. Mord. Immermehr erweist sich dabei, dass der Kalte Kriegmit seinen negativen Folgen in den Biogra-fien der einzelnen Menschen nach wie vorpräsent ist. Der Roman ist flott u. dennocheindringlich erzählt, wobei er an manchenStellen zu detailversessen ist.

Der Gedichtband hand & fuß (Mchn. 2004)besteht aus vier Teilen, die nochmals die ge-samte Bandbreite von K.s Themen umfassen.Die Gedichte behandeln die Funktion derKunst wie auch die jüngere dt. Vergangen-heit, was für K. vor allem eine Auseinander-setzung mit dem Kommunismus bedeutet.Sie beleuchten ebenso die Verleugnungsstra-tegien histor. Schuld wie das Verhältnis vonJung u. Alt. Im letzten Teil vergegenwärtigtK. antike u. bibl. Mythen, die er in einigenFällen radikal umdeutet. Als verbindendesElement schwebt über allem das Thema derBefreiung von Fixierungen, die gerade dieKunst ihren Schöpfern u. Rezipienten er-möglicht.

Weitere Werke: Kilroy & andere. Bln. 1967 (L.).– reden & ausreden. Bln. 1969 (L.). Beide zus.Neuausg. Mchn. 2000. – PIGasUS. Urauff. Bremen

1970 (Ballettlibr.). – Josef Bachmann. Sonny Listen.Versuche aus der Unterklasse auszusteigen. Bln.1973. – Bauernoper. Ruhrkampf-Revue. Mit einemNachw.: Erfahrungen bei der alternativen Kultur-arbeit. Urauff. Castrop-Rauxel 1975. Bln. 1976. –auf die gefahr hin. Bln. 1982 (L.). – Die Guillotineumkreisen (zus. mit Arwed D. Gorella). Bln. 1984. –Gespräch mit dem Stein. Bln. 1992 (L.). – Da zwi-schen auf die Gefahr hin. Gedichte 1979 u. 1982.Mchn. 2003. – Fernsehfilme: Bares Geld. WDR 1973.– Hier kein Ausgang – nur Übergang. ZDF 1977. –Kinofilm: Bodenproben – Über den Umgang miteinem Gelände. Dokumentarfilm v. Riki Kalbe.Texte v. Y. K. 1987.

Literatur: Harald Hartung: Y. K. / Kilroy &andere / reden & ausreden. In: NR 81 (1970), H. 3,S. 588–591. – Uta Rupprecht: Y. K. In: LGL. –Thomas Zabka: Parodie? Kontrafaktur? Travestie?Anlehnung? Zur Klassifikation u. Interpr. v. Me-tatexten unter Berücksichtigung ihrer mehrfachenIntertextualität. Überlegungen zu Gedichten vonu. nach Bertolt Brecht. In: DVjs 78 (2004), H. 2,313–352. Waltraud Müller / Alexander Schüller

Kasack, Hermann; * 24.7.1896 Potsdam,† 10.1.1966 Stuttgart; Grabstätte: ebd.Waldfriedhof. – Romancier, Erzähler, Ly-riker, Dramatiker, Essayist.

Den Gymnasiumbesuch in Potsdam beendeteder Arztsohn 1914 als Kriegsfreiwilliger mitdem Notabitur. Aufgrund eines Herzfehlerswurde er jedoch im selben Jahr wieder ausdem Militärdienst entlassen. Bis 1920 stu-dierte er in Berlin u. München Germanistik u.Philosophie. Eine Promotion über HölderlinsLyrik schloss er nicht mehr ab, sondern tratals Lektor in den Potsdamer KiepenheuerVerlag ein, dessen Direktor er später wurde.Aus seiner Studienzeit datierte u. a. seineFreundschaft mit Loerke, für den er sich im-mer wieder als Essayist u. Herausgeber ein-setzte. 1926 wurde K. für 15 Monate Ver-lagsdirektor bei S. Fischer. Neben seinendichterischen Arbeiten verfasste er in diesenJahren eine Vielzahl von Essays u. Rezensio-nen, v. a. jedoch gestaltete er im BerlinerRundfunk seit 1925 literar. Programme u.wurde damit auch mit eigenen Hörspielen zueinem Pionier dieses Genres. Stimmen imKampf (Berliner Rundfunk 1930. Neuaufnah-me NDR 1959 u. d. T. Ballwechsel) z.B. machtGedanken zweier Tennisspieler hörbar. Be-

Kasack311

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 88: Kafka Killy Lexikon

sonders erfolgreich bei Kindern war eine Serievon zehn Hörspielen mit der Figur Tull derMeisterspringer (Berliner Rundfunk 1932. Mo-tive daraus als Jugendbuch Lpz. 1935).

K.s Ablehnung der Nationalsozialistenführte schon 1933 zu einem Sendeverbot imBerliner Rundfunk, sodass seine Frau mitihrer Massagepraxis die Familie ernährenmusste. Nach Loerkes Tod 1941 übernahm K.dessen Lektoratsstelle beim S. Fischer u. spä-teren Suhrkamp Verlag, den er in den Kriegs-u. Nachkriegswirren zeitweilig leitete. 1949schied er aus dem Verlag aus u. ging nachStuttgart. Im literar. Leben der Nachkriegs-zeit hatte K. eine exponierte Stellung inne;u. a. war er 1953–1963 Präsident der Deut-schen Akademie für Sprache und Dichtung.

K.s Laufbahn als Lyriker begann währenddes Studiums mit Veröffentlichungen in ex-pressionistischen Zeitschriften. Sein erstesBuch, thematisch u. sprachlich durchausdieser Bewegung zugehörig, trägt den pro-grammat. Titel Der Mensch. Verse (Mchn.1918). Spätere Gedichte, gesammelt in Dasewige Dasein (Bln./Ffm. 1943), spiegeln in ih-rer Kultiviertheit u. formalen Schönheitnichts von der Barbarei ihrer Zeit. K.s späte,formal strenge Lyrik ist in dem Band Wasser-zeichen (Ffm. 1964) abgedruckt.

Neben kürzerer erzählender Prosa verfassteder junge K. einige Dramen; von den ex-pressionistischen wurde nur Die Schwester(Bln. 1920) aufgeführt (Heilbr. 1926). Rechterfolgreich war dagegen Vincent, ein Schau-spiel über die Beziehung zwischen Van Goghu. Gauguin (Potsdam 1924. Urauff. Stgt.1924).

K.s Hauptwerk ist der 1942–1946 ge-schriebene Roman Die Stadt hinter dem Strom(Ffm. 1947), der zu einem der meistdisku-tierten Werke der Nachkriegsliteratur wurde.Der Orientalist Dr. Robert Lindhoff, der Zügeseines Autors aufweist, wird in einer Rui-nenstadt Chronist u. erkennt langsam, dass erin einer Zwischenwelt lebt, in der sich dieVerstorbenen vor ihrem endgültigen Abster-ben aufhalten. In ihr spiegeln sich surrealis-tisch übersteigert Zustände der gegenwärti-gen Lebenswirklichkeit, deren katastrophalerZustand abendländ. Denken zugeschriebenwird. Ihm soll ostasiatische Weisheit entge-

gengesetzt werden. Am Ende wird der phi-losophiehaltige Roman utopisch, indem derHeld mit seiner Chronik, eben diesem Ro-man, in das diesseitige Leben zurückkehrt u.mit seinen Lehren aus dem Jenseits Erfolghat. 1949 wurde das Werk, das auch zu einemLibretto verarbeitet wurde (Bln./Ffm. 1955.Urauff. Wiesb. 1955; Musik von Hans Vogt),mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet.

Weitere Werke: Die Insel. Bln. 1920 (L.). – Dietrag. Sendung. Bln. 1920 (D.). – Der Webstuhl. Ffm.1949 (E.). – Das große Netz. Ffm. 1952 (R.). – Fäl-schungen. Ffm. 1953 (E.). – Mosaiksteine. Beiträgezu Lit. u. Kunst. Ffm. 1956. – Das Birkenwäldchen.Ffm. 1996 (E.). – Dreizehn Wochen. Tage- u.Nachtblätter. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1945über das Kriegsende in Potsdam. Hg. WolfgangKasack. Bln. 1996.

Literatur: Wolfgang Kasack (Zusammenstel-lung): Leben u. Werk v. H. K. Ffm. 1966. – H. K.1896–1966. Marbacher Magazin 2 (1976). – Her-mann Henne: Katharsis oder Spielerei? H. K. u. seinRoman ›Die Stadt hinter dem Strom‹. In: LitJb 25(1984), S. 285–295. – Woo-Kyun Shin: Chinesischesin K.s Kunst? Diss. Düsseld. 1986. – MartinaFromhold: H. K. u. der Rundfunk der WeimarerRepublik. Ein Beitr. zur Gesch. des Wechselver-hältnisses zwischen Lit. u. Rundfunk. Aachen 1990.– Heribert Besch: Dichtung zwischen Vision u.Wirklichkeit. Eine Analyse des Werkes v. H. K. mitTagebuched. (1930–1943). St. Ingbert 1992. –Helmut John u. Lonny Neumann (Hg.): H. K. Lebenu. Werk. Symposion 1993 in Potsdam. Ffm. u. a.1994. – Gene O. Stimpson: Zwischen Mystik u.Naturwiss.en. H. K.s Die Stadt hinter dem Stromim Lichte des neuen Paradigmas. Ffm. u. a. 1995. –Herbert Heckmann u. Bernhard Zeller (Hg.): H. K.zu Ehren. Eine Präsidentschaft in schwerer Zeit.Gött. 1996. – H. K. u. der Rundfunk. DeutschesRundfunkarchiv Ffm./Potsdam-Babelsberg 2004(1 CD). Walter Olma

Kaschnitz, Marie Luise, eigentl.: M. L. vonK.-Weinberg, geb. von Holzing-Berstett,* 31.1.1901 Karlsruhe, † 10.10.1974 Rom;Grabstätte: Bollschweil bei Freiburg i. Br.– Erzählerin, Lyrikerin, Hörspielautorin,Essayistin.

K. entstammte einer alten Offiziersfamilie(der Vater Max Freiherr von H.-B. war preuß.Generalmajor) u. verbrachte, als höhereTochter erzogen, Kindheit u. Jugend in dem

Kaschnitz 312

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 89: Kafka Killy Lexikon

militärisch u. höfisch geprägten Milieu vonBerlin u. Potsdam (seit 1902). Nach dem Ab-itur absolvierte sie in Weimar eine Buch-händlerlehre u. arbeitete in einem Antiqua-riat in Rom. 1925 heiratete sie den Archäo-logen Guido von Kaschnitz-Weinberg (geb.1890), mit dem sie abwechselnd in Rom, Kö-nigsberg, Marburg u. Frankfurt/M. lebte.Gemeinsame Reisen führten sie nach Italien,Jugoslawien, Ungarn, Griechenland, in dieTürkei u. nach Nordafrika. Nach dem Todihres Mannes 1958 lebte K. in Frankfurt/M.,Rom u. auf dem Familiengut in Bollschweilbei Freiburg i. Br., der »Herzkammer derHeimat«. Lesereisen wurden u. a. nach Süd-amerika u. in die USA unternommen. K. er-hielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1955den Georg-Büchner-Preis u. 1967 den OrdenPour le mérite. Im Sommersemester 1960 lassie als Gastdozentin auf dem Poetiklehrstuhlder Universität Frankfurt/M. über Gestalteneuropäischer Dichtung von Shakespeare bis Beckett(in: Zwischen Immer und Nie. Gestalten undThemen der Dichtung. Ffm. 1971).

K.’ Werk umfasst Romane, Erzählungen,Kurzgeschichten, Gedichte, Hörspiele u. au-tobiogr. Prosa. Trotz aller Vielfalt der Aus-drucksformen ist der Eindruck der Homoge-nität u. Geschlossenheit dieses Werks vor-herrschend. Dazu trägt der durchgängig zubeobachtende lyr. Grundton bei, v. a. jedochdas in den verschiedenen Texten immer wie-der neu variierte Grundthema – das Be-kenntnis zum Menschen, zur Menschlichkeitu. Menschenliebe als Antwort auf dieGleichgültigkeit, Lieblosigkeit u. Grausam-keit, als Antwort darüber hinaus auf die Er-fahrung der Endlichkeit des Lebens u. derAllgegenwart des Todes. Zwischen der fik-tionalen u. der autobiogr. Prosa lässt sich oftkeine klare Grenze ziehen. Sie werde wohl als»ewige Autobiographin« (in: Orte. Ffm. 1973)in die Literaturgeschichte eingehen, hat K.selbst einmal gemutmaßt. Ihre Tagebuch-aufzeichnungen zielen auf das hinter demIndividuellen aufscheinende Exemplarische.Privates u. Öffentliches, Persönliches u. All-gemeines sind nicht losgelöst voneinander zubetrachten, doch erhielten sich bei K. gegen-über der Preisgabe des Privaten durchausdeutl. Reserven. Gleichzeitig bestand sie mit

zunehmendem Alter ausdrücklich auf derPflicht zur »Zeitgenossenschaft«.

Unpolitisch im Sinne eines idealistischenBeharrens auf der »reinen«, der Wahrheits-suche dienenden Kunst sind nur die frühen,unter den Bedingungen der Inneren Emi-gration entstandenen Arbeiten. K. begannmit zwei Romanen, Liebe beginnt (Bln. 1933.Ffm. 1984) u. dem auf Vergil zurückweisen-den Dido-Roman Elissa (Bln. 1937. Ffm.1984), beides psychologisch motivierte Lie-besgeschichten, die Probleme der Weiblich-keit, der Partnerbeziehung u. das spätereGrundmotiv von Liebe u. Tod thematisieren.Es folgten die Nacherzählungen GriechischeMythen (Hbg. 1946), das Märchen Der alteGarten (aus dem Nachl. Düsseld. 1975), einEssay über Eichendorffs Jugend (in: Florens. Ausdem Nachl. Düsseld. 1984) sowie eine Bio-grafie des Malers Gustave Courbet (Baden-Ba-den 1949. Neuausg. u. d. T. Die Wahrheit, nichtder Traum. Ffm 1978), die K. rückblickend als»Überleitung« zu einer neuen Epoche ihresSchreibens bezeichnete. Die Courbet-Studiemarkiert die Bedeutsamkeit, die Kunstbe-trachtungen im Gesamtwerk einnehmen(dazu umfassend Hahn 2001). In der Prosalösten in der Folge Erzählung u. Kurzge-schichte den Roman ab. In der Lyrik tratenfreie, ungebundene Versformen an die Stelleder an klass. Maß (v. a. dem Sonett) orien-tierten Gedichte der Kriegsjahre. Hier wiedort arbeitete K. bevorzugt mit den Mittelnder Verknappung u. Aussparung. Neun Ge-dichtbände sind zu K.’ Lebzeiten publiziertworden, die ihre geistige Entwicklung spie-geln. So stehen die nach dem Krieg entstan-denen Gedichte (Totentanz und Gedichte zurZeit. Hbg. 1947. Zukunftsmusik. Hbg. 1950)ganz unter dem Eindruck der Nullpunkt-Zeit, zeugen dabei trotz Leid u. Erschütte-rung von dem Glauben an eine humane Zu-kunft der Menschen. Der Tod des Gatten er-klärt die Dominanz von Trauer u. Schmerz inDein Schweigen – meine Stimme (Hbg. 1962). Inder späten, im Stil völlig schmucklosen, imTon oft lakon. Lyrik tritt das radikale Be-kenntnis zum Menschen als Zóon politicón, soder Titel eines Gedichtzyklus, in den Mittel-punkt.

Kaschnitz313

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 90: Kafka Killy Lexikon

In ihren Erzählungen u. Kurzgeschichtenbevorzugte K. Stoffe mit einem klar umris-senen Handlungsgerüst, einem engen zeitl.Rahmen u. einer begrenzten Zahl von Figu-ren. Häufig allerdings ist es, wie in Das dickeKind (und andere Erzählungen. Krefeld 1951)oder An irgendeinem Tag (in: Ferngespräche. Ffm.1966), nur ein einziges Ich, das sich mit sichselbst im Zwiegespräch befindet. Mit großerSelbstverständlichkeit vollziehen sich in die-sen Geschichten die Übergänge vom Alltäg-lichen zum Besonderen, vom Realen zu ei-nem geheimnisvoll Irrealen, das hinter demvordergründig Konkreten aufscheint u. dasAllgemeine wie das Individuelle einem al-lenfalls ahnungsweise angedeuteten Höherenzuordnet. Die existenziellen, manchmal auchdie religiösen Fragen des Menschseins wer-den in das alltägl. Milieu der Gegenwarthineingeholt u. an zeitgebundene Erfahrun-gen geknüpft. In den zumeist handlungsrei-chen Hörspielen bediente K. sich dagegenhäufig histor., auch bibl. oder antiker Stoffe(Jasons letzte Nacht. BR 1965. Der Zöllner Mat-thäus. HR 1956. Beide in: Hörspiele. Ffm.1962).

Zunehmend gewann die autobiogr. Prosaein eigenes Gewicht. Denn Texte u. Materia-lien der insg. 26 Tagebücher, mit Unterbre-chungen von 1936 bis 1966 geführt, gingenein u. a. in die Aufzeichnungen Engelsbrücke(Hbg. 1955). Die phantasmagor. ErzählungDas Haus der Kindheit (Hbg. 1956) arbeitet inseltsam verfremdeter Form frühe Erfahrun-gen auf. In den späten Aufzeichnungen löstesich K., wie in der Lyrik, immer stärker vonformalen Vorgaben, erschrieb sich eine eige-ne, unverwechselbare Form (Steht noch dahin.Ffm. 1970). Unverkennbar machen sich darindie Irritation, die Skepsis u. der entsprechendgeschärfte Blick eines Ichs bemerkbar, das dieWirklichkeit wie die eigene Identität zuneh-mend in Frage stellt.

Weitere Werke: Ges. Werke. Hg. ChristianBüttrich u. Norbert Miller. 7 Bde., Ffm. 1981–89.Bd. 1: Frühe Prosa. 1981. Bd. 2: Autobiogr. ProsaI.1981. Bd. 3: Autobiogr. Prosa II. 1982. Bd. 4: DieErzählungen. 1983. Bd. 5: Die Gedichte. 1985.Bd. 6: Die Hörsp.e. Die biogr. Studien. 1987. Bd. 7:Die essayist. Prosa. 1989. – Tagebücher aus denJahren 1936–1966. Hg. Christian Büttrich, Mari-

anne Büttrich u. Iris Schnebel-Kaschnitz. Mit ei-nem Nachw. v. Arnold Stadler. 2. Bde. Ffm 2000. –Daneben zahlreiche Ausw.- u. Taschenbuchausga-ben.

Literatur: Elsbet Linpinsel: K.-Bibliogr. Hbg./Düsseld. 1971. – Elsbeth Pulver: M. L. K. Mchn.1984. – Uwe Schweikert (Hg.): M. L. K. Ffm. 1984(mit Texten von M. L. K., Lebens- u. Werkchroniksowie einer Bibliogr. v. C. Büttrich im Anhang). –Petra Neumann: M. L. K. u. Bollschweil. Marbach/N. 1991. – Dagmar v. Gersdorff: M. L. K. Ffm.1992.– Helga Vetter: Ichsuche. Tagebuchprosa von M. L.K. Stgt. 1994. – Heidi Hahn: Ästhetische Erfahrungals Vergewisserung menschl. Existenz. Kunstbe-trachung im Werk von M. L. K. Würzb. 2001. – ›EinWörterbuch anlegen‹. M. L. K. zum 100. Geburts-tag. Mit einem Ess. v. Ruth Klüger. Bearb. v. Bri-gitte Raitz. Marbach/N. 2001. – ›Für eine auf-merksamere und nachdenklichere Welt‹. Beiträgezu M. L. K. Hg. Dirk Göttsche. Stgt. 2001. – Sieg-linde Klettenhammer: ›Ich habe dann immer ver-sucht, aus den alten Stoffen moderne Stücke zumachen‹. Zu den Hörsp.en v. M. L. K. In: Brenner-Archiv 20 (2001), S. 151–162. – M. L. K. Eine sen-sible Zeitgenossin. Hg. Jan Badewien u. HansgeorgSchmidt-Bergmann. Karlsr. 2002. – Carola Hilmes.Die Orte der M. L. K. Zur autobiogr. Prosa desSpätwerks. In: Sprache u. Lit. 34 (2003),S. 162–174. – Vivian Liska: Das Aktenkundige u.die Dichtung. Zu M. L. K.’ ›Zoon Politikon‹. In:Rechenschaften. Juristische u. literar. Diskurse inder Auseinandersetzung mit NS-Massenverbre-chen. Hg. Stephan Braese. Gött. 2004, S. 102–116. –Uwe Schweikert: M. L. K., ›Beschreibung einesDorfes‹ (1966). In: Meisterwerke deutschsprachigerAutorinnen im 20. Jh. Hg. Claudia Benthien. Kölnu. a. 2005, S. 201–216.

Rita Mielke / Wilhelm Kühlmann

Kaser, Norbert Conrad, * 19.4.1947 Bri-xen/Südtirol, † 21.8.1978 Bruneck/Südti-rol; Grabstätte: ebd. – Verfasser von Lyrik,Kurzprosa u. politischen Texten.

K. wuchs in ärmlich-kleinbürgerl. Verhält-nissen in Bruneck auf, besuchte dort dasGymnasium u. trat 1968 in das Kapuziner-kloster ein, das er 1969 wieder verließ. Erbegann in Wien ein Kunstgeschichtestudium,kehrte 1971 nach Südtirol zurück u. arbeitetebis 1976 als Lehrer an Bergschulen, mit Un-terbrechung durch Klinikaufenthalte wegenseiner Alkoholprobleme. 1976 wurde K.

Kaser 314

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 91: Kafka Killy Lexikon

Mitgl. der KP Italiens u. trat aus der kath.Kirche aus.

Seit 1968 erschienen in Zeitschriften u.Anthologien Texte K.s, deren Hintergrundstets die »autonome Provinz« Südtirol mitihren komplexen polit. u. kulturellen Pro-blemen bildet. Als Lyriker geht K. spontanvon der konkreten Wahrnehmung, vom per-sönl. Erlebnis aus: Orts- u. Landschaftsbe-schreibungen, Wut u. Trauer über die demTourismus preisgegebene Heimat, Jugender-innerungen, Liebe u. Religion, Einsamkeit u.das Trinken sind wiederkehrende Sujets. K.verwendet in seinen lakonisch knappen Ge-dichten sprachreflektierende Stilelementewie Kleinschreibung, eigenwillige Umlaut-u. »Und«-Stilisierung, arbeitet mit Klischeesu. Wortspielen, setzt Umgangssprache u.Mundart ein. Das satir. Element überwiegt.Von K.s Prosa sind die 1975–1977 in derZeitschrift »skolast« publizierten Porträtsv. a. Südtiroler Städte, Stadtstiche, am be-kanntesten, von seinen polit. Texten die1977–1978 in der Tageszeitung »Alto Adige«erschienenen krit. Glossen. In Südtirol war K.zu Lebzeiten wegen seines polem. Auftretensisoliert u. als literar. Begabung unerkannt.Mit der von Hans Haider herausgegebenenpostumen Textsammlung Eingeklemmt (Inns-br. 1979), der ersten Buchveröffentlichung,setzte ein überregionales Interesse an K. ein.Heute ist er Identifikationsfigur für die jün-geren krit. Südtiroler Autoren.

Weitere Werke: Kalt in mir. Hg. Hans Haider.Wien 1981 (Briefe). – jetzt mueßte der kirschbaumbluehen. Hg. u. mit einem Nachw. v. H. Haider.Zürich 1983 (Ausw.). – verrueckt will ich werdensein & bleiben. Bln. 1986 (Ausw.). – K. (1947–78).Lesungen u. Vertonungen. Brenner-Archiv Innsbr.1987 (Tonkassette). – Ges. Werke. Bd. 1: Gedichte.Bd. 2: Prosa. Bd. 3: Briefe. Innsbr. 1988–91. – Lo-kalteil für Maria-Theres. Nachw. H. Haider. Wien1989. – Es bockt mein Herz. Überlebenstexte. Hg.Christian Pixis. Lpz. 1993.– Das K.-Lesebuch. EineAusw. aus Lyrtik, Prosa u. Briefen v. N. C. K. Hg.Hans Haider. Innsbr. 1993. – Birnbäume (zus. mitLinda Wolfsgruber). Bozen 1993. – Herrgottswin-kel. Mchn. 2005 (L.). – Elementar. Ein Leben inTexten u. Briefen. Hg. Raoul Schrott. Innsbr. 2007.

Literatur: Sigurd Paul Scheichl: n. c. k.(1947–78) [.. .]. In: ÖGL, H. 5 (1981), S. 288–304. –Benedikt Sauer: Bibliogr.: N. C. K. In: sturzflüge 8

(1984), S. 56–63. – Margareth Kaufmann: K. EinLeben in Texten. Diss. Salzb. 1988. – Josef Haslin-ger: Einer, der auszog, den Tiroler Adler zu rupfen.Zu Leben u. Werk v. N. C. K. (1947–1978). In: Ders.:Wozu brauchen wir Atlantis. Wien 1990, S. 93–104.– Neuburger K.-Symposium 1991. Mit unbekann-ten Briefen v. N. C. K. Hg. Eberhard Sauermann u.Rolf Selbmann. Innsbr. 1993. – Christine Riccabo-na: Vom Mythos des Autors als Weltverbesserer. N.C. K. u. Nicolas Born. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 15 (1996), S. 44–60. – B. Sauer: N. C. K. EineBiogr. Innsbr. 1997. – Bettina Rabelhofer: ›es bocktmein herz‹. Zur Organsprache N. C. K.s. In:Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer (Hg.):Durch aubenteuer muess man wagen vil. Innsbr.1997, S. 363–374. – Fausto Cercignani (Hg.): Studiaaustriaca 8 (2000). – B. Sauer: ›ich verfasse briefe diesich blicken lassen koennen.‹ Zum Briefwerk v. n. c.k. In: Werner M. Bauer (Hg.): ›Ich an Dich‹. Innsbr.2001, S. 265–278. – Georg Kierdorf-Traut: N. C. K.– Ernst Jandl. Eine Verwandtschaft. In: Der Schlern75 (2001) S. 324–327. – S. P. Scheichl: Übers.en alsFingerübungen – und wie man sie edieren sollte.Am Beispiel N .C. K.s. In: Bodo Plachta u. WinfriedWoesler (Hg.): Edition u. Übers. Tüb. 2002,S. 195–205. Ursula Weyrer / Red.

Kassner, Rudolf, * 11.9.1873 Groß-Pawlowitz/Mähren, † 1.4.1959 Sierre/Wallis. – Essayist, Kulturphilosoph,Übersetzer.

Das siebte von zehn Kindern eines Guts- u.Fabrikbesitzers, seit frühester Kindheit ge-lähmt, deutschsprachig in böhm. Umgebungauf dem Land aufgewachsen, studierte inWien u. Berlin Geschichte, Philosophie u.Nationalökonomie u. promovierte 1896 inWien (Der ewige Jude in der Dichtung; das ein-zige handschriftl. Exemplar der Dissertationist verschollen). Bereits mit seinem ErstlingDie Mystik, die Künstler und das Leben (Lpz.1900. Überarb. u. d. T. Englische Dichter. 1920),einem Essaybuch über die romant. Sprach- u.Bildkultur Englands bis zu den Präraphaeli-ten, fand K. Aufmerksamkeit in den Künst-lerkreisen des Fin de siècle. Er provoziertemit der These von der Gestaltlosigkeit dermodernen dt. Bildung, für die ihm die Ver-massung großstädt. Kultur u. die Popularitätder Musik (Wagner) bezeichnend waren. K.stellte dem die Hygiene der Fantasie engl.Dichter gegenüber, deren magische Begeg-

Kassner315

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 92: Kafka Killy Lexikon

nung mit dem MA zur Wiedergeburt sym-bolischer Formen führte. Zum angesehenenPhilosophen für die Künstler seiner Zeitwurde K., indem er deren Thema zu seinemeigenen machte: Wie nämlich die myth.Mächte des Irrationalen zur Sprache kommenkönnten, ohne die menschl. Freiheit durchihre Gewalt zu zerstören.

Zwischen London, Paris, Wien u. Berlinunterwegs, wohnte K. seit 1900 bis zumAusbruch des Ersten Weltkriegs in München,schloss Freundschaft mit Eduard Graf vonKeyserling u. lernte Wedekind u. die BohemeMünchens kennen, Houston Stewart Cham-berlain (von dem er sich später abwandte) u.Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau. MitHofmannsthal war er seit 1902, mit Rilke seit1907 freundschaftlich verbunden. Rilke, derihm die 8. Duineser Elegie widmete, u. Hof-mannsthal hielten K. zeitweise für den ver-ständigsten Deuter der Gegenwart. In denDialogen Melancholia. Eine Trilogie des Geistes(Bln. 1908. Erlenbach-Zürich 31953), dessenStück Der Doppelgänger Rilke bes. liebte, um-kreist K.s Denken erstmals die Einbildungs-kraft, von nun an ein immer wieder bedachtesThema. In dem Band Von den Elementen dermenschlichen Größe (Lpz. 1911) entwirft er einePhilosophie der Umkehr, in deren Mittel-punkt die künstlerische Einbildungskraft alsBedingung existenzieller Freiheit steht. Phi-losophische Paten sind Platon, dessen Gast-mahl, Phaidros u. Phaidon K. neu übertrug (Jena1908), u. Kierkegaard, den er seiner Genera-tion nahebrachte.

Zwischen 1908 u. 1938 – in K.s Selbstver-ständnis der zweiten von drei Epochen seinerschriftstellerischen Arbeit – entwarf er seinphysiognom. Weltbild, das die Energiengeistigen Lebens in ihrem Einwirken auf diematerielle Welt in einer Ordnung – stattSystematik – von »Gesichtern« zu erfassensuchte (Zahl und Gesicht. Lpz. 1919. Wiesb.31956. Neudr. mit einem Nachw. v. ErnstZinn. Ffm. 1979). Auf die 1919 gestellte Frage»Wie ist das menschliche Gesicht zugleichCentrum und Peripherie jener unendlichenFormensprache, die uns die Natur bietet?«antworteten Die Grundlagen der Physiognomik(Lpz. 1922), Das physiognomische Weltbild(Mchn. 1930) u. die Physiognomik (Mchn.

1932): philosophische Abhandlungen, phy-siognom. Erinnerungen an Zeitgenossen u.Prosavignetten über Gesichter aus Geschichteu. Gegenwart. Für die universalen Dimen-sionen seines physiognom. Weltbilds, aufdessen antipsycholog. Richtung (mit strikterAblehnung z.B. der Psychoanalyse) K. großenWert legte, war Einsteins Abhandlung Überdie spezielle und allgemeine Relativitätstheorie(1917) von Bedeutung, wie in Anschauung undBeobachtung. Zur vierten Dimension (Bln. 1938.Umgearb. u. d. T. Die Geburt Christi. Zürich1951) erkennbar ist, zgl. Abschluss dieserProduktionsphase. In der dritten u. letztenPeriode seines Schaffens lebte K. zurückge-zogen von den polit. Zeitereignissen, veröf-fentlichte gelegentlich Aufsätze in der »Eu-ropäischen Revue«, schrieb im Übrigen aberan seinen autobiogr. Büchern Das Buch derErinnerung (Lpz. 1938), Zweite Fahrt (Lpz.1946) u. Umgang der Jahre (Lpz. 1949). DieAuseinandersetzung mit seiner Zeit ist indiesen späten Schriften kritisch-distanziert,entbehrt jedoch einer eindeutigen politisch-ideolog. Ausrichtung. Da K. sich einer zu-nehmend magisch-krypt. Sprache bedient, istdas Spätwerk z.T. schwer zugänglich. 1945zog K. nach Sierre, wo er bis zu seinem Todlebte.

Im Mittelpunkt von K.s Denken, das inseiner Hauptschrift Zahl und Gesicht am bün-digsten formuliert ist, steht die Kritik derRomantik, stellvertretend für die Moderne.Ihr hält er vor, das Absolute u. Indefinitedurch Vorstellung u. Begriff des Unendlichenersetzt u. damit der Gestalt- u. Maßlosigkeitder Gegenwart Vorschub geleistet zu haben.Das unendl. metaphorisierende Spiegelver-hältnis von Leib u. Seele ersetzte er durch das»Drama der Gestalt zwischen Innen und Au-ßen«, also durch eine innere Unendlichkeitvon bewegl. Beziehungen, die an der absolu-ten Grenze des Nicht-Seins ihren Horizontfinden. Mystik u. Mathematik gehen für ihnein Bündnis mit Platons Ideenlehre ein, umdie Umkehr aus der Welt tautolog. Denkenszu lehren.

K.s zuerst vorwiegend ästhetisches, dannphilosophisches, später religiöses Denkenwar in allen Stadien einflussreich auf Künst-ler u. Intellektuelle des 20. Jh., denen es eine

Kassner 316

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 93: Kafka Killy Lexikon

Wahrnehmungswelt jenseits der populärenpolit. Ideologien erschloss. Das gilt nicht nurfür die Freunde Hofmannsthal u. Rilke, KarlWolfskehl, Max Picard u. Erich von Kahler; esbetrifft auch einen weiteren Wirkungskreis,der Walter Benjamin u. Dolf Sternberger, denfrühen Georg Lukács u. Georg Simmel ein-schließt. Zu K.s Einfluss trug sein Gebrauchunsystemat. Darstellungsformen wie desDialogs, der philosophischen Erzählung, derProsaskizze, des Aphorismus u. der Allegoriebei, die der Abneigung nach 1900 gegen dieSchulphilosophie Rechnung trugen. Auchwenn der Name K.s in der breiteren Öffent-lichkeit heute kaum bekannt ist, ist die For-schung zu seinem Werk in den letzten Jahrenrecht rege; im Mittelpunkt von neueren Un-tersuchungen steht oftmals seine Beziehungzu Rilke u. Hofmannsthal, in jüngerer Zeitaber auch das essayistische Werk.

K. erhielt u. a. den Gottfried-Keller-Preis(1949) u. den Großen ÖsterreichischenStaatspreis für Literatur (1953).

Ausgaben: Sämtl. Werke in zehn Bdn. Hg. ErnstZinn u. Klaus E. Bohnenkamp. Pfullingen 1969–91(ohne Übers.en u. Briefe). – Freunde im Gespräch.Briefe u. Dokumente. Rainer Maria Rilke u. R. K.Hg. K. E. Bohnenkamp. Ffm. u. a. 1997.

Literatur: Hans Paeschke: R. K. Pfullingen1963. – Steve Rizza: R. K. u. Hugo v. Hofmanns-thal: Criticism as Art. Ffm. u. a. 1997 (Diss. Univ. ofEdinburgh 1995). – Gerhard Neumann u. UlrichOtt (Hg.): R. K. Physiognomik als Wissensform.Freib. i. Br. 1999. – Daniel Hoffmann: ›Nein, nein,das soll nur nichts sein.‹ R. K.s geistiger Widerstandgegen das 20. Jh. In: Dt. Autoren des Ostens alsGegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Hg.Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 151–177. –Sl/ awomir Lesniak: Thomas Mann, Max Rychner,Hugo v. Hofmannsthal u. R. K. Eine Typologie es-sayist. Formen. Würzb. 2005.

Gert Mattenklott / Red.

Kast, Peter, eigentl.: Carl Preißner, * 1.8.1894 Elberfeld (heute zu Wuppertal),† 23.5.1959 Berlin/DDR. – Verfasser vonRomanen, Erzählungen u. Reportagen.

K., aus einer Arbeiterfamilie stammend,machte eine Lehre als Kunstschlosser. AlsMatrose der kaiserl. Flotte wurde er gegenKriegsende wegen »Insubordination« zu drei

Monaten Haft verurteilt. Er wurde Mitgl. desSpartakusbundes u. war als Delegierter imArbeiter- u. Soldatenrat von Emden tätig. Indie KPD trat er nach deren Gründungspar-teitag ein.

Seinen ersten literar. Erfolg erzielte K.1928: Während der Reise zur ersten Interna-tionalen Spartakiade in Moskau verfasste erReiseskizzen, die in der »Roten Fahne« ver-öffentlicht wurden. Daraufhin wurde K. Re-daktionsmitgl. des Blatts. Ende 1932 flüch-tete er nach Prag, 1935 weiter nach Moskau.Ab 1936 kämpfte er bei den InternationalenBrigaden in Spanien. Nach der Internierungin Frankreich (1939–1941) gelang ihm dieFlucht in die Schweiz. 1946 nach Berlin zu-rückgekehrt, war K. in der Kulturredaktiondes »Vorwärts« tätig. Seit 1951 lebte er alsfreier Schriftsteller in Ost-Berlin.

Charakteristisch für K.s Werk ist die starkeautobiogr. Ausrichtung; so beschreibt K. inseinem Hauptwerk, dem Roman Das Geschenk(Bln./DDR 1954), spannend die selbst erlebteFlucht eines Spanienkämpfers aus dem vonden Nationalsozialisten besetzten Frankreichin die Schweiz. K., der auch als Berater u. Co-Autor der Jugendserie Das neue Abenteuerhervortrat, genoss in der DDR den Ruf eineserstrangigen Agitators u. Propagandisten. –1958 erhielt er die Erich-Weinert-Medaillefür sein Gesamtwerk, insbes. für die Schaf-fung einer neuen »sozialistischen Abenteu-erliteratur«.

Weitere Werke: Kampf an der Grenze. Moskau1937 (E.). – Der Birnbaum. Ebd. 1939. Bln./SBZ1948 (E.). – Irgendwo an der Grenze. Ebd. 1948 (E.).– Der Millionenschatz vom Müggelsee. Bln./DDR1951 (R.). – Die Nacht im Grenzwald. Ebd. 1952(E.). – Die entscheidende Nacht. Ebd. 1954 (E.). –Zwanzig Gewehre. Ebd. 1958 (E.en). – Erlebnisseauf weiter Fahrt. Ebd. 1963. – Herausgeber: ErichWeinert: Camaradas. Ein Spanienbuch. Ebd. 1956.

Literatur: Reinhard Hillich: P. K. In: SimoneBarck u. a. (Hg.): Lexikon sozialist. Lit. Ihre Gesch.in Dtschld. bis 1945. Stgt. 1994, S. 241 f. – DirkKrüger: P. K. Schriftsteller, Journalist, Wider-standskämpfer. In: Gesch. im Wuppertal 11 (2002),S. 79–91. Helmut Blazek / Red.

Kast317

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 94: Kafka Killy Lexikon

Kastein Josef, eigentl.: Julius Katzenstein,* 6.10.1890 Bremen, † 13.6.1946 Haifa;Grabstätte: Atlit bei Haifa, Khayat Beach.– Romancier, Erzähler, Lyriker, Histori-ker, Essayist.

K., Sohn eines jüd. Kaufmanns, wurde Jurist,promovierte 1917 in Greifswald zum Dr. jur.u. praktizierte in den folgenden Jahren inBremen als Rechtsanwalt. 1927 ließ er sich inAscona-Moscia als freier Schriftsteller nieder.1935 übersiedelte er als »Heimkehrer« nachPalästina.

K.s geistige Entwicklung war früh geprägtvon intensiven Auseinandersetzungen mitder Problematik jüd. Existenz. Die Begeg-nung mit den Ideen des Zionismus u. seineTeilnahme an der ersten Wanderfahrt jüd.Studenten nach Palästina wurden für ihn zuSchlüsselerlebnissen. Er veröffentlichte zu-nächst einen Gedichtband (Logos und Pan. Bln./Wien 1918), belletristische Novellen (DieBrücke. Bln. 1922) u. Romane (Melchior. Bre-men 1927. 1997. Pik Adam. Bln. 1927), gele-gentlich jedoch auch Studien mit jüd. The-matik. – Ab 1930 wandte K. sich ausschließ-lich großen Themen der jüd. Geschichte zu:der messian. Sehnsucht, dem Marranentumu. der Heimatlosigkeit. Mit großangelegtenMonografien (Sabbatai Zewi. Bln. 1930. Urielda Costa. Bln. 1932. Süßkind von Trimberg. Je-rusalem 1934) gelang es ihm, sich in wenigenJahren als jüd. Schriftsteller von Rang zuprofilieren. Eine Geschichte der Juden (Bln. 1931)wurde ein internat. Erfolg. K. unternahmauch ausgedehnte Vortragsreisen durch Mit-tel- u. Südosteuropa u. setzte sich als über-zeugter Zionist nachdrücklich für eine jüd.Neuorientierung ein. Er schrieb auch in he-bräischer Sprache. – Im nationalsozialisti-schen Deutschland waren K.s Bücher verbo-ten. Mit seinem Wirken leistete K. einenwichtigen Beitrag zum Selbstverständnis derJuden auf dem Weg zu einem autonomenStaat.

Weitere Werke: Joodsche Problemen in hetHeden. Arnhem 1933. – Juden in Dtschld. Wien1935. – Herodes. Wien 1936 (Monogr.). – Jerusa-lem. Gesch. eines Landes. Wien 1937. – Jeremias.Wien 1938 (Monogr.). – Eine palästinens. Novelle.Haifa 1942. – Wege u. Irrwege. Drei Ess.s zur Kul-

tur der Gegenwart. Tel Aviv 1946. – Que es un ju-dío. Caracas 1949. – Was es heißt, Jude zu sein. EineKindheit in Bremen. Hg. Jürgen Dierking u. Jo-hann-Günther König. Bremen 2004.

Literatur: Alfred Dreyer: J. K. (1890–1946). In:Bremisches Jb. (1980). – LBI Bulletin 60 (1981), 66(1983), 71 (1985). – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Johann-Günther König: Melchior. Ein hanseat. Kauf-mannsroman v. J. K. In: Thomas Elsmann (Hg.):Kaufmann & Contor in der deutschsprachigenProsa seit 1750. Bremen 2006, S. 47–61.

Alfred Dreyer / Red.

Kater, Fritz, eigentl. Armin Petras, * 17.3.1964 Meschede/Ruhr. – Theaterautor,Regisseur, Intendant.

K. wuchs in Ostberlin auf, wohin seine Fa-milie 1969 übergesiedelt war, u. studiertedort Regie an der Hochschule für Schau-spielkunst Ernst Busch. 1988 ging er in denWesten u. inszenierte an west- u. ostdt. Büh-nen. 1999 wurde er Schauspieldirektor inKassel, 2002 fester Regisseur in Frankfurt,2006 Intendant des Gorki Theaters Berlin.

Unter dem Pseudonym Fritz K. schreibt erseit Anfang der neunziger Jahre Stücke. Essind verschachtelte Werke, versetzt mit Zita-ten aus Popkultur u. Werbung, Film u. Lite-ratur. Seine frühen Dramen sind nicht ge-schlossen, sondern eher heterogenes Spiel-material. Sie behandeln meistens die letztenJahre der DDR u. die Zeit der Wiedervereini-gung, stellen beispielhaft ostdt. Lebensläufevor, oft als endlose monologisierende Versu-che, sich einen neuen Platz in der Welt zuschaffen, was meist misslingt, wie in Ejakulataus Stacheldraht II (Urauff. Frankf./O. 1994).keiner weiß mehr 2 oder martin kippenberger istnicht tot (Urauff. Nordhausen 1998) erzähltvon Alt-68ern, die sich noch einmal auf dieSuche nach den alten Idealen machen, Vineta(oderwassersucht) (Urauff. Lpz./Magdeb. 2001)von einem Boxer, der, enttäuscht vom Wes-ten, in seine alte Heimat zurückkehrt. Ab Vi-neta wird K.s dramat. Form geschlossener u.stringenter, die Sprache knapper. In zeit zulieben zeit zu sterben (Urauff. Hbg. 2002) ist dasStück dreigeteilt: Im ersten, chorischen Teilerzählen DDR-Jugendliche von ihren Sehn-süchten u. Ängsten, im zweiten, dialogischenTeil berichtet eine Familie in Ungarn Ende

Kastein 318

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 95: Kafka Killy Lexikon

der 1980er Jahre von ihrem Leben, u. imletzten Prosateil beschreibt K. eine Paarbe-ziehung im Westen. Für dieses Stück erhieltK. den Mülheimer Dramatikerpreis; 2002wurde er als »Dramatiker des Jahres« geehrtu. 2008 mit dem Else Lasker-Schüler-Preisausgezeichnet.

Weitere Werke: Krieg, böse III (Sarajevo).Urauff. Frankf./O. 1994. – Bloß weil dich irgend eintyp mit sperma bedeckte u. dich dann zurückwiesoder meine kleine wolokolamsker chaussee 6.Urauff. Nordhausen 1996. – Nietzsche in Amerika.Urauff. Hbg. 2002. – Sterne über Mansfeld. Urauff.Lpz. 2003. – WE ARE CAMERA / jasonmaterial.Urauff. Hbg. 2003. – Mach die Augen zu u. fliegeoder Krieg böse 5. Urauff. Bln. 2004. – (Unter demNamen Armin Petras:) Alkestis. mon Amour.Urauff. Lpz. 2004. – 3 von 5 Millionen. Urauff. Bln.2005. – Abalon, one nite in Bangkok. Urauff. Ffm.2006. – (Unter dem Namen Armin Petras:) MalaZementbaum (zus. mit Thomas Lawinky). Urauff.Bln. 2007. – Heaven (zu Tristan). Urauff. Ffm.2007. Georg Patzer

Katharina von Alexandrien. – Mittel-alterliche Legenden.

K. war die nach Maria am stärksten verehrteHeilige des späten MA; sie gehörte mit Bar-bara, Dorothea u. Margareta zu den vierHauptjungfrauen sowie zu den 14 Nothel-fern. Ihre Legende folgt dem Muster derfrühchristl. Jungfrauen-Passion, legt aber ei-nen Schwerpunkt auf die gelehrte Bildungder Heiligen, was sie zur Patronin der Wis-senschaften u. Hochschulen machte. Die Pas-sio als Grundgerüst der Legende beschreibt K.als Tochter des ägypt. Königs Costus, die sichder von Kaiser Maxentius (306–312) gefor-derten Götzenanbetung widersetzt. Der er-zürnte Kaiser veranlasst eine Disputationzwischen K. u. 50 heidn. Gelehrten, in der sieeindeutig siegt u. ihre Gegner zum Chris-tentum bekehrt, worauf Maxentius diese tö-ten lässt. Als K. gerädert werden soll, zer-bricht das Rad durch die Hilfe Gottes. InGefangenschaft bekehrt K. die Kaiserin sowieden Tribun Porphyrius u. sein Heer, die al-lesamt den Märtyrertod sterben. Schließlichwird K. enthauptet, aus ihren Wunden fließtMilch statt Blut, u. Engel bringen denLeichnam auf den Berg Sinai, wo später Jus-

tinian I. das berühmte Katharinenklostergründet.

Da K. nicht historisch belegt ist u. ihr Kulterst Jahrhunderte nach den in der Legendeerzählten Ereignissen einsetzt, hat man ver-mutet, dass die Idealheilige frei erfunden u.mit zahlreichen hagiografischen Topoi eineexemplarische Legende konstruiert wurde.Die reiche lat. Tradition geht auf eine griech.Urfassung aus dem 6./7. Jh. zurück u. gelangtim 8./9. Jh. in den Westen. Die einfluss-reichste lat. Fassung u. Quelle weiterer Bear-beitungen, die sog. Vulgata, lässt sich mit ih-ren verschiedenen Redaktionen seit dem11. Jh. nachweisen. Den Legendenstoff aus-schmückend, entstanden weitere Texte, soetwa die Conversio, eine Vorgeschichte, die vonK.s Bekehrung durch einen Einsiedler u. ihrermyst. Vermählung mit Christus, der derSchlafenden einen Ring ansteckt, berichtet.Noch früher setzt eine Erzählung von derwunderbaren Geburt K.s an, in der der As-trologe Alphoncius ihre Begnadung voraus-sagt. Zahlreiche Berichte über K.s postumesWunderwirken, die Miracula, wurden derPassio angehängt.

Frühe Impulse des Kults kommen vonSüditalien nach Deutschland; über das Bene-diktinerkloster St-Trinité in Rouen, dessenKatharinenreliquien ab 1084 bezeugt sind, istauch mit frz. Einflüssen zu rechnen. K.sVerehrung im dt. Sprachraum, vor allem inWestfalen u. Süddeutschland, spiegelt sich inder Vielzahl volkssprachl. Legenden, die seitdem 13. Jh. begegnen: Über 20 Vers- u.Prosaversionen sind im Rahmen von Legen-daren, wo K. nie fehlen durfte, erhalten;darüber hinaus gibt es zahlreiche unabhän-gige Versionen. Das mitteldt. Passional (spätes13. Jh.) bietet die älteste überlieferte Fassung.Sie ist direkt von der Legenda aurea abhängigu. beginnt die K.-Legende mit einer Baum-Allegorie, gefolgt von einer Geschichte derChristenverfolgung unter Maxentius. DieLegende mit Mirakelanhang gehört zu denlängsten des Legendars u. bildet oftmals denAbschluss der Sammlung. Eine weitere mit-teldt., allerdings nur fragmentarisch erhal-tene Version des 14. Jh. enthielt urspr. min-destens 3500 Verse u. wurde von einemGeistlichen für die nichtlateinkundigen

Katharina von Alexandrien319

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 96: Kafka Killy Lexikon

»ungelêrten lûte« verfasst. Im predigtartigenProlog geht der Verfasser auf die sündhafteMenschheit ein, die durch die Heiligen Hilfeerfährt. Die Legende löst sich gelegentlichvon der lat. Vorlage u. bietet recht originelleZüge. Die übrigen, z.T. nur fragmentarischüberlieferten Versversionen bieten kaummehr als Nacherzählungen der lat. Vorlage.

Dieser Befund trifft umso mehr für dieProsaversionen zu, die sich als Übersetzun-gen enger an der lat. Quelle orientieren. Diewohl populärste dt. K.-Legende des MA wardie umfangreiche Version des im NürnbergerDominikanerkloster entstandenen Großle-gendars Der Heiligen Leben. In seiner urspr.Form bietet der Text eine Jugendgeschichte,die Passion u. 27 postume Mirakel; in einerspäteren Redaktion wird eine ausführlichereJugendgeschichte an die Stelle der älterengesetzt. Sie stammt von einem nicht näher zuidentifizierenden franziskan. Meister Andre-as, der die Geschichte aus zwei »puecherender haydenischen maister« u. anderen Quel-len zusammengestellt haben soll. Die um-fangreichste dt. K.-Legende ist jedoch eineum 1450 entstandene Kompilation aus derVersion des Heiligen Lebens u. einer weiterenFassung, die zudem aus lat. Legendenschöpft. Als Entstehungsort hat man das Ka-tharinenkloster in Nürnberg vermutet, wassich gut zum ausgeprägten Nürnberger K.-Kult fügt, dem noch Hans Sachs 1518 miteinem gereimten K.-Mirakel Rechnung trägt.Oft wird die Legende zusammen mit anderenTextsorten wie Lobreden oder Gebetenüberliefert, insbes. der Mirakelteil erfährteine narrative Anreicherung auch aus mündl.Traditionen, u. im 14. Jh. erschließt sich derKult mit dem K.-Spiel auch die dramat. Gat-tung. Eine wohl im Südwesten entstandeneFassung bietet sogar Berichte über das Lebender Sinai-Mönche. Die stofflich interessan-teste Version ist aber eine in zwei fränk.Handschriften überlieferte Legende, die dasK.-Leben in die röm. Reichsgeschichte ein-bettet u. K.s Vater sogar von Konstantinusabstammen lässt. Nach K.s Tod nimmt derVater selbst Rache an Maxentius u. fördertdas Christentum im ganzen Reich. Diese be-merkenswerte, in 24 Kapitel gegliederte Fas-sung ist eine Übersetzung der fantasievollen

Nova legenda eines nicht näher zu identifizie-renden Frater Petrus. Neben den Legendarenwar dies die einzige dt. K.-Legende, die ge-druckt wurde (J. Grüninger, Straßburg,1500).

Ausgaben der einzelnen Fassungen sind ge-nannt bei Peter Assion: K. v. A. In: VL u. VL(Nachträge u. Korrekturen). – Vgl. ergänzend: Si-bylle Jefferis: Ein spätmittelalterl. Katharinenspielaus dem Cod. Ger. 4 der University of Pennsylvania.Göpp. 2007, S. 349ff.

Literatur: Heinrich Bobbe: Mhd. K.-Legendenin Reimen. Eine Quellenuntersuchung. Bln. 1922. –P. Assion: Die Mirakel der Hl. K. v. A. Diss. Heidelb.1969. – Werner Williams-Krapp: Die dt. u. nieder-länd. Legendare des MA. Tüb. 1986. – AnnegretHelen Hilligus: Die Katharinenlegende v. Cle-mence de Barking. Eine anglo-normann. Fassungaus dem 12. Jh. Tüb. 1996. – Jacqueline Jenkins u.Katherine J. Lewis (Hg.): St Katherine of Alexan-dria. Texts and Contexts in Western MedievalEurope. Turnhout 2003. – Zur Stoffrezeption: StefanTilg: Die Hl. Katharina v. Alexandria auf der Jesu-itenbühne. Drei Innsbrucker Dramen aus den Jah-ren 1576, 1577 u. 1606. Tüb. 2005.

Werner Williams-Krapp / Sandra Linden

Katscher, Hedwig, geb. Walter, auch: VeraWander, Hella Kastner, Wanda Hoff,Hedwig Krabner, * 25.4.1898 Wien,† 2.10.1988 London. – Lyrikerin.

K., Kaufmannstochter aus jüd. Familie, stu-dierte in Wien Physik u. Mathematik. Nachihrer Promotion arbeitete sie als Archivleite-rin in einem bibliografischen Institut, an-schließend im Generalsekretariat eines In-dustrieunternehmens. In der Zeit der Ar-beitslosigkeit (1930) ging sie mit ihremMann, einem Chemiker, nach Moskau u.1934 nach Sizilien. 1938 emigrierte sie nachEngland. 1953 kehrte sie nach Wien zurück u.arbeitete bis etwa 1978 wieder im Archiv.

K., die unter dem Eindruck von Hof-mannsthal u. Rilke zu schreiben begann,veröffentlichte – geprägt von ihren Erfah-rungen der Emigration u. des Holocausts –1964 einen ersten schmalen Band, Flutum-dunkelt. 1969 erschien Zwischen Herzschlag undStaub u. 1977 Steinzeit (alle: Wien). Unter an-derem in »Neues Österreich« u. »Literaturund Kritik« vertreten, blieb sie zeitlebens

Katscher 320

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 97: Kafka Killy Lexikon

eine Außenseiterin des Literaturbetriebs. DasEntzücken über »Farbenflor und Vogelruf«sei, wie sie betonte, untrennbar verbundenmit bleierner Angst vor den »Vernichtungs-automaten«. K.s Losung lautete, alles Über-flüssige müsse aus dem Gedicht weichen, eshabe letztlich so herb u. knapp dazustehenwie der Tod: »Ein Traumfragment / das Le-ben. / Der Tod / ein Bruchstück Wahrheit«(Der Befund. In: Versteckenspiel. Baden bei Wien1982).

Weiteres Werk: Kosmosrose. Baden bei Wien1987.

Literatur: Hans Heinz Hahnl: Gedichte gegendas Geschwätz der Welt. In: Arbeiter-Ztg.,11.7.1973. – Albert Janetschek: Über ›Verstecken-spiel‹. In: Podium 51 (1984). – Gottfried W. Stix:Geheimnis der Zeit. In: Die Furche 36, 4.9.1987. –Hans Raimund: H. K. (1898–1988). In: LuK 33(1998), H. 325/326, S. 103–108. – LöE. – HansRaimund: ›Mit allem bin ich eines‹. Über H. K. In:Ders.: Das Raue in mir. St. Pölten 2001, S. 307–318.

Gerhard Jaschke / Red.

Katz, Henry William, eigentl. : Herz WolffK., * 31.12.1906 Rudky/Galizien, † 6.6.1992 Deerfield Beach/Florida (USA). –Romanautor.

Mit sieben Jahren flüchtete K. mit seinen jüd.Eltern aus der k. k. Monarchie nachDeutschland. Seine Kindheit verbrachte er inThüringen. 1932 kam er als Reporter u. Re-dakteur zur liberalen Wochenzeitung »Weltam Montag« nach Berlin. Am 17.5.1933, eineWoche nach der Bücherverbrennung, ging K.als Jude u. demokratischer Journalist nachLyon ins Exil, wo er unter sehr schwierigenBedingungen zu schreiben begann. 1937 zoger nach Paris. Anonym reichte er das Manu-skript des Romans Die Fischmanns (Amsterd.1938. Ffm. 1985. Mchn. 2000) zu einemWettbewerb des exilierten Schutzverbandesdt. Schriftsteller ein u. erhielt von der Jury,der u. a. Heinrich Mann u. Anna Seghers an-gehörten, den Heinrich-Heine-Preis zuge-sprochen.

Der Roman ist eine locker geknüpfte Folgevon Geschichten, die sich um die Familie desErzählers Jakob Fischmann drehen. Unsenti-mental u. voller Vitalität erzählt K. vomSchicksal dreier Generationen aus Galizien,

einer vergangenen Welt verschrobener Habs-burgertreue, u. von seinen Kindheitserinne-rungen an die leidvolle Existenz der Ostjudenkurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs inder österreichisch-ungarischen Monarchie.Der zweite Teil der Fischmann-Saga erschien,obwohl dt. geschrieben, zunächst als engl.Übersetzung: Schloßgasse 21 (New York 1940.Dt. Ffm. 1986. Mchn. 2000). Er ist die Fort-setzung der Geschichte von Jossel u. JakobFischmann in einer dt. Kleinstadt zwischen1917 u. 1933. Aus der Familiengeschichtewird ein Zeitbild: Gerade als die materielleExistenz der Fischmanns gesichert zu seinscheint, bereitet die nationalsozialistischeJudenhetze allen Hoffnungen ein Ende.

K. gelangte 1940 über Marseille u. Lissabonnach New York, wo er als Fabrikarbeiter be-gann u. zum Direktor aufstieg. Über dieseZeit schrieb er seine (unveröffentl.) Memoirenin dt. Sprache.

Literatur: Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter binich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Auto-ren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 135–139. – Ena Pe-dersen: Writer on the run. German-Jewish Identityand the Experience of Exile in the Life and Work ofH. W. K. Tüb. 2001. – Robert G. Weigel (Hg.): Viergroße galiz. Erzähler im Exil. W. H. K., SomaMorgenstern, Manès Sperber u. Joseph Roth. Ffm.u. a. 2005. Klaus Hensel / Red.

Katz, Leo, auch: Joel Ames, Franz Wich,Leo Weiss, Maus, * 22.1.1892 Unter-Synoutz/Bukowina, † 9.8.1954 Wien. –Journalist, Verlagsmitarbeiter, Kinder-buchautor u. Romancier.

Nach dem Besuch des Gymnasiums studierteK., Sohn eines Holzhändlers, in Wien Ge-schichte u. Philosophie (1920 Dr. phil.). 1919trat er in die KPÖ ein. Nach dreijährigemUSA-Aufenthalt lebte er ab 1925 als Journa-list u. freier Mitarbeiter sowjetischer Zeit-schriften u. Zeitungen wieder in Wien. 1930siedelte er nach Berlin über, trat im selbenJahr in die KPD ein u. wurde fester Mitar-beiter der »Roten Fahne«. 1933 emigrierte ernach Paris u. arbeitete 1936–1938 als Waf-feneinkäufer der span. republikan. Regie-rung. Aufgrund dieser Tätigkeit von den frz.Behörden des Landes verwiesen, lebte er ab

Katz321

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 98: Kafka Killy Lexikon

1940 im Exil in Mexiko, wo er wesentl. Anteilam Aufbau der antifaschistischen Mexiko-emigration u. der dt. KPD-Parteigruppe hat-te, deren Vorstand er bis 1942 angehörte. K.war zudem Mitbegründer u. Mitarbeiter der1942 in Mexiko gegründeten Zeitschrift»Freies Deutschland« sowie des im selbenJahr entstandenen Exilverlags El Libro Libre.1949 kehrte K. nach Österreich zurück, wo erbis zu seinem Tod in Wien lebte.

K.’ erstes u. bedeutendstes literar. Werk istder 1944 im El Libro Libre Verlag erschieneneRoman Totenjäger (Aachen 2005), in dem er diehistor. Situation Europas in den Jahren 1941/42 sowie die Verwüstungen der Nationalso-zialisten in der Bukowina u. das Schicksal derdort lebenden Juden darstellt. Nach demKrieg wieder in Europa, schrieb er zunächstdie beiden Kinderbücher Die Grenzbuben (Bln.1951) u. Tamar. Erlebnisse aus den Tagen desSpartacus-Aufstandes (Bln. 1952), danach diehistor. Romane Die Welt des Columbus (Bln.1954) u. Der Schmied von Galiläa (Bln. 1955).

Weiteres Werk: Brennende Dörfer. Wien 1993.Aachen 2006 (R.).

Literatur: Wolfgang Kießling: Alemania Librein Mexiko. Bln./DDR 1974. – Ders.: Exil in La-teinamerika. Ffm. 1981, S. 195 ff. – Ders.: L. K. EinKommunist im Zwiespalt. In: Annette Leo (Hg.):Helden, Täter u. Verräter. Bln. 1999, S. 93–108. –Markus G. Patka: Zu nahe der Sonne. Dt. Schrift-steller im Exil in Mexico. Bln. 1999. – MonikaSpielmann: Aus den Augen des Kindes. Die Kin-derperspektive in deutschsprachigen Romanen seit1945. Diss. Innsbr. 2000. – LöE. – Konstantin Kai-ser: Gefährte eines brennenden Jh. L. K. In: Ders.:Das unsichtbare Kind. Wien 2001, S. 118–122. –David Mayer: L. K. Viele Welten in einer Welt. In:Bernd Hausberger (Hg.): Globale Lebensläufe. Wien2006, S. 233–256. Sabina Becker

Kauer, Walther, * 4.9.1935 Bern, † 27.4.1987 Murten; Grabstätte: ebd. – Roman-cier u. Hörspielautor.

Nach seiner Ausbildung an der Kunstgewer-beschule in Neuenburg u. am Heilpädagogi-schen Seminar in Aberdeen studierte K.kurzzeitig in Berlin u. war anschließendJournalist in der Schweiz. Sein erster literar.Erfolg war der Roman Schachteltraum (Bln./DDR 1974. Zürich 1978. Basel 2008). Mit

kompliziert »verschachtelter« Erzählstrukturwird die Rolle der Schweiz im ZweitenWeltkrieg aus sozialkrit. Sicht beleuchtet. DerRoman Spätholz (Zürich/Köln 1976. Basel2002) ist K.s stilistisch straffstes Werk: Einalter Tessiner Bauer verteidigt den durch ei-nen reichen Villenbesitzer gefährdetenNussbaum, das Symbol heimatl. Traditionenu. intakter Natur. In den folgenden Romanenbleibt K. bei der Verknüpfung von individu-ellen Schicksalen mit gut recherchierten his-tor. Gegebenheiten. Die Tendenz zur kli-scheehaften Polarisierung der Figuren ver-stärkt sich aber, u. K.s Werk gerät so in dieNähe der Trivialliteratur, z.B. im Roman Ab-seitsfalle (Zürich/Köln 1977. Basel 2006). – K.,der bei einem Motorradunfall ums Lebenkam, erhielt u. a. den Preis der Schweizeri-schen Schillerstiftung 1975.

Weitere Werke: Brot u. Steine. 1980 (TV-Script). – Tellereisen. Zürich 1979. Basel 2002 (R.).– Weckergerassel. Zürich 1981 (E.). – Schwelbrän-de. Ebd. 1983. Basel 2004 (R.). – Bittersalz. Ebd.1984 (R). – Gastlosen. Münsigen/Bern 1986. Basel2005 (R.).

Literatur: Christoph Bircher: Der Erzähler W.K. Eine Gratwanderung in einer gastlosen Welt.Diss. Zürich 1989. – Elio Pellin: ›Mit dampfendemLeib‹. Sportl. Körper bei Ludwig Hohl, AnnemarieSchwarzenbach, W. K. u. Lorenz Lotmar. Zürich2008. Guido Stefani / Red.

Kaufmann, Christoph, * 14.8.1753 Win-terthur, † 21.3.1795 Berthelsdorf beiHerrnhut. – »Apostel der Geniezeit«.

Über die Kindheit u. Jugend des jüngsten vonvier Söhnen eines wohlhabenden Gerber-meisters u. Ratsherrn in Winterthur ist kaumVerlässliches bekannt. K.s selbst verfasste Le-benszeugnisse sowie die davon abhängigenDarstellungen seiner Witwe (unveröffentlichtim Herrnhuter Nachlass) u. des HerrnhuterPfarrers Loretz (in: Lausitzische Monats-schrift 2, Görlitz 1795, S. 25 f.) enthaltenzahlreiche Unwahrheiten u. haben der Le-gendenbildung Vorschub geleistet. Nach ei-ner 1767 in Bern begonnenen Apothekerleh-re u. naturwissenschaftlich-medizinischenWanderjahren kam K. 1774 nach Straßburg,wo er durch seine genialische Attitüde u.

Kauer 322

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 99: Kafka Killy Lexikon

seine empfindsamen Wohltäterabsichten dasWohlwollen u. die Förderung von Iselin, La-vater u. Johann Georg Schlosser gewann.Neben den etwa gleichaltrigen StraßburgernJohann Ehrmann, Johann Schweighäuser u.Johann Friedrich Simon, mit denen er einenschwärmerischen »Bruderbund« gegründethatte, gilt K. als Mitverfasser der 1775 inBasel erschienenen Philanthropischen Ansichtenredlicher Jünglinge, ihren denkenden und fühlendenMitmenschen zur Erwegung übergeben durch IsaakIselin. Dieses Manifest einer naturverbunde-nen u. ganzheitl. Erziehung, die prakt. Wis-sen, körperl. Bildung u. moralische Erhebungintegrieren sollte, veranlasste Basedow, diejungen Autoren zur Mitarbeit an seinem so-eben gegründeten Dessauer Philanthropi-num aufzufordern. Diesem Ruf folgten zu-nächst jedoch nur Schweighäuser u. Simonsowie der ebenfalls aus Straßburg kommendeJohann Jakob Mochel, während K. mit demihm eng verbundenen Ehrmann im Herbst1775 in seine Heimat zurückkehrte, um sichenger an die religiös gefärbte Schweizer Ge-niebewegung u. vor allem an Lavater anzu-schließen. Dieser erkor K. zu seinem Lieb-lingsjünger u. widmete ihm im dritten Bandseiner Physiognomischen Fragmente (Lpz. u.Winterthur 1777, S. 158–161) ein geradezuhymnisches, mit sechs Bildnissen versehenesPorträt, das ganz auf eine Bekräftigung vonK.s Wahlspruch »Man kann, was man will;man will, was man kann« hinauslief.

Im Nov. 1776 trat K. in die Leitung desDessauer Philanthropinums ein u. erwirkteeine finanzielle Unterstützung durch denAnhalter Fürsten, schied jedoch schon imFebr. wegen interner Differenzen wieder aus.Um so nachhaltiger war die Wirkung jenerlegendären Reise, die der immer mehr Auf-sehen erregende K. von Mitte 1776 bis Ende1777 durch das literar. Deutschland unter-nahm. Indem er sich als Verkörperung desliterarisch beschworenen, empfindsam-schwärmerischen Kraft-Genies stilisierte u.als Apostel von Lavaters myst. Offenba-rungsreligion gerierte, beeindruckte er Au-toren wie Johann Martin Miller, HeinrichLeopold Wagner u. Maler Müller, Claudius u.Voß, zunächst auch Goethe, v. a. aber Herderu. Hamann; für Klingers Drama Wirrwarr

fand er den folgenreichen Titel Sturm undDrang. Doch schon als 1776 in Frankfurt/M. u.Leipzig seine durchaus epigonale popular-philosophische Blütenlese Allerley gesammeltaus Reden und Handschriften großer und kleinerMänner, Herausgegeben von Einem Reisenden EUK(d.h. Ehrmann u. K.) erschien, zeigte sich,dass Skeptiker wie Wieland u. Merck Rechtbehielten u. man K.s Originalität überschätzthatte. Als dieser zudem, geblendet durchseinen schnellen Ruhm, sich zu immer halt-loseren Fantastereien über angebl. Taten u.Reisen verstieg, begann sich die öffentl.Meinung gegen ihn zu wenden. Zuerst par-odierten Hottinger u. Johann Rudolf Sulzerseine Empfindungsschwärmerei in ihren Bre-locken an’s Allerley der Groß- und Kleinmänner(Lpz. 1778), dann attackierte ihn auch MalerMüller, der ihn noch in seiner Situation ausFausts Leben (Mannh. 1776) als »Gottesspür-hund« dämonisiert hatte, in dem neuenStück Fausts Leben dramatisiert (Mannh. 1778)als windigen Aufschneider; schließlich ver-höhnten ihn sogar Lavater u. Klinger zu-sammen mit Jacob Sarasin in ihrer anonymerschienenen Satire Plimplamplasko, der hoheGeist, (heut Genie) (Basel 1780). Bald war auchGoethes auf seiner Schweizer Reise Ende1779 niedergeschriebene Sottise in allerMunde: »Als Gottesspürhund hat er frei /Manch Schelmenstück getrieben / Die Got-tesspur ist nun vorbei / Der Hund ist ihmgeblieben.«

Als die literar. Freunde ihn als Wirrkopf,Scharlatan oder Hochstapler fallen ließen(nur der schon verstörte Lenz suchte nunseinen Umgang), bemühte sich K. einigeJahre vergeblich, als einfacher SchweizerBauer im Geist Rousseaus zu leben. Danachbegann der 28-Jährige, ökonomisch u. psy-chisch gebrochen, sich ganz der Demutsreli-gion der Herrnhuter Brüdergemeine zuzu-wenden. Den Anstoß gab ihm der mit Lavaterbekannte schles. Frhr. Kurt von Haugwitz,der ihm bereits 1777 eine jährl. Rente aus-gesetzt hatte u. der ihm nun mit der Auflage,einen Schlussstrich unter sein bisheriges Le-ben zu ziehen, sein kleines Gut Straduna beiOppeln zur Verfügung stellte. Mitte 1781siedelte K. mit seiner Familie dorthin um.Einige Monate bildete er sich in Breslau me-

Kaufmann323

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 100: Kafka Killy Lexikon

dizinisch fort, dann arbeitete er bis zu seinemTod als Arzt in der Brüdergemeine, 1782 inGnadenfeld u. Neusalz, seit 1786 in Herrn-hut.

K., aus dessen schillernder Gestalt manchesvom modernen sektiererisch-lebensreforme-rischen Bohemien vorscheint u. der nicht nuran seinem geltungssüchtigen Dilettantismus,sondern auch an falschen Avancen vermeintl.Freunde gescheitert ist, hat auf die Litera-turgeschichte nicht durch eigene Texte ge-wirkt, sondern dadurch, dass er eine kurzeZeit lang zu leben versuchte, was andereschrieben.

Literatur: Johann Jakob Mochel: Reliquienverschiedener philosoph., pädagog., poet. u. a.Aufsätze. Ges. v. Johann Christian Schmohl. Halle1780 (darin Briefe v. K.). – J. C. Schmohl: Urne J. J.Mochels ehem. Lehrers am Philanthropin zu Des-sau. Lpz. 1780. – Jakob Minor: C. K. In: ADB. –Heinrich Düntzer: C. K., der Apostel der Geniezeitu. der Herrnhut. Arzt. Lpz. 1882. – Jakob Baech-told: Der Apostel der Geniezeit. In: AfLg (1887),S. 161–193. – Anonym: Einiges v. u. über denApostel der Geniezeit C. K. v. Winterthur. In:Zürcher Tb. N. F. 14 (1891), S. 149–174 (mit Briefenv. K.). – Werner Milch: C. K. Frauenfeld/Lpz. 1932.– Franz Menges: C. K. In: NDB. – Stefan Lindinger:C. K. Bautz 17 (mit. Lit.). Martin Rector / Red.

Kaufmann, Herbert, * 24.8.1920 Köln,† 27.11.1976 Köln. – Journalist, Kinder-u. Jugendbuchautor.

Nach dem Abitur war K. zunächst in der In-dustrie beschäftigt. Lange Reisen u. Aufent-halte in Afrika seit etwa 1950 wurden zumAnlass seiner schriftstellerischen Tätigkeit.Nach dem Studium der Völkerkunde, Geo-grafie u. Soziologie (Promotion 1960) arbei-tete K. als Auslandskorrespondent in Afrika.

K. führte bereits in den 1950er Jahren einwirklichkeitsgetreues Afrikabild in die bun-desrepublikan. Kinder- u. Jugendliteraturein. Afrikanische Geschichte, Kultur u. Men-talität werden in seinen Reiseberichten, Ju-gendromanen u. Sachbüchern nicht euro-zentrisch, sondern mit dem Bemühen umAuthentizität vermittelt. Den Nomaden-stämmen in der Sahara u. den untergegan-genen großen Reichen Westafrikas gehörteK.s bes. Interesse. In dem Liebesroman Roter

Mond und heiße Zeit (Graz/Köln 1957) aus demLebenskreis der Tuareg schildert er mit Ein-fühlungsvermögen Sozialgefüge u. Ethik derNomaden (Deutscher Jugendbuchpreis 1958).Ethnologisch exakt erarbeitet ist auch dieErzählung Des Königs Krokodil (Graz/Köln1959) vom Untergang eines westafrikan. Kö-nigs.

Weitere Werke: Afrika. Reise durch einen sichwandelnden Kontinent. Mchn. 1954. U. d. T. RoteStraßen – schwarze Menschen. Mchn. 1955 (Rei-seber.). – Der verlorene Karawanenweg. Graz/Köln1955. Neuausg. u. d. T. Die Hammelpiste. Ffm.1957 (R.). – Der Teufel tanzt im Ju-Ju-Busch. Graz/Köln 1956. Würzb. 1980 (R.). – Reiten durch Iforas.Mchn. 1958 (Reiseber.). – Pfeile u. Flöten. Graz/Köln 1960 (R.). – Die Bedeutung des Jugend-schrifttums. In: Das gute Jugendbuch 2 (1960),S. 17–24. – Afrikas Weg in die Gegenwart. Braun-schw. 1963 (Sachbuch). – Tule Tiptops merkwür-dige Reise. Graz/Köln 1977 (E.).

Literatur: Martin Kleensang: H. K.s Schr.enunter dem Gesichtspunkt ›Afrika heute‹. In: Ju-gendschriftenwarte, H. 1 (1962), S. 1–4. H. 3 (1962),S. 17–19. Birgit Dankert

Kaufmann, Walter, * 19.1.1924 Berlin. –Erzähler, Reiseschriftsteller.

K., Sohn einer jüd. Mutter, wurde 1926 voneinem jüd. Ehepaar (1938 während des No-vemberpogroms verhaftet, in Auschwitz er-mordet) adoptiert. Er emigrierte 1939 nachGroßbritannien, wurde interniert u. nachAustralien deportiert. Dort arbeitete er inverschiedenen Berufen, war Soldat u. See-mann; nach Polen- u. UdSSR-Reisen über-siedelte er 1955 in die DDR u. lebt heute alsfreier Schriftsteller in Berlin.

K.s Genres sind Romane, Erzählungen(insbes. Kurzgeschichten) u. Reportagen bzw.Reisebücher – häufig zuerst in engl. Sprachegeschrieben. Er schrieb auch Kinderbücher(Stefan. Mosaik einer Kindheit. Bln./DDR 1966)sowie Fernsehspiele. In seinem Frühwerk(Voices in the Storm. Melbourne 1953. Dt.:Stimmen im Sturm. Bln./DDR 1977. Wohin derMensch gehört. Ebd. 1957) erzählt er von Lei-den u. Kämpfen im Deutschland der 1930erJahre, im Roman Kreuzwege (ebd. 1961) dieLiebesgeschichte der bürgerlich erzogenenFrau eines austral. Seemanns. Die Reportagen

Kaufmann 324

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 101: Kafka Killy Lexikon

Begegnung mit Amerika heute (Rostock 1965),Hoffnung unter Glas (ebd. 1966), Gerücht vomEnde der Welt (ebd. 1969) u. Unterwegs zu Angela(Bln./DDR 1973) handeln vom Leben in derUS-amerikan. Gesellschaft. K. bezieht zu-nehmend dokumentarisches Material mitein, der dialogische Charakter der Texte ver-stärkt sich. In Wir lachen, weil wir weinen (Lpz.1977) u. Irische Reise (Bln./DDR 1979) be-schreibt K. kritisch den Polizei- u. Militär-einsatz in Nordirland. Viermal bereiste er Is-rael (Drei Reisen ins gelobte Land. Lpz. 1980. 3.,neu bearb. u. erw. Aufl. 1985 u. d. T. Reisen insgelobte Land). Prinzipiell billigt K. den StaatIsrael, steht jedoch einer Politik, die aus-schließlich militärische Lösungen sucht, ab-lehnend gegenüber. Seit Beginn der achtzigerJahre veröffentlicht er v. a. Erzählungen; auchhier spielen unterschiedl. Länder u. Konti-nente eine bedeutende Rolle, so etwa in DieZeit berühren. Mosaik eines Lebens auf drei Konti-nenten (Bln. 1992), Ein jegliches hat seine Zeit.Wiederbegegnungen auf drei Kontinenten (Bln.1994) u. Im Schloß zu Mecklenburg und anderswo.Stories von gestern und heute (Bln. 1997).

K. erhielt zahlreiche Preise, darunter 1959den Mary-Gilmore-Award Australien, 1961 u.1965 den Fontane-Preis, 1967 den Heinrich-Mann-Preis u. 1993 den Literaturpreis Ruhr-gebiet.

Weitere Werke: In Übersetzungen aus dem Engli-schen: Der Fluch v. Maralinga. Bln./DDR 1958 (E.n).– Ruf der Inseln. Ebd. 1960 (E.en). – Feuer amSuvastrand. Ebd. 1961 (Südsee-Gesch.n). – Die Er-schaffung des Richard Hamilton. Stories. Rostock1964. – Unter dem wechselnden Mond. Ebd. 1968(E.en). – Am Kai der Hoffnung. Stories. Bln./DDR1974. – Deutsche Originalausgaben: Kauf mir doch einKrokodil. Bln./DDR 1982 (Kinderbuch). – Flucht.Halle 1984 (R.). – Tod in Fremantle. Ebd. 1987(Reportage). – Steinwurf. Über eine Liebe inDtschld. Bln. 1998 (R.). – Gelebtes Leben. Bln. 2000(E.en). – Die Welt des Markus Epstein. Dresden2004 (E.en).

Literatur: Jean Villain: Reise-, Zeit- u. Welt-bilder. In: NDL 30 (1982), H. 10, S. 155–167. –Alexandra Ludewig: Der dt.-austral. Autor W. K.Ein Sonderfall bikultureller Lit. Marburg 1996.

Jochanan-C. Trilse-Finkelstein / Michaela Wirtz

Kaufringer, Heinrich. – Autor von Märenu. anderen kleineren Reimpaardichtun-gen, erste Hälfte des 15. Jh.

K. ist nicht mit Sicherheit historisch identi-fiziert worden. Sein Name ist am Ende einesTeils seiner Werke genannt. In einer Verfas-sersignatur nach Art Heinrichs des Teichnerslautet dort der Schlussvers »also sprachHainrich Kaufringer«. Der Autor gehört insOstschwäbische um Augsburg u. Landsberg;in diese Gegend weisen Sprache, Überliefe-rung, Familienname (Herkunftsname nachKaufering bei Landsberg) u. ein redensartl.Wortspiel mit den Namen zweier kleinermittelschwäb. Orte (9,116 f.).

Der Zeitraum seines Wirkens wird durchzwei Daten eingegrenzt. Das Märe Bürger-meister und Königssohn (Nr. 4) spielt in Erfurt,wohin der Königssohn von Frankreich auf dieUniversität geschickt wird; deren Gründung1392 muss schon etwas zurückliegen. Dieandere Grenze, das Jahr 1464, wird durch dieÜberlieferung gezogen.

K.s Werk ist im Wesentlichen in zweiHandschriften erhalten, die keinen gemein-samen Bestand haben, sondern einander er-gänzen. Die ältere Handschrift (München,Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 270), wohlaus Augsburg oder Landsberg stammend,enthält als selbstständigen Schlussfaszikel,dessen Niederschrift nach Auskunft derNachschrift 1464 beendet wurde, eine ge-schlossene Autorsammlung von 17 Reim-paardichtungen. Der Faszikel ist kein Auto-graf, bietet aber einen autornahen, gutenText; v. a. aber geht der Aufbau der Samm-lung wahrscheinlich auf K. selbst zurück. DieGruppe der 13 Mären wird durch geistl.Stücke, zwei Erzählungen am Anfang u. zweiReden, die Versifizierungen geistl. Prosa sind,am Ende, eingerahmt u. im Innern durch ei-gentüml. motivl. u. themat. Bezüge geglie-dert. In der jüngeren Handschrift (Berlin,Mgf 564; 1472 in Augsburg geschrieben) sindverschiedenartige, insges. kürzere Stücke ineine Teichnersammlung eingestreut: weitereVersifizierungen geistl. Prosa, bispelartigeErzählungen u. eine weltl. Rede, eine Schelteder weltzugewandten »Schälke und Lecker«.

Kaufringer325

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 102: Kafka Killy Lexikon

Ob der auf diese Weise räumlich u. zeitlichbestimmte Autor mit einem von zwei histo-risch bezeugten Landsberger Bürgern glei-chen Namens, Vater u. Sohn, identisch ist,wird sich nicht abschließend entscheidenlassen. Der erstere, Kirchenpfleger an derLandsberger Pfarrkirche (urkundlich 1369 biszu seinem Tod 1404), scheint zeitlich nurnoch knapp in Frage zu kommen, der letzte-re, unbezeugt nach 1404, bleibt weitgehendim Dunkel.

Der Dichter vertritt mehrfach den Stand-punkt des Stadtbürgers; so beklagt er in Nr.23 die aus Uneinigkeit der Bürger kommendeSchwäche der Stadt gegenüber dem Hof u.lobt in Nr. 20 reichsstädt. Rechtsgepflogen-heiten gegenüber (herzoglich-)bairischen (dieauch in Landsberg gegolten haben müssen).Er zeigt vielfach Vertrautheit mit Rechts- u.Verwaltungsdingen, u. so möchte man ihnam ehesten in der reichsstädt. Bildungs-schicht suchen. Dies um so mehr, als sich dienächstvergleichbaren Reimpaardichter, dieNürnberger Rosenplüt u. Folz – stadtbürgerl.Handwerker mit dem Ehrgeiz, zu Berufslite-raten aufzusteigen –, in ihrem Schaffen nachThemen u. gestalterischen Zielen u. Fähig-keiten deutlich von ihm unterscheiden. Wennalso das gesamte Werk u. somit auch die Er-zählungen Stadtliteratur sind, so mag mandoch angesichts der starken Traditionsge-bundenheit der weltliterar. Stoffe (u. auf-grund der grundsätzl. Problematik der Kate-gorie des »Bürgerlichen« in SpätMA u. Frü-her Neuzeit) die zentrale Handlungsführungnicht direkt auf eine neue »bürgerl.« Ethikbeziehen, in deren Rahmen etwa der Ehe-mann auf die Bestrafung des Ehebruchs ver-zichte, um Vorteile im Erwerbsleben zu er-langen, bzw. die Rache bes. rigid ausfalle aus»kleinbürgerlich« enger Sexualmoral. Vorallem im Variieren u. geschickten Auserzäh-len der alten Stoffe ergeben sich neue Ak-zente.

Von den Mären ist nur eines, die frühe»Dorfgeschichte« Der verklagte Bauer (Nr. 3),nicht wesentlich erotisch; ferner sind alleschwankhaft außer der exemplarischen Suchenach dem glücklichen Ehepaar (Nr. 8) u. dervorzüglichen säkularisierten Legende Die un-schuldige Mörderin (Nr. 14). Es überwiegen alle

mögl. Spielarten erot. Überlistung. Ein neuerAkzent im oben genannten Sinn ist der, dasseinige Male leichtgewichtige schwankhafteVerwicklungen ihre kom. Seite verlieren u.das Grausame, Makabre, der »untergründigeSchrecken« beklemmend hervortreten, so beider sorgfältig gefügten Rache des Ehemannes(Nr. 13; ähnlich Nr. 6, 8, 14; anders gewendetNr. 11). Ein eigentüml. neues Erzählmomentist auch die »weise Souveränität«, mit der derbetrogene Ehemann öfter auf zerstörerischeRache verzichtet. Seine »weishait« ist kom-plex motiviert; im Zurückgegebenen Minnelohn(Nr. 5, zu vergleichen Nr. 4 u. 14, der alteeinfache Typus in Nr. 6) ist die bloß symbo-lische Rache am Ende in der Freundschaft derritterl. Gegenspieler begründet, u. es triffthier wohl romanhafte Auflösung u. Erweite-rung des Schwankschemas mit dem Bestre-ben zusammen, dessen einfache Rollencha-raktere u. Sympathieverteilung narrativ dif-ferenzierter zu bestimmen.

Ausgabe: Werke. Hg. Paul Sappler. Bd. 1: Text.Tüb. 1972. Bd. 2: Indices. Tüb. 1974.

Literatur: Kurt Ruh: K.s Erzählung v. der›Unschuldigen Mörderin‹. In: FS John Asher. Bln.1981, S. 146–177. – Hanns Fischer: Studien zur dt.Märendichtung. Tüb. 21983, S. 148–152, 356–361(Bibliogr.) u. ö. – Paul Sappler: H. K. In: VL. – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn./Zürich 1985, S. 306–310, 220–225 u. ö. – MargaStede: Schreiben in der Krise. Die Texte des H. K.Trier 1993. – Udo Friedrich: Metaphorik des Spielsu. Reflexion des Erzählens bei H. K. In: IASL 21(1996), S. 1–30. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novel-listik des MA. Märendichtung. Ffm. 1996,S. 1269–1300 (Überlieferung, Komm., Bibliogr.). –Ralf-Henning Steinmetz: H. K.s selbstbewußteLaienmoral. In: PBB 121 (1999), S. 47–74. – AndréSchnyder: Zum Komischen in den Mären H. K.s. In:Alexander Schwarz (Hg.): Bausteine zur Sprachge-sch. der dt. Komik. Hildesh. u. a. 2000, S. 49–74. –Michaela Willers: H. K. als Märenautor. Das Œuvredes cgm 270. Bln. 2002. – K. Grubmüller: DieOrdnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. dereurop. Novellistik im MA: Fabliau – Märe – No-velle. Tüb. 2006, S. 175–191.

Paul Sappler / Corinna Laude

Kaufringer 326

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 103: Kafka Killy Lexikon

Kaul, Friedrich Karl, * 21.2.1906 Posen,† 16.4.1981 Berlin/DDR. – Kriminalau-tor; Verfasser von Hör- u. Fernsehspielenu. Prozessberichten.

Der Sohn eines jüd. Kaufmanns studierte Jurain Berlin u. Heidelberg, promovierte 1931 u.trat im folgenden Jahr in die KPD ein. Nachdem Referendarexamen arbeitete er an derJuristischen Fakultät der Berliner Universität,1931/32 in einem Anwaltsbüro in Berlin.Wegen seiner jüd. Herkunft wurde K. 1933aus dem Justizdienst entlassen. Ab 1935 inden Konzentrationslagern Lichtenberg u.Dachau inhaftiert, gelang K. 1937 die Emi-gration über Kolumbien in die USA. Nachmehrjährigem Aufenthalt im Antinazi-Camp»Kennedy« kehrte K. 1946 nach Deutschlandzurück. Inzwischen der SED beigetreten, ar-beitete er in den folgenden Jahren als Justitiarbeim Ostberliner Rundfunk, später bei derDeutschen Verwaltung für Volksbildung. K.,seit 1949 als Anwalt bei allen Gerichten inOst- u. West-Berlin zugelassen, trat alsHauptbevollmächtigter der KPD im Prozessvor dem Bundesverfassungsgericht in Er-scheinung (1954–1956) u. war Nebenklä-ger im Frankfurter Auschwitz-Prozess(1964–1966). Er ist Träger des Nationalprei-ses der DDR (1960 für die Fernsehgestaltungdes Pitaval der Weimarer Republik. 3 Bde., Bln./DDR 1953, 1954, 1961).

Als sein literar. Vorbild bezeichnete K. Al-fred Döblin, als sein Anliegen, die »bürgerli-che Klassenjustiz als Magd des staatsmono-polistischen Kapitalismus zu entlarven«. Mitder Darstellung authent. Kriminalfälle, wiez.B. Mord im Grunewald (Bln./DDR 1953), ei-nem Roman über die Ermordung Rathenaus,wollte K. Formen polit. Herrschaft bewusstmachen.

Weitere Werke: Ich fordere Freispruch. Bln./DDR 1955 (R.). – Die Doppelschlinge. Ebd. 1956(R.). – Der blaue Aktendeckel. Ebd. 1957 (R.). – Eswird Zeit, daß du nach Hause kommst. Ebd. 1959(R.). – Der Fall Eichmann. Ebd. 1963. – VornehmeLeute. Der Bonner Pitaval. Ebd. 1964. – Der FallHerschel Grynszpan. Ebd. 1965. – Ich klage an.Ebd. u. Hbg. 1971 (Ber.e über westdt. Strafprozes-se). – Nazimordaktion. Bln./DDR 1973. U. d. T. DiePsychiatrie im Strudel der Euthanasie. Ffm. 1979. –Watergate: Ein Menetekel für die USA. Bln./DDR

1976. – Menschen vor Gericht. Ein Pitaval aus un-seren Tagen. Bln. 1981. 41987. – Prozesse, die Ge-schichte machten. Dt. Pitaval v. 1887 bis 1933. Bln.1988. – ›... ist zu exekutieren!‹ Ein Steckbrief derdt. Klassenjustiz. Bln. 2006.

Literatur: Annette Rosskopf: F. K. K. Anwaltim geteilten Dtschld. (1906–1981). Bln. 2002. –Max Paul Friedman: The Cold War Politics of Exile,Return, and the Search for a usable Past in F. K. K.s›Es wird Zeit, daß du nach Hause kommst‹. In: GLL58 (2005), H. 3, S. 306–325. – Annette Weinke:›Verteidigen tue ich schon recht gern ...‹. F. K. K. u.die westdt. NS-Prozesse der 1960er Jahre. In: Her-bert Diercks (Red.): Schuldig. Hg. KZ-GedenkstätteNeuengamme. Bremen 2005, S. 44–57.

Helmut Blazek / Red.

Kaus, Gina, eigentl.: G. Zirner-Kranz,verh. Kaus, auch: Andreas Eckbrecht,* 21.11.1894 Wien, † 23.12.1985 Los An-geles. – Erzählerin u. Drehbuchautorin.

K., Tochter eines Kaufmanns u. Geldver-mittlers, war bis zu ihrer Emigration nachAmerika 1939 eine erfolgreiche Schriftstelle-rin. Schon ihr erstes Stück Diebe im Hauswurde 1919 in Wien uraufgeführt; für ihreErzählung Der Aufstieg (Mchn. 1920) erhieltsie den Theodor-Fontane-Preis. ZwischenWien u. Berlin hin- u. herpendelnd, begannsie mit Erzählungen u. Kurzgeschichten u. a.für die »Vossische Zeitung« u. die Wiener»Arbeiter-Zeitung«, bevor ihr mit dem Un-terhaltungsroman Die Überfahrt (Mchn. 1932)ein Bestseller gelang. Ihre Romane, v. a. DieSchwestern Kleh (Amsterd. 1933. Ffm./Bln.1989) u. Der Teufel nebenan (Amsterd. 1940.Köln 1977. Ffm 1992. Als Teufel in Seide 1956erfolgreich verfilmt), wurden in viele Spra-chen übersetzt. In den Wiener Literatencafészu Hause, war sie befreundet mit HermannBroch, Franz Werfel, Franz Blei, Karl Kraus u.Alfred Adler, dessen Studien zur Individual-u. Kinderpsychologie sie interessiert verfolgteu. die den Stil ihrer Charakterzeichnungen u.-analysen prägten.

Das dramat. Auf u. Ab des eigenen Lebens,verwickelte Beziehungen u. erot. Abenteuergaben Stoff für ihre Bücher. Deren Figurensind vielfach ehrgeizige, selbstbewusste u.überlegene Frauen, selten mit sich zufriedenu. oft dadurch zum Scheitern verurteilt. Al-

Kaus327

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 104: Kafka Killy Lexikon

lesamt gehobene Unterhaltungsliteratur,zeigen K.’ Romane nicht zuletzt die gesell-schaftl. Vorurteile gegenüber einem emanzi-pierten Verständnis weibl. Erotik.

Während ihrer Zeit in Amerika, wo sieKontakte zu Brecht, Hanns Eisler, FritzKortner u. Vicki Baum knüpfte u. als Dreh-buchautorin erfolgreich war, erschien nurnoch ihre Biografie Und was für ein Leben (Hbg.1979). Wie für viele Exilschriftsteller wurdeauch für K. das Schreiben in der fremdenSprache zum Problem. Doch kehrte sie auchnicht mehr in ihre ehem. Heimat zurück; dasLeben dort u. die dt. Literatur waren ihrfremd geworden.

Weitere Werke: Der lächerl. Dritte. Wien 1927(D.). – Die Verliebten. Bln. 1928. Oldenb. 1999 (R.).– Morgen um Neun. Bln. 1932 (R.). – Return toReality. London 1935 (E.en). – Katharina die Große.Amsterd. 1935. Mchn. 2006 (Biogr.). – Luxus-dampfer. Roman einer Überfahrt. Amsterd. 1937. –Die Unwiderstehlichen. Kleine Prosa. Hg. u. miteinem Nachw. v. Hartmut Vollmer. Oldenb. 2000.

Literatur: Renate Wagner: Doppelleben zwi-schen Café u. Palais. In: Volksbl.-Magazin,29.4.1988. – Sibylle Mulot-Déri: Gina, Almas Ge-genstück. In: FAZ, 8.9.1989. – Dies.: Nachw. In:Die Schwestern Kleh, a. a. O., S. 287–298. – AmelieHeinrichsdorff: Nur eine Frau? Krit. Untersu-chungen zur literaturwiss. Vernachlässigung derExilschriftstellerinnen in Los Angeles: Ruth Berlau,Marta Feuchtwanger, G. K. u. Victoria Wolff. AnnArbor, Mich. 1999. – Ingrid Walter: Dem Verlore-nen nachspüren. Autobiogr. Verarbeitung des Exilsdeutschsprachiger Schriftstellerinnen. Taunusstein2000. – Margit Schreiner: Kleine Prosa u. Roman.Zur Wiederentdeckung v. G. K. In: LuK 35 (2000),H. 349/350, S. 86–89. – Hartmut Vollmer: VickiBaum u. G. K. Ein Porträt zweier Erfolgsschrift-stellerinnen der Zwischenkriegszeit. In: BernhardFetz u. Hermann Schlösser (Hg.): Wien – Berlin.Wien 2001, S. 45–57. – Christa Gürtler: G. K.1893–1985. In: Dies. u. Sigrid Schmid-Borten-schlager: Erfolg u. Verfolgung. Österr. Schriftstel-lerinnen 1918–1945. Salzb./Wien/Ffm. 2002,S. 205–216. – Andrea Capovilla: Entwürfe weibl.Identität in der Moderne: Milena Jesenská, VickiBaum, G. K., Alice Rühle-Gerstel. Studien zu Lebenu. Werk. Oldenb. 2004. – Isabelle Terrein: G. K.Femme de lettres, égérie et émigrée. Une femmedans le siècle. Univ. Lille 2005. – Luisa A. Soares:Luisa Vicky Baum and G. K. Female Creativity onthe Margins. In: Christiane Schönfeld u. Carmel

Finnan (Hg.): Practicing Modernity. Würzb. 2006,S. 324–341. Jutta Freund / Red.

Kaut, Ellis, eigentl. Elisabeth K., * 17.11.1920 Stuttgart. – Kinderbuchautorin,Bildhauerin u. Fotografin.

Nach einem zweijährigen Schauspielstudiumerhielt K. ein Engagement am Residenzthea-ter in Wiesbaden. Anschließend kehrte sienach München zurück u. arbeitete als Spre-cherin in Unterhaltungs- u. Kindersendun-gen beim Rundfunk. Neunzehnjährig heira-tete sie den Münchner Journalisten KurtPreis. 1940–1944 studierte sie in der Bild-hauerklasse der Münchner Akademie. Nach1945 arbeitete K. als Bildhauerin, haupt-sächlich als Porträtistin. Ihre Bekanntschaftmit Kurt Wilhelm, der die Unterhaltungsab-teilung des BR leitete, ermöglichte ihr dieMitarbeit an Unterhaltungssendungen, Hör-spielen u. Kindersendungen.

Die Geschichten vom Kater Musch, einemsprechenden Kater, gehörten bis 1962 siebenJahre lang zum Kinderprogramm des BR. Imselben Jahr begann die Erfolgsgeschichte desfrechen, rothaarigen Kobolds Pumuckl, derbei Schreinermeister Eder am Leimtopf kle-ben bleibt u. deshalb für ihn sichtbar wird.Von Beginn an lieh Hans Clarin der Pumuckl-Figur seine Stimme; seit 1977 sprach GustlBayerhammer den Schreinermeister Eder. Ab1965 erschienen die Pumuckl-Bücher. Siewurden von Barbara von Johnson illustriert,während den Fernsehpumuckl K.s Schwie-gersohn Brian Bagnall zeichnete. 1982 er-schien der erste Spielfilm Meister Eder und seinPumuckl, 1994 der zweite mit dem Titel Pu-muckl und der blaue Klabauter, 2003 Pumuckl undsein Zirkusabenteuer. Auch in den Filmen bleibtder Pumuckl eine Zeichentrickfigur, die ineine reale Umgebung hineinkopiert wird.1982–1988 wurde die erste Staffel der Fern-sehserie Meister Eder und sein Pumuckl ausge-strahlt, 1988/89 folgte die zweite. Die halb-stündigen Folgen waren prominent besetzt;die 1999 begonnene Fernsehserie PumucklsAbenteuer konnte an die früheren Erfolgenicht anknüpfen.

Aufsehen erregte 2007 ein Rechtsstreitzwischen K. u. der Illustratorin Barbara von

Kaut 328

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 105: Kafka Killy Lexikon

Johnson. In einem »Malwettbewerb«, den dieIllustratorin unterstützte, sollte Pumuckleine Freundin bekommen, wogegen sich K.vergeblich wehrte. Die vielfach ausgezeich-nete Autorin (Bundesverdienstkreuz, Bayeri-scher Verdienstorden) sah ihr Urheberper-sönlichkeitsrecht gefährdet, gilt ihr doch diePumuckl-Figur als ureigenes Medium, Kin-derthemen u. -probleme anzusprechen. DerBekanntheitsgrad des rothaarigen Kobolds istenorm. Neben Print- u. Audiomedien – einMusical wurde am 21.10.2000 in Münchenuraufgeführt – gibt es seit 2005 ein Pumuckl-Museum in Ohlstadt; es existiert eine Pu-mucklbriefmarke u. ein Pumucklbrunnen inMünchen.

Einen weiteren Erfolg verzeichnete K. mitder Figur des Schlupp vom grünen Stern (Mchn.1974), einem Roboter mit Herstellungsfehler,der mit der renommierten Augsburger Pup-penkiste verfilmt wurde. Zwischen 1970 und1980 fand die vielseitig begabte K. in derFotografie ein neues Arbeitsfeld. Auch alsFotografin erhielt sie zahlreiche Würdigun-gen.

K. wurde u. a. 1955 mit dem BayerischenHörspielpreis, 1984 mit dem Ernst-Hofe-richter-Preis, 1992 mit dem Poetentaler u.1999 mit dem Oberbayerischen Kulturpreisausgezeichnet.

Weitere Werke: Der Zauberknopf. Illustriert v.Brian Bagnall. Mchn. 1970. – Der kluge EselTheobald. Illustriert v. Brian Bagnall. Mchn. 1972.– Flaps, der Fehlerflipps. Mchn. 1986. – Tore,Treppen, Türme in München (zus. mit Kurt Preis).Mchn. 1986. – Der Nymphenburger Park (zus. mitK. Preis). Mchn. 1987. – Gleich hinter München.Das Land Ludwig Thomas. Mchn. 1997. – Island.Eine Reise (zus. mit Erich Roßhaupter). Mchn.1998.

Literatur: Heidi Zimmer: Rebellisches Kind u.Pädagogin. ›Pumuckls Mutter‹ wird siebzig. In:Lit. in Bayern (1990), H. 20, S. 40–44. – Judith Ge-rke-Reineke: Geklonte Medienhelden. Münster1995. – Dietmar Grieser: Pinocchio, Pumuckl u.Peter Pan. Kinderbuchfiguren u. ihre Vorbilder.Ffm. 2003. Elke Kasper

Kautsky, Karl, * 16.10.1854 Prag. † 17.10.1938 Amsterdam. – Sozialistischer Theo-retiker.

Der Sohn des tschech. Theatermalers Johannu. der dt. Schriftstellerin Minna Kautskywurde zunächst geprägt durch das Studiumder Darwinisten, insbes. Haeckels. 1875schloss er sich in Wien den Sozialdemokratenan. Neben Studien in Wien (Jura, Geschichte,Politische Ökonomie), die zu keinem Ab-schluss führten, u. literar. Versuchen schriebK. unter verschiedenen Pseudonymen für diemeisten sozialistischen Organe. 1880 stieß erzum Kreis um Karl Höchberg in Zürich, wo erEduard Bernstein u. Friedrich Engels kennenlernte, dessen Privatsekretär er wurde. NachGründung der »Neuen Zeit« (1883) wurde K.ihr Redakteur u. einer der wichtigsten sozi-aldemokratischen Publizisten. Zusammenmit August Bebel, Engels u. Bernstein trat erfür die Durchsetzung des Marxismus u. dieZurückdrängung des Lassalleanismus inner-halb der SPD ein. Das manifestierte sich imErfurter Programm von 1891, dessen theoret.Teil er, dessen pragmat. Teil Bernstein ve-fasste.

Nach 1890 suchte K. das Erfurter Pro-gramm sowohl gegen den RevisionismusBernsteins als auch gegen den AktivismusRosa Luxemburgs zu verteidigen, verlor da-durch aber immer mehr an Rückhalt in derPartei. 1917 schloss er sich der USPD an, waszu seiner Entlassung als Redakteur der»Neuen Zeit« führte. K. wandte sich scharfgegen Lenins Marxismus-Interpretation u.die Oktoberrevolution (noch in: Der Bolsche-wismus in der Sackgasse. Bln. 1930), was zumendgültigen Bruch mit Luxemburg führte,nachdem ihr Dissens bereits in der Massen-streikdebatte von 1905 deutlich gewordenwar (Der politische Massenstreik. Bln. 1914).Nach der Revolution war K. einige Monate alsUnterstaatssekretär im Auswärtigen Amt mitder Herausgabe der Deutschen Dokumente zumKriegsausbruch (zus. mit Max Graf von Mont-gelas u. a. 4 Bde., Charlottenburg 1919) be-auftragt, wobei er seine Auffassung von derKriegsschuld der Mittelmächte zu erhärtensuchte (Wie der Weltkrieg entstand. Bln. 1919).Sein theoriebildender Einfluss wurde jedoch

Kautsky329

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 106: Kafka Killy Lexikon

immer geringer (Die proletarische Revolutionund ihr Programm. Bln. 1920). Nach der Verei-nigung von SPD u. USPD ging K. 1924 nachWien zurück, wo er sich der Abfassung seinerMaterialistischen Geschichtsauffassung (2 Bde.,Bln. 1927) widmete. Nach dem »Anschluss«Österreichs 1938 floh K. nach Prag, dann indie Niederlande. Seine Frau Luise wurde inAuschwitz ermordet.

K.s Marxismus stellt unter den theoret.Ansätzen der Sozialdemokratie eine eigen-ständige Position dar, deren histor. Wirkungfreilich, gemessen an K.s Bekanntheit bei denZeitgenossen, gering blieb. Von Marx unter-schied sich K. durch die Annahme einer Na-turnotwendigkeit der histor. Entwicklungzum Sozialismus, was die Marx’sche Idee ei-ner dialektischen Umwandlung von Natur-geschichte in Gesellschaftsgeschichte aufhob.Hier liegt auch die Wurzel des Konflikts mitLuxemburg, die glaubte, durch polit. Han-deln einen revolutionären Zustand erzeugenzu müssen. Gegen Bernstein hingegen ver-teidigte K. die Revolution als reale Utopie desMarxismus. Doch musste er spätestens 1925einsehen, dass die Utopie für die SPD keinereale mehr war. Die Sicht der Menschheits-als Teil der Naturgeschichte hatte K. schon inseinen ersten Publikationen vertreten, vonden Darwinisten ebenso geprägt wie vonden Malthusianern (Überseeische Lebensmittel-konkurrenz. Lpz. 1881), so dass sein Werkals Versuch einer Vereinigung von Hae-ckel’schem Darwinismus u. Marxismus zusehen ist.

Weitere Werke: Der Einfluß der Volksver-mehrung auf den Fortschritt der Gesellsch. Wien1880. – Karl Marx’ ökonom. Lehren. Stgt. 1887. –Das Erfurter Programm in seinem grundsätzl. Teilerläutert. Stgt. 1892. Neudr. Hann. 1964. – DerParlamentarismus, die Volksgesetzgebung u. dieSozialdemokratie. Stgt. 1893. – Die Vorläufer desneueren Sozialismus. 2 Bde., Stgt. 1894/95. Neudr.Bln. 1947. – Bernstein u. das sozialdemokrat. Pro-gramm. Stgt. 1899. – Die soziale Revolution. Bln.1902. – Der Weg zur Macht. Bln. 1909. – Diktaturdes Proletariats. Wien 1918. – Mein Verhältnis zurUnabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Bln.1922. – Erinnerungen u. Erörterungen. Hg. Bene-dikt Kautsky. ’s-Gravenhage 1960. – Briefwechsel:Rosa Luxemburg: Briefe an K. u. Luise Kautsky.Hg. Luise Kautsky. Bln. 1923. – Victor Adler:

Briefw. mit August Bebel u. K. K. [...]. Hg. Fried-rich Adler. Wien 1954. – Friedrich Engels’ Briefw.mit K. K. Hg. B. Kautsky. Wien 1954. – AugustBebels Briefw. mit K. K. Hg. Karl Kautsky jr. Assen1972. – Eduard Bernsteins Briefw. mit K. K.(1895–1905). Hg. Till Schelz-Brandenburg. Ffm.2003. – Herausgeber: Karl Marx: Zur Kritik der polit.Ökonomie. Stgt. 1897. – Ders.: Theorien über denMehrwert. 3 Bde., Stgt. 1905–10. – August Bebel:Aus meinem Leben. Bd. 3, Stgt. 1914.

Literatur: Hans-Josef Steinberg: K. K. u. Edu-ard Bernstein. In: Dt. Historiker. Bd. 4. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Stgt. 1972, S. 53–64. – RainerKraus: Die Imperialismusdebatte zwischen Vladi-mir I. Lenin u. K. K. Ffm. 1978. – Massimo L.Salvadori: Sozialismus u. Demokratie. K. K.1880–1938. Stgt. 1982. – Ingrid Gilcher-Holtey:Das Mandat des Intellektuellen. Bln. 1986. –Georges Haupt: K. K. u. die SozialdemokratieSüdosteuropas. Ffm. 1986. – Werner Kowalski(Hg.): K. K. Halle 1990. – Till Schelz-Brandenburg:Eduard Bernstein u. K. K. Köln 1992.

Michael Behnen / Red.

Kautsky, Minna, eigentl. Wilhelmine K.,geb. Jaich, auch: Eckert, Wilhelm Wiener,* 11.6.1837 Graz, † 21.12.1912 Friedenau(heute zu Berlin). – Erzählerin, Dramati-kerin; Schauspielerin.

Vater (Anton Jaich) u. Mann (Johann Kautsky)der österr. Volkserzählerin des Sozialismuswaren Dekorationsmaler, letzterer seit 1864am Wiener Burgtheater. K. debütierte 14-jährig in Prag in Müllners Schuld. Sie kannteaus eigener Erfahrung die Not des Theater-proletariats, welche ihre Romane Herrschenoder Dienen (Lpz. 1881) u. Im Vaterhause (Hbg.1904) sowie die krit. Schrift Das deutscheTheater der Neuzeit (Stgt. 1884) thematisieren.Mit 16 Jahren heiratete sie u. war bis 1861weiterhin als Schauspielerin in Olmütz u.Prag (Nationalbühne) tätig. Durch den Ein-fluss ihres ältesten Sohns Karl wurde sie zurChronistin des proletar. Lebens in Österreich;in den 1880er Jahren war sie die populärstesozialistische Belletristin.

K.s Werke erschienen im Vorabdruck in dersozialistischen Tagespresse – »Neues Leben«,»Die Neue Welt«, »Arbeiter-Kalender« – u.waren in Buchform in den Arbeiterbiblio-theken erhältlich. Stefan vom Grillenhof (Lpz.1876), in Marx’ Urteil »die bemerkenswer-

Kautsky 330

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 107: Kafka Killy Lexikon

teste Erzählung der Gegenwart«, schildertden Preußisch-Österr. Krieg aus der Per-spektive der (anders als die Oberschicht) mo-ralisch intakten Unterschichten. Die »Klas-senfeinde« u. deren Welt werden – in für K.charakteristischem szenisch gestaltetem Er-zählduktus – durchgehend schablonenhaftgezeichnet, im Gegensatz zu den menschlichsympath. Proletariern. Engels, der ihr nebenMarx, Bebel, Victor Adler, Wilhelm Lieb-knecht u. Rosa Luxemburg freundschaftlichverbunden war, nahm K.s Darstellung unan-gefochten ideeller Heldinnen wie Elsa imSalzbergarbeiterroman Die Alten und die Neuen(2 Bde., Lpz. 1885) zum Anlass für grund-sätzl. krit. Reflexionen zum Verhältnis vonTendenz u. Realismus. In einem Alpentalangesiedelt ist der Roman Victoria (Zürich1890), in dem K., wie häufig, dem klein-bürgerl. u. proletar. Milieu die Nebenhand-lung vorbehält, aber überzeugt mit der dif-ferenzierten Schilderung des Niedergangsder kleinen Handwerker angesichts des vor-dringenden Kapitalismus. Die Entwicklungeines polit. Selbstbewusstseins der Frau, dassie zur revolutionären Kämpferin werdenlässt, ist ein konstantes Thema der »rotenMarlitt«, so in Helene (Stgt. 1894) oder in EinMaifesttag (Hbg. 1907), einer ausschließlichproletar. Milieudarstellung.

Ausgaben: Ges. E.en u. R.e. 2 Bde., Nürnb. 1914(mehr nicht ersch.). – Ausw. aus ihrem Werk. Hg.Cäcilie Friedrich. Bln./DDR 1965.

Literatur: Cäcilie Friedrich-Stratmann: Beiträ-ge zur Entstehungsgesch. der sozialist. Lit. Diss.Halle 1963 (mit ausführl. Bibliogr.). – Ingrid Cella:Die Genossen nannten sie die ›rote Marlitt‹. M. K.u. die Problematik des sozialen Romans, aufgezeigtan: ›Die Alten u. die Neuen‹. In: ÖGL 25 (1981),S. 16–29. – Cäcilia Friedrich: ›... ist der Held nichtgar zu brav?‹ Friedrich Engels zum Tendenzbegriffin M. K.s Roman ›Die Alten und die Neuen‹. In:Thomas Höhle (Hg.): Äusserungen über Marx u.Engels. Halle/Saale 1988, S. 66–71. – Ursula Mün-chow: Neue Wirklichkeitssicht u. polit. Praxis. So-zialist. Lit. u. Arbeiterinnenbewegung. In: GiselaBrinker-Gabler (Hg.): Dt. Lit. v. Frauen. Bd. 2,Mchn. 1988, S. 254–275. – Christa Pimingstorfer:Zwischen Beruf u. Liebe: M. K. u. Lou Andreas-Salomé im Vergleich. In: Theresia Klugsberger(Hg.): Schwierige Verhältnisse. Liebe u. Sexualitätin der Frauenlit. um 1900. Stgt. 1992, S. 43–56. –

Stefan Riesenfellner u. Ingrid Spörk (Hg.): M. K.Beiträge zum literar. Werk. Wien 1996. – Lilo We-ber: ›Fliegen und Zittern‹. Hysterie in Texten v.Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuteru. M. K. Bielef. 1996. – Heidy Margrit Müller: So-zialkritik u. Zukunftshoffnung: M. K. In: KarinTebben (Hg.): Deutschsprachige Schriftstellerinnendes Fin de siècle. Darmst. 1999, S. 197–215. –Werner Michler: Zwischen M. K. u. Hermann Bahr:literar. Intelligenz u. österr. Arbeiterbewegung vorHainfeld (1889). In: Klaus Amann (Hg.): Literar.Leben in Österreich 1848–1890. Wien u. a. 2000,S. 94–137. Eda Sagarra / Red.

Kayser, Philipp Christoph, * 10.3.1755Frankfurt/M.† 23.12.1823 Zürich. – Lyri-ker, Komponist, Pianist u. Schriftsteller.

Von seinem Vater, dem »Clavirmeister undOrganist[en]« an der Frankfurter Katharin-enkirche, späteren Konzertunternehmer,zum Musiker ausgebildet, vervollständigte K.seine musikal. Studien nach kurzem Gym-nasiumsbesuch in den Jahren 1770–1772 beiGeorg Andreas Sorge in Lobenstein/Thürin-gen. Ab 1772 knüpfte er in Frankfurtfreundschaftl. Kontakte zu Klinger, Goethe,Miller, Schubart u. Lenz; als Musiker war erauch in der Gruppe der »Stürmer und Drän-ger« als deren jüngstes Mitgl. hoch will-kommen. Goethe empfahl ihn 1775 an Jo-hann Caspar Lavater nach Zürich, wo sich K.als dessen Protégé als Musiklehrer, Pianist u.Hausfreund der Familie Schultheß etablierte.In seinen Physiognomischen Fragmenten entwi-ckelte Lavater an K.s Gesichtszügen den Pro-totyp eines »großen musikalischen Genies,das mächtige Kraft und große Kunstfertigkeitmit feiner, inniger Zärtlichkeit verbindet [...]und gewiß noch in der Musik werden kann –was Goethe im Drama«. 1775 fand K. mitdem emblemat. Brudernamen »a Pelicano«Aufnahme in der Zürcher Freimaurerloge»Modestia cum Libertate«, deren Sekretariuser wurde. Zwei seiner Logenreden wurden1780 in einem Baseler Druck von Neun Frey-maurer-Reden, gehalten in der Sch[ottischen] Logezur Bescheidenheit, in Z[ürich] Im Jahr 4066 her-ausgegeben; seine Protokolle des »Maurer-kongresses in Wilhelmsbad« (1782), in demes um das »System der Strikten Observanz«ging, sind erst 2003 veröffentlicht worden.

Kayser331

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 108: Kafka Killy Lexikon

1785 trat K. mit dem Verleger JohannHeinrich Füßli über die Drucklegung seinesals Dialog verfassten musiktheoret. Unter-richtswerks (verschollen) in Verhandlungen.Die Lyrik u. Prosatexte des häufig von tiefendepressiven Verstimmungen gequälten K.entstanden in nur wenigen produktiven Jah-ren. Zudem verwendete er sich für die Editionder Flüchtigen Aufsäzze (Zürich 1776) seinesFreundes Lenz. Seine ersten anakreont. u. imempfindsamen Stil verfassten Gedichte er-schienen auf Empfehlung seiner Dichter-freunde 1775 in J. H. Voß’ »Göttinger Mu-senalmanach« u. in der »Deutschen Chronik«Schubarts. Im selben Jahr brachte er in Ulmsein Sendschreiben an die Grazien – et addressé andie H. H. Poeten von ganz Europa zu beliebigerBesorgung heraus. Dieser mit »Philippi Veri«gezeichnete Prosatext ist zusammen mit ei-nigen Gedichten u. seinem emphat. Aufsatzin »12 Epochen« Empfindungen eines Jüngers inder Kunst vor Ritter Glucks Bildniße (in: Chr. M.Wieland, »Teutscher Merkur«, 3. Vierteljahr,1776, S. 221 ff. u. 233–247) das umfang-reichste Dokument seiner Identifikation mitdem »Sturm und Drang«. Von bes. Bedeu-tung blieb für K. die Bindung an Goethe. Indessen 1778 zu einem handschriftl. Noten-buch für die häusl. Musiziergepflogenheitenzusammengestellter Sammlung von 85 Lie-dern waren 71 Kompositionen aus K.s Feder(GSA 32/1477); ab 1779 entwickelte Goethemit ihm ein neues Singspielkonzept. Seinefür das Weimarer Liebhabertheater geschrie-bene, einaktige Schweizeroperette Jery undBätely, deren Komposition in der kurzenvorgegebenen Zeit nicht gelang, war derAusgangspunkt für einen ausführl. briefl.Austausch. Ab Dez. 1783 unternahm K. seineerste mehrmonatige Bildungsreise nach Ita-lien u. legte für Goethe seine persönl. Ein-drücke in ausführl. Collectaneen über italieni-sches Musikwesen (in: WA I, Bd. 34, S. 215–218)nieder. 1784–1788 arbeitete er an Goethesvieraktiger Komödie Scherz, List und Rache.Beide diskutierten über die Probleme einer ander ital. Opera buffa orientierten dt. Libret-tistik u. deren musikal. Umsetzung. 1787 batGoethe den Freund zu sich nach Rom, umunter seiner Anleitung im Kreise seinerKünstlerkollegen weitere musikhistor. u.

kirchenmusikal. Studien zu betreiben u.Scherz, List und Rache abzuschließen. Die Par-titurfassungen wuchsen zu umfangreichenKonvoluten; zu einer Aufführung kam es zubeider Lebzeiten jedoch nicht. Die gemein-samen Monate in Rom zeitigten auch dieBühnenmusiken zu Egmont u. die RömischenNebenstunden, eine handschriftl. Musikalien-liste mit angeschlossenen musiktheoret. Stu-dien u. Aufzeichnungen, die K. der MalerinAngelica Kauffmann in Erinnerung an»glücklich in Rom erlebte Stunden« dedi-zierte. Als G. nach beider Rückkehr nachWeimar für seine weitere musikal. Arbeit amdortigen Hoftheater den umtriebigen Berli-ner Hofkapellmeister Johann Friedrich Rei-chardt in seine Nähe bat, endete seine Bezie-hung zu K. Der Freund, der in Weimar füreine Stellung vorgeschlagen war, kehrte nachZürich zurück. Ein Versuch des FreundesKlinger, K. eine Karriere in Petersburg zuermöglichen, blieb erfolglos.

Beschrieben wird K. als ein in allen Wis-senschaften bewanderter Polyhistor, der öf-fentlichkeitsscheu, umgeben von einer um-fangreichen Bibliothek, das »einfachste undregelmäßigste Leben« in »pünktlichsterOrdnung und Genauigkeit« geführt habe. Als»gelehrter Musiker« u. umfassend infor-mierter Musiklehrer wurde er geschätzt,wiewohl er in »Abgeschiedenheit« zuneh-mend zu einem »edeln Sonderling« wurde,der in seinem 68. Lebensjahr starb. Im Archivder Zürcher Freimaurerloge hat sich diewährend der rituellen Trauerloge am24.2.1824 vom Ratsherrn u. LogenbruderDiethelm Lavater d.J. gelesene Trauerrede er-halten, ein 20-seitiges handschriftl. Doku-ment, in dem das Leben u. Wirken K.s ein-drucksvoll zusammengefasst wird. Einen li-terar. Nachklang erfuhren die Lebensgeschi-cke K.s in der erstmals 1925 in Zürich er-schienenen, mehrfach nachgedruckten Er-zählung Bertha von Orellis: Die Tochter ausdem Schönenhof, in der K.s Wirken als Musik-lehrer u. Freund der begabten Barbara (Bäbe)Gessner-Schultheß zu einer Romanze ver-klärt wird.

Weitere Werke: Gedichtpublikationen in:Deutsche Chronik 1775, Göttinger Musenalma-nach 1775, Teutscher Merkur 1776. – Vermischte

Kayser 332

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 109: Kafka Killy Lexikon

Lieder mit Melodien aufs Klavier. Winterthur/Lpz.1775. – Gesänge, mit Begleitung des Claviers. Lpz./Winterthur 1777. – Handschriftl. Liederbuch ausGoethes Notensammlung. GSA 32/1477. – JohannWolfgang Goethe/P. C. K.: Scherz, List u. Rache.Singspiel in vier Akten. Handschriften: Zentral-bibl. Zürich, Besitz der Allg. Musikgesellsch.,Sign.: AMG I, 700 & a-c. 4 Bde.; Klassik StiftungWeimar, GSA: 3 Partituren u. 76 Stimmenauszügein 8 Kästen des Bestandes ›Goethe. Notensamm-lung‹. Sign. GSA 32/125. Klavierauszug. Erstausg.hg. v. Hermann Dechant. Wien 1999. – Relation derSchweizer. Deputierten v. den Verhandlungen desGeneral-Konvents zu Wilhelmsbad. (Handschr.,Archiv der Loge ›Modestia cum Libertate‹, Zürich).Ber. über den Freimaurer-Konvent v. Wilhelmsbad1782. Hg. u. eingel. v. Werner G. Zimmermann.Zürich 2003.

Literatur: David Heß: Flüchtige Notitzen überP. C. K. Januar 1824. Handschr. Zentralbibl. Zü-rich, Handschriftenabt., F.-A. Hess 39.1. – CarlAugust Hugo Burkhardt: Goethe u. der KomponistP. C. K. Lpz. 1879. – O. Heuer: P. C. K., Goethe u.Klinger. In: Ber.e des Freien Dt. Hochstifts zuFrankfurt am Main. N. F. 7 (1891), S. 443–459. –Ders.: Barbara Schultheß u. P. C. K. In: ebd. 8(1892), S. 294–303. – Paul Winter: Goethe erlebtKirchenmusik in Italien. Zürich 1949. – EdgarRefardt: Der ›Goethe-Kayser‹. Zürich 1950. – Ga-briele Busch-Salmen (Hg.): P. C. K. (1755–1823).Komponist, Schriftsteller, Pädagoge, JugendfreundGoethes. Hildesh. 2007 (mit Ed. sämtl. Gedichte u.Aufsätze K.s, mit Nachweisen u. Varianten,S. 293–340). – Ulrike Leuschner: Der wahre P. K. u.die Lit. des ›Sturm und Drang‹, mit ungedrucktenGedichten u. Briefen aus dem Nachl. Ernst Schlei-ermacher. In: ebd., S. 139–194. – G. Busch-Salmen(Hg): Goethe Hdb. Suppl.e Bd. 1: Musik u. Tanz inden Bühnenwerken. Stgt. 2008, bes. S. 316–331.

Gabriele Busch-Salmen

Kayser, Rudolf, auch: Anton Reiser,* 28.11.1889 Parchim/Mecklenburg,† 5.2.1964 New York. – Literaturkritiker,Essayist, Biograf.

K., Sohn eines Kaufmanns, studierte in Ber-lin, München u. Würzburg Germanistik,Philosophie u. Kunstgeschichte u. promo-vierte 1914 mit einer Untersuchung über Ar-nims und Brentanos Stellung zur Bühne (Bln.).1914–1917 war er als Lehrer in Berlin tätig.1919 in den S. Fischer Verlag eingetreten,übernahm er 1922 die Redaktion der »Neuen

Rundschau«. Daneben war K. dramaturgi-scher Berater an der Berliner Volksbühneunter Piscator. Anfang 1933 musste er dieRedaktionsleitung der »Neuen Rundschau«abgeben, da er nach Meinung S. Fischers denneuen polit. Herausforderungen nicht ge-wachsen war. K. emigrierte in die Nieder-lande, 1935 in die USA. Dort lehrte er u.a. amHunter College sowie an der School for SocialResearch in New York; 1951–1957 hatte ereine Professur für dt. Sprache u. Literatur ander Brandeis University in Waltham/Mass.inne.

K. veröffentlichte zunächst eigene Dich-tungen sowie Essays u. Kritiken, in denen erdie expressionistische Literaturbewegungkommentierte: 1911–1914 in der »Aktion«,später in »Der Neue Merkur«, »Zeit-Echo« u.anderen. Anfang der 1920er Jahre sammelteer die Lyrik jener Zeit (Verkündigung. Anthologiejunger Lyrik. Mchn. 1921). In der Einleitungsowie mit seiner eigenen, als letzter Band derexpressionistischen Buchreihe Der Jüngste Tagerschienenen myth. Dichtung Moses’ Tod. Le-gende (Mchn. 1921) propagierte er das Endeder Form- u. Wertezertrümmerung in dermodernen Literatur. Der Essayband Zeit ohneMythos (Bln. 1923. Neudr. Nendeln 1973)zeigte K. als »nachdenklichen, ungläubigenDenker« (Oskar Loerke), der sich in eineproduktive Nietzsche-Nachfolge begebenhatte. In der lebendig geschriebenen KleinenPhilosophie der Dichtung (u. d. T. Dichterköpfe.Wien 1930) reicht die Galerie zukunftswei-sender großer Denker u. Sprachschöpfer vonSpinoza über Goethe, Hölderlin u. Nietzschebis zu den formbewussten George, Hof-mannsthal, Rilke, Borchardt u. den deutsch-sprachigen Epikern der Moderne.

Bedeutung erlangte K. auch als biogr.Schriftsteller. Mit seinem Hauptwerk Stendhaloder Das Leben eines Egotisten (Bln. 1928. Neu-ausg. Ffm. 1982) – gelobt u. a. von StefanZweig, Kerr u. Heinrich Mann – legte er dasüberzeugende Beispiel einer biographie ro-manesque vor. K. hob den iron. u. skept.Realismus, die Lebensintelligenz u. indivi-duelle Energie Stendhals hervor. Geschicktwahrte er die Balance zwischen literarisier-ten, mit psycholog. Gespür verfassten Passa-gen, der Rekonstruktion der äußeren Bio-

Kayser333

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 110: Kafka Killy Lexikon

grafie u. der unaufdringl. Werkanalyse. Vonseinen weiteren Biografien seien die überSpinoza (Bildnis eines geistigen Helden. Wien1932. Engl. New York 1946) im Spannungs-feld religiös-orthodoxer u. reformatorisch-krit. Tendenzen sowie jene über Kant (Wien1934) als »Baumeister« einer fortgeschritte-nen, Vernunft u. Gefühl verbindenden Auf-klärungsphilosophie genannt. K., seit Jahr-zehnten in Deutschland vergessen, ist zu dengroßen dt. Essayisten u. biogr. Schriftstellerndes 20. Jh. zu zählen.

Weitere Werke: Das junge dt. Drama. Bln.1924. – The Life and Time of Jehudah Halevi. NewYork 1949. – Claude-Henri Graf Saint-Simon, Fürstder Armen. Mchn. 1966. – The Saints of Qumrân.Stories and Essays on Jewish Themes. London/NewYork 1977.

Literatur: Peter de Mendelssohn: S. Fischer u.sein Verlag. Ffm. 1970. – Thomas Hansen: R. K. In:Dt. Exillit. Bd. 2, Tl. 2, S. 421–432. – WolfgangKaelcke: R. K. In: Ders.: Parchimer Persönlichkei-ten. Tl. 2, Parchim 1997, S. 40 f. – Claude Foucart:André Gide, R. K. et ›Die Neue Rundschau‹. In:Bulletin des Amis d’André Gide 31 (2003), H. 137,S. 67–79. – Lex. dt.-jüd. Autoren.

Wilhelm Haefs / Red.

Kayssler, Friedrich, * 7.4.1874 Neurode/Schlesien, † 24.4.1945 Klein-Machnowbei Berlin. – Schauspieler, Dramatiker,Aphoristiker.

K., Sohn eines Arztes, studierte Philosophie,ehe er, eben 20-jährig, für die Bühne entdecktwurde u. als Charakterdarsteller, v. a. in rei-feren Jahren, große Erfolge errang. Schonfrüh schrieb K. Aphorismen, gesammeltu. d. T. Schauspielernotizen (Bd. 1, Bln. 1910.Bd. 2, Bln. 1914), die unter Kundigen bald alsBesonderheit erkannt u. nach 1933 als Zeug-nisse seiner inneren Unabhängigkeit angese-hen wurden. Sie bilden zusammen mit K.sgedankenreicher, aber auch oft schlicht lied-haften Lyrik den eigentl. Kern seines Werks u.verdienen auch heute noch Interesse. In ei-nem frühen autobiogr. Text, Der Pan im Salon(Bln. 1907), versammelte K. Gedichte, kleineProsastücke u. Szenen um ein imaginäres Ich.

K.s erstes Bühnenstück war das Märchen-drama Simplicius (Bln. 1905); es enthält Sze-nen aus seiner schles. Jugend. Dramaturgisch

ein Fortschritt u. ein erster Erfolg war dasLustspiel Jan der Wunderbare (Bln. 1917), indem eine der in Schlesien nicht seltenenDorfapostel- u. Gottsuchergestalten von allenFantastereien kuriert wird. Da dieses Stückauf vielen Bühnen nachgespielt wurde, bliebK. beim Lustspiel u. verfasste mit Der Brief(1925) eine Satire auf die in der Nachkriegs-zeit in die Welt der Künstler vordringendenGeschäftsleute.

Von K.s zahlreichen Bearbeitungen u. Ein-richtungen klass. Stücke für zeitgenöss.Bühnen sind die zu Goethes Götz von Berli-chingen (1916) u. zu Shakespeares Cymbeline(1923) im Druck erschienen. Seine theoret.Überlegungen zur Schauspielkunst u. zurBühne sammelte K. unter dem Titel VonMenschentum zu Menschentum (Bln. 1933) u.Wandlung und Sinn (Potsdam 1940).

Weitere Werke: Besinnungen. Aus der äußerenu. inneren Welt. Aphorismen über Natur, Menschu. Kunst. Bln. 1921. – Wege – ein Weg. Eine Ausw.aus Gedichten, Prosa u. Aphorismen. Bln. 1929. –Ausgabe: Ges. Schr.en in 3 Bdn. Bln. 1930.

Literatur: Julius Bab: F. K. Bln. 1920.

Hermann Schreiber / Red.

Keckeis, Gustav, auch: Johannes Muron,* 27.3.1884 Basel, † 10.3.1967 Basel. –Erzähler, Herausgeber, Verleger.

Nach wirtschaftswissenschaftl., juristischenu. philologisch-literar. Studien wurde K.1926 Leiter des Herder Verlags in Freiburg i.Br. 1935 übernahm er die Leitung des Ben-ziger Verlags (Einsiedeln) u. baute ihn zu ei-nem modernen belletristischen Verlag mitSitz in Zürich aus. 1944–1948 gab er im En-cyclios Verlag (Zürich) das siebenbändigeSchweizer Lexikon, 1953/54 das zweibändigeLexikon der Frau heraus. Als Erzähler publi-zierte K. bis 1945 unter dem Namen JohannesMuron u. machte zunächst mit dem RomanDie spanische Insel (2 Bde., Bln. 1926 u. 1928.Neufassung Zürich 1961), einer sehr persönl.Deutung von Leben u. Taten Kolumbus’, u.mit den »Oasenbriefen« Himmel über wan-derndem Sand (Mchn. 1931) von sich reden. AlsWerk des antifaschistischen Widerstandswurde der Roman Das kleine Volk (Einsiedeln1939) empfunden, das der Verteidigungsbe-

Kayssler 334

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 111: Kafka Killy Lexikon

reitschaft einer belg. Kathedralenstadt imErsten Weltkrieg ein Denkmal setzt. Ein breitgefächertes Gemälde der bedrohten Schweizzwischen 1933 u. 1945 liefert Die fremde Zeit(Zürich 1947), während Fedor (Zürich 1957),gepflegt u. stilsicher wie alle Texte K.’, dasSchicksal eines apokryphen russ. Zaren auf-rollt.

Literatur: Bruno Mariacher (Hg.): .. . Dichte-risch wohnet der Mensch. Briefe, Erinnerungen u.Beiträge zum 70. Geburtstag v. G. K. Zürich 1954.

Charles Linsmayer

Keckermann, Bartholomäus, * 1571/72Danzig, † 25.7.1608 Danzig. – Refor-mierter Theologe u. Philosoph.

K. entstammte einer Kaufmannsfamilie, diein den konfessionellen Konflikten Danzigsauf Seiten der Reformierten stand. Zum Stu-dium wandte er sich nach dem damals vomKryptocalvinismus beeinflussten Wittenberg(Immatrikulation 4.5.1590), dann nach Leip-zig (Sommersemester 1592), schließlich nachHeidelberg (Immatrikulation 22.10.1592;Magister 27.2.1595). Danach wurde K. Lehreram Heidelberger Pädagogium, 1597 auch amdortigen Collegium Sapientiae, u. bereitetejunge Studenten auf den Besuch der Kollegi-en vor. Als Magister las er über Logik u. er-hielt 1600 einen Lehrauftrag für hebräischeSprache. Privat behandelte er auch Themender Dogmatik. Als Licentiatus theologiae(23.3.1602) folgte er einem Ruf an das be-rühmte u. viel besuchte Gymnasium seinerHeimatstadt. Gelegentlich hielt er hier wohlPredigten, lebte ansonsten aber als Konrektorzurückgezogen von äußeren Geschäften ganzseiner Wissenschaft.

K.s Leistung ist zu verstehen im Problem-kontext u. im Transformationsprozess deraristotel. Philosophie. Sein Interesse zieltev. a. auf die enzyklopäd. Ordnung des ver-fügbaren Wissens in der Symbiose vonTheologie u. Philosophie. Religiös-katecheti-sche u. kontroverstheolog. Momente tratenganz hinter dem Bemühen zurück, im Sinneeiner methodologisch reflektierten »Neo-scholastik« den gesamten Kreis der theoret.u. prakt. Philosophie in ein rational defi-niertes »System« zusammenzufassen. Ver-

knüpft wurde dabei die auf den Humanismus(Rudolf Agricola, Melanchthon) zurückge-hende Technik der top. Wissenstheorie mitAnregungen des Paduaner Philosophen Gia-como Zabarella (1533–1589) u. des frz.Theoretikers Pierre de la Ramée (1515–1572).Auf Zabarella war K. von Freunden an derUniversität Altdorf hingewiesen worden.

K. drängte sich die Frage auf, wie ohnekanonische Textbindungen, also ohne einKommentationsverfahren älterer Art, das sichausbreitende Feld des Wissens (»eruditioomnis divina et humana«) pädagogisch, me-thodisch u. analytisch aufzubereiten u. mit-tels subsumtionslogisch konzipierter Uni-versalbegriffe bzw. axiomat. Leitsätze(»praecepta«) auf die jeweiligen Prinzipiender einzelnen Disziplinen zu beziehen war.Die Masse des noch nicht als Erkenntnis zubewertenden Wissens, d.h. den Bereich allermögl. Einzelphänomene (»cognitio singula-rium«), bezeichnete K. mit dem Begriff der»Historie«, die auf den Eingriff des systema-tisierenden Intellekts angewiesen ist.

Den Rahmen für K.s enzyklopäd. Denkenbot eine erweiterte Konzeption von »Philo-sophie«, die er final auf die »totius hominisperfectio« zugeordnet sah: als Grundlagen-wissenschaft für alle Wissenschaften, alspropädeut. Fach der akadem. Ausbildung u.als Prototyp von »Wissenschaft« überhaupt.Es war der Anspruch metaphys. Spekulationu. log. Rationalität, der für K. theoret. u.prakt. Disziplinen verklammerte. In der Ver-bindung method. Bewusstseins u. empir.Wissensakkumulation übte K. auf das enzy-klopäd. Schrifttum der Folgezeit, bes. aufJohann Heinrich Alsted, einen bedeutendenEinfluss aus. Zu beachten sind weiterhin K.sbemerkenswerte u. zum Teil über die Or-thodoxie hinausweisende theolog. Positionen(z.B. Verständnis der Theologie als prakt.,d.h. operationaler Disziplin; Theorie derTrinität; Verselbstständigung der philoso-phischen Ethik) wie auch eine intensiveLehrtätigkeit auf dem Gebiet der »philoso-phia practica« (Ethik, Ökonomie, Politik).Sein als Systema systematum von Alsted her-ausgegebenes Gesamtwerk (2 Bde., Hanau1613) bietet einen weit ausgreifenden Über-blick über die Wissensbereiche u. das episte-

Keckermann335

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 112: Kafka Killy Lexikon

molog. Verständnis seiner Zeit. BesondereBeachtung fand in neueren Forschungen (L.Danneberg) K.s Bedeutung für die systemat.Integration der neuzeitl. Hermeneutik in dasaristotel. Wissenschaftssystem.

Weitere Werke (Ort, wenn nicht anders ange-geben: Hanau): Systema SS. Theologiae, tribus li-bris adornatum. 1603. 1607. – PraecognitorumLogicorum tractatus. 1606. – Systema Logicae, tri-bus libris. 1606. – Disputationes Philosophicae.Physicae Praesertim. 1606. – Contemplatio gemina,prior, ex generali Physica de loco: altera ex speciali,de terrae motu. 1607. – Gymnasium Logicum. id estde usu et exercitatione Logicae artis [...] libri 3.London 1606. Hanau 1608. – Systema ethicae tribuslibris adornatum. 1607. 1619. London 1607. –Praecognita Philosophica. 1607 (darin: Brevis etsimplex consideratio controversiae de pugna Phi-losophiae et Theologiae). – Systema disciplinaepoliticae. 1607 u. ö. – Disputationes Practicae,nempe Ethicae, Oeconomicae, Politicae. 1608. –Apparatus practicus. 1609. – Scientiae Metaphysi-cae compendiosum systema. 1609. – De natura etproprietatibus historiae Commentarius. 1610. ––Systema geographicum. 1611. – Opera Omnia. 2Bde., Genf 1614. – Systema compendiosum totiusmathematices [...]. 1617. – Edition: Brevis Com-mentatio nautica. Ed. Kazimiera Augustowska.Gdansk 1992.

Literatur: Emil Menke-Glückert: Die Ge-schichtsschreibung der Reformation u. Gegenre-formation. Bodin u. die Begründung der Ge-schichtsmethodologie durch B. K. Osterwieck 1912.Neudr. Lpz. 1971. – Paul Althaus: Die Prinzipiender dt. reformierten Dogmatik im Zeitalter deraristotel. Scholastik. Lpz. 1916. Neudr. Darmst.1967. – Willem Hendrik van Zuylen: B. K. SeinLeben u. Wirken. Borna/Lpz. 1934. – TheodorSchieder: Briefl. Quellen zur polit. Geistesgesch.Westpreußens, 9 Briefe K.s. In: Altpreuß. Forsch.en18 (1941), S. 262–275. – Otto Weber: Die TreueGottes. Ges. Aufsätze. Neunkirchen 1968,S. 138–141. – Friedrich Goedeking: Die ›Politik‹des Lambertus Danaeus, Johannes Althusius u. B.K. Eine Untersuchung der politisch-wiss. Lit. desProtestantismus zur Zeit des Frühabsolutismus.Diss. Heidelb. 1972. – Manfred Büttner: Die Geo-graphia Generalis vor Varenius. Wiesb. 1973,S. 172–205. – Arno Seifert: Cognitio Historica. DieGesch. als Namengeberin der frühneuzeitl. Empi-rie. Bln. 1976, bes. S. 96 ff. – Walter Sparn: Wie-derkehr der Metaphysik. Die ontolog. Frage in derluth. Theologie des frühen 17. Jh. Stgt. 1976. –Joachim Staedtke: B. K. In: NDB (Lit.). – WilhelmKühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat.

Tüb. 1982, passim. – Wilhelm Schmidt-Bigge-mann: Topica Universalis. Hbg. 1983, S. 89 ff. u. ö.– Ueberweg, Bd. 4/1 (2001), S. 407 f., 410–412. –Joseph S. Freedman: The Career and Writings of B.K. (d. 1609). In: Proceedings of the American Phi-losophical Society 141 (1997), S. 305–364, Bibliogr.S. 338–348. – Günter Frank: Die Vernunft desGottesgedankens. Religionsphilosophische Studienzur frühen Neuzeit. Stgt.-Bad Cannstatt 2003,S. 175–220. – Lutz Danneberg: Kontroverstheolo-gie, Schriftauslegung u. Logik als ›donum Dei‹. K.u. die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In:Kulturgesch. Preußens kgl. poln. Anteils. Hg. Sa-bine Beckmann u. Klaus Garber. Tüb. 2005,S. 435–563 (grundlegend mit üppigen Literatur-hinweisen u. Ausführungen zum intellektuellenKontext). – Kees Meerhof: B. K. and the Anti-Ra-mist Tradition at Heidelberg. In: Späthumanismusu. reformierte Konfession. Hg. Christoph Strohmu. a. Tüb. 2006, S. 169–206. Wilhelm Kühlmann

Keerl, Johann Heinrich, * 4.2.1759 Hei-denheim/Mittelfranken, † 22.1.1810Ansbach. – Dramatiker, Lyriker, Überset-zer, Herausgeber.

K., Sohn eines Klosterverwalters u. Kam-merrats in Heidenheim, besuchte das Gym-nasium in Ansbach, studierte in Erlangen dieRechte, wurde Hof- u. Regierungssekretär inAnsbach u. stieg 1795 zum Konsistorial-assessor auf. Als die Markgrafschaft Ansbach1806 zum Königreich Bayern kam, brachte eres bis zum Appellationsgerichtspräsidenten.K. heiratete am 9.5.1789 Anna MargaretheMesserer; seine Tochter Amalie, die spätereFrau des Archäologen Joseph Anselm Feuer-bach, ist die Mutter des Malers AnselmFeuerbach.

K. entfaltete neben seinen Amtspflichteneine rege schriftstellerische Tätigkeit. Vockes»Ansbachischer Geburts- und Todten-Alma-nach« verzeichnet allein zehn Werke vonihm. K. verfasste ein Trauerspiel u. zahlreicheGelegenheitsgedichte, schrieb pädagog., ju-ristische u. kulturgeschichtl. Schriften, über-setzte u. war Mitherausgeber der popular-philosophischen Zeitschriften »FränkischesArchiv« u. »Anspachische Monathsschrift«.Seine Lieder und Gesänge [...] (Ansbach 1794)wurden mehrfach aufgelegt.

Keerl 336

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 113: Kafka Killy Lexikon

K. gehört zum Kreis bayerischer Spätauf-klärer; heute nahezu vergessen, war er weitüber Ansbach hinaus eine bekannte u. ge-schätzte Persönlichkeit.

Weitere Werke: Atabaliba oder der Sturz desInka’s. Nürnb. 1788 (Trauersp.). – Fränk. Unter-haltungen zum Nutzen u. Vergnügen. 4 Bde.,Schwabach 1790–94. – Empfindungen, Entschlüs-se, u. Beschäftigungen gutgearteter Kinder. Ans-bach 1794. – Houels Reisen durch Sicilien, Malta u.die Lipar. Inseln. 6 Tle., Gotha 1797–1809 (Übers.).– Gedichte. 2 Bde., Fürth 1802/03. – Siciliens vor-züglichste Münzen u. Steininschriften aus demAlterthum. 2 Tle., Gotha 1802–05.

Friedhelm Auhuber

Kegel, Max, * 6.1.1850 Dresden, † 10.8.1902 München. – Lyriker, Satiriker,Journalist.

K., unehel. Sohn einer Näherin, durchliefnach seiner Schulzeit eine Buchdruckerlehreu. bildete sich autodidaktisch in Volkswirt-schaft u. Literatur weiter. 1869 trat er in dieSozialdemokratische Arbeiterpartei ein u.war, gefördert von August Otto-Walster, fürdie Arbeiterpresse (»Dresdner Volksbote«)tätig. Zwei Jahre später gründete er das so-zialdemokratische Witzblatt »Der Nußkna-cker«, ein Beiblatt der »Chemnitzer FreienPresse«, deren Redaktion er 1873–1878 an-gehörte. Weitere Neugründungen von Pres-seorganen für die Arbeiterschaft ereilte im-mer wieder das Verbot, so auch 1881 »Hi-ddigeigei«, K.s satir. Beiblatt zur »DresdnerAbendzeitung«. Seit 1882, nach wiederholtenGefängnisstrafen in München ansässig, leite-te er den »Süd-Deutschen Postillon« (bis1888); danach war er Mitredakteur bei »Derwahre Jakob«. Beide satir. Blätter hatten ei-nen größeren Abonnentenstamm als der»Kladderadatsch«.

K.s schriftstellerisches Werk ist geprägt vonseinen Erfahrungen in der sozialdemokrati-schen Pressearbeit. Neben dem LustspielPreßprozesse oder Die Tochter des Staatsanwalts(Zürich 1876) u. der Novelle Robert der Ver-einsteufel (Mchn. 1883) verfasste er v. a. sozi-alkrit. Lyrik oft satir. Charakters, die er in dendrei Bänden Freie Lieder (Chemnitz 1878), So-zialdemokratisches Liederbuch (Stgt. 1891) u.Gedichte (Stgt. 1893) zusammenfasste. 1889

würdigte er Ferdinand Lassalle in einer Ge-denkschrift zu seinem 25jährigen Todestag (Stgt.).1890 gab er die sozialkrit. GedichtanthologieLichtstrahlen der Poesie (Stgt.) heraus. Bekanntwurde K.s »Sozialistenmarsch« von 1891zum Erfurter Parteitag; er löste Audorfs Ar-beitermarseillaise ab.

Ausgaben: M. K. Ausw. aus seinem Werk. Hg.Klaus Völkerling. Bln./DDR 1974.

Literatur: Ursula Münchow: M. K. In: Dies.:Arbeiterbewegung u. Lit. 1860–1914. Bln./DDR1981, S. 68–82. Günter Häntzschel

Kehlmann, Daniel, * 13.1.1975 München.– Erzähler, Essayist.

Seit 1981 in Wien ansässig, studierte K., Sohndes Regisseurs Michael Kehlmann u. derSchauspielerin Dagmar Mettler, dort Philo-sophie u. Germanistik. Seine ersten beidenRomane, Beerholms Vorstellung (Wien/Mchn.1997) u. Mahlers Zeit (Ffm. 1999), enthalten,ebenso wie die Erzählung Unter der Sonne(Wien/Mchn. 1998), formale Aspekte u. the-mat. Elemente, die auch in seinen späteren,erfolgreicheren Romanen eingesetzt werden.Dazu zählt neben dem Figurenrepertoire, dassich in einem akadem. Millieu situiert, etwadie Konstruktion einer Erzählsituation, dieden Leser darüber im Unklaren lässt, ob ermit einem unzuverlässigen Erzähler oder ei-ner fantastischen (erzählten) Welt konfron-tiert ist. Auch im Roman Der fernste Ort (Ffm.2001) bleibt lange unklar, ob der Erzählerdeliriert (d.h. streckenweise unzuverlässig ist)oder ob die erzählte Welt von der bekanntenAlltagswelt abweicht (d.h. fantastische Zügeträgt). Die Protagonisten der frühen Romanesind Naturwissenschaftler (ein Mathematikeru. ein Physiker), die dem Topos des »madscientist« nahe kommen; das Umfeld vonMahlers Zeit ist eine satir. Züge gewinnendeuniversitäre Lebenswelt. Eine satir. Perspek-tive auf die Kunstgeschichte u. den Kunstbe-trieb entwirft Ich und Kaminski (Ffm. 2003),K.s erster erfolgreicher Roman. Das Instru-ment des unzuverlässigen Erzählers wirdauch hier eingesetzt; allerdings tariert K. dieDarstellung des egoman. Erzählers, einesKunsthistorikers, so aus, dass dem Leser frühdie verzerrte Selbst- u. Weltwahrnehmung

Kehlmann337

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 114: Kafka Killy Lexikon

des Erzählers deutlich wird. Für den MalerKaminiski, der dem Erzähler als Trittbrett fürdie eigene Karriere dienen soll, konstruiert K.eine Werkbiografie, die diesen in die realeKunstgeschichte der Moderne einbettet; einähnl. Verfahren der Herstellung imaginärerWerke, das u. a. an Borges’ Pierre Ménard, autordel Quijote erinnert, findet sich auch in Unterder Sonne.

Die Vermessung der Welt (Reinb. 2005), eineDoppelbiografie von Alexander von Hum-boldt u. Carl Friedrich Gauß in Romanform,war mit einer verkauften Auflage im deutlichsiebenstelligen Bereich einer der großen Pu-blikumserfolge der jüngeren dt. Literaturge-schichte, wurde in die meisten wichtigen Li-teratursprachen übersetzt u. stellte sich auchinternational als ein Verkaufserfolg dar. Eineder externen Erfolgsvoraussetzungen desRomans ist sicherlich in der Humboldt-Re-naissance zu sehen, die im Sommer 2004durch die Herausgabe des Kosmos von HansMagnus Enzensberger eingeleitet wurde. Inder Rezeption des histor. Romans, der zumTeil auch Züge eines Abenteuerromans trägt,wurde der Figur Humboldts häufig ein grö-ßeres Gewicht zuerkannt, gerade in seinerVerbindung mit Aimé Bonpland – ein un-gleiches männl. Paar, das an Holmes u. Wat-son, Mason u. Dixon (in Pynchons gleichna-migen Roman) oder Ulises Lima u. ArturoBelano (in Bolaños Los detectives salvajes) erin-nert. Die immer wieder hervorgehobene la-kon. Ironie des Romans verdankt sich nebender Figurencharakterisierung v. a. dem genaukalkulierten Einsatz indirekter Rede des Er-zählers. Der subtile Humor wird transpor-tiert von einem ausgewogenen, von einfachstrukturierten Sätzen getragenen Stil, dernicht moralisiert, häufig aber doch auf einemoralische, die »condicio humana« treffendePointe zielt.

Die im Band Wo ist Carlos Montúfar? ÜberBücher (Reinb. 2005) gesammelten Essays u.Kritiken diskutieren die Poetik des Romans.Wichtige Problemfelder sind der moderneRoman als Medium der Ironie, die Erzähler-haltung im modernen Roman u. die mimet.Dimension der Literatur, die von K. mit Be-griffen wie »Realismus«, »magischer Realis-mus« u. »Phantastik« angesprochen wird.

Gerade das Verhältnis von Fiktivem, Fakti-schem u. Wahrscheinlichem spielt schon inden ersten Romanen K.s, in denen traumhafteu. halluzinator. Elemente prominent sind,eine wichtige Rolle. Eine ungebrochene Fa-bulierfreude kennzeichnet nämlich keines-wegs nur den Autor K., sondern auch vieleseiner Figuren, denen die konstruktive Kraftihres (nicht als solchen durchschauten) Er-zählens häufig zum solipsist. Verhängniswird. Hervorzuheben sind zudem die Über-legungen zu der Zeichentrickserie The Simp-sons, die skizzenhaft eine »doppelte Optik«des Kunstwerks entwerfen, das unterschiedl.Rezeptionsebenen aufweist u. derart einehohe Popularität mit einem hohen Anspruchverbinden kann. In seinen krit. Urteilen überdas Werk anderer Literaten bewegt sich K. invorhersehbaren Bahnen; er orientiert sichweitgehend an hochkanonisierten Autoren,die ihm als Haltegriffe für die eigene Selbst-verständigung zu dienen scheinen. Wie auchK.s Göttinger Poetikvorlesungen Diese sehrernsten Scherze (Gött. 2007) deutlich machen,ist seine Prosa so sympathisch, weil sie Ur-banität u. Weltläufigkeit ausstrahlt, eineGroßzügigkeit u. Liberalität, die gelegentlichdazu neigt, sich etwas zu leicht mit den»idées reçues« abzufinden.

In Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten(Reinb. 2009) verknüpft K. neun Erzählun-gen, die sich auf z.T. abweichenden Fik-tionsebenen ineinander spiegeln. Damitwerden unterschiedl. Erzählebenen kurzge-schlossen (z.B. weiß eine Figur um ihre Fik-tionalität u. von ihrem Autor, der sich selbstwiederum als fiktionale Figur herausstellt).Der souveräne Einsatz der narrativen Ver-schränkungen hat den Effekt, dass sich dasliterar. Werk auf sich selbst bezieht. DieserEinsatz von Erzählmodellen der Selbstrefe-renz u. Rahmendurchbrechung rückt dasBuch stellenweise in die Nähe von Formen›romantischer‹ Ironie. Eine Verfilmung vonIch und Kaminski durch Wolfgang Beckerist angekündigt (Filmstart voraussichtlich2010).

K. war 2001 Gastdozent für Poetik an derUniversität Mainz; im Wintersemester 2005/06 hatte er die Poetikdozentur an der FHWiesbaden u. im Wintersemester 2006/07 die

Kehlmann 338

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 115: Kafka Killy Lexikon

Poetikdozentur an der Universität Göttingeninne. Er erhielt u. a. 1998 den Förderpreis desKulturkreises der Deutschen Wirtschaft, 2003den Förderpreis des Österreichischen Bun-deskanzleramtes, 2005 den Candide-Preis derStadt Minden, 2006 den Literaturpreis derKonrad-Adenauer-Stiftung, den Heimito-von-Doderer-Preis u. den Kleist-Preis u. 2008den Thomas-Mann-Preis (Lübeck). K. istMitgl. der Akademie der Wissenschaften undder Literatur, Mainz, u. der Deutschen Aka-demie für Sprache und Dichtung, Darmstadt.

Weiteres Werk: Requiem für einen Hund. EinGespräch (zus. mit Sebastian Kleinschmidt). Bln.2008.

Literatur: Jakob Augstein: Der Handlungsrei-sende. In: Die Zeit, 24.11.2005. – Gustav Seibt:Eine Eule auf Panoramaflug. In: SZ, 15.12.2005. –Wolfgang Schneider: Der Kosmos des D. K. In:FAZ, 8.12.2006. – Alexander Honold: Ankunft inder Weltlit. Abenteuerliche Geschichtsreisen mitIlja Trojanow u. D. K. In: NR (2007), H. 1,S. 82–104. – Olga Olivia Kasaty: Ein Gespräch mitD. K. In: Dies.: Entgrenzungen. Vierzehn Auto-rengespräche. Mchn. 2007, S. 169–195. – MariusMeller: Die Krawatte im Geiste. In: Merkur 61(2007), H. 695, S. 248–252. – Heinz Ludwig Arnold(Hg.): D. K. (Text + Kritik. H. 177). Mchn. 2008. –Gunther Nickel (Hg.): D. K.s ›Die Vermessung derWelt‹. Materialien, Dokumente, Interpr.en. Reinb.2008. – Henning Bobzin: D. K. In: KLG.

Carlos Spoerhase

Keilson, Hans, auch: Alexander Kailand,Benjamin Cooper, * 12.12.1909 Bad Frei-enwalde. – Erzähler, Essayist, Lyriker.

Der aus einer jüd. Familie stammende K.studierte Medizin u. Sport in Berlin. 1936emigrierte er in die Niederlande, wo er sichwährend der Besetzung verborgen hielt u. alsArzt den Widerstand unterstützte. VomKriegsende bis 1979 leitete K. die Hilfsorga-nisation »Le Ezrad Ha Jeled« (für die Be-treuung jüd. Waisenkinder). Nach mehrjäh-riger Tätigkeit als Kinderpsychiater an derAmsterdamer Klinik wirkte er als Psycho-analytiker in Bussum, wo er zahlreiche wis-senschaftl. Schriften zu Problemen der Psy-choanalyse verfasste (u. a. Sequentielle Trauma-tisierung bei Kindern. [. . .] . Stgt. 1979. Gießen2005). 1986–1988 war K. Präsident des

P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autorenim Ausland.

1933 erschien in Frankfurt/M. K.s auto-biogr. Roman Das Leben geht weiter (Neuaufl.Ffm. 1984. 1995). Nach dem Krieg veröf-fentlichte er die Erzählung Komödie in Moll(Amsterd. 1948. Ffm. 1995), die in einerkühnen Gratwanderung zwischen Tragödieu. makabrer Komik Ereignisse aus antifa-schistischem Widerstand u. Judenverfolgungschildert. Der bereits 1942 begonnene RomanDer Tod des Widersachers (Braunschw. 1959.Ffm. 1996), der in Deutschland zunächst na-hezu unbeachtet blieb, fand in den USA gro-ße Zustimmung der literar. Kritik. Der fiktiveErlebnisbericht erzählt von der Hassliebe ei-nes verfolgten Juden zu seinem »Widersa-cher«, dem faschistischen Diktator. Erst nachder Wiederveröffentlichung dieser Haupt-werke in den 1980er Jahren wurde K. auch inDeutschland als ein bedeutender Autor derdt.-jüd. Exilliteratur neu entdeckt. Nachzahlreichen essayistischen u. poetischen Bei-trägen in Sammelwerken trat er mit demBand Sprachwurzellos (Gießen 1987. 51998)auch als Lyriker hervor.

Weitere Werke: Einer Träumenden. Poem.Gießen 1992. – Wohin die Sprache nicht reicht.Vorträge u. Essays aus den Jahren 1936–1996. Miteinem Nachw. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik.Gießen 1998. – Zerstörung u. Erinnerung. Gießen1999. – Sieben Sterne. Reden, Gedichte u. eineGesch. Mit einem Nachw. v. Gerhard Kurz. Gießen2003. – Werke in zwei Bdn. Bd. 1: Romane u. Er-zählungen. Bd. 2: Gedichte u. Essays. Hg. HeinrichDetering u. G. Kurz. Ffm. 2005.

Literatur: Hans Kricheldorff: Metaphysik desBösen. In: NDH 6 (1960). – Dierk Juelich (Hg.):Gesch. als Trauma. FS für H. K. Gießen 1997. –Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Vergegen-wärtigungen des zerstörten jüd. Erbes. Franz-Ro-senzweig-Gastvorlesungen Kassel 1987–1998. Kas-sel 1997. – Marianne Leuzinger-Bohleber u. W.Schmied-Kowarzik (Hg.): ›Gedenk u. vergiß – imAbschaum der Geschichte ...‹. H. K. zu Ehren. Tüb.2001. – Roland Kaufhold: ›Das Leben geht weiter‹.H. K., ein jüd. Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pä-dagoge u. Musiker. In: Ztschr. für psychoanalyt.Theorie u. Praxis 23 (2008), H. 1/2, S. 142–167.

Heinrich Detering / Red.

Keilson339

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 116: Kafka Killy Lexikon

Keim, Franz, * 28.12.1840 Stadl-Paura/Oberösterreich, † 26.6.1918 Brunn amGebirge/Niederösterreich. – Dramatiker,Lyriker.

Der Sohn eines Bahnhofswirts besuchte dasGymnasium in Kremsmünster u. studierteseit 1860 in Wien Jura, wechselte jedoch baldzu philologischen Studien u. hörte in Zürichu. a. bei F. Th. Vischer Vorlesungen, war aberaus finanziellen Gründen zum Abbruch desStudiums gezwungen. Nachdem K. verschie-dene Berufe ausgeübt hatte (u. a. im Verwal-tungsdienst in Triest, später als Hauslehrer u.Rechnungsbeamter), schloss er 1875 das Stu-dium mit der Lehramtsprüfung ab. Bis zuseiner Pensionierung 1898 war er als Gym-nasiallehrer in St. Pölten tätig; 1902–1913lebte er als freier Autor in u. bei Wien, bevorer nach Brunn am Gebirge übersiedelte.

Laubes Inszenierung der Sulamith (Wien1875) verhalf K. 1876 zum Durchbruch alsDramatiker, der sich später in Anlehnung anAnzengruber u. Rosegger dem Volksstückmit Stoffen aus der Geschichte u. Sagenweltder Wachau zuwandte (u. a. Die Spinnerin amKreuz. Wien 1892). Der Gedichtzyklus StefanFadinger. Ein deutsches Bauernlied auf fliegendenBlättern (Wien 1885) beschreibt Situationenaus dem Bauernkrieg. Lieder aus der weiten Welt(Linz 1902) versammeln Balladen, Gelegen-heitslyrik u. eine kleine Gruppe von oberös-terr. Mundartliedern.

Weitere Werke: Der Königsrichter. Lpz. 1879(D.). – Aus dem Sturmgesang des Lebens. Ges.Dichtungen. Minden 1887. – Mephistopheles inRom. Lpz. 1892 (D.). – Die Amelungen. Dresden1904 (D.). – Ges. Werke. 5 Bde., Mchn. 1912 f.

Literatur: Zwei österr. Heimatdichter: F. K. u.Ottokar Kernstock. Ausw. mit Einl.en hg. v. FranzWastian. Wien 1913. – Gerhard Ressel: F. K.s Lebenu. Schaffen. Diss. Prag 1926. – Oskar Scholz: F. K.als Dramatiker. Diss. Wien 1928. – ÖBL. – GerhardWinkler: F. K. In: NDB. – Goedeke Forts.

Helmut Blazek / Hans Peter Buohler

Keim, (Karl) Theodor, * 17.12.1825 Stutt-gart, † 17.11.1878 Gießen. – Theologe.

Als Tübinger Student geprägt von der Theo-logie Baurs, wirkte K., Sohn eines Oberprä-zeptors, 1856–1860 als Pfarrer in Esslingen,

dann als Theologieprofessor in Zürich u. seit1873 in Gießen. Nach Forschungen zurschwäb. Reformationsgeschichte wandte ersich der Geschichte des Urchristentums u.bes. der Frage nach dem histor. Jesus zu, diezu seinem Lebensthema wurde.

In Auseinandersetzung mit der Orthodoxiewie mit David Friedrich Strauß entwarf er inder Geschichte Jesu von Nazara (3 Bde., Zürich1867–72) eine »menschliche Auffassung Jesuohne Verzicht auf seine Hoheit«. Das Werkstellt nach dem Urteil Albert Schweitzersnicht nur eines der theologisch bedeutends-ten »Leben Jesu« dar, sondern auch eine be-achtliche künstlerische Leistung: »Schöneresund Tieferes hat niemand mehr über dieEntwicklung Jesu geschrieben.« Die Kurz-fassung Geschichte Jesu nach den Ergebnissenheutiger Wissenschaft für weitere Kreise übersicht-lich erzählt (Zürich 1873. Bearbeitet 1875) er-reichte breite Leserschichten; ihre literar.Wirkung reichte bis in die Konzeption vonWilhelm Raabes Roman Im alten Eisen.

Weitere Werke: Die Reformation der Reichs-stadt Ulm. Stgt. 1851. – Schwäb. Reformationsge-sch. Tüb. 1855. – Der geschichtl. Christus. Zürich1865 u. ö. – Eine Reihe v. Vorträgen. Zürich 1866. –Aus dem Urchristentum. Zürich 1878. – Rom u. dasChristentum. Bln. 1881.

Literatur: Albert Schweitzer: Gesch. der Leben-Jesu-Forschung. Tüb. 91984. – Eckhard Plümacher:K. T. K. In: Bautz. Heinrich Detering / Red.

Keiman, Christian, * 27.2.1607 Pankraz/Böhmen, † 13.1.1662 Zittau; Grabstätte:ebd., St. Johanniskirche. – Pädagoge;Dramatiker u. Kirchenlieddichter.

Der Pfarrerssohn besuchte in Zittau, wohinsein Vater vor der Gegenreformation geflohenwar, das Gymnasium. Seit 1627 studierte er inWittenberg; dort förderten ihn der KlassischePhilologe Erasmus Schmidt sowie Buchner,der die akadem. Rede veröffentlichte, die K.1634 nach Erlangung des Magistergrads hielt(Oratio de exercitatione styli). 1634 berief dieunter der Pest u. plündernden Soldaten lei-dende Stadt Zittau K. zum Konrektor ihresGymnasiums; 1639 wurde er Rektor. Erwirkte erfolgreich für eine Reform des Gym-

Keim 340

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 117: Kafka Killy Lexikon

nasialunterrichts. 1651 wurde er zum Dichtergekrönt.

K. verfasste vielbenutzte Schulbücher fürdie Fächer Rhetorik, Logik u. Arithmetik. Diegriech. (Tabulae declinationum [.. .] apud Graecos.Lpz. 1649. 31683) u. die lat. Grammatik(Enchiridion grammaticum latinum. Jena 1649)blieben – in den Redaktionen von Elias Weise(1666) u. Christian Weise (1681 u. ö.) – bis ins18. Jh. Lehrbücher am Zittauer Gymnasium.

Seine poetische Begabung nutzte K. inMerkversen zu pädagog. Zwecken. So ver-fasste er eine »Kleine Gedächtnüß-Bibel«Mnemosyne sacra (Görlitz 1656. Lpz. 21652) u.die dreisprachige Sentenzensammlung Micaeevangelicae (Zittau 1655. Stettin 41687), dieHauptgedanken des NT je in einem griech.,lat. u. dt. Epigramm resümiert.

Für das Schultheater lieferte K. Spieltexte(Vier Schauspiele. Zittau 1657), häufig nachbibl. Stoffen. Dabei griff er auf Vorlagen zu-rück, die er übersetzte u. bearbeitete (Samuelnach Johann Förster, 1646; Susanna nachFrischlin, 1648), oder dichtete selbst (JungerTobias. Freiberg 1641. Der neugebohrne Jesus,den Hirten und Weisen offenbahret. Görlitz 1646.Neudr. von Paul Markus in: Neues Lausitzi-sches Magazin 112, 1936, S. 21–75). In dieStücke sind geistl. Lieder eingefügt. Die gro-ße Wertschätzung, die K. als Kirchenlied-dichter (z.B. Freuet euch ihr Christen alle, MeinenJesum laß ich nicht) bei den Zeitgenossen fand,dauert bis heute fort.

Weitere Werke: Historia Iohannis Baptistaeheroico metro comprehensa. Wittenb. 1630. –Rhetorica [...] versibus inclusa hexametris. [1639].Lpz. 21659. – Compendium logices [1639]. Lpz.21652. – Arithmetica practica. Görlitz 1639 (mit derLogik vereinigt zu: Paedia scholastica compen-diosa. Görlitz 1648). – Rechen-Büchlein. Lpz. 1641.– Bearbeiter: Melchior Gerlach. Sententiarum sacra-rum centuriae duae. Dresden 1635. – Johann Pos-sel: Evangelia et Epistolae. Lpz. 1649. 1683. – An-dreas Wittwer: Onomatographia consulum Zitta-norum. Zittau 1656. – Gideon Hoffmann: Wechsel-Büchlein. Zittau 1658. – Augustin Preis: Analysisevangeliorum. Zittau 1659. – (Gelegenheitsge-dichte, Programme u. Reden in der Stadtbibl. Zit-tau).

Literatur: Christian Weise: Memoria ChristianiKeimani. Zittau 1689. – Heinrich Julius Kämmel:C. K. Programm Zittau 1856. – Ders.: C. K. In: ADB.

– Theodor Gärtner (Hg.): Quellenbuch zur Gesch.des Gymnasiums in Zittau. Bd. 1, Lpz. 1905,S. 88–90. – Heiduk/Neumeister (Register). – Wolf-gang Dinglinger: C. K. In: Wolfgang Herbst (Hg.):Wer ist wer im Gesangbuch? Gött. 22001, S. 174 f. –Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 973–978.

Achim Aurnhammer

Kein, Ernst (Aloysius), * 27.11.1928 Wien,† 21.1.1985 Wien; Grabstätte: ebd., Ot-takringer Friedhof. – Lyriker, Erzähler,Feuilletonist, Hörspielautor.

K., Sohn eines Mechanikermeisters, war als16-Jähriger bei der Fliegerabwehr. Das Stu-dium der Theaterwissenschaften, Publizistiku. Psychologie in Wien beendete er kurz vordem Abschluss. Er gehörte dem Kreis um dieZeitschrift »Neue Wege« (bis 1951) an u. lebteab 1955 als freier Schriftsteller.

Zusammen mit Artmann u. Rühm ist K.der Begründer einer neuen Wiener Dialekt-dichtung. Seine scherzhaften Kurzgedichtevoll schwarzen Humors u. seine Glossen(u. d. T. weana schbrüch, Herr Strudl u. HarbeSprüch in: Neue Kronen Zeitung. WeanaSchbrüch. Salzb. 1990) ließen K. als »Dichterernster moderner Lyrik« (Okopenko) weitge-hend in Vergessenheit geraten. FriedrichCerha vertonte u. d. T. Keintate (Urauff. 1983)Sprüche aus dem Wiener Panoptikum (Wien/Mchn. 1970) u. der Wiener Grottenbahn (ebd.1972).

K. erhielt 1958 u. 1976 den Österreichi-schen Staatspreis, 1971 den Preis der StadtWien u. 1974 den Theodor-Körner-Preis.

Weitere Werke: Alltagsgesch.n. Wien 1959. –Die Meute. Salzb. 1961 (E.en). – Die Verhinderung.Salzb. 1966 (R.). – Kein Buch. Bln. 1967. Wien 1998.– Ausflug zur Grenze. Wuppertal/Barmen 1970. –Wohnhaft in Wien. Wien/Mchn. 1976 (Skizzen). –Die kleinen Freuden der Wiener. Wien/Mchn.1983. – Wirtshausgesch.n. Wien/Mchn. 1986. – Diedritte Art von Raserei. Visuelle Gedichte [mit einerVorbemerkung von Andreas Okopenko]. In: pro-tokolle (1988), H. 2, S. 42–69. – Kein Buch. Sprü-che, Lieder u. Gesch.n. Hg. u. mit einem Nachw.vers. v. Maria Fialik. Wien 1998.

Literatur: Andreas Okopenko: E. K.s hoch-sprachige Lyrik. In: Freibord, H. 57 (1987) S. 74–94(mit bisher unveröffentl. Gedichten). – Gerhard

Kein341

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 118: Kafka Killy Lexikon

Zeillinger: Ein Buch, das hält. Das ›Kein-Buch‹ v. E.A. K. In: LuK 34 (1999), H. 331/332, S. 81 ff.

Martin Grill / Red.

Kelin. – Fahrender Sangspruchdichter desmittleren 13. Jh.

Die Jenaer Liederhandschrift (J) überliefert anvierter Stelle, nach Stolle u. Bruder Wernher,unter »Meister kelyn« ein Corpus von 26Strophen in drei Tönen mit den Melodien.Den Redaktoren von J galt K. als Erfinder derTöne, nicht unbedingt als Autor aller Stro-phen. Wenige Sprüche erlauben biogr.Schlüsse: III 8 ist ein Gruß aus der Ferne anden bedeutenden Ministerialen Volkmar II.von Kemnat in Schwaben (urkundlich 1230bis mindestens 1276, evtl. 1282), dem derDichter, der sich hier explizit zu den »gern-den« zählt, bereits drei (verlorene) »lobeliet«gewidmet hatte (später gedenkt Rumelantvon Schwaben Volkmars rühmend). III 6 u. III10 sind während des Interregnums verfasst,vermutlich 1254 u. 1257 oder wenig später.Von den in II 3 u. III 4. 6. 8 erwähnten Per-sonen- u. geografischen Namen weist keinerin nördl. Gegenden Deutschlands; die auf-fallende mitteldt. bzw. niederdt. Färbunganderer Strophen (bes. I 3. 5–8; III 1) kannschwerlich als Spur überarbeitender Tradie-rung gedeutet werden. Der Name »Ke(n)lin«ist im 13./14. Jh. im Südwesten des Reichsbezeugt.

Das gleiche Corpus wie in J war in einerengverwandten mitteldt.-niederdt. Lieder-handschrift von ca. 1350 mit Melodien ent-halten (Reste in Basel; dort mit dem Anfangder Name verloren). Sonst ist nur derstrophenreichste Ton III nachgewiesen: ImMarner-Corpus der Großen Heidelberger Lieder-handschrift (C) stehen mit der zeitgenöss. Bei-schrift »keli« vier Strophen (darunter III11–13), im Bruchstück einer etwa gleichzei-tigen Liederhandschrift in Maastricht na-menlos III 3. 5, in der St. Katharinentaler Lie-dersammlung (zweites Viertel 15. Jh.) anonymein Mariengebet, unter »Frauenlobs Hund-weise« in der Kolmarer Liederhandschrift einMarienlied mit Melodie sowie fünf Strophen(darunter III 5, die Fabel vom Hund amWasser, aus der sich der Tonname erklärt)

sowie dasselbe Marienlied mit Melodie in derDonaueschinger Liederhandschrift. Den Nürn-berger Meistersingern wurde der Ton imspäten 16. Jh. als »Frauenlobs Hundsfüß-weise« bekannt.

Die Töne I u. II gehören nach Form u.Melodie zu den Kanzonen mit drittem Stol-len (AAbA) – ein Bautyp, der von Sang-spruchdichtern gegen die Mitte des 13. Jh.aus der Lieddichtung übernommen wurde.Der ambitionierte Ton III zeigt den vonWalther von der Vogelweide in seinenSpruchtönen eingeführten, später kaummehr verwendeten Bau AABB. Als Dichter dervier Strophen dieses Tons im Marner-CorpusC betrachtet die neuere Forschung einhelligden Marner. Strittig ist, wer den Ton ge-schaffen hat. Traut man der Zuweisung in J,wo im Gegensatz zu C das Tonautorprinzipherrscht, u. stammt überdies der GönnergrußIII 8 von K., so wird man K. für den Erfinderhalten. (Der Marner ›kreuzt‹ in zwei Tönen,die er am häufigsten gebrauchte, die Bauty-pen AABB u. AAbA.) Die Beischrift »keli« in Clässt sich dann als ergänzender Hinweis aufden Tonautor verstehen (analog der Beischrift»alt stolle« zum vorangehenden Strophen-paar des Marner in Stolles Alment).

Die Strophen behandeln typische Themender Fahrendendichtung. Geistliche Sprüchesind selten; der Ehrgeiz, sich durch Darbie-tung gelehrten Wissens zu profilieren, fehlt.Stark ausgeprägt ist die Rolle des mahnen-den, moralisch belehrenden, scheltenden u.sich seiner »kunst« bewussten Ich. Die gott-gefällige »milte« u. ihr Gegenteil werdenunter verschiedensten Blickwinkeln besun-gen, die desolate Gegenwart an idealen frü-heren Zeiten gemessen. Ungewöhnlich ist derscharfe Tadel der Männer, die »die süezenwîp« verleumden, statt ihr Lob zu mehren(I 7). Genutzt wird u. a. die Fabel (III 5), dieRätselform (I 3. 9), der Dialog (III 3–4, FrauEhre u. die Schande). Die Syntax ist klar;stilistisch am anspruchsvollsten sind dieStrophen des Tons III.

Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen(Hg.): Minnesinger. 4 Tle., Lpz. 1838. Tl. 3,S. 20–25, 408; Tl. 4, S. 780–782. – Wangenheim (s.Lit.), zitiert; zu ergänzen: Tervooren/Bein (s. Lit.). –Weitere Nachweise, bes. zu den nicht in J überlie-

Kelin 342

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 119: Kafka Killy Lexikon

ferten Strophen in Ton III, in: RSM 4 (s. Lit.). –Hinzu kommen: Geistl. Gesänge des dt. MA. Me-lodien u. Texte handschriftl. Überlieferung bis um1530. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 2 ff., Kassel u. a.2004 ff., Nr. 232. 498. 507. – Willms (s. Lit.). –Kornrumpf (s. Lit.). – Spruchsang. Die Melodiender Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. HorstBrunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a.(im Druck).

Literatur: Wolfgang v. Wangenheim: Das Bas-ler Fragment einer mitteldt.-niederdt. Liederhs. u.sein Spruchdichter-Repertoire (Kelin, Fegfeuer).Bern/Ffm. 1972; dazu Georg Objartel, in: ZfdPh 93(1974), S. 464–469. Zu S. 41 f. (Volkmar v. Kemnat)ergänze: Alfred Schröder: Das Bistum Augsburg.Bd. 7, Augsb. 1906–10, S. 208–217, 263–278. –Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975. –Helmut Lomnitzer: K. In: VL (Lit.). – Helmut Ter-vooren u. Thomas Bein: Ein neues Fragment zumMinnesang u. zur Sangspruchdichtung. In: ZfdPh107 (1988), S. 1–26, bes. S. 7, 10, 18 f. – RSM 4.Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger.Tüb. 1988, S. 169–175, 272 f. (Lit.); ergänze: RSM1, Tüb. 1994, S. 25. – Stefan Hohmann: Friedens-konzepte. Köln 1992. – Johannes Rettelbach: Va-riation – Derivation – Imitation. Untersuchungenzu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meister-singer. Tüb. 1993. – Tomas Tomasek: Das dt. Rätselim MA. Tüb. 1994. – Jens Haustein: Marner-Stu-dien. Tüb. 1995, bes. S. 39–41, 72–77, 169–171. –Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meister-lied. Tüb. 2002, S. 177–179. – H. Brunner: K. In:MGG, Personenteil. – Freimut Löser: Reich, Indi-viduum, Religion: Daniel 2,31–45 in der Sang-spruchdichtung. In: Eine Epoche im Umbruch. Hg.Christa Bertelsmeier-Kierst u. a. Tüb. 2003,S. 267–289. – Shao-Ji Yao: Der Exempelgebrauchin der Sangspruchdichtung. Würzb. 2006. – EvaWillms: Der Marner. Lieder u. Sangsprüche ausdem 13. Jh. u. ihr Weiterleben im Meistersang.Bln./New York 2008, bes. S. 28–30, 65–71,157–166, 398 f. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Ret-telbach. Tüb. 2009. – Gisela Kornrumpf: Die St.Katharinentaler Liederslg. In: Dies.: Vom CodexManesse zur Kolmarer Liederhs. II. Tüb. (imDruck). – J. Haustein u. Franz Körndle (Hg.): DieJenaer Liederhs. Bln./New York (im Druck).

Gisela Kornrumpf

Kellein, Sandra, 24.10.1958 Nürnberg. –Verfasserin von Theatertexten, Hörspie-len u. Feuilletons.

K. studierte Germanistik u. Psychologie inHannover, bevor sie 1987 nach Berlin um-

siedelte, wo sie seitdem als freie Schriftstel-lerin lebt. Neben Romanen u. Erzählungenverfasst sie Theaterstücke u. Hörspiele. K.legt den themat. Schwerpunkt ihrer Prosaauf zwischenmenschl. Kommunikation, diedurch Medien in jegl. Form beeinflusst ist. Sobehandeln ihre Texte unterschiedl. Wahr-nehmungsweisen, die sich z.B. aus demFernsehen oder dem Radio generieren. Dabeiweisen die innere Struktur sowie ihreSprachwahl z.B. mit Ellipsen, doppelten Be-deutungsebenen u. Wortspielen, in das sur-realistische Schreiben. Für die Autorin ist esein Mittel, um v. a. die Kommunikationspro-bleme ihrer Protagonisten zu versinnbildli-chen. In den drei Erzählungen in Die Liebe imAusland (Stgt. 1992) behandelt K. die Begeg-nung zwischen Menschen. Anhand von dreiLebensentwürfen führt sie dem LeserSprachbarrieren u. die Suche nach einer ge-meinsamen Sprache vor. So begegnen sich dieMenschen in einer transsibir. Eisenbahn, imBett u. durch eine Kontaktsendung im Fern-sehen. Thematisch arbeiten die Texte auf dieIch-Erzählung Hochformat hin, mit dem K.1993 den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

1995 erschien K.s. erster Roman Khaki undfedern (Bln.), der während des Ersten Golf-kriegs 1991 spielt. In diesem, in Cut up-Technik erzählten Text verbindet die AutorinKriegsberichterstattung der Medien mit demalltägl. Leben zweier Frauen in Berlin. In Goldoder Rabenschwarz (Bln. 1996) widmet sie sichdem Sujet von Fremd- u. Vertrautheit derMenschen nach der dt. Wiedervereinigung.Nach dem Mauerfall zieht die Ich-Erzählerinmit ihrer Freundin Magret von West- nachOstberlin, um sich eine neue Existenz auf-zubauen. Das »Nicht-angekommen-sein« so-wie die Suche nach einer Identität der Ost-bürger werden hier aus der Sicht Westdeut-scher in Ostdeutschland verkehrt. Der Romanist als moderner Entwicklungsroman konzi-piert, dessen Figurenzeichnung sich stark anden Frauen aus Khaki und federn anlehnt.

1998 erschien Die Erfindung von Amerika(Bln.), 14 voneinander unabhängige Erzäh-lungen, die in verschiedenen Ländern ange-siedelt sind. Der Titel verweist nicht auf in-dividuelle Erfahrungen u. Assoziationen, die

Kellein343

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 120: Kafka Killy Lexikon

man mit dem Kontinent Amerika verbindet,sondern auf die Vorstellungen, die man sichdavon macht: Man erfindet sich ein indivi-duelles Amerika. Dabei vermischen sich inden Geschichten, die sich mit Zeit- u. Ort-losigkeit auseinander setzen, auf stilistischgekonnte Weise Faktizität u. Fiktion.

Von der Literaturkritik wird K. als eine derbegabtesten Sprachkünstlerinnen unter denzeitgenöss. deutschsprachigen Autoren be-zeichnet. Sie ist Mitgl. des Verbands Deut-scher Schriftsteller. K. erhielt u. a. 1990 dasAlfred-Döblin-Stipendium u. 2002 ein Sti-pendium der Stiftung Preußische Seehand-lung. 1997 war sie »artist-in-residence« amCollege von Colorado (USA).

Literatur: Charlotte Brombach: S. K.In: LGL.

Ingo Langenbach

Keller, Gottfried, * 19.7.1819 Zürich,† 15.7.1890 Zürich; Grabstätte: ebd.,Friedhof Sihlfeld. – Lyriker, Erzähler u.Romancier.

K. wuchs mit seiner drei Jahre jüngerenSchwester Regula in bescheidenen Verhält-nissen auf. Der frühe Tod (1824) des Vaters,eines angesehenen Drechslermeisters, u. derVerweis von der Schule im Alter von 15 Jahrendrängten den jungen K. in ein – zwar be-geistertes, aber zutiefst verunsichertes – Au-todidaktentum. Er sah sich zum Maler beru-fen, u. unter großen finanziellen Opfern er-möglichte ihm die Mutter, 1840 zur Ausbil-dung in die Künstlerstadt München zu rei-sen. Der Aufenthalt war jedoch von materi-eller Not u. verzweifeltem künstlerischenBemühen gezeichnet; 1842 kehrte K. nieder-geschlagen nach Zürich zurück.

Angeregt vom »Ruf der lebendigen Zeit«,einem radikalen Liberalismus, wandte sich K.im Kreis von August Follen, Herwegh, Hoff-mann von Fallersleben u. Freiligrath schrift-stellerischer Tätigkeit zu; 1846 erschien derBand Gedichte (Heidelb.). Mit K.s Liebe zuHenriette Keller begann eine lange Reihedurchweg unglückl. Liebschaften (Marie Me-los, Luise Rieter, Johanna Kapp, Betty Ten-dering, Luise Scheidegger). 1848 erhielt K.ein Stipendium der Zürcher Regierung u. zognach Heidelberg. Er hörte Henles Anthropolo-

gische Vorträge (verändert Braunschw. 1876/80)u. Literaturgeschichte bei Hettner, seinemspäteren Freund u. Briefpartner. Entschei-dend für sein zukünftiges Schaffen war dieBegegnung mit Feuerbach. K. besuchte des-sen Vorlesungen über das Wesen der Religion u.fasste ihre Wirkung zusammen: »Ich werdetabula rasa machen (oder es ist vielmehr schongeschehen) mit allen meinen bisherigen reli-giösen Vorstellungen, bis ich auf dem Feuer-bachischen Niveau bin« (28.1.1849 anBaumgarten). Feuerbachs anthropolog. Ma-terialismus, welcher der Natur den Geistaustrieb, sie auf die Sinnlichkeit reduzierte u.dem Menschen die Unsterblichkeit absprach,ließ K. mit Folgeproblemen zurück, die Na-tur, Mensch u. Ethik betrafen. Wohl vor die-sem Hintergrund sprach er mit dem Blick aufdie Literatur der Klassik u. Romantik vom»riesenschnellen Verfall der alten Welt«(4.3.1851 an Hettner).

Ein weiteres Stipendium ermöglichte K.1850 die Reise nach Berlin. Die folgendenfünf Jahre waren die weitaus fruchtbarsten inK.s Leben. 1851 erschien der Band Neuere Ge-dichte (Braunschw.), 1853 entstand die ersteFassung des Apothekers von Chamouny. DasHauptwerk dieser Jahre ist jedoch der RomanDer grüne Heinrich (4 Bde., Braunschw. 1854/55), dessen Entstehung sich über fünf qual-volle Jahre hinzog. Leichter gelangen die Er-zählungen, die den ersten Band der Leute vonSeldwyla (Braunschw. 1856) ausmachen. DasDrama Therese blieb Fragment; zeitlebenshoffte K., als Dramatiker hervorzutreten,musste sich aber damit begnügen, als»Shakespeare der Novelle« (Heyse) gefeiert zuwerden.

1855 kehrte K. nach Zürich zurück u. warfinanziell erneut von seiner Mutter abhängig.Ein Lichtblick dieser dichterisch eher unpro-duktiven Jahre war der Verkehr mit FriedrichTheodor Vischer, Gottfried Semper, PaulHeyse u. Richard Wagner. 1861 trat die großeWende ein: K. übernahm das Amt des erstenStaatsschreibers. Pflichterfüllt diente er derÖffentlichkeit 15 Jahre lang u. bemühte sich,seine Schuld gegenüber der Mutter († 1864) u.der Schwester, die ihm die Haushälterin er-setzte, abzutragen. 1870–1881 arbeitete erfrühere Entwürfe aus. 1872 erschienen die

Keller 344

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 121: Kafka Killy Lexikon

Sieben Legenden, 1874 Die Leute von Seldwyla invier Bänden u. 1877 Züricher Novellen (alleStgt.). 1876 trat K. von seinem Amt zurück u.widmete sich der Neubearbeitung des GrünenHeinrich (Stgt. 1879/80). Schließlich folgten1881 Das Sinngedicht, 1883 Gesammelte Gedichteu. 1886 der Roman Martin Salander (alle Bln.).Diese Jahre wurden bereichert durch denBriefwechsel mit Storm u. Heyse sowie dieFreundschaft mit Böcklin. Nach 1882 ver-schlechterte sich K.s Gesundheitszustandzusehends; zwei Jahre nach seiner Schwesterstarb er.

K. ist einer der wichtigsten Vertreter desbürgerl. Realismus. Der Einfluss der Ro-mantiker weicht zunächst einem von Goetheinspirierten Weltbild, derjenige Jean Paulsbesteht in gewandelter Form fort. Nach derBegegnung mit Feuerbach entwickelte K. einbejahendes u. zgl. krit. Verständnis menschl.Existenz. Immer wieder kreisen K.s Werkeum das Individuum innerhalb des gesell-schaftl. Systems. Hauptthemen sind indivi-dual- u. sozialpsycholog. Prozesse, lebensbe-stimmende Faktoren wie Armut, Familienle-ben, Erziehung, Arbeit u. bes. die Frage, in-wiefern sich individuelle Natur in das kultu-relle Gefüge, die bürgerl. Ordnung einordnenkann oder soll. Im Sinne des poetischen Rea-lismus besteht K. einerseits auf einer Kunst,die den zeitgenöss. Gegebenheiten ent-spricht, der »Dialektik der Kulturbewegung«Rechnung trägt, andererseits verteidigt er die»Reichsunmittelbarkeit der Poesie«. Aus derSpannung beider entsteht der spezif. Hu-mor K.s.

K.s Bekenntnis zu einer gesellschaftlichengagierten Kunst zeigt sich v. a. in seinerzugängl. Erzählweise. Einfache Formen –Dorfgeschichte, Märchen, Parabel – verbin-den sich mit humoristisch gefärbter Erzähl-haltung, die sich gerne der Umgangssprache,sprichwörtl. Wendungen u. leicht fassl.Symbolik u. Allegorik bedient. Sein Schaffenzeigt z.T. stark ausgeprägte didakt. Züge:»Liederliche« Subjektivisten entwickeln sichzu verantwortungsbewussten Bürgern. K.verwahrt sich jedoch gegen eine unreflek-tierte Idealisierung u. Idyllisierung. Soschloss er etwa seine didaktisch angelegtenKalendergeschichten Der Wahltag u. Verschie-

dene Freiheitskämpfer von seiner Werkausgabevon 1889 aus.

Bis ins 20. Jh. wurde K.s Werk als inten-sivstes dichterisches Erfassen der Wirklich-keit gefeiert. Allerdings bemerkte bereitsStorm, dass K.s Erzählweise etwas Befrem-dendes anhängt – »er hat keinen Glauben andas, was er vorträgt«. Er wies damit aufSpannungen hin, welche die K.-Forschung im20. Jh. aufgriff. Die Problematik des tragischgespaltenen Künstlers, dessen fast zwergen-hafter Wuchs geradezu symbolisch für dasGefühl der Unzulänglichkeit steht, Trieb-haftigkeit u. ödipale Verdrängung wurden inden Mittelpunkt gerückt, wobei sowohl dempsych. Schulderlebnis als auch dem materi-ellen Schuldverhältnis eine zentrale Rollezukommt. In Hinsicht auf die Stilhaltung hatsich die Akzentuierung von K.s versöhnen-dem Humor eingebürgert, zgl. wurden diegrotesken, skurrilen Züge u. K.s Misstrauengegenüber der Literatur hervorgehoben.Diese Tendenzen dienten einem neuen Ver-ständnis von K.s Kunst, die in ambivalenterWeise sich gesellschaftlich u. künstlerischverpflichtet u. zgl. ironisch gebrochen vonihren Verbindlichkeiten distanziert.

Der grüne Heinrich ist stark autobiografischgeprägt. Die zweite Fassung ist eine reine Ich-Erzählung: Heinrich Lee verliert in jungenJahren den Vater u. wächst in mütterl. Obhutauf. Seine Einbildungskraft kompensiert –v. a. nach dem Verweis von der Schule – diebedrückende Wirklichkeit. Während derländl. Aufenthalte bei Verwandten entfaltetsich seine Liebe zu Anna u. Judith. Annaspricht den »besseren geistigeren Teil« an,während er in der älteren u. sexuell erfahre-nen Judith leibhafter Wirklichkeit begegnet.Nach dem Tod der kränkl. Anna scheidet erauch von Judith, die nach Amerika auswan-dert. In München versucht er, als KunstmalerKarriere zu machen. Aber seine Versuche sindeinerseits in einem leblosen Detailrealismusbefangen, andererseits sind sie bloß das»Herausspinnen einer fingierten, künstli-chen, allegorischen Welt aus der Erfin-dungskraft«. Entmutigt beschließt Heinrich,in die Schweiz zurückzukehren. Unterwegslernt er Dortchen Schönfund kennen, bringtes aber nicht über sich, ihr seine Liebe zu er-

Keller345

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 122: Kafka Killy Lexikon

klären. Zu Hause angelangt, findet er dieMutter dem Sterben nahe. Er sucht seineSchuldgefühle abzutragen, indem er ein Amtübernimmt. Mit der aus Amerika zurückge-kehrten Judith vereinigt ihn ein »Bund«, eineArt entsagender Liebe. So findet die zweiteFassung ihren versöhnlichen, wenngleichmelanchol. Ausgang. – Die erste Fassung isthauptsächlich als Er-Erzählung konzipiert u.fängt mit Heinrichs Reise nach München an.Die Münchner Episoden werden durch denlangen Einschub seiner »Jugendgeschichte«(in Ich-Form) unterbrochen. Er kehrt des-illusioniert in die Schweiz zurück. Die Mut-ter ist bei seiner Ankunft bereits tot. VonSchuldgefühlen heimgesucht, findet er kei-nen Willen zum Leben mehr; der Romanschließt mit seinem Tod.

Verglichen mit der zweiten Fassung (vgl.die Paralleldarstellung auf http://www.gott-friedkeller.ch) ist die erste leidenschaftlicheru. farbenreicher. Die Angriffe auf Kirche,Schule u. Staat sind heftiger, die berühmteBadeszene bringt Judiths Sinnlichkeit stärkerzur Geltung. Beiden Fassungen gemeinsamist die Heinrichs Lebenserfahrung durchzie-hende Problematik des Verhältnisses zwi-schen Realität u. Einbildungskraft. Derzweiten Fassung kommt bes. Bedeutung zu,indem mit der durchgehaltenen Ich-Erzäh-lung die Frage nach einer der sozialen u.psycholog. Erfahrung adäquaten Schreibwei-se grundsätzlich thematisiert wird. Einge-fügte Parallelgeschichten u. allegor. Gestal-ten variieren Heinrichs Lebensweg, tragen beigleichzeitiger Verdichtung der Motivverwei-se zu einem Abbau von Zielvorstellungen beiu. werfen die Frage nach einem realistischenErzählen auf.

Im Zyklus Die Leute von Seldwyla stehen Pa-rabel, Märchen, Satire, realistische Erzäh-lungen nebeneinander u. setzen sich mit ge-sellschaftl. Bedingungen u. Normen, mitmoralischen u. eth. Werten auseinander.Seldwyla ist z.T. nach schweizerischen Ur-bildern modelliert, fungiert aber als utopischkonstruierter Schauplatz, auf dem der trag.oder kom. Konflikt gegensätzl. Kräfte ausge-tragen wird. In Pankraz der Schmoller oder FrauRegel Amrain und ihr Jüngster stehen die Wertedes bürgerl. verantwortungsvollen Lebens,

persönl. Entsagung u. Einfügung in die kol-lektive Ordnung, in scharfem Gegensatz zumSeldwyler Ethos einer sorglosen Gemütlich-keit. Ebenso kontrastiert Die drei gerechtenKammacher, eine meisterhafte Mischung vonParabolik u. Groteske, das unmenschlichzielstrebige Arbeitsethos der drei Außensei-ter mit der ebenso entwürdigenden frivolenLebensweise der Seldwyler. Das MärchenSpiegel, das Kätzchen spricht von der Macht desGeldes. – K.s erzählerische Stellungnahme istoft keineswegs eindeutig, sondern ambiva-lent. Pankraz zeigt zwar die Struktur derBesserungsnovelle, verschweigt aber nichtden seel. Preis der Selbstbezwingung: denVerlust persönl. Glückserfüllung. Unauflös-bare Widersprüchlichkeit spiegelt sich v. a. inRomeo und Julia auf dem Dorfe. Die Dorfge-schichte, die das Shakespearesche Motiv »inneuem Gewande« verarbeitet, durchleuchtetden Konflikt zwischen Leidenschaft u. bür-gerl. Ordnungsbedürfnis, der die Liebendenin den Tod treibt. In vielfachen Variationendurchziehen die Motive »wild« u. »ordent-lich« die Erzählung. – Wie die Einleitungzum zweiten Band darlegt, ist sich K. als Er-zähler in den 1870er Jahren durchaus be-wusst, dass die prosaische Wirklichkeit deskapitalistischen Wirtschaftssystems keinenpoetischen Nährboden gewährt; er sucht da-her in »den guten alten Tagen« eine erzäh-lerische »Nachernte« zu halten. Die nachfol-genden Geschichten feiern jedoch keineswegseine heile Welt, sondern greifen gesellschafts-krit. Thematik auf. In Kleider machen Leutegeht es um die Rolle des Scheins innerhalbder gesellschaftl. Wirklichkeit u. die Frage,inwiefern überhaupt noch von authent. Seingesprochen werden kann. Der Schmied seinesGlückes belustigt sich über die fehlschlagen-den Berechnungen von John Kabys, wirft aberzgl. in der Figur Adam Litumleis ein krit.Licht auf die Gründerzeit. Die mißbrauchtenLiebesbriefe rechnen satirisch mit einer vomNovellenfieber erfassten Kultur ab. Dietegen u.Das verlorene Lachen lassen die Kraft der Liebeüber persönl. Zwist u. historisch-kulturelleKrisen siegen, sodass das düstere Weltbild desSeldwyla-Zyklus am Ende einer versöhnendenPerspektive weicht.

Keller 346

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 123: Kafka Killy Lexikon

Die Sieben Legenden waren z.T. bereits 1858entworfen. Der Zyklus bekundet den EinflussFeuerbachs: K. dichtet Kosegartens frommeLegenden (1804) in heiter parodistischer Weiseum u. durchbricht ideolog. Denkmuster. DasHeilige wird humanisiert – die Mutter Gottesgreift verständnisvoll in menschl. Wirren ein.In seiner poetischen Ausgelassenheit wendetsich der Zyklus gegen den »Terrorismus desäußerlich Zeitgemäßen« (19.5.1872 an Vi-scher). Beachtenswert ist v. a. das abschlie-ßende Tanzlegendchen. Der christl. Himmelwird vom fröhl. Treiben der heidn. Musenerfüllt, u. die Hl. Jungfrau will dafür sorgen,dass sie im Paradies bleiben können. Aberbeim Gesang der Musen geraten die Himm-lischen derart außer Rand u. Band, dass die»allerhöchste Trinität« die Musen für immerverbannt. Damit bricht die anvisierte Syn-these von musischem Eros u. christl. Ord-nung letztlich auseinander.

Die Züricher Novellen bestehen aus fünf No-vellen u. einer Rahmengeschichte, die nur dieersten drei Erzählungen umspannt. Hadlauberzählt, wie die Manessische Liederhand-schrift zustande kam, u. schildert die Liebe,die Hadlaub u. Fides über alle Klassenunter-schiede hinweg zusammenführt. Der Aktsorgsamen Sammelns u. Bewahrens des Kul-turguts sticht ab gegen die zerstörerischengeschichtl. Mächte, die im Hintergrundspürbar werden. Die Erzählung beeindrucktv. a. durch die subtil arrangierten Motive vonHelle u. Dunkelheit, eine Metaphorik, dieauch im Narr auf Manegg die Handlung sym-bolisch untermauert: Düstere Kräfte u. ge-schichtl. Wandel können das strahlende Lichtder kulturellen Leistung nicht zerstören. DerLandvogt von Greifensee spricht in milder Resi-gnation vom verpassten u. doch kostbarenindividuellen Leben. Der Junggeselle Salo-mon Landolt vereint an einem Tag die fünfgeliebten Frauen seines Lebens um sich; insich geschlossene Kapitel bringen uns in be-wegendem Detail die Frauengestalten näher.Wiederum durchziehen helle u. dunkle Mo-tive die Erzählung u. spiegeln die Vergäng-lichkeit menschl. Existenz. – Die Rahmen-geschichte ist didaktisch angelegt, stellt je-doch zgl. bildende Kräfte in Frage: Unter derLeitung des Oheims wird Jacques zwar von

seiner Sucht, ein Original, der Ovid des 19. Jh.zu werden, geheilt, aber als Verwalter vonStipendien fördert er später v. a. künstlerische»Bescheidenheit«, d.h. Mittelmäßigkeit.Auch im Fähnlein der sieben Aufrechten ist derdidakt. Einschlag nicht zu übersehen. DieGeschichte huldigt einem optimistischen Pa-triotismus, den K. später als bereits überholtempfand. Ursula nimmt abschließend dieMotive von Hell u. Dunkel wieder auf: DieKraft der Liebe u. der in Zwingli verkörpertenMenschlichkeit siegt über die Dunkelheit re-ligiöser Wirren u. persönl. Zwistes.

Das Sinngedicht, ein höchst kunstvoller No-vellenzyklus, geht auf erste Entwürfe in denfrühen 1850er Jahren zurück. Reinhart, einNaturforscher, reitet aus, um nach der An-leitung eines Logau-Epigramms eine Frau zufinden, die beim Küssen errötend lacht. Erbegegnet der selbstsicheren Lucie u. die bei-den finden zusammen, indem sie einanderkontrastierende Liebesgeschichten erzählenu. deren Sinn z.T. gegenseitig kommentieren.Zum Schluss bewährt sich das Epigramm.Neuere Deutungen des Sinngedichts behandelndas Geschlechterverhältnis u. fragen, wie sichNaturwissenschaften (insbes. der Darwinis-mus) u. Literatur zueinander verhalten.

K.s Gedichte (vgl. die Paralleldarstellung derSammlungen 1846 u. 1883/89 auf http://www.gottfriedkeller.ch) zeigen, dass sein lyr.Schaffen längst nicht an die Bedeutung dererzählerischen Prosa heranreicht, mit der esthematisch jedoch eng verbunden ist: DasNaturerlebnis u. das Bekenntnis zum Staatsind von zentraler Bedeutung. Zu den be-kanntesten Gedichten, denen es aber zuwei-len an lyr. Intensität, melod. Klang fehlt,zählen Abendlied an die Natur, Winternacht, Ju-gendgedenken, der Zyklus Lebendig begraben, DieZeit geht nicht u. Abendlied.

Martin Salander, K.s letztes Werk, orientiertsich an der Erzähltheorie Spielhagens u.greift einen aktuell-zeitkrit. Stoff auf, sodassder Zeitroman überraschend »logisch undmodern« (12./16.8.1881 an Storm) ist. Salan-der, der als wohlhabender Mann aus Brasilienzurückkehrt, verliert sein ganzes Vermögendurch die Machenschaften des allegorischbenannten Louis Wohlwend. Salander wan-dert wieder aus u. gelangt zu neuem Vermö-

Keller347

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 124: Kafka Killy Lexikon

gen. Aber das Glück bleibt aus: Die Ehenseiner zwei Töchter zerbrechen, die Schwie-gersöhne werden als Betrüger inhaftiert, u.Salander verliert seinen eigenen sittl. Halt,indem er Wohlwends Schwägerin verfällt.Mit der Rückkehr des Sohnes Arnold ver-spricht sich das Dunkel zu lichten: K. planteeinen zweiten Band, aber dieses positive Ge-genstück blieb ungeschrieben. Lange schlosssich die Forschung der Meinung K.s an, seinletztes Werk sei »nicht schön« – in jüngererZeit bemüht man sich um eine Neubewer-tung des Romans als Text an der Schwelle zurliterar. Moderne.

Ausgaben: Ges. Werke, 10 Bde., Bln. 1889. –Sämtl. Werke. Hg. Jonas Fränkel u. Carl Helbling.26 Bde., Erlenbach/Mchn. 1926/27 u. Bern/Lpz.1931–49. – Sämtl. Werke u. ausgew. Briefe. Hg.Clemens Heselhaus. 3 Bde., Mchn. 1958. 41980. –Sämtl. Werke in sieben Bdn. Hg. Thomas Böning,Gerhard Kaiser u. Dominik Müller. Ffm. 1985–96.– Sämtl. Werke. Hist.-Krit. Ausg. Hg. Walter Mor-genthaler. Basel/Ffm./Zürich 1996 ff. (CD-ROMsbeiliegend. Website: http://www.gottfriedkel-ler.ch). – Briefe: Ges. Briefe. Hg. C. Helbling. 4 Bde.,Bern 1950–54. – Der Briefw. zwischen G. K. u.Hermann Hettner. Hg. Jürgen Hahn. Bln./Weimar1964. – Aus G. K.s glückl. Zeit. Der Dichter imBriefw. mit Marie u. Adolf Exner. Hg. IrmgardSmidt. Stäfa 1981. – Mein lieber Herr u. besterFreund. G. K. im Briefw. mit Wilhelm Petersen.Stäfa 1984. – Gefährdete Künstler. Der Briefw.zwischen G. K. u. Johann Salomon Hegi. Hg. Fri-dolin Stähli. Zürich/Mchn. 1985. – G. K. – EmilKuh. Ein Briefw. Hg. I. Smidt u. Erwin Streitfeld.Stäfa 1988. – ›Du hast alles, was mir fehlt ...‹. G. K.im Briefw. mit Paul Heyse. Hg. F. Stähli. Stäfa1990. – Theodor Storm – G. K. Briefw. Hg. Karl E.Laage. Bln. 1992. – Conrad Ferdinand MeyersBriefw. Hist.-krit. Ausg. Hg. Hans Zeller. Bern1998 ff. (Bd. 1: C. F. Meyer. G. K. Briefe 1871–1889.Bearb. v. Basil Rogger u. a. Bern 1998).

Literatur: Bibliografien, Hilfsmittel: Charles C.Zippermann: G. K. Bibliogr. 1844–1934. Zürich1935. – Wolfgang Preisendanz: Die K.-Forsch. derJahre 1939–57. In: GRM N. F. 39 (1958),S. 144–178. – U. Henry Gerlach: G. K. Bibliogr.Tüb. 2003. – Martin Müller: G. K. Personenlexikonzu seinem Leben u. Werk. Zürich 2007. – Gesamt-darstellungen: Hugo v. Hofmannsthal: Unterhal-tungen über die Schr.en v. G. K. Düsseld. 1906. – G.K.s Leben, Briefe u. Tagebücher. Auf Grund derBiogr. Jakob Baechtolds dargestellt u. hg. v. EmilErmatinger. 3 Bde., Stgt./Bln. 1915/16. Zürich

81950 (als Tb.: 1990). – Walter Benjamin: G. K., zuEhren einer krit. Gesamtausg. seiner Werke. In: Dieliterar. Welt, 5.8.1927 [u. ö.]. – Georg Lukács: G. K.Bln. 1946. – Fritz Martini: G. K. In: Ders.: Dt. Lit.im bürgerl. Realismus. Stgt. 1964. 41981,S. 557–610. – Hermann Boeschenstein: G. K. Stgt.1969. 21977. – Adolf Muschg: G. K. Mchn. 1977. –W. Preisendanz: G. K. In: Dt. Dichter des 19. Jh.Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1979, S. 508–531. – Ger-hard Kaiser: G. K. Das gedichtete Leben. Ffm. 1981.– Bernd Neumann: G. K. Eine Einf. in sein Werk.Königst./Ts. 1982. – G. Kaiser: G. K. Eine Einf.Mchn./Zürich 1985. – Hans Wysling (Hg.): G. K. ElfEss.s zu seinem Werk. Zürich 1990. – W. Morgen-thaler (Hg.): G. K. Romane u. Erzählungen. Stgt.2007. – Ulrich Kittstein: G. K. Stgt. 2008. – Einzel-fragen: Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraftdes Dichters. Zürich 1939. 21953, S. 159–210. –Beda Allemann: G. K. u. das Skurrile. Eine Grenz-bestimmung seines Humors. In: Jahresber. der G.-K.-Gesellsch. 1959. Zürich 1960, S. 1–16. – W.Preisendanz: G. K. In: Ders.: Humor als dichter.Einbildungskraft. Mchn. 1963, S. 143–213. – Kas-par Theodor Locher: G. K. Der Weg zur Reife. Bern/Mchn. 1969. – Klaus Jeziorkowski: Eine Art Sta-tistik des poet. Stoffes. Zu einigen Themen G. K.s.In: DVjs 45 (1971), S. 547–566. – Gabriel Imboden:G. K.s Aesthetik auf der Grundlage der Entwick-lung seiner Naturvorstellung. Ffm. 1975. – K. Je-ziorkowski: Literarität u. Historismus. Beobach-tungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jh. amBeispiel G. K.s. Heidelb. 1979. – Peter Utz: Der Restist Bild. Allegorische Erzählschlüsse im SpätwerkG. K.s. In: Die Kunst zu enden. Hg. Jürgen Söring.Ffm. u. a. 1990, S. 65–77. – Katharina Grätz: Mu-sealer Historismus. Die Gegenwart des Vergange-nen bei Stifter, K. u. Raabe. Heidelb. 2006. – PhilipAjouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Te-leologie im literar. Realismus: Friedrich TheodorVischer u. G. K. Bln./New York 2007. – Petra Weser-Bissé: Arbeitscredo u. Bürgersinn. Das Motiv derLebensarbeit in Werken v. Gustav Freytag, OttoLudwig, G. K. u. Theodor Storm. Würzb. 2007. –Ursula Amrein u. Regina Dieterle (Hg.): G. K. u.Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne.Bln./New York 2008. – Einzelne Werke: ArthurHenkel: G. K.s ›Tanzlegendchen‹. In: GRM N. F. 6(1956), S. 1–15. – Hans Richter: G. K.s frühe No-vellen. Bln. 1960. 21966. – Maria Bindschedler:Vergangenheit u. Gegenwart in den Züricher No-vellen. In: Jb. der G.-K.-Gesellsch. 1961, S. 3–20. –Karl Reichert: Die Entstehung der ›Sieben Legen-den‹ v. G. K. In: Euph. 57 (1963), S. 97–131. –Ders.: Die Entstehung der Züricher Novellen v. G.K. In: ZfdPh 82 (1963), S. 471–500. – W. Preisen-danz: G. K.s ›Sinngedicht‹. In: ebd., S. 129–151. –

Keller 348

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 125: Kafka Killy Lexikon

K. Reichert: G. K.s ›Sinngedicht‹ – Entstehung u.Struktur. In: GRM N. F. 14 (1964), S. 77–101. –Luzius Gessler: Lebendig begraben. Studien zurLyrik des jungen G. K. Bern 1964. – Werner Kohl-schmidt: Der Zeitgeist in G. K.s ›Martin Salander‹.In: Orbis litterarum 22 (1967), S. 93–100. – Hart-mut Laufhütte: Wirklichkeit u. Kunst in G. K.sRoman ›Der grüne Heinrich‹. Bonn 1969. – ErnstMay: G. K.s ›Sinngedicht‹. Eine Interpr. Bern/Mchn. 1969. – Herbert Anton: Mytholog. Erotik inK.s ›Sieben Legenden‹ u. im ›Sinngedicht‹. Stgt.1970. – Hans Wysling: Welt im Licht – Gedankenzu G. K.s Naturfrömmigkeit. In: G.-K.-Gesellsch.Jahresber. 1970. Zürich 1971, S. 1–20. – W. Prei-sendanz: K. – Der grüne Heinrich. In: Ders.: Wegedes Realismus. Mchn. 1977, S. 127–180. – GertSautermeister: G. K.: ›Der grüne Heinrich‹. Ge-sellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In:Romane u. E.en des Bürgerl. Realismus. Hg. HorstDenkler. Stgt. 1980, S. 80–123. – Dominik Müller:Wiederlesen u. Weiterschreiben. G. K.s Neugestal-tung des ›Grünen Heinrich‹. Bern u. a. 1988. –Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. G. K.: Dergrüne Heinrich. Mchn. 1993. – U. Amrein: Au-genkur u. Brautschau. Zur diskursiven Logik derGeschlechterdifferenz in G. K.s ›Sinngedicht‹. Bernu. a. 1994. – G. Kaiser: ›Marienfrau‹ u. verkehrteMännerwelt. G. K.s verkanntes Alterswerk ›MartinSalander‹. In: Der unzeitgemäße Held in derWeltlit. Hg. ders. Heidelb. 1998, S. 149–173. –Ders.: Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kul-turen in G. K.s ›Sinngedicht‹. In: JbDSG 45 (2001),S. 278–301. – Hans-Joachim Hahn u. Uwe Seja(Hg.): G. K., ›Die Leute von Seldwyla‹. Krit. Studien– Critical essays. Oxford u. a. 2007.

Erika Swales / Philip Ajouri

Keller, Hans Peter, * 11.3.1915 Roseller-heide bei Neuss, † 11.5.1989 Büttgen beiNeuss; Grabstätte: ebd., Friedhof. –Übersetzer, Lyriker, Essayist.

K., Sohn eines Kaufmanns, floh vor den Na-tionalsozialisten nach Löwen, um Philoso-phie zu studieren, kehrte jedoch wegen an-gedrohter Repressalien gegen seine Familiezurück. Er studierte in Köln u. nahm1939–1942 am Krieg teil. Nach 1945 hielt erVorlesungen in der Schweiz, in Münster,Bonn u. Paris. Er war Lektor für SchweizerVerlage, lebte in Paris u. Palermo, aufStromboli u. Helgoland. 1955–1983 unter-richtete er als Literaturlehrer an der Düssel-dorfer Buchhändlerschule.

In seinen literar. Anfängen war K. sehr vonseinem Freund Emil Barth beeinflusst, dessenBriefwechsel er edierte (Emil Barth: Briefe ausden Jahren 1939–1958. Wiesb. 1968), u. erhieltAnregungen von Bertram u. Carossa. Er be-gann mit romant. u. klassizist. Gedichten (Dieschmale Furt. Hbg. 1938). Seinen unverwech-selbaren Ton, sprachkritisch u. gedanklichklar, fand K. in den Gedichten des Bandes Dienackten Fenster (Wiesb. 1960). Als Vorbildernannte er Kafka, Michaux u. den poln.Aphoristiker Stanislaw J. Lec. Sein letzterselbstständig veröffentlichter Gedichtbandwar Kauderwelsch (Wiesb. 1971).

Weitere Werke: Der Schierlingsbecher. Düs-seld. 1947 (L.). – Die wankende Stunde. Wiesb.1958 (L.). – Panoptikum aus dem Augenwinkel.Wiesb. 1966 (Aphorismen). – Extrakt um 18 Uhr.Wiesb. 1975 (Werkausw.).

Literatur: H. P. K., Hans Rudolf Hilty: Aber dasWarten. In: Hilde Domin (Hg.): Doppelinterpr.en.Ffm. 1966, S. 215–220. – Spiegelungen 1961–74.In: H. P. K.: Extrakt um 18 Uhr, a. a. O.,S. 173–206. – H. Domin: H. P. K.: Folge. In:Frankfurter Anthologie. Bd. 1. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Ffm. 1976, S. 183 ff. – Dies.: Luftsegler derSprache. Zum Tode v. H. P. K. In: Dies.: Ges. Ess.s.Mchn. u. a. 1992, S. 275 ff. – Friedemann Spicker:Der dt. Aphorismus im 20. Jh. Spiel, Bild, Er-kenntnis. Tüb. 2004, S. 754–757.

Winfried Hönes † / Red.

Keller, Heinrich, * 17.2.1771 Zürich,† 21.12.1832 Rom. – KlassizistischerBildhauer; Lyriker, Verfasser von Schau-spielen, Märchen u. Kunstberichten;Übersetzer.

Als Sohn des kunstsinnigen u. gebildetenObersten Kaspar Keller u. einer SchwesterJohann Heinrich Füsslis genoss K. in seinerJugend den Umgang mit der geistigen Eliteseiner Vaterstadt. Nach einem abgebrochenenJurastudium bildete er sich zum Bildhaueraus, daneben widmete er sich der Dichtkunst.Ein strenger Richter seiner dichterischenVersuche war sein Freund Jakob Horner. Umseine künstlerischen Fähigkeiten weiter aus-zubilden, begab sich K. 1794 nach Rom, wo erals Bildhauer bedeutende Werke schuf. 1798heiratete er Clementina Tosetti, die ihm vier

Keller349

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 126: Kafka Killy Lexikon

Söhne gebar. Eine schwere Krankheit zwangK. um 1805, den Bildhauerberuf aufzugeben.

Er widmete sich nun ganz der literar. Ar-beit. Bereits in Florenz war eine größere Zahlvon Liebesgedichten entstanden, die er alsLieder der Liebe an Lila (ungedr.) zusammen-gefasst hatte. Einige Elegien, die laut Theo-dor Körner Goethe’sches Gepräge zeigen,wurden durch Horners Vermittlung 1798 inSchillers Musenalmanach abgedruckt. K.übersetzte ins Deutsche u. a. Calderóns Elastrónomo fingido (ungedr.), des Grafen VerriNotti romane (Bln. 1805) u. ins ItalienischeStolbergs Geschichte der Religion Jesu (Rom1828). Als Dramatiker mit Neigung zur Ro-mantik war K. bes. fruchtbar. 1808 erschie-nen bei Orell & Füssli Franzeska und Paolo (vonDante inspiriert) u. Ines del Castro; 1809 folgtedas »feministische« Schauspiel Judith. 1811/12 entstanden K.s Vaterländische Schauspieleund Trauerspiele (Zürich 1813–16): Karl derKühne, Hans Waldmann, Johanna I. u. andere.Für die »Jenaische allgemeine Literaturzei-tung« lieferte K. 1809 Kunstnachrichten ausRom. Auch widmete er sich der Altertums-wissenschaft u. wurde 1810 Mitgl. der ar-chäolog. Akademie in Rom. In diesen Jahrenverfasste er zahlreiche Berichte antiquari-schen Inhalts für dt. u. Schweizer Zeitschrif-ten.

Weitere Werke: K.s unveröffentl. Werke be-finden sich in Zürich (Kunsthaus-Bibl.).

Literatur: Bernhard Wyss: H. K. der ZüricherBildhauer u. Dichter. Frauenfeld 1891. – Schwei-zerisches Künstler-Lexikon. Bd. 2, Frauenfeld1908. S. 157–159. – Thieme/Becker 20, S. 105–107.– Dieter Ulrich: H. K. In: Biogr. Lexikon derSchweizer Kunst. Hg. Schweizerisches Institut fürKunstwiss. Zürich u. Lausanne. Bd. 1, Zürich 1998,S. 566 f. Ingrid Sattel Bernardini

Keller, Paul, * 6.7.1873 Arnsdorf beiSchweidnitz/Schlesien, † 20.8.1932 Bres-lau. – Erzähler.

K., Sohn eines Maurers u. späteren Schnitt-warenhändlers, war Volksschullehrer inJauer, Schweidnitz u. Breslau. 1908 schied eraus dem Schuldienst aus u. wurde freierSchriftsteller. 1908–1912 war er Herausgeberu. Redakteur der illustrierten Wochenschrift

»Der Guckkasten«; 1912 gründete er die il-lustrierte Familienmonatsschrift »Die Berg-stadt«, die er bis zu seinem Tod redigierte. K.unternahm – meist mit seinem Schriftstel-lerfreund Paul Barsch – ausgedehnte Reisendurch Europa u. Afrika.

K. gehörte zu den erfolgreichsten Unter-haltungsschriftstellern in der ersten Hälftedes 20. Jh.; seine Bücher erreichten 1931 be-reits eine Auflage von über fünf Mio. SeineErstlingswerke standen der Heimatkunstbe-wegung nahe. Zu seinem Erfolgsrezept ge-hörte das strikte Vermeiden weltanschaul.oder polit. Stellungnahmen. Nicht zu über-sehen sind K.s volkspädagog. Absichten: Erfasste das Thema »Heimat« im Sinn vonFrieden u. Versöhnung zwischen Generatio-nen u. gesellschaftl. Schichten.

K.s umfangreiches Werk besteht aus Er-zählungen u. Skizzen, in denen Einzel-schicksale der unteren Mittelschicht Schlesi-ens lebhaft-sentimental erzählt – eine großeRolle spielt der schulische Bereich – u.Landschaften im Sinn »beseelter Natur« ge-schildert werden, deren Einfallsreichtum imSpätwerk jedoch zum Klischee erstarrt. Ambekanntesten wurden die Romane Waldwinter(Mchn. 1902. Würzb. 2000), Die Heimat(Mchn. 1903. Stegen 2003) u. vor allem DerSohn der Hagar (Mchn. 1907), die trag. Ge-schichte eines unehel. Jungen, der zum Bet-telmusikanten wird. Dem Schicksal der aus-sterbenden Wenden widmete K. den RomanDie alte Krone (Mchn. 1909). Ferien vom Ich(Breslau 1916. Würzb. 2000), einem humo-ristischen, mehrfach verfilmten Roman, liegtdie Auffassung zugrunde, dass der durch dieZivilisation verdorbene Mensch nur in derNatur u. bei körperl. Arbeit zu christl. Sitt-lichkeit zurückfinde.

Weitere Werke: Ausgabe: Werke. 14 Bde., Bres-lau 1922–25. – Einzeltitel: Gold u. Myrrhe. Paderb.1898 (E.en u. Skizzen). – In deiner Kammer. Ebd.1903 (E.en). – Die fünf Waldstädte. Bln. 1910(E.en). – Die Insel der Einsamen. Breslau 1913.Stegen 2003 (R.). – Grünlein. Breslau 1915(Kriegsgesch.). – Das kgl. Seminartheater u. a. E.en.Ebd. 1916. Stegen 2003. – Altenroda. Breslau 1921(E.en.). – Die vier Einsiedler. Ebd. 1923 (R.). –Dorfjunge. Ebd. 1925 (E.). – Titus u. Timotheus u.der Esel Bileam. Ebd. 1927 (R.). – Drei Brüder su-

Keller 350

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 127: Kafka Killy Lexikon

chen das Glück. Ebd. 1929 (R.). – Ulrichshof. Ebd.1929 (R.). – Sein zweites Leben. Bln. 1934 (Liebes-briefe).

Literatur: Hermann Wentzig: P. K. Leben u.Werk. Mchn. 1954. – Karlheinz Deschner: Kitsch,Konvention u. Kunst. Mchn. 1957. – WilhelmMenzel: P. K. – dem großen dt. Volkserzähler zumhundertsten Geburtstage. In: Schlesien 18 (1973)S. 149–155. – Marianne Weil: Ferien vom Ich v. P.K. In: Wehrwolf u. Biene Maja. Der dt. Bücher-schrank zwischen den Kriegen. Hg. dies. Bln. 1986,S. 179–202. – Alexander Honold: Die verwahrte u.die entsprungene Zeit. P. K.s ›Ferien vom Ich‹ u. dieZeitdarstellung im Werk Robert Musils. In: DVjs 67(1993), H. 2, S. 302–321. – Heinke M. Kalinke:Berthold Auerbach u. P. K. Von der Wirklichkeits-verfehlung zur Wirklichkeitsflucht in der Heimat-lit. In: Annemarie Röder u. Helmuth Fiedler(Bearb.): Weit in die Welt hinaus ... Histor. Bezie-hungen zwischen Südwestdtschld. u. Schlesien.Ausstellungskat. Stgt. 1998, S. 57–64. – WolfgangTschechne: Im Vorgarten des Paradieses. Leben u.Werk des Schriftstellers P. K. Würzb. 2007.

Christian Schwarz / Red.

Keller-Schleidheim, Keller-Schleitheim,Franz de Paula Ignaz Joseph Frhr. von,auch: Philaleth, Philocharis, * 5.12.1767Wien, † 9.8.1844 Mannheim. – Dramati-ker, Publizist, Übersetzer.

K., zunächst Sekretär des Fürsten Dietrich-stein-Proskau, hatte seit 1805 ein Verwal-tungsamt in Regensburg, dann (1808) inMannheim u. ein Jahr später in Karlsruheinne. 1815 wurde er Ministerialsekretär imbadischen Innenministerium. Pensioniert alsMinisterialrat, ließ er sich 1819 in Heidel-berg, 1824 in Mannheim als Privatgelehrternieder.

Konservatismus, Kulturpessimismus u.Eskapismus prägen K.s Werk. Das zeigt sichebenso in seinen Dichtungen wie in der Aus-wahl der von ihm übersetzten polit. u. reli-giösen Schriften. So übersetzte er Chateau-briands Pamphlet gegen Napoleon (Buona-parte und die Bourbonen, oder die Nothwendigkeit,sich wieder mit unsern rechtmäßigen Fürsten zuverbinden [. . .] . Dtschld., recte Karlsr. 1824);aus dem Werk Bernardin de Saint Pierreswählte er Idyllen (Arkadien. Mannh. 1830) u.den Roman Paul und Virginie (Mannh. 1829)aus, der das Scheitern der Liebe zweier Na-

turkinder an den Zwängen der Zivilisationschildert. K.s Erbauungsschriften sind meistfrei bearbeitete Übersetzungen, so Die Religi-on. Ein Gemälde in 6 Gesängen, frei nach Racine[. . .] (Mannh. 1822). Auch in seinen Dichtun-gen hielt K. sich eng an literar. oder histor.Vorbilder. Zweck seiner bedeutendstenDichtung, des Trauerspiels Athenais (Mannh.1827), das in geläufigen Jamben einen Stoffaus der byzantin. Geschichte behandelt, seies, »zu zeigen wie unverläßig alles Erden-glück, und wie unvollkommen selbst dieTugend der Besten sey« (Vorbericht, S. V).

Weitere Werke: Das hohe Lied, dramatisiert[...]. Mannh. 1814. – Notburga. Eine kreichgau.Legende in 6 Gesängen. Nach Wilhelmi. Mannh.1823. – Koscziusko’s Todten-Feier bei den Gräbernder Könige v. Krakau. Heroisches Gemälde nachLagarde. Heidelb. 1825. – Andachten der christl.Kirche auf alle Tage u. Feste des Jahres. Für Ka-tholiken. Würzb. 1826. – Das Geständniß. Mannh.1828 (Schausp.). – Agapetus. Ein kleines Gemälde[...] in 12 Gesängen. Heidelb. 1829.

Ulrike Leuschner

Kellermann, Bernhard, * 4.3.1879 Fürth,† 17.10.1951 Klein-Glienicke bei Pots-dam. – Romancier, Reiseschriftsteller.

K., Sohn eines Magistratsbeamten, studiertezunächst an der TH München, dann Germa-nistik u. schließlich Malerei u. war im ErstenWeltkrieg Kriegsberichterstatter des »Berli-ner Tageblatts.« Über seine ausgedehntenWeltreisen verfasste er impressionistischeReiseberichte. Die Preußische Akademie derKünste schloss ihn 1933 aus. Das Angebot, fürden »Völkischen Beobachter« zu schreiben,lehnte er ab. Nach dem Zweiten Weltkriegwar er in der SBZ Mitbegründer u. Vizeprä-sident des »Kulturbundes zur demokrati-schen Erneuerung Deutschlands«. 1949 er-hielt er einen Nationalpreis der DDR.

K. begann, auf den Spuren Jacobsens u.Hamsuns, mit epigonalen neuromantisch-impressionistischen, von ihm »lyrisch« ge-nannten Romanen (Yester und Li. Lpz. 1904.Ingeborg. Bln. 1906. Der Tor. Bln. 1909. DasMeer. Bln. 1910. 1989). Begrenzte Eigenstän-digkeit zeigte erst Der Tunnel (Bln. 1913.Zahlreiche Neuaufl.n, zuletzt Ffm. 1995), einin sechs Wochen niedergeschriebener utop.

Kellermann351

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 128: Kafka Killy Lexikon

Roman, der Technikbegeisterung u. Massen-rausch beim Bau eines Atlantiktunnels schil-dert u. zgl. die Mechanismen der amerikan.Wirtschaftsordnung darstellt. Das Buchwurde zum Welterfolg. Gesellschaftskritischäußerte sich K. auch in Der 9. November (Bln.1920. Neuausg. Bln./SBZ 1948. Mchn. 1980):Der Weltkriegs- u. Revolutionsroman wurdevon den Nationalsozialisten verboten u. ver-brannt. Im Roman Totentanz (Bln./SBZ 1948)beschrieb K., wie ein unpolit., »anständiger«Rechtsanwalt, »deutsch bis in die Knochen«,zum Mitläufer, zum Militaristen u. Karrie-risten wird. – Für K. war der Schriftsteller»Lehrer [...], Erzieher, Prediger, Mahner undWarner, Tröster und Ermutiger«. Der pazi-fistisch-humanistisch geprägte Romancier K.wusste Impressionen, »Dichterisches« mitInformationen in meist unterhaltsamer Wei-se zu verbinden.

Weitere Werke: Die Stadt Anatol. Bln. 1932.1994 (R.). – Jang-tsze-kiang. Bln. 1934 (E.). – Liedder Freundschaft. Bln. 1935 (R.). – Das blaue Band.Bln. 1938. 1993 (R.). – Georg Wendlandts Umkehr.Bln. 1941 (R.). – Wir kommen aus Sowjetrußland(zus. mit Ellen Kellermann). Bln./SBZ 1948 (Re-portage). – Ausgew. Werke in Einzelausg.n, hg. imAuftrag der Dt. Akademie der Künste v. Ellen Kel-lermann u. Ulrich Dietzel. 8 Bde., Bln./DDR1958–63. – Eine Nachlese 1906–51. Hg. Heinz-Dieter Tschörtner. Ebd. 1979.

Literatur: B. K. zum Gedenken. Aufsätze,Briefe, Reden 1945–51. Bln./DDR 1952 (mit Bi-bliogr. der Primär- u. Sekundärlit.). – Sigrid Anger:Vorläufiges Findbuch des literar. Nachlasses v. B. K.Ebd. 1960. – Christa Miloradovic-Weber: Der Er-finderroman 1850–1950. Zur literar. Verarbeitungder techn. Zivilisation – Konstituierung eines lite-rar. Genres. Bern u. a. 1989. – Bozena Chol/ uj: Dt.Schriftsteller im Banne der Novemberrevolution1918. B. K., Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, ErichMühsam, Franz Jung. Wiesb. 1991. – Heinz DieterTschörtner: B. K. 1879–1951. Mit Bibliogr. In:Marginalien (1991), H. 123, S. 53–60. – ManfredMümmler: B. K. Schriftsteller aus Berufung. In:Ders.: Dichter, Denker, Demokraten. Emskirchen1991, S. 61–68. – Kai-Uwe Scholz: B. K.(1879–1951). Seine Beziehungen zu Werder/Havelu. Potsdam 1921–1951. Frankfurt/O. 1994. – Tho-mas Pekar: ›Augen-Blicke‹ in Japan. Schlüsselsze-nen der literar. Fremdbeschreibung bei EngelbertKaempfer, B. K. u. Roland Barthes. In: Japanstu-dien 8 (1996), S. 17–30. – K.-U. Scholz: Vom Aka-

demiesessel zwischen die Stühle. Zur Rezeption B.K.s nach 1945. In: Mathias Iven (Hg.): Hoffnung u.Erinnerung. Bln. u. a. 1998, S. 74–93. – GünterWirth: Ein Potsdamer Dreigestirn: Bruno HansBürgel, Hermann Kasack u. B. K. In: Ebd.,S. 130–144. – Fritz Reinert: ›Was uns verbindet, istdas Leiden, das Erbe u. das Schicksal Dtschld.‹Notizen zu zwei Potsdamer Schriftstellern(1945–1949). In: Dtschld.-Archiv 32 (1999),S. 604–613. – Barbara Ohm: B. K. Zum 50. Todes-tag des in Fürth geborenen Autors. In: FürtherHeimatblätter 51 (2001), S. 97–135. – WilhelmDroste: B. K. u. sein Tunnel in die Zukunft. DieWelt im Netz der Vernetzung. In: László Tarnói u.Erno Kulcsár Szabó (Hg.): ›Das rechte Maß getrof-fen‹. Budapest 2004, S. 177–186. – Ulrich Kittstein:Der Erfinder als Messias u. das eiserne Gesetz derArbeit. Zukunftsvisionen in den Science-Fiction-Romanen v. Hans Dominik u. B. K. In: Sprachkunst36 (2005), H. 1, S. 127–145. – Uta Schaffers: Kon-struktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlichtu. erlesen am Beispiel Japan. Bln./New York 2006.

Konrad Franke / Red.

Kelling, Gerhard, * 14.1.1942 Bad Polzin.– Dramatiker, Hörspielautor, Übersetzer.

Nach dem Abitur u. einer Ausbildung alsSchauspieler am Mozarteum in Salzburg ar-beitete K. als Regieassistent bei Peter Pa-litzsch u. Egon Monk. 1975–1977 war erDramaturg an den Städtischen Bühnen Köln.Seit 1980 lebt er als freier Autor in Hamburg.

1969 veröffentlichte K. sein erstes Thea-terstück, Arbeitgeber (Ffm.), eine Analyse polit.Vorgänge u. ein (pessimistischer) Befund überdie Veränderbarkeit der Gesellschaft. Wieauch in seinen folgenden Stücken, Die Aus-einandersetzung (Ffm. 1970) u. Die Massen vonHsunhi (Ffm. 1971), orientierte er sich dabeian der Technik des Lehrstücks. In dem Sta-tionendrama Heinrich (Ffm. 1979), geschrie-ben unter dem Eindruck des »deutschenHerbsts« von 1977, u. der west-östl. KomödieScheiden tut weh (Ffm. 1978) setzte er die dif-ferenzierte Bestandsaufnahme gesellschaftl.Entwicklungen fort. In seinen Hörspielen,Dialogen zumeist (Brandung. Ffm. 1982.Agenten. Ffm. 1983. Die Wasser des Mississippi.Ffm. 1987), u. dem Stück Agnes und Karl (Ffm.1982) erprobte K. zur Analyse von Liebesbe-ziehungen eine ganz unpoetische Sprache.Seit 1972 schreibt er auch Kinderstücke wie

Kelling 352

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 129: Kafka Killy Lexikon

Der Bär geht auf den Försterball (Ffm. 1972; nachMotiven von Peter Hacks) u. ist Übersetzervon Synge, lbsen u. Calderón.

Zuletzt trat K. als Erzähler mit den Roma-nen Beckersons Buch (Ffm. 1999) u. Jahreswechsel(Ffm. 2004) hervor. Beckersons Buch inszeniertein raffiniertes Spiel, das die Grenze zwischenEinbildung u. Tatsache, Wahn u. Normalitätaufhebt. Der Roman erzählt aus der Retro-spektive eines Insassen einer psych. Heilan-stalt von seiner freiwilligen Subordinationunter eine anonym bleibende Instanz, der erden Namen ›Beckerson‹ gibt u. von der erkrypt. Botschaften empfängt. Als der Erzäh-ler bemerkt, dass seine Lenkung auf denMord an einem von ihm verehrten Schrift-steller hinausläuft, entzieht er sich dem Auf-trag. Der Schriftsteller stirbt dennoch an demvorbestimmten Tag, u. der Erzähler tötetseinen mutmaßl. Auftraggeber bei einemkonspirativen Treffen. Darauf wird ihm einManuskript (›Beckersons Buch‹) zugestellt, indem er seine eigene Geschichte als Mischungaus Phantasma u. Hellsicht liest u. das erentsetzt vernichtet. Für den Protagonistenwie für den Leser verschwimmen die Ab-grenzungen zwischen ›Beckersons Buch‹ u.K.s Beckersons Buch zunehmend. Bei allerleiAnklängen an Grass’ Blechtrommel (der rück-blickende Erzähler im Heim) u. Kafka (un-greifbare Befehlswelt) überzeugt K. mit einerspannungsvollen komplexen Erzählform.

Mit Jahreswechsel konnte K. an dieses Niveaunicht anknüpfen. Der in Ich-Form erzählteRoman schildert in einem ›uferlosen (Selbst-)Gespräch‹ das Jahr nach der Trennung voneinem Partner. Der männl. Erzähler flieht ausder persönl. Misere auf griech. Inseln u. ver-sucht mit sich ins Reine zu kommen. SeineFerienbekanntschaften setzt er unterschieds-los seinen larmoyanten u. teils ›küchenphi-losophischen‹ Betrachtungen aus.

Weitere Werke (Ort jeweils Ffm.): Gernot T.1970 (Hörsp.). – Klauswitz. 1972/73 (Hörsp.). –Gibt es die Liebe? Gibt es sie nicht? 1974 (Hörsp.). –Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck.1975 (Hörsp., D.). – LKW. 1975 (D.). – Die bitterenZeiten des Wohlstands. 1977 (Hörsp.). – Die Inseldes Königs Schlaf. 1981 (Kinderbuch). – Ringolf,der weiße Ritter. 1989 (Kinderstück).

Annette Meyhöfer / Jürgen Egyptien

Kellner, Georg Christoph, * 11.6.1765Kassel, † September 1808 Kassel. – Päda-goge, Publizist, Romanautor.

K., ältester Sohn des Kasseler Organisten Jo-hann Christoph Kellner, erlernte bei seinemVater das Klavierspiel. Nach dem Besuch desKasseler Collegium Illustre Carolinum stu-dierte er ab 1784 Theologie u. Philosophie inRinteln u. verbrachte als 21-Jähriger ein vor-wiegend literar. Studienjahr in Göttingen.Nach dem Examen in Rinteln vermied er denTheologenberuf. K., der aus eigener Erfah-rung Wissen als Selbstvergewisserung be-griff, gründete 1787 in Kassel eine freieSchule, die den Verdacht des Konsistoriumserweckte u. nach zwei Jahren geschlossenwurde. Während dieser Zeit schrieb er denVersuch zur Grundlegung einer subjectiven Tu-gendlehre (Ffm. 1788) als ersten Ertrag seinerphilosophischen Studien sowie empfindsameRomane (Familiengeschichte der Rosenbusche [. . .] .4 Tle., Lpz. 1789/90. Klingstein, eine Geschichtemit Scenen aus dem spanischen Succesionsskriege.Breslau, Lpz. 1790. Charles Clairon. Rostock1791). Seine schriftstellerische Laufbahnsetzte K. als Hauslehrer in Mannheim fort u.machte sie endlich (1792) zur Grundlage sei-ner Existenz. Seit 1792 erschienen im»Deutschen Magazin« (Hg. Christian UlrichDetlev von Eggers. Hbg. 1791–1803) 39 na-mentlich ausgewiesene Beiträge K.s, die einevielseitige u. gründl. Beschäftigung mit ge-sellschaftl., histor. u. – zunehmend unterkantischem Einfluss – philosophischen The-men verraten.

Getragen von aufklärerischem Impetus u.klass. Bildungsidealen, schrieb K. philoso-phische Abhandlungen in belletristischerForm: so die Novelle Molly und Urania(Mannh. 1790), den Roman Charidion (2 Bde.,Mannh. 1793) u., in stilistischer Anlehnungan Helferich Peter Sturz u. Moritz, die histor.Studien Die Edlen der Vorwelt (Hbg. 1793),Athen, von seiner Gründung bis auf unsere Zeiten(Zürich 1797) u. Edle Griechen in den Revoluti-onszeiten des alten Syrakus (2 Bde., Elberfeld1800).

1794 kehrte K. auf der Flucht vor den inMannheim einrückenden Franzosen nachKassel zurück. Nach dem Tod des Vaters

Kellner353

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 130: Kafka Killy Lexikon

übernahm er 1803 dessen Stelle, heiratete imfolgenden Jahr u. beschloss sein Leben alsOrganist an der luth. Kirche in Kassel.

Weitere Werke: Etwas v. Tönen u. Tonarten.In: Carl Friedrich Cramer (Hg.): Magazin der Musik2 (1786), S. 1185–1190. – Unterhaltung beym Kla-vier in Liedern u. Gesang [...]. Halle 1790. – Dialogeiniger guten Zöglinge mit ihrem Lehrer über dieVorbereitung zu ihrer Confirmation. Breslau, Lpz.1790. – Chines. Hieroglyphen. Mannh. 1791 (N.). –Horatia u. Viburnia. Dürckheim 1793 (D.). – Dieschöne Unbekannte. Ein Gemälde häusl. Szenen u.ländl. Situationen. Zürich 1793 (D.). – Autobiogr.Skizze. In: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlagezu einer Hess. Gelehrten u. Schriftsteller Gesch.Bd. 11, Kassel 1797, S. 345–357. – Was nie Modesein sollte. In: Journal des Luxus u. der Moden,Aug. 1804, S. 385 ff.

Literatur: Steffen Stolz: G. C. K. Grundzügeseines Lebens u. Werks im Kontext der dt. Spät-aufklärung. Mag.-Arbeit Kassel 1998.

Ulrike Leuschner / Red.

Kelpius, Johannes, * 1673 bei Schäßburg/Siebenbürgen (rumänisch: Sighisoara),† 1708 Germantown/Pennsylvania. –Mystiker, religiöser Schriftsteller u. Lyri-ker.

K. gilt heute als einer der ersten Verfasserreligiöser Gesänge in Pennsylvanien; dieHandschrift seiner mit Noten versehenenTexte ist die älteste ihrer Art. Den Zeitge-nossen war er v. a. als Oberhaupt der Brü-dergemeinde »Chapter of Perfection« amWissahickon Creek (im heutigen Philadel-phia) bekannt, die sich u. a. bemühte, durchLehre u. vorbildliche christl. Lebensführungkulturbildend auf dt. Siedler u. Indianer inOstpennsylvanien zu wirken.

Nachdem K. mit zwölf Jahren seinen Vaterverloren hatte, übernahmen drei Gönner dieErziehung des frühreifen Pfarrerssohns. Sieermöglichten ihm ab Sommersemester 1687ein Theologiestudium in Leipzig, ab22.12.1687 in Tübingen u. ab 14.11.1688 inAltdorf, das K. dort 1689 mit dem Magister-grad abschloss.

K.’ mystisch-religiöse Weltanschauungwurde durch rosenkreuzerische Geistesströ-mungen, das kabbalistische Werk Knorrs vonRosenroth u. die Schriften Speners geprägt.

Der Glaube an die für den Herbst 1694 pro-phezeite Wiederkunft Christi veranlasste K.,sich 1693 etwa 40 Gleichgesinnten anzu-schließen, die das Weltende in der Einsam-keit des amerikan. Urwalds erwarten wollten.Noch in Europa übernahm der 20-jährige K.die Leitung dieser Gemeinde, deren Führer u.geistiger Mittelpunkt er nach der Ankunft inPennsylvanien (Sommer 1694) blieb. Bei denSiedlern Pennsylvaniens stand K. im Ruf ei-nes Erleuchteten; die Erinnerung an ihn bliebbis ins 20. Jh. lebendig.

K.’ hinterlassene Schriften sind leichtüberschaubar. Ein lat. Tagebuch dokumen-tiert die Reise von London nach Virginia,Maryland u. Pennsylvanien. Deutsche, engl.u. lat. Briefe bieten Einblick in den psycho-log. Hintergrund seines Einsiedlerdaseins.K.’ mystisch-pietistische Suche nach Gottfindet Ausdruck in dem Traktat Kurtzer Begriffoder leichtes Mittel zu beten, oder mit Gott zu reden(Philadelphia 1756. Engl. u. d. T. A short [. . .]method of prayer. Philadelphia 1761 u. Ger-mantown 1763): Der wahre Christ unter-scheide sich von den anderen Gläubigendurch das »innere« Gebet, das »ohnabläsig«sei u. in dem sich die Seele ohne Worte u.Gedanken Gott hingebe; es führe zu einerEinswerdung mit Gott u. so bereits in dieserWelt zu einem Zustand der Vollendung. InK.’ religiöser Lyrik, die zwischen 1697 u.1707 entstand, verschmelzen die Einflüssedes Hohenlieds u. der Jesusminne mit demGedankengut Speners zu einer stark persön-lich gefärbten imitatio Christi: »Johann, ichsag dir frey [...] Du hängst schon an demCreutz, Sieh zu, steig nicht Herab.«

Als Vorlage für Melodien u. Versform be-nutzte K. Lieder aus Knorr von RosenrothsNeuem Helicon (1684) u. aus Gesangbüchernder Zeit. Während sein Traktat in pietisti-schen Kreisen der 13 Kolonien Verbreitungfand, erregte K.’ geistl. Lyrik, die nur in einerHandschrift des 18. Jh. überliefert ist, erst dasInteresse amerikan. Historiker u. Musikolo-gen des 19. u. 20. Jh.

Weitere Werke: Theologiae naturalis seu me-taphysicae metaphorosis [...]. Altdorf 1689. – In-quisitio, an ethicus ethnicus, aptus sit christianaejuventutis hodegus? [...]. Respp.: Magister J. K. u.Balthasar Blos. Altdorf 1690. – Johannes Fabricius

Kelpius 354

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 131: Kafka Killy Lexikon

u. J. K.: Scylla theologica aliquot exemplis patrumet doctorum ecclesiae [...] ostensa [...]. Altdorf1690.

Ausgaben: The Diarium of Magister J. K. Hg. u.übers. v. Julius Friedrich Sachse. In: Pennsylvania:The German Influence in its Settlement and Deve-lopment. Lancaster 1917 (mit acht Briefen v. K.). –Faks. der geistl. Lieder u. Kompositionen in:Church Music and Musical Life in Pennsylvania inthe Eighteenth Century. Philadelphia 1926, Bd. 1,S. 19–165. – A method of prayer. Hg. E. GordonAlderfer. New York 1951 (modernisierte Fassungmit Einl.). – A method of prayer. A mystical pam-phlet from colonial America. Hg. Kirby Don Ri-chards. Philadelphia 2006.

Literatur: Bibliografie: Pyritz 2, S. 368. – WeitereTitel: Julius Friedrich Sachse: The German Pietistsof Provincial Pennsylvania. Philadelphia 1895. –Karl Kurt Klein: Magister J. K. Transsylvanus. In:FS Friedrich Teutsch. Hermannstadt 1931,S. 57–77. – Andrew Steinmetz: K. In: The Ameri-can-German Review 7 (1941), S. 7–12. – ErnestLashlee: J. K. and his Woman in the Wilderness. In:FS Ernst Benz. Leiden 1967, S. 327–338. – WillardM. Martin: J. K. and Johann Gottfried Seelig,mystics and hymnists on the Wissahickon. AnnArbor 1974. – Dictionary of American Biography 5,S. 312 f. – Cissy Scheerer: A historical sketch of J. K.and the hermits of the Wissahickon. Philadelphia1979. – Hans-Günther Kessler: Ein Transsylvanierin Pennsylvanien. Magister J. K., der erste Sieben-bürger Sachse in Nordamerika. Marburg 1999(Mikrofiche). – Robert Stevenson: J. K. In: NewGrove, 2. Aufl. – Claus Bernet: J. K. In: Bautz,Bd. 23 (2004), Sp. 778–786 (Lit.).

Ulrich Maché / Red.

Kelter, Jochen, * 8.9.1946 Köln. – Schrift-steller, Essayist.

K. studierte Literatur- u. Sprachwissenschaf-ten in Köln, Aix-en-Provence u. Konstanz,war zeitweise im akadem. Bereich u. als Mit-arbeiter des Süddeutschen Rundfunks Stutt-gart tätig, ist seiner Berufung nach jedoch einfreiheitsliebender »freier Schriftsteller«. EinVerfahren zur Überprüfung seiner Verfas-sungstreue aufgrund seiner Aktivitäten in der68er-Studentenbewegung wurde zwar wiedereingestellt, dennoch zog es der Autor vor,1969 seinen Wohnort zu wechseln: von derbadischen Seite des Bodensees auf dieschweizerische. K. lebt seither im thurgau-ischen Tägerwilen, mit Unterbrechung durch

Aufenthalte in Paris u. durch zahlreicheAuslandsreisen. Neben einer intensivenschriftstellerischen Arbeit engagiert er sichliteraturpolitisch: Er ist Mitgl. der Verbände»Gruppe Olten« (Generalsekretär 1988–2001)u. »ProLitteris« (Präsident seit 2002), derFöderation der Europäischen Schriftsteller-verbände (Präsident 1989–2003) u. desP.E.N.-Zentrum Deutschland.

K.s Werk, das bereits mit einigen Litera-turpreisen ausgezeichnet wurde, umfasst Ly-rik, erzählende Prosa u. Essayistik. In dendrei Jahrzehnten zwischen 1978 u. 2008 sindin dichter Folge nicht weniger als zwei Dut-zend selbstständige Veröffentlichungen er-schienen, auf welche die Feuilletons der Zei-tungen stets positiv reagiert haben. Einewissenschaftl. Auseinandersetzung mit K.sfacettenreichem Opus in der Germanistiksteht noch aus. Ein Grund dafür könnte darinbestehen, dass sich K.s scheinbar spielerischerUmgang mit Sprache u. polit. Realitäten,poetolog. Selbstreflexion, geografischen Ex-kursen, Ironie u. Sarkasmus nicht auf einhomogenes Bild reduzieren lässt. Der allseitsinteressierte Schriftsteller registriert u. rezi-piert seine Umwelt mit haarfeiner Akkura-tesse u. zwingt so zu Denkprozessen. Das giltfür die lyr. Texte in gleicher Weise wie für dienarrativen Darbietungsformen.

Dem Namen K. begegnet man ab Mitte dersiebziger Jahre in Zeitschriften u. Antholo-gien. Bemerkenswert ist eines seiner erstenGedichte mit dem Titel Gedicht in rot in dervon Peter Engel herausgegeben SammlungIch bin vielleicht du (Rastatt 1975). Der gezielteEinsatz von Metaphern hat Signalwirkung u.gehört zum festen Bestandteil seiner Lyrik,die sich bislang nicht sinnvoll in eine Früh- u.eine Spätphase unterteilen lässt, wenngleiches themat. Akzentverschiebungen gibt u.aufgrund veränderter Wahrnehmungsper-spektiven geben muss. K. debütierte mit demGedichtband Zwischenbericht (Zürich 1978), indem er uns durch Städte u. Landschaftenführt (Milano, Zürich, Vermont, Venedig,Paris), aber auch der Regisseur Pier PaoloPasolini tritt plötzlich auf. K.s Texte lebenvielfach aus szen. Momentaufnahmen u. ei-ner wohlkomponierten Bildlichkeit, die Foto-u. Filmcharakter hat. Ein Jahr später folgte

Kelter355

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 132: Kafka Killy Lexikon

eine zweite Auswahl früher Gedichte, in derdie visuelle Komponente ebenfalls eine tra-gende Rolle spielt (Land der Träume. Freib. i.Br. 1979). In weiteren acht umfangreicherenGedichtsammlungen, die zwischen 1982 u.2006 in verschiedenen Verlagen erschienen,führt K. den Leser in seinen poetischen Kos-mos ein: »Ich bin kein Jünger der blauenBlume«, heißt es in dem Gedicht Abstecher, u.auch der Bodensee wird keinesfalls zu ei-ner bukolisch-arkad. Region verklärt. DieFluchtbewegungen des Autors aus der nichtmehr heilen Welt manifestieren sich immerwieder in Gedichten, die um urbanes Leben u.histor. Stätten kreisen: Versailles, Piran, Pa-ris, Delphi, Riga, Bruxelles, Helsinki, Mont-réal, New York etc. Themen sind aber auchGlobalisierung, Angst, Melancholie u. Tod.Bei sorgfältiger Lektüre werden zeilenweiseUmrisse von K.s jeweiliger psych. Befind-lichkeit evident.

Ein erster Band mit Prosatexten erschien1984 (Der Sprung aus dem Kopf. Weingarten): K.unternimmt eine kartografische wie menta-litätsspezif. Vermessung seiner WahlheimatBodenseeregion. Beachtung verdient derkleine Essay über den SchriftstellerkollegenBernd Jentzsch, der aus der DDR in dieSchweiz übergesiedelt war. 1986 folgen 35Glossen, in denen sich K. als Meister einerkomprimierten, sachl. Sprache erweist (Fins-tere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpressegreift ein. Weingarten/Konstanz). In der Er-zählung Die steinerne Insel. Antworten aus NewYork (Zürich 1985) führt uns der Autor nach u.durch New York: Der kurze Text ist überausdetailreich, enthält amerikanischsprachigeZitate u. schafft dadurch eine authent. At-mosphäre, liest sich passagenweise wie UweJohnsons Jahrestage. Zwischen 1988 u. 2007erweiterte K. sein literarisch-essayistischesTerrain um sieben Bücher, von denen dasschmalste (Steinbruch Reise. Ein europäischerJahreslauf. Frauenfeld 1996), ein poetischesTagebuch, Einblicke in biogr. Kontexte er-laubt. K.s bislang einziger Roman Hall oderDie Erfindung der Fremde (Tüb. 2005) erzähltdie Geschichte der venezian. Tonsetzerin u.Musikantin Mariana Caldi, der unehel.Tochter eines Poeten u. Librettisten. Ihremusikal. Ausbildung erhält sie von einem

Schüler Monteverdis. Die komplexe Hand-lung reicht vom Barock bis zu den Balkan-kriegen der 1990er Jahre. Als Dramatikerversucht sich K. in der grotesk-kom. Farce Inder besten aller Welten (Eggingen 1991), die ineiner Bahnhofswirtschaft spielt u. in derHölderlin als toter Dichter figuriert. K. hatsich in den vergangen Jahren auch immerwieder als umsichtiger Anthologist erwiesen.Die Vertrautheit mit den von ihm ausge-wählten Texten anderer Autoren trägt zumVerständnis der eigenen literar. Produktionbei u. erlaubt die Konstruktion von Koordi-naten, in denen K.s Werke angesiedelt sind.

Weitere Werke: Unsichtbar ins taube Ohr. Ge-dichte. Zürich 1982. – Laura. Ein Zyklus. Zürich1984. – Nachrichten aus dem Inneren der Welt.Gedichte 1982–1986. Zürich 1986. – DerfrangersZeit. Erzählungen. Zürich 1988. – Ein Ort untermHimmel. Texte aus Alemannien. Eggingen 1989. –Achtundsechzig folgende. Aufsätze, Glossen, Es-says. Eggingen 1991. – Verteidigung der Wörter.Gedichte 1986–1989. Bern 1992. – Meinetwegenwolgabreit. Gedichte 1989–1993. Bern 1994. – Aberwenigstens Wasser. Eggingen 1998. – Andern Orts.Postkarten 1995–1997. Frauenfeld 1998. – Die ka-liforn. Sängerin. Erzählungen. Zürich 1999. – Derinnerte Blick. Gedichte 1993–1996. Stgt. 2000. – Soist dann Tag. Gedichte 1997–2000. Stgt. 2001. –Verweilen in der Welt. Gedichte. Tüb. 2006. – EinVorort zur Welt. Essays u. Texte aus der Schweiz.Frauenfeld 2007. – Ein Ort unterm Himmel. Lebenüber die Grenzen. Essays u. Texte. Frauenfeld2008. – Herausgaben: Mein Land ist eine feste Burg.Neue Texte zur Lage in der BRD. Rastatt 1976. –Lit. im alemann. Raum. Regionalismus u. Dialekt(zus. mit Peter Salomon). Freib. i. Br. 1978. –Konstanzer Trichter. Lesebuch einer Region. Kon-stanz 1983. – Kultur am Ende? Kultur in der Pro-vinz. 11 Momentaufnahmen Weingarten 1985. –Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischenWunsch u. Wirklichkeit. Weingarten 1986. – Ichbin nur in Wörtern. Johannes Poethen zum 60.Geburtstag (zus. mit Jürgen P. Wallmann). Warm-bronn 1988. – Bodensee-Lesebuch. 18 Autorenstellen sich vor. Karlsr. 1990. – Bodenseegesch.n(zus. mit Hermann Kinder). Tüb. 2009.

Nicolai Riedel

Kemnat, Matthias Widman von ! Mat-thias Widman von Kemnat

Kemnat 356

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 133: Kafka Killy Lexikon

Kemp, Friedhelm, auch: Friedrich Um-bran, * 11.12.1914 Köln. – Lyriker, Es-sayist, Kritiker, Herausgeber u. Überset-zer.

K. wuchs in Aachen u. Frankfurt/M. auf. Nachdem Studium der Romanistik u. Germanistikin Frankfurt/M. u. München promovierte er1939 mit einer Arbeit über Baudelaire und dasChristentum (Marburg 1939). Er lebt seit 1945in München. 1948 wurde K. literar. Lektor imdortigen Kösel Verlag. Seit 1952 war er Mit-arbeiter in der Literarischen Abteilung desBayerischen Rundfunks, die er 1975–1979leitete.

Als Kritiker, Herausgeber, Literarhistorikeru. Übersetzer war K. in den Jahrzehnten nachdem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigstenVermittler zwischen der dt. u. der frz. Lite-ratur geworden, u. a. durch Übersetzungenvon Gérard de Nerval, Charles Baudelaire,Maurice Scève, Jean Cocteau, Marcel Jouhan-deau, Saint-John Perse, Raymond Radiguet u.Yves Bonnefoy. Die zwölfteilige BuchreiheContemporains (Mchn.), die er 1968–1970herausgab, war ein Markstein für die Rezep-tion der modernen frz. Literatur in Deutsch-land. Seit 1945 veröffentlicht K. sporadischeigene Gedichte (zuletzt die 2004 erschieneneSammlung Einmal für immer. Waakirchen),trat aber v. a. als Herausgeber u. Übersetzerkanonischer Werke der frz. u. bisweilen auchengl. Literatur hervor. Besonders hervorzu-heben ist die gemeinsam mit Claude Pichoisbesorgte achtbändige Baudelaire-Ausgabe(Mchn. ab 1977) u. die dreibändige Ausgabeder Werke des Romantikers Gérard de Nerval(Mchn. 1986–89). Im Bereich der dt. Literaturzeichnete er verantwortlich für die 1956 er-schienenen Dichtungen und Schriften TheodorDäublers, auch der Gedichte von KonradWeiß (1961) u. ist Mitherausgeber der WerkeClemens Brentanos (1963–1972). Gemeinsammit Werner von Koppenfels, Hartmut Köhleru. a. organisierte K. eine umfangreiche chro-nologisch u. zweisprachig angelegte Antho-logie der frz. Lyrik von Villon bis in die Ge-genwart (Mchn. 1990) u. war beteiligt an dervierbändigen Anthologie Englische und ameri-kanische Dichtung (Mchn. 2000). Veröffentli-chungen wie Das europäische Sonett (Gött.

2002) dokumentieren sein literaturwissen-schaftlich-gattungstheoret. Interesse.

K. erhielt u. a. 1963 den Übersetzerpreisder Deutschen Akademie für Sprache u.Dichtung, 1998 den Joseph-Breitbach-Preis u.2007 – gemeinsam mit Yves Bonnefoy – denHorst-Bienek-Preis für Lyrik.

Weitere Werke: Dichtung als Sprache. Wand-lungen der modernen Poesie. Mchn. 1965. – Kunstu. Vergnügen des Übersetzens. Pfullingen 1965. –Goethe. West-Östl. Divan. Das Ereignis einer An-eignung. Darmst. 1983. – ›... das Ohr, das spricht‹.Spaziergänge eines Lesers u. Übersetzers. Mchn.1989. – Herausgeber: Jean Paul. Werk, Leben, Wir-kung, Texte (zus. mit Norbert Miller u. GeorgPhilipp). Mchn. 1963.

Literatur: F. K. Bibliogr. 1939–1984. Bearb. v.Margot Pehle. Marbach 1984. – F. K. In: Akzente31, H. 6 (1984). – F. K. Bibliogr. 1984–1994. Bearb.v. M. Pehle. Marbach 1994. – ›Kränzewinder, Vor-hangraffer, Kräuterzerstoßer u. Bratenwender‹. F.K. zum 85. Geburtstag. Mchn. 1999.

Detlef Krumme / Torsten Voß

Kempe, Martin, * 3.6.1637 Königsberg,† 31.7.1683 Königsberg. – Dichter u.Historiograf.

Der Sohn eines Kantors besuchte die Löbe-nicht-Schule in Königsberg u. das DanzigerGymnasium, studierte seit 1660 in Witten-berg u. Helmstedt u. erwarb 1664 den Ma-gistergrad u. die kaiserl. Dichterwürde inJena. Ab 1666 Mitgl. der PhilosophischenFakultät der Universität Königsberg, wurdeer dort nach einer Reise durch Dänemark,England u. Holland brandenburgischer Hof-historiograf. Als einziger Dichter war der1677 geadelte K. Mitgl. der Fruchtbringen-den Gesellschaft, des Pegnesischen Blumen-ordens, der Deutschgesinneten Genossen-schaft u. des Elbschwanenordens. K. unter-hielt Verbindungen zu den maßgebl. Autorenin Thüringen, Sachsen, Nürnberg, Hamburg,Wolfenbüttel, Amsterdam, Lübeck u. Ko-penhagen u. beteiligte sich seit seiner Studi-enzeit mit Gedichtbeiträgen an zahlreichenHochzeits- u. Trauerschriften.

In drei Sammlungen – Poetische LustGedan-ken in Madrigalen und einem anmuthigen Spat-ziergang (Jena 1665), Damons Sonderbahres Lob-und Ehren-Liderbuch Von weitberühmten Poeten in

Kempe357

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 134: Kafka Killy Lexikon

Teutschland (veröffentlicht als Teil der Balthis.Lübeck 1674. Bremen 21677. 31680. 41689) u.Poetischen Erquickstunden (o. O. u. J.) – stellte K.schäferl. u. weltl. Gedichte, Madrigale, So-nette, Gesprächspiele u. Gedichte auf ver-schiedene Autoren u. ihre Werke sowie Gele-genheitsgedichte für Mitglieder des HausesBrandenburg zusammen. Geistliche Betrach-tungen in Versen nach Texten von François deSales bietet Geistliches Je länger je lieber / OderMancherley Nützliche Betrachtungen / in Zwölffgebundenen Reden (Königsb. 1675).

Seit seiner Studienzeit beschäftigte sich K.mit Geschichte u. Theorie der Dichtkunst.1664 veröffentlichte er ein reich annotiertesGedicht aus 860 Alexandrinern über den Ur-sprung der Poesie Neu-grünender Palm-ZweigDer Teutschen Helden-Sprache und Poeterey; 1667verfasste er die ausführl. Anmerkungen zuNeumarks Poetischen Tafeln oder GründlichenAnweisung zur teutschen Verskunst (Neudr. hg.Joachim Dyck. 1971). Eine Auftragsarbeit fürden Großen Kurfürsten, das Drama DerBrandenburgische Adler, blieb ungedruckt.

Weitere Werke: Dissertatio de statu Armeniaeecclesiastico & politico tam pristino. Jena 1665. –Commentarius philologico-poëticus in tabellasNeumarckii concinnatus. Jena 1665. – Opus poly-historicum. Königsb. 1665. 21677. Ffm. 1680. –Salanische Musen-Lust (zus. mit Johann JacobLöwe). Jena 1665. – Thema philologicum de cruce.Königsb. 1666. – Ergötzl. FrühlingsFreude in ei-nem Pastorell. Königsb. 1667 (verschollen). – Ruhmu. Eigenthum der teutschen Poesie. Jena 1668. –Von der Arth u. Eigenschafft der itzigen Zeit, wiesie [ ...] gegen die löbl. Dichtkunst gesinnet ist.Königsb. 1668. – Poesis triumphans Oder SiegesPracht der Dichtkunst. Königsb. 1676. – Unvor-greiffl. Bedencken über die Schrifften der bekan-testen Poeten hochdt. Sprache. Königsb. 1681. –Zahlreiche Gelegenheitsschriften. – Übersetzungen:Lope de Vega: Die Geschichte vom gezwungnenFreund. Printzen Turbino (verschollen). – Charis-matum Sacrorum trias. Sive bibliotheca AnglorumTheologica. Königsb. 1677. Darin Schr.en vonThomas Goodwin, Joseph Hall u. Charles Richard-son. – Briefe: German. Nationalmuseum Nürnberg;Landesbibl. Dresden.

Literatur: Johann Herdegen: HistorischeNachricht von deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordensan der Pegnitz Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb.1744, S. 288-330, 854-855. – Goedeke, Bd. 3,S. 272 f., Nr. 15. – Heiduk/Neumeister, S. 59, 390.

– Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2258–2268. – DBA. –Andreas Herz: M. K. (1637–1683) aus Königsberg.Addenda u. Corrigenda zum Verz. seiner Schr.en.In: WBN 21 (1994), S. 21–26. – Die Fruchtbrin-gende Gesellsch. unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels. Die preuß. Mitglieder M. K. (der Er-korne) u. Gottfried Zahmel (der Ronde). Hg. MartinBircher u. Andreas Herz. Tüb. 1997 (mit Werkverz.v. A. Herz, S. 51–132). – Anthony J. Harper: Neu-meister was not the first. Some thoughts on M. K.’s›Unvorgreiffliches Bedencken‹ of 1681. In: ›Vir in-genio mirandus‹. Studies presented to John L.Flood. Hg. William J. Jones u. a. 2 Bde., Göpp.2003, Bd. 1, S. 371–385. – Werner Braun: Thöne u.Melodeyen, Arien u. Canzonetten. Zur Musik desdt. Barockliedes. Tüb. 2004 (Register). – Flood,Poets Laureate, Bd. 2, S. 980–984. – Jürgensen,S. 272–279. Renate Jürgensen

Kempff, Diana, * 11.6.1945 Thurnau/Oberfranken, † 14.11.2005 Berlin; Grab-stätte: Schloss Wernstein/Oberfranken,privater Waldfriedhof der Freiherrn vonKünßberg. – Erzählerin, Lyrikerin, Ver-legerin.

Die jüngste Tochter des Pianisten WilhelmKempff debütierte, von der Literaturkritikweitgehend unbeachtet, mit dem an die Hai-ku-Tradition anknüpfenden Gedichtband Vorallem das Unnützliche (Esslingen 1975), ehe ihrmit dem Roman Fettfleck (Salzb./Wien 1979)der Durchbruch gelang. Fettfleck thematisiertin Form eines Gedankenprotokolls einetraumat. Kindheitserfahrung der Autorin,eine durch innersekretor. Störungen hervor-gerufene Fettleibigkeit, auf die Familie u.Mitmenschen mit Unsicherheit, zuweilensogar mit Ablehnung u. Schikane reagieren.Das Mädchen substituiert seine unerfüllteSehnsucht nach Geborgenheit durch denRückzug in die Innerlichkeit. Aus regressivenGedankenspielen entwickelt sich allmählichder Wunsch, die Literatur zum Medium derVermittlung zwischen Innen- u. Außenweltwerden zu lassen. Der Roman ist ungeachtetseiner autobiogr. Grundierung keineswegsder Bruch der Autorin mit ihrem philiströs-dekadenten Elternhaus, als welcher er vonder Kritik mitunter wahrgenommen wurde.Vielmehr zeigen sich in ihm Ansätze dessen,was sich zu einer themat. Konstante im Werk

Kempff 358

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 135: Kafka Killy Lexikon

K.s auswachsen sollte: die Darstellung exis-tenzieller Grenzsituationen u. der Versuchihrer Überwindung im künstlerischen Pro-zess. Auch in K.s zweitem Prosastück Hinterder Grenze (Salzb./Wien 1980) steht ein na-menloses Mädchen im Mittelpunkt. Nochbenommen von der Betäubungsspritze desZahnarztes, stürzt es während eines Zoobe-suchs über einen Gehegezaun u. taucht als»Aha« in eine Fantasiewelt ein, aus der es erstam Ende des Romans wieder entlassen wird.Bis dahin rettet es an der Seite von Fabelwe-sen das Reich der Fantasie vor dem Unter-gang. Der Roman, der die Tradition vonWerken wie Lewis Carrolls Alice’s Adventures inWonderland fortschreibt, verdichtet den Ge-gensatz von empir. u. imaginierter Wirk-lichkeit zur Allegorie. Trägt die Realität alsSphäre des Zwanges u. der Not Züge des In-humanen, so gestaltet sich die Fantasie zueinem Reich unbedingter Freiheit u. Auto-nomie. In den Prosaskizzen des Bandes Dervorsichtige Zusammenbruch (Salzb./Wien 1983)erfahren die Themen »Angst«, »Verlassen-heit«, »Verzweiflung« u. »Ausgrenzung«eine radikale Zuspitzung. Aus der Erkenntnisder eigenen Dissoziation heraus entwirft daserzählende Ich Visionen der Paralyse men-schl. Gemeinschaft u. beschreibt die Ge-schichte der Beziehungen zwischen Mann u.Frau als ewige Wiederkehr der gleichenSpiele von Demütigung, Gewalt u. Vernich-tung. Die 52 Texte des Bandes verstehen sichals Dokumente eines radikal gelebten Solip-sismus, den das Ich durch seine Hinwendungan ein fiktives Du bisweilen zwar zu über-winden sucht, der aber zgl. jeden Gedanken,im Nicht-Ich potentiell Erlösung finden zukönnen, entschieden negiert. Letztere findetdas Ich allein in der Kunst. Sie fungiert alsGegenentwurf zu der kalten u. gewalttätigenWirklichkeit, lässt als solcher jedoch dieKluft, die zwischen dem denkenden Subjektu. der Objektwelt liegt, um so tiefer erfahrbarwerden.

In den Gedichten von Herzzeit (Salzb./Wien1983) entwirft K. in einer hermetischen u. anMythologemen reichen Sprache Bilder derVereinsamung u. einer Isolation, die un-überwindbar erscheint angesichts der Gefahrder völligen Vernichtung, die eine unvor-

sichtige Öffnung zum Du zeitigen könnte.Die Gedichte sind der verzweifelte Versuch,dem Schweigen der Welt Sprache abzutrot-zen, dort noch Worte zu finden, wo Sprechenlängst unmöglich geworden zu sein scheint.Mit Der Wanderer (Salzb./Wien 1985) legte K.nach längerer Zeit wieder einen Prosatextgrößeren Umfangs vor. Der Titel u. die Gen-rebezeichnung »Fantasie« verstehen sich alsAllusion auf die sog. Wanderer-FantasieFranz Schuberts u. stimmen den Leser auf dasGeflecht musikal. Motive ein, das den Textdurchwirkt. In der am Rande auftauchendenFigur eines Musikers, der an der Dominanzseines künstlerischen Übervaters zu zerbre-chen droht, konvergieren autobiogr. Erfah-rungen der Autorin. Thematisch knüpft DerWanderer an die Erzählung Hinter der Grenzean. Auf der Grenze zwischen Traum u.Wirklichkeit entfaltet sich vor den Augen desnamenlosen Wanderers eine Landschaft, inder sich Archaisches (Chronos, Sisyphus u.Gäa) mit Wunderbarem (Einhorn) verbindetu. Widersprüchliches in der Koinzidenz be-gegnet: Zugleich Wüste u. Park, trägt Vineta– so nennt K. diese Landschaft in Anlehnungan die sagenhafte Ostseestadt – sowohl Zügedes prähistor. Chaos als auch der fruchtbarenErneuerung. Der Vorgang des Wandernsgerät damit zu einer existenziellen Grenz-erfahrung.

Mit Der Wanderer schienen sich K.s Mög-lichkeiten eines metaphor. Schreibens er-schöpft zu haben. Die Abstände, in denen sieneue Produktionen vorlegte, vergrößertensich in zunehmendem Maße. 1989 veröf-fentlichte die inzwischen mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Autorin Das blaue Tor(Salzb./Wien), 1995 Die fünfte Jahreszeit(Salzb./Wien). Die sprachl. Virtuosität, mitder sie darin ihre stets gleichen Themen u.Konstellationen zur Darstellung bringt, ver-mag freilich kaum über das grundsätzlichFragwürdige hinwegzutäuschen. Indem einezwanghafte Fixierung zum Movens für diekünstlerische Betätigung gemacht wird, kannsie nur noch hilflos vervielfachen, wodurchsie letztlich konditioniert ist. Das bis zurSinnverweigerung getriebene hermetischeSchreiben erscheint mehr u. mehr als derverzweifelte Befreiungsschlag eines zutiefst

Kempff359

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 136: Kafka Killy Lexikon

verletzten Menschen, der den Obsessionenseiner Herkunft nicht entkommen kann, aberauch an die Grenzen ihrer ästhetischen Be-wältigung gelangt ist. K.s Rückzug in eineTätigkeit als Verlegerin, die sie bis zu ihremTod ausübte – der von ihr 2000 gegründete»Gemini Verlag« förderte v. a. Autoren jen-seits des Mainstreams – war insofern nurfolgerichtig.

Weitere Werke: Der Traum vom Glück. Zu-sammengestellt von D. K. Mchn. 1971. – Notizenzu einer Rede. In: Kleist-Jb. (1987), S. 23 f.

Literatur: Joachim Kaiser: Rede auf die Kleist-Preis-Trägerin D. K. In: Kleist-Jb. (1987), S. 15–22.– Ralf Georg Czapla: D. K. In: KLG. – Petra Ernst:D. K. In: LGL. Ralf Georg Czapla

Kempker, Birgit, * 28.5.1956 Wuppertal.– Dozentin für Wort u. Bild, Verfasserinvon Romanen, Essays, Hörstücken u.Prosagedichten.

K. studierte Kunst u. Literatur in Zürich u.lebt seit 1990 in Basel. Sie ist dort Dozentinfür Wort u. Bild an der Hochschule für Ge-staltung u. beteiligt sich an gattungsüber-schreitenden Kunst- u. Literaturprojekten. Inihren Romanen u. Prosagedichten beschreibtsie die Sexualität als männl. »Ausrottungs-traum« zur Eroberung, Zerteilung u. Ver-schlingung des Partners, als männl. Vertei-lungskampf um den weibl. Leib. K.s literar.Vaterfiguren sind grausam u. sadistisch, sie›kolonisieren‹ den weibl. Körper. In ihrenfrühen Prosaarbeiten Der Paralleltäter (Zürich1986) u. Rock me Rose (Zürich 1988) ist K.sPoetologie bereits voll entfaltet: Sie bevor-zugt assoziativ verschlungene Sprachspiele,die auf lineare narrative Strukturen verzich-ten.

In ihrem juristisch umkämpften u. seit2000 verbotenen Prosa-Poem Als ich das ersteMal mit einem Jungen im Bett lag (Graz/Wien1998) hat K. ihr produktionsästhetisches Be-kenntnis formuliert: »Ich bin zu seman-tisch«. Diese Sentenz verweist auf dassprachempfindl. Text-Begehren der Dichte-rin, das sich am assoziativen Spiel mit Wör-tern, ihren Oberflächen- u. Tiefenstrukturen,verborgenen Nebenbedeutungen, heiml.Subtexten u. »semantischen Verrutschun-

gen« entzündet. In den 200 Textsequenzendes Prosa-Poems wird durch die litaneiartigeRepetition der Periode »Als ich das erste Malmit einem Jungen im Bett lag / war es Cor-nelius Busch« die Motorik des Textes be-stimmt. Der Name des jugendl. Liebhabersfungiert als poesie-generierendes Signalwort,das eine Kaskade von Wortspielen in Gangsetzt. »Das ist das Gefährliche in der Liebewie in der Sprache«, so K. auch in einem Essaydes Bandes Liebe Kunst (Graz/Wien 1997), »dasAusrutschen, wie glitschig zu kitschig, dieVerschiebung, das Hinübergleiten, Hinfallenund Danebengreifen, das Versprechen, dieVerlagerung von Verlangen und das Verlan-gen nach Verlagerung, Verwandlung also inallen Stufen und Graden ...«.

Das Prosabuch Mike und Jane (Graz/Wien2001) lässt sich als furioser Versuch über dieAporien u. Abgründe einer Sprache der Liebelesen. »Mike« u. »Jane« sind hier zwei inLiebeskämpfe verstrickte Modellfiguren, diefüreinander nur Lüge u. Verrat, Demütigun-gen u. Enttäuschungen bereit halten. In 99Textsequenzen, die in ihren ersten drei Sät-zen jeweils völlig identisch sind, wird dasDesaster der Liebe in serieller Manier durch-gespielt. In der radikalen Litanei Sehnsucht imHyperbett. Ein transverfickter Diskurs (Graz/Wien 2008) vermischen sich ketzerische Hei-ligenlegenden, Gebetsfragmente, Gewalt- u.Penetrationsfantasien zu einem schrillenSprachspiel.

Weitere Werke: In der Allee 1. Schnee in derAllee. Zürich 1986 (Pr.). – In der Allee 2. AuchFrieda war jung. Zürich 1986 (Pr.). – Dein Fleischist mein Wort. Reinb. 1992 (Pr.). – Ich will ein Buchmit dir. Kein Fleisch. Weil am Rhein/Basel 1997(Pr., Hörstück). – Anleitung fürs Blut/Ich ist einZoo. Basel 1997 (2 Hörstücke). – Übung im Er-trinken/Iwan steht auf. Basel 1999 (2 Hörstücke). –Die Wurzel des freien Radicalen ist Herz/Ich sag soviel Kafka wie ich will. Basel/Weil am Rhein/Wien2001 (2 Hörstücke). – Meine armen Lieblinge. AltesEgo adieu. Graz/Wien 2003 (Pr.). – Scham/Shame.Eine Kollaboration. Dt./Amerikan. (zus. mit RobertKelly). Wien/Basel/Weil am Rhein 2004. – James M.Barrie: Peter Pan. Nachersetzt v. B. K. Basel/Weilam Rhein 2007 (Übers.). – Repère. Sound, Film u.Ess. mit Anatol Kempker. Basel 2009.

Literatur: Wolfram Groddeck: IntertextuelleJagdszenen. Eine Lektüre v. B. K.s ›Dein Fleisch ist

Kempker 360

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 137: Kafka Killy Lexikon

mein Wort‹. In: Sprache im techn. Zeitalter 31(1993), H. 127, S. 284–295. – Silvia Henke: B. K. DieGewalt des Privaten. In: Schnittpunkte. Parallelen.Literatur u. Literaturwiss. im ›Schreibraum Basel‹.Hg. Urs Allemann u. W. Groddeck. Basel/Köln1995, S. 219–241. Michael Braun

Kempner, Friederike, * 25.6.1836 Opa-tow/Posen, † 23.2.1901 Gut Friederiken-hof bei Reichthal/Schlesien. – Lyrikerin,Dramatikerin, Erzählerin, Philanthropin.

Nachdem sie sich schon in der Armen- u.Krankenfürsorge engagiert hatte, verfasstedie 20-jährige Tochter eines Pächters u. Rit-tergutsbesitzers eine Denkschrift über die Not-wendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Lei-chenhäusern (Breslau/Lpz. 61867), um der Be-stattung Scheintoter abzuhelfen; 1869 be-gann ihre Aktion zur Reform des Gefängnis-wesens (Gegen die Einzelhaft. Breslau. Bln.21885). Mit ihren sozialreformerischen Akti-vitäten verband sie eine vielseitige schön-geistige schriftstellerische Tätigkeit, zu-nächst als Autorin von Novellen (Lpz. 1861) u.histor. Trauerspielen wie Berenice (Breslau1860) u. Rudolph II. oder der Majestätsbrief (Lpz.1867. 21896) sowie von popularphilosophi-schen Anthologien.

Die Zeitgenossen u. auch die Nachweltschätzten K., die auch als markante Persön-lichkeit bekannt war, nicht zuletzt als Klas-sikerin des unfreiwilligen Humors. Die Ge-dichte (Lpz. 1873. 81903) des »schlesischenSchwans« sind ein eigentüml. Gemisch vongereimter Stellungnahme zu aktuellen Er-eignissen u. Themen, sentimental, patrio-tisch, zuweilen auch sozialpolitisch kritisch.Ihre Verse, am hohen Ton der nachklass.epigonalen Lyrik ausgerichtet, sind jedochgedanklich u. gestalterisch dem eigenen An-spruch nicht gewachsen u. wimmeln gerade-zu von Verstößen gegen die Logik. Der ritu-elle Vortrag von Gedichten K.s (übrigensTante von Jakob van Hoddis wie von AlfredKerr) diente bei geselligen Anlässen unver-brüchlich zur allg. Erheiterung; noch heutesind Anthologien von parodistischen Textenohne sie nicht zu denken.

Ausgaben: F. K., der schles. Schwan. Hg. Ger-hart H. Mostar. Heidenheim 1953. 61974. – Die

sämtl. Gedichte. Hg. Peter Horst Neumann. Mchn.1964. – Dichterleben, Himmelsgabe. Sämtl. Ge-dichte. Hg. Nick Barkow u. Peter Hacks. Bln. 1989.– Gedichte. Mchn. 1995. – Gedichte. Bln. 2004.

Literatur: Ernst Heimeran: UnfreiwilligerHumor. Mchn. 1935. – Peter Haida: F. K. In: NDB.– Rudolf Krämer-Badoni: Das Glück ist nicht ge-heuer. In: Frankfurter Anth. Gedichte u. Inter-pr.en. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 3, Ffm. 1978,S. 108 ff. – Werner Kraft: Die Verblendung (zu ei-nem Vers von F. K.: ›Von den Sternen fiel ich nie-der ...‹). In: Ders.: Goethe: wiederholte Spiege-lungen aus fünf Jahrzehnten. Mchn. 1986,S. 166–168. – Gerhard Pachnicke: F. K.s Autobiogr.vom Jahre 1884. Aus dem Nachl. Brümmer derStaatsbibl. Preuß. Kulturbesitz. In: Jb. der Schles.Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 30(1989), S. 141–171. – Margret Galler: F. K.: einArtikel u. seine Folgen. In: Vita pro litteris. FS AnnaStroka. Hg. Eugeniusz Tomiczek. Warszawa u. a.1993, S. 37–47. – Jochen Hofbauer: Die schles.Nachtigall: zu Leben u. Werk von F. K. In: Schle-sien 38 (1993), H. 1, S. 18–33. – Christian Höpfner:›Jener Lieder süße Worte‹. F. K.s Heine-Gedichte.In: Heine-Jb. 36 (1997), S. 153–167. – S. R. Lenz:Schwanengesänge von unnachahml. Komik: zurLyrik der F. K. In: Krit. Ausg. 6 (2002), H. 1,S. 23–25. – Florian Krobb: F. K. (1836–1904). ›DreiSchlagworte‹ (1880). In: Poetry project. Irish Ger-manists interpret German verse. Hg. ders. Oxfordu. a. 2003, S. 103–107. – Christian Gottfried DanielNees v. Esenbeck: Ausgew. Briefw. mit Schriftstel-lern u. Verlegern (Johann Friedrich v. Cotta, JohannGeorg v. Cotta, Therese Huber, Ernst Otto Lindner,F. K.). Bearb. Johanna Bohley. Stgt. 2003. – Goe-deke Forts. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Eda Sagarra

Kempowski, Walter, * 29.4.1929 Rostock,† 5.10.2007 Rotenburg/Wümme. – Er-zähler; Hörspiel- u. Kinderbuchautor.

Der Sohn einer Rostocker Reederfamilie be-suchte bis 1945 das Realgymnasium. Wegen»politischer Unzuverlässigkeit« wurde K. ei-ner Strafeinheit der Hitlerjugend zugewie-sen. Ende des Kriegs war er Flakhelfer. 1946begann er eine Lehre als Druckereikaufmann;danach arbeitete er in einer Arbeitskompanieder US-Armee in Wiesbaden. In die SBZ zu-rückgekehrt, wurde er von einem sowjeti-schen Militärtribunal aus polit. Gründen zu25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt (1956Amnestierung). K. holte das Abitur nach u.studierte an der Pädagogischen Hochschule

Kempowski361

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 138: Kafka Killy Lexikon

in Göttingen. Bis 1980 übte er seinen Berufals Volksschullehrer in der niedersächs. Pro-vinz aus. Von 1980 bis zur Pensionierung1991 war K. für Lehraufträge an die Univer-sität Oldenburg abgeordnet. Er war Gastdo-zent an den Universitäten Essen, Mainz u.Hamburg sowie in den USA. Daneben ver-anstaltete er zahlreiche Lesungen u. Litera-turseminare in seinem Haus in Nartum beiBremen. In den letzten Jahren seines Lebenszog sich K. zunehmend aus der Öffentlichkeitzurück, während umgekehrt die öffentl. An-erkennung wuchs, z.B. mit einer großenAusstellung an der Berliner Akademie derKünste 2007. Im selben Jahr starb K. an denFolgen einer Krebserkrankung.

K. schrieb bereits als Schüler u. Häftling,fand aber erst durch eigene biogr. Erfahrun-gen wie Jugend, Krieg u. Haft zu seinenThemen. Die Zeit in Bautzen versuchte erbereits seit 1957 erzählerisch detailliert zurekonstruieren. Dabei durchlief das Manu-skript zahlreiche Überarbeitungen von einerparabolischen, an Kafka orientierten Urfas-sung bis zur letzten Version, die 1969 als ImBlock erschien. (Hbg. Überarb. Aufl. Mchn.1987). Der trotz guter Kritiken (Förderpreisdes Lessing-Preises der Freien u. HansestadtHamburg 1969) seinerzeit kaum rezipierteBericht über K.s Zuchthauszeit zeigt stilisti-sche Qualitäten, die seine nachfolgendenRomane berühmt u. K. zu einem der erfolg-reichsten Schriftsteller in Deutschland ge-macht haben: Aus der Perspektive des erle-benden Ich werden ohne Rückschau u. Syn-these die Fakten der privaten Alltagsge-schichte kommentarlos berichtet. K. verzich-tet auf jegl. Einordnung seines dargestelltenLebens in übergeordnete histor., polit. oderpsycholog. Sinnzusammenhänge. Er proto-kolliert die vergangenen Ereignisse in von-einander unabhängigen, knappen Sequenzenu. löst so die eigene Biografie in heterogeneRealitätspartikel auf. K. wertet das unmittel-bar Erlebte gegenüber der offiziellen,scheinbar objektiveren Geschichtsschreibungauf.

Der folgende Roman Tadellöser & Wolff(Mchn. 1971) ist das erste Buch u. Zentrumder insg. sechs Bände umfassenden »Deut-schen Chronik«, in der die Geschichte zweier

bürgerl. Familien zwischen 1900 u. 1963dargestellt wird. Mit diesem Großprojektschließt K. inhaltlich an ältere Romanzyklen,z.B. von Honoré de Balzac, Emile Zola u. JohnGalsworthy, aber auch an Thomas MannsBuddenbrooks an. Das Erzählverfahren ist de-zidiert modern gehalten. Mit Tadellöser &Wolff inszeniert K. erzählerisch den selbst er-lebten Alltag von 1938 bis 1945, gestützt u. a.auf Zeugenberichte, Briefe u. Tonbandauf-zeichnungen der Verwandtschaft. Seine prä-zise, iron. Wiedergabe vergangener Rede-weisen – wie Umgangssprache, Schlager,Werbung, Familienkalauer u. Klassikerzitate– macht die Mentalität u. Bewusstseinslagedes dt. Bürgertums transparent. Am Para-digma der eigenen Familie führt K. einebürgerl. Ideologie vor, die gegenüber demNationalsozialismus politisch blind u. naivbleibt; daneben zeigt er den Evasionscharak-ter von Bildung u. den Rückzug ins Private.Die Deutung der präsentierten Zeit- u. So-zialgeschichte bleibt dem Leser überlassen.Diese Schreibweise führte bei einem Teil desPublikums zu einer identifikatorischen Re-zeption, die sich auf das Skurrile u. Idyllisie-rende der Romane konzentrierte u. die histor.Abgründe ausblendete – eine Tendenz, dieEberhard Fechners populäre ZDF-Verfil-mungen von Tadellöser & Wolff (1975) u. EinKapitel für sich (1979) noch verstärkten. EinTeil der Kritik warf K. daher Verharmlosungdes Faschismus durch gewollte erzählerischeNaivität vor. Dabei sollte die Erzählpositionnach K.s Absicht, ähnlich wie in GünterGrass’ Blechtrommel, gerade den Blick des Le-sers für das Abgründige eines scheinbarharmlosen Alltags schärfen. Infolge der Po-pularität u. Zugänglichkeit seiner Romanegalt K. bis in die 1990er Jahre vielfach als»Erfolgsschriftsteller« an der Grenze zurTrivialität. Dass seine raffinierte Montage-technik u. das detailgesättigte Erzählen anAutoren wie William Faulkner, James Joyce,John Dos Passos u. Arno Schmidt geschultwaren, entging Publikum u. Kritik. Zudemgalt seine krit. Haltung gegenüber der DDRin den 1970er u. 1980er Jahren im westdt.Literaturbetrieb als inopportun. Diese ver-bitterte K. bis zuletzt, trotz der wachsenden

Kempowski 362

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 139: Kafka Killy Lexikon

Anerkennung seit Erscheinen des Echolot-Zyklus.

Im Vorfeld gründete K. 1980 das »Archivder unpublizierten Autobiographien« (seit2006 in der Akademie der Künste, Berlin). Esenthält Briefe, Erinnerungen, Tagebücher,Reiseberichte bis hin zu ganzen Lebenschro-niken. Die Fülle der Sammlung umfasst über7200 Positionen – ein Spiegelbild des All-tagslebens vom 18. Jh. bis zur Gegenwart.Ergänzt u. erweitert wird dieser Quellenbe-stand durch ein ca. 300.000 Bilder umfas-sendes Fotoarchiv.

Aus diesem Material schuf K. sein Opusmagnum, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch.Er versammelt in den Echolot-Bänden die au-tobiogr. Zeugnisse unbekannter, aber auchbekannter Personen. Die ersten 4 Bde. (Mchn.1993) umfassen den Zeitraum vom 1.1.1943bis zum 28.2.1943. Es folgten Echolot. Fugafuriosa über den Zeitraum vom 12.1. bis12.2.1945 (4 Bde., Mchn. 1999), schließlichdie beiden Einzelbände Echolot. Barbarossa ’41(Mchn. 2002) u. Echolot. Abgesang ’45 (Mchn.2005), zeitgleich mit Letzterem u. d. T. Culpa(Mchn. 2005) K.s Tagebuchaufzeichnungenzur Entstehung des ersten Zyklus.

Das Echolot folgt einem bes. Muster. JedesKapitel stellt einen in sich abgeschlossenenTag dar, jeder Band einen zumeist geschlos-senen Zeitraum, der zentrale Punkte desZweiten Weltkriegs umfasst (z.B. Angriff aufdie Sowjetunion, Niederlage bei Stalingrad,Kriegsende). Die Tage enthalten Texte vonIntellektuellen, Politikern, Künstlern, un-mittelbar am Kriegsgeschehen beteiligtenMenschen, Berichte aus dem WarschauerGhetto oder Konzentrationslagern. Ergänztwerden die Texte durch Miszellen wie bei-spielsweise Schlagertexten, Übersetzungshil-fen, Gedichten, Motti.

K. montiert aus dem heterogenen Materialeinen polyphonen Chor, arrangiert einzelneStimmen, lässt sie sich dialogisch verstärken,antworten, widersprechen, setzt einzelneAkzente oder arbeitet mit Leitmotiven. Diesubjektiven Quellen werden in ihrer Zusam-menstellung, Auswahl u. Kürzung, Präzisie-rung u. Weitläufigkeit zur literar. Collage.Zahlreiche Fotografien begleiten die Texte.So enthält Abgesang ’45 ausschließlich Foto-

grafien der gefangenen, hingerichteten odergetöteten Führungselite des »Dritten Reichs«– bis hin zur Röntgenaufnahme von »Hit-lers« Schädel, symbolisch das Schlussbild desEcholots. Die Fotos verstärken u. konturieren,untermalen oder kontrastieren die schriftl.Aussagen.

Auf die Frage nach dem »Warum« seinerArbeit antwortet K. in Culpa: »[...] um dieQuellen zu sichern und verfügbar zu machen,um der Gerechtigkeit willen, um der gestal-terischen Herausforderung willen. Wegen derTränen« – »Wenn die Welt noch Augen hat,zu sehen, wird sie in diesem Werk eine dergrößten Leistungen der Literatur unseresJahrhunderts erblicken«, schrieb FrankSchirrmacher nach Erscheinen des ersten Zy-klus in der »Frankfurter Allgemeinen Zei-tung«. Das Echolot verhalf K. zur lang er-sehnten öffentl. Anerkennung.

Neben u. nach dem Echolot veröffentlichteK. weitere Erzählungen u. Romane, die wie-der konventioneller erzählen. Exemplarischgenannt sei der Roman Hundstage (Mchn./Hbg. 1988), eine raffinierte Selbstreflexiondes eigenen Schreibens. Bei der Kritik stießendiese Texte, zu denen auch mehrere überar-beitete Tagebuchbände zählen, meist aufdeutlich weniger Gegenliebe als der Großzy-klus, obwohl sie literarisch nicht wenigerambitioniert sind. Diese Texte, zu denen u. a.Mark und Bein (Mchn. 1992), Weltschmerz. Kin-derszenen fast zu ernst (Bln. 1995), Heile Welt(Mchn. 1998) u. Letzte Grüße (Mchn. 2003)gehören, sind wiederum stark autobiogra-fisch gefärbt. Sie stehen unter dem gemein-samen Arbeitstitel Zweite Chronik, mit dem K.die Kontinuität zu seinem früheren Projektbetont, zu dem er so einen bewusst subjekti-ven Kontrapunkt setzt.

Die Methoden des Befragens, Archivierens,Zitierens u. der Montage ziehen sich auchdurch K.s weitere nicht-fiktionale Werke, dieals Seitenstücke zu den Großprojekten geltenkönnen. Dokumentationen wie Haben SieHitler gesehen? Deutsche Antworten (Mchn. 1973)u. Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an un-sere Schulzeit (Mchn. 1974) berühren thema-tisch das Korpus der Chronik, während Derrote Hahn. Dresden 1945 (Mchn. 2001) aufAuszügen aus dem Echolot-Material basiert,

Kempowski363

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 140: Kafka Killy Lexikon

die aber neu zusammengestellt u. um zusätzl.Quellen erweitert sind. Kontrovers diskutiertwurde Bloomsday ’97 (Mchn. 1997), ein Proto-koll des TV-Programms am 93. Jahrestag derHandlung von Ulysses, das einerseits die Tri-vialität des Unterhaltungsmediums aufzeigt,andererseits ein veritables Epochenporträt inder Tradition von Joyce’ Roman liefert. We-nig bekannt ist dagegen K.s pädagog. Enga-gement. Neben einer eigenen Fibel (Braun-schw. 1980) veröffentlichte er Traktate zurGrundschulerziehung u. sammelte Erzäh-lungen seiner eigenen Schüler, die er inSammelbänden veröffentlichte.

K.s Texte u. Hörspiele wurden mit vielenPreisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Wil-helm-Raabe-Preis (1972), dem Hörspielpreisder Kriegsblinden (1981), dem Uwe-Johnson-Preis (1995) u. dem Thomas-Mann-Preis derStadt Lübeck (2005). Dazu kommen dasGroße Bundesverdienstkreuz (1996) sowieEhrendoktorate der Universität Rostock(2002) u. des Juniata College in Huntington,Pennsylvania (2004). 2007 wurde K. zumEhrenmitgl. der Hamburger Akademie derFreien Künste gewählt.

Eine intensivere Auseinandersetzung mitK. in der Forschung erfolgt erst seit den1990er Jahren. Auch hier markiert das Echolotdie Zäsur. In den letzten Jahren nennen v. a.jüngere Autoren K. als Einfluss, u. a. RainaldGoetz, Max Goldt, Gerhard Henschel u.Benjamin von Stuckrad-Barre, in dessen Li-teratursendung im Sender MTV K. eigeneLesetipps präsentierte. Gerade zur Pop-Lite-ratur der Jahrtausendwende ergeben sich Af-finitäten, etwa in der Darstellung der Gesell-schaft durch ihren Alltag u. dem großenReichtum an kulturellen Details abseits desKanons.

Weitere Werke: Chronik des dt. Bürgertums:Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie.Mchn. 1972. – Der Hahn im Nacken. Mini-Gesch.n.Hbg. 1973. – Die Harzreise erläutert. Mchn. 1974. –Ein Kapitel für sich. Mchn. 1975. – Alle unter ei-nem Hut. Alltags-Miniminigesch.n. Bayreuth1976. – Wer will unter die Soldaten? Mchn. 1976. –Aus großer Zeit. Hbg. 1978. – Schnoor, Bremenzwischen Stavendamm u. Balge. Bremen 1978. –Unser Herr Böckelmann. Hbg. 1979 (Kinderbuch).– Haben Sie davon gewußt? Dt. Antworten. Hbg.

1979. – Schöne Aussicht. Hbg. 1981. – BeethovensFünfte u. Moin Vaddr läbt. Hbg. 1982 (Buchkas-sette der Hörsp.e). – Führungen. Ein dt. Denkmal.1982 (Hörsp.). – Herrn Böckelmanns schönste Ta-felgesch.n. Nach dem ABC geordnet. Hbg. 1983. –Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufge-zeichnet u. illustriert v. Prof. Jeremias Deutelmo-ser. Hbg. 1984. – Herzlich willkommen. Hbg. 1984(R.). – Alles umsonst. 1984 (Hsp.). – Haumiblau.208 Pfenniggesch.n für Kinder. Mchn. 1986. – DerLandkreis Verden. Ein Porträt. Verden 1987. – Le-senlernen – trotz aller Methoden. Ein Exkurs überFibeln. Braunschw. 1987. – Sirius. Eine Art Tgb.Mchn. 1990. – Mein Rostock. Ffm./Bln. 1994. – Derarme König v. Opplawur. Ein Märchen. Mchn.1994. – Alkor. Tgb. 1989. Mchn. 2001. – Das 1.Album. 1981–1986. Ffm./Basel 2004. – Hamit.Tgb. 1990. Mchn. 2006. – Alles umsonst. Mchn2006 (R.). – Uwe Johnson/W. K. ›Kaum beweisbareÄhnlichkeiten‹. Der Briefw. Hg. Eberhard Fahlke u.Gesine Treptow. Bln. 2006. – Somnia. Tgb. 1991.Mchn. 2008. – Langmut. Mchn. 2009 (L.). – Her-ausgeber: Mein Lesebuch. Ffm. 1980. – Irene Za-charias: Meine sieben Kinder u. der Lauf der Welt.Hbg. 1986. – Helmut Fuchs: Wer spricht v. Siegen?Der Ber. über unfreiwillige Jahre in Rußland. Hbg./Mchn. 1986. – Ray Matheny: Die Feuerreiter. Ge-fangen in fliegenden Festungen. Mchn. 1988. – EinKnie geht einsam durch die Welt. Mein liebstesMorgenstern-Gedicht. Mchn. 1989.

Literatur: Wolfgang Preisendanz: Zum Vor-rang des Komischen bei der Darstellung v. Ge-schichtserfahrung in dt. Romanen unserer Zeit. In:Das Komische. Hg. ders. u. Rainer Waring (Poetiku. Hermeneutik; 7). Mchn. 1976, S. 153–164. –Norbert Mecklenburg: Faschismus u. Alltag in dt.Gegenwartsprosa. K. u. andere. In: Hans Wagener(Hg.): Gegenwartslit. u. Drittes Reich. Stgt. 1977,S. 11–32. – Manfred Dierks: W. K. Mchn. 1984. –André Fischer: Inszenierte Naivität. Zur ästhet. Si-mulation v. Gesch. bei Günter Grass, Albert Drachu. W. K. Mchn. 1992. – Frank Schirrmacher: In derNacht des Jahrhunderts. In: Frankfurter Allgemei-ne Zeitung, 13.11.1993. – Hans-Werner Eroms:Zum Zeitstil der vierziger Jahre in W. K.s ›Echolot‹.In: Ulla Fix u. Gotthard Lerchner (Hg.): Stil u.Stilwandel. Bernhard Sowinski zum 65. Geburtstaggewidmet. Ffm. u. a. 1996, S. 95–109. – Christo-pher Riley: W. K.s ›Dt. Chronik‹. Ffm. 1997. –Volker Ladenthin (Hg.): Die Sprache der Gesch.Beiträge zum Werk W. K.s. Eitorf 2000. – DirkHempel: W. K. Eine bürgerl. Biogr. Bln. 2004. –Carla A. Damiano: W. K.’s ›Das Echolot‹. Siftingand Exposing the Evidence via Montage. Heidelb.2005. – Dies., Jörg Drews u. Doris Plöschberger

Kempowski 364

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 141: Kafka Killy Lexikon

(Hg.): ›Was das nun wieder soll?‹. Von ›Im Block‹bis ›Letzte Grüße‹. Zu Werk u. Leben W. K.s. Gött.2005. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W. K. Mchn.2006 (Text + Kritik. H. 169). – D. Hempel: W. K.sLebensläufe. Mchn. 2008. – Volker Hage: W. K.Bücher u. Begegnungen. Mchn. 2009. – GerhardHenschel: Da mal nachhaken: Näheres über W. K.Mchn. 2009.

André Fischer / Stefan Höppner / Nadine Ihle

Kepler, Johannes, * 27.12.1571 Weil derStadt, † 15.11.1630 Regensburg. – Kai-serlicher Mathematiker, Astronom.

K., der wegen seiner schwachen körperl.Konstitution einen geistl. Beruf ergreifensollte, besuchte nach der Lateinschule in Le-onberg u. bestandenem Landesexamen inStuttgart (1583) die Klosterschule zu Adel-berg (1584–1586) sowie das höhere Kloster-seminar zu Maulbronn (1586–1589). 1589trat er als herzogl. Stipendiat in das TübingerStift ein, um an der Universität Theologie zustudieren (Magister artium 1591). Besonderswidmete er sich den mathemat. Disziplineneinschließlich der Astronomie. Auf Anratenseines Lehrers Michael Mästlin ging K. nochvor Studienabschluss als Ethik- u. Mathema-tiklehrer an die Grazer protestantischeLandschaftsschule. Er wurde am 28.9.1598im Zuge der Gegenreformation vertrieben u.floh nach Ungarn. Nach der ihm als Einzigemerlaubten Rückkehr lebte er so isoliert, dass erAnfang 1600 für fünf Monate auf EinladungTycho Brahes nach Prag ging u. sich erstmalsvergeblich um eine Anstellung an der Uni-versität Tübingen bemühte. Im Aug. 1600wurde auch K., der sich weigerte zu konver-tieren, aus Graz ausgewiesen. Er ging wiederzu Brahe nach Prag u. wurde nach dessen TodEnde 1601 als Nachfolger des mit ihm ver-feindeten Nicolaus Raimarus Bär kaiserl.Hofmathematiker mit der Aufgabe, denNachlass Brahes auszuwerten (für die 1627gedruckten Tabulae Rudolphinae). Er behieltdie Stelle auch unter den Kaisern Matthias u.Ferdinand II. Da unter beiden keine Prä-senzpflicht am Hof bestand, konnte K. 1611/12 an die wiederzugelassene protestantischeLandschaftsschule in Linz gehen. Die Unru-hen um den Anspruch auf den Kaiserthron u.das Ausbleiben seines Gehalts veranlassten

ihn, die konfessionelle Toleranz des Hofs mitder protestantischen Enklave zu vertauschen.Hier geriet er allerdings rasch mit demOberpfarrer Daniel Hitzler in Konflikt, derihn wegen der Weigerung, die Konkordien-formel zu unterzeichnen, exkommunizierte.K. weigerte sich, die Allgegenwart des Flei-sches Christi anzuerkennen. Da er auf diesemStandpunkt beharrte, bestätigte auch dasStuttgarter Konsistorium den Kirchenbann u.machte ihn 1619 sogar im ganzen Land be-kannt, so dass eine Rückkehr nach Würt-temberg unmöglich wurde. K. hielt sich hiernur im Okt. 1617 sowie zwischen Sept. 1620u. Nov. 1621 auf, um seine Mutter in einemHexenprozess zu verteidigen.

Nach der Thronbesteigung Ferdinandsentging K. nur wegen seiner Vorrechte alsHofbeamter dem Reformationspatent von1625, das auch in Linz alle Protestanten desLandes verwies. Seine Bibliothek wurde ver-siegelt; ihm wurde jedoch erlaubt, den mithohen Kosten vorbereiteten Druck der Ru-dolphinischen Tafeln fertigzustellen. Als dieBauernaufstände Mitte 1626 auch Linz ein-schlossen u. die Druckerei mit den bereitsausgedruckten Tafeln zerstört wurde, ließsich K. zu ihrer Fertigstellung mit kaiserl.Erlaubnis in Ulm nieder. Anschließendsuchte er in Frankfurt/M., Ulm, Regensburg,Linz u. Prag nach einer neuen Anstellung –ohne Erfolg, da er weder bereit war zu kon-vertieren, noch die Konkordienformel zuunterzeichnen. So ließ er sich im April 1628als Astrologe in die Dienste Wallensteinsübernehmen, der sich verpflichtete, die in-zwischen beträchtl. Rückstände des kaiserl.Gehalts als Hofmathematiker auszugleichen.Im Aug. siedelte K. in das Wallenstein geradeübertragene u. damals protestantische nie-derschles. Teilherzogtum Saga über. Er er-hielt zwar erstmals das vereinbarte Jahresge-halt (1000 Gulden), doch führte die vonWallenstein auch hier betriebene Rekatholi-sierung wieder zur gesellschaftl. IsolationK.s. Auch konnte der Herzog die alten Ge-haltsrückstände nicht ausgleichen; eine alsErsatz angebotene Professur in Rostocklehnte K. ab. Als er von der Absetzung Wal-lensteins erfuhr, machte er sich am 8.10.1630wieder auf den Weg nach Regensburg, um vor

Kepler365

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 142: Kafka Killy Lexikon

dem Reichstag das rückständige Gehalt vomKaiser einzufordern. Kurz nach der Ankunfterkrankte er tödlich.

K. war ein streitbarer Christ, der faststarrsinnig für seine Überzeugungen eintrat.Der – trotz »kryptocalvinistischer« Neigun-gen – überzeugte Lutheraner fühlte sich stetsals Mitgl. der einen »katholischen« Kirche.Seinem Bemühen um ein überkonfessionellesChristentum entsprangen zahlreiche theolog.Schriften. Zum Teil Apologien von K.sStandpunkt in der Abendmahlsfrage, mach-ten sie wegen der Publizität dem StuttgarterKonsistorium ein Einlenken unmöglich, zu-mal sich K. mit der Verteidigung des helio-zentr. Weltsystems des Copernicus gegenscheinbar anderslautende Bibelstellen, durchdie er zum (naturwissenschaftl.) Vorkämpferu. Wegbereiter der historisch-krit. Methodeder Bibelexegese wurde, gegen die Theologenaller Konfessionen stellte.

Doch obwohl K. sein Examen nicht abge-schlossen hatte u. man ihn in Tübingen nichtals Lehrer haben wollte, sah er sich in kon-sequenter Weiterführung der natürl. Theo-logie seiner Tübinger Lehrer fast missiona-risch dazu beauftragt, Gott durch das Nach-denken u. Darlegen seiner Schöpfung zu fei-ern. Er suchte die a priori gegebene Ordnungder Schöpfung als des »körperlichen AbbildsGottes«, in dem alles verklammert ist durchdie Dreiheit Gott/Welt/Mensch – Urbild/Ab-bild/Ebenbild u. die symbolische Abbildungdes dreieinigen Gottes im heliozentr. Kos-mos, in dem der Vater das Zentrum der Sonnebilde, der Sohn die Begrenzungskugel u. derHl. Geist sich über den Zwischenraum er-gieße.

Für den Neuplatoniker K. ist die Ordnungals »Kosmos« notwendig mathematisch. Ausder selbst Gott vorgegebenen Mathematikmüssten sich deshalb auch die Ordnungs-prinzipien u. damit die empirisch nicht zuerbringenden Beweise für die copernican.Anordnung im Kosmos ergeben.

Diesem Ziel glaubte sich K. bereits in sei-nem Erstling Mysterium cosmographicum (1596)nahe: Die neben der den Kosmos abschlie-ßenden Kugel vollkommensten geometr.Körper, die fünf regulären Polyeder, be-stimmten, ineinandergeschachtelt, durch

ihre In- u. Umkreise, zwischen die die Pla-netensphären eingebettet seien, nicht nur dieAnzahl der Planeten in der copernican. An-ordnung, sondern mit verblüffender Genau-igkeit auch deren Abstände von der Sonne,wie sie sich aus copernican. Werken ergaben.Aus der mit den Abständen langsamer wer-denden Bahngeschwindigkeit der Planetenschloss K. auf ein zentrales Bewegungszen-trum, auf die Sonne als rotierenden natürl.»Motor«; sprach er hier noch von der »animamotrix« (bewegenden Seele) der Sonne, sowird hieraus nach 1600 eine »körperliche«Kraft der Sonne, der im Anschluss an WilliamGilbert magnetische Wirkung auf andereWeltkörper zugeschrieben wird. Dabeikommt es durch die Rotation des Sonnen-körpers mit seinen »Magnetfibern« zu einerkreisförmigen Mitführung. Dagegen be-wirkten die Planeten selbst Verringerung u.Vergrößerung ihres Abstands von der Sonneu. damit ihre exzentr. Bahn, aus der die un-terschiedl. Bahngeschwindigkeit im vom Be-wegungszentrum entfernteren Aphel (lang-samer) u. im Perihel folge.

Damit war die von Ptolemaios zur Wie-dergabe der Phänomene eingeführte un-gleichförmige Ausgleichsbewegung erstmals»physikalisch« begründet. Copernicus hattesie noch als Verstoß gegen die alten Prinzi-pien der Astronomie aufgefasst, wonachsämtl. (Teil-)Bewegungen am Himmelgleichförmig u. kreisförmig erfolgen müssen.

Auch die Kreisförmigkeit der Bewe-gung(skomponent)en musste K. bald aufge-ben. In dem Bestreben, das »mysterium cos-mographicum« durch die besseren Beobach-tungsdaten Brahes zu bestätigen u. die Har-monie in den Bewegungsverhältnissen auf-zufinden, bemühte er sich in Prag insbes. umdie Berechnung der Tiefenbewegungen derPlaneten, die bis dahin Astronomen nie in-teressiert hatten, u. ihre empir. Bestätigung.Nach vielen Irrwegen erkannte er die Ellipsemit der Sonne in einem der Brennpunkte alseinzig mögl. Bahnform, die der Physik u. denPhänomenen entsprach. Die Bahngeschwin-digkeit wird durch das zweite Kepler’scheGesetz der Planetenbewegung beschrieben,demzufolge die Verbindungslinie zwischenPlanet u. Sonne in gleichen Zeiten gleiche

Kepler 366

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 143: Kafka Killy Lexikon

Flächen bestreicht. Astronomia nova [. . .] seuphysica coelestis nannte K. deshalb stolz dasWerk, in dem er anhand der Marsbahn diese»Neue, [erstmals] ursächliche Astronomieoder Himmelsphysik« (entstanden bis 1605.Ersch. 1609) darlegt.

Auf der Suche nach der richtigen Bahnformhatte K. Zweifel an der Exaktheit der Bra-he’schen Daten beseitigen müssen durch dieUntersuchung der Geradlinigkeit der Licht-ausbreitung (camera obscura, Spiegellehre) u.der physiolog. Optik des Sehvorgangs (Um-kehrung des Bildes), dargelegt 1604 in Astro-nomiae pars optica. In der Dioptrice (1611) be-handelt K. speziell die Brechung in Linsen u.liefert die Optik des von Galilei in die Astro-nomie eingeführten Fernrohrs nach, wobei ergleichzeitig das Prinzip des sog. Kepler’schenFernrohrs ableitet. Aufgrund dieser opt. Er-kenntnisse war K. sofort von der Richtigkeitder Fernrohrbeobachtungen Galileis über-zeugt, obgleich er weder ein Fernrohr besaßnoch aufgrund eines Augenfehlers solcheBeobachtungen hätte selbst anstellen kön-nen. Seine Spekulationen (Mondbewohner)legte er in der »Unterhaltung mit dem Ster-nenboten« (Dissertatio cum nuntio sidereo. 1610)dar, als den er die galileische »Sternbot-schaft« umdeutete.

Besonders seine neue mathemat. Astro-physik hatte zur Folge, dass sich K. auch umeine Reform der Astrologie bemühte, für dieer lediglich die Aspektenlehre anerkannte, u.zwar auf der Basis der »harmonischen« Un-terteilung eines Kreises durch die Ecken ein-beschriebener konstruierbarer (»wißbarer«,»rationaler«) Polygone. Er nannte das Ver-fahren »Geometria figurata«, die so entste-henden harmon. Verhältnisse »kosmosbil-dend«. Damit konnte er erstmals innerhalbder Musiktheorie, die ihm als Ausdruck ma-themat. Harmonie Grundlagenwissenschaftwar, konsonante u. dissonante Intervalletheoretisch voneinander unterscheiden. An-satzweise ging K. zwar auch schon in den dt.Prognostika u. Kalendern, deren Erstellungzu seinen Aufgaben als Landschaftsmathe-matiker in Graz u. Linz gehörte, auf seineneuen Ideen ein, doch widmete er ihnen inder Auseinandersetzung mit Gegnern u. Be-fürwortern der judicar. Astrologie auch

mehrere lat. u. dt. Abhandlungen, darunterDe fundamentis astrologiae certioribus (1601),Antwort auff D. Helisaei Röslini Discurs ( 1609) u.Tertius interveniens (1610).

Am Ziel seiner Bemühungen sah sich K., alses ihm gelungen war, zwischen den extremenBahngeschwindigkeiten je zweier benach-barter Planeten ebenfalls »kosmosbildende«harmon. Verhältnisse aufzuweisen u. damitdie schon von Platon angegangene Forderungzu erfüllen. Auf dem Weg dorthin entdeckteer 1618 als Nebenprodukt das im drittenKepler’schen Gesetz ausgedrückte Abstand-/Umlaufverhältnis je zweier Planeten. K.sHarmonice mundi (1619) enthält daneben dieMusiktheorie u. die Anwendung der Har-monielehre auf alle mögl. Bereiche bis hinzum Strafrecht u. stellt den Höhepunkt destheoret. Schaffens K.s dar, während die Ta-bulae Rudolphinae den Höhepunkt der praxis-bezogenen Werke K.s bilden, der fast hundertJahre die Grundlage der Berechnung vonPlanetenörtern war. Erwähnung verdienennoch das umfassende Lehrbuch Epitome astro-nomiae Copernicanae (1618–21), die ansatzwei-se infinitesimale Berechnung von Rotations-körpern in seiner Fassrechnung MessekunstArchimedis (1616. Zuerst lat. 1615) sowie seinChilias logarithmorum (1624/25) u. nicht zu-letzt die erst im 19. Jh. herausgebrachte wis-senschaftstheoret. Abhandlung zur Verteidi-gung Tycho Brahes gegen Raimarus Bär von1600 (Apologia Tychonis contra Ursum).

Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Max Caspar u. a.Mchn. 1937 ff. (auf 20 Bde. geplant; kurz vor demAbschluss). – Übersetzungen: Traum vom Mond. Lpz.1898. – Weltgeheimnis. Augsb. 1923. Mchn./Bln.1929. – Neue Astronomie. Mchn./Bln. 1929 u. ö.Neuausg. v. Fritz Krafft. Wiesb. 2006. – J. K. inseinen Briefen. Hg. M. Caspar u. Walther v. Dyck. 2Bde., Mchn./Bln. 1930. – Weltharmonik. Mchn./Bln. 1939. Neudr. Darmst. 1969. – F. Krafft: J. K. –Was die Welt im Innersten zusammenhält. Ant-worten aus Schr.en v. J. K. (Mysterium cosmogra-phicum, Tertius interveniens, Harmonice mundi).Wiesb. 2006.

Literatur: Bibliografie: Max Caspar: Bibliogra-phia Kepleriana. Mchn. 1936. 2. Aufl. besorgt v.Martha List. Mchn. 1968. Erg.-Bd. besorgt v. JürgenHamel. Mchn. 1998. – Weitere Titel: M. Caspar: J. K.Stgt. 1948. – Walther Gerlach u. M. List: J. K. Lebenu. Werk. Mchn. 1966. – Dies.: J. K. Dokumente zu

Kepler367

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 144: Kafka Killy Lexikon

Lebenszeit u. Lebenswerk. Mchn. 1971. – Internat.K.-Symposium Weil der Stadt 1971. Hg. F. Krafft,Karl Meyer u. Bernhard Sticker. Hildesh. 1973. – K.Four Hundred Years: Proceedings of Conferencesheld in Honour of J. K. Oxford 1975 (mit Forts. derBibliogr. bis 1975). – Jürgen Hübner: Die Theolo-gie J. K.s zwischen Orthodoxie u. Naturwiss. Tüb.1975. – Berthold Sutter: J. K. u. Graz. Graz 1975. –K.-Symposium zu J. K.s 350. Todestag ’80 Linz. Hg.Rudolf Haase. Linz 1982. – Das K.-Museum Weilder Stadt 1982. Ein Führer. Hg. v. der K.-Gesellsch.Weil der Stadt 1982. – Bruce Stephenson: K.’sPhysical Astronomy. Bln. 1987. – F. Krafft: J. K. In:TRE (Bibliogr.). – Mechthild Lemcke: J. P. Reinb.1995. – Volker Bialas: J. K. Mchn. 2004.

Fritz Krafft

Keppler, Johann Joseph Friedrich von,* 1760 Stralsund, † unbekannt (1823 an-geblich noch am Leben). – Romanautor,Epiker.

K., über dessen Leben nichts bekannt ist, wareiner der wichtigsten Autoren im Wien desJosephinismus. Gemäß seinem eigenen Pro-gramm (Kritische Untersuchungen über die Ursa-che und Wirkung des Lächerlichen. Cilli 1792)stellte er seine kom. Erzählungen (Der Kapo-trock. Wien 1782. Die schöne Beata, oder DerKapaun. Lpz./Wien 1790), die sich durch di-gressive Struktur in der Art Sternes aus-zeichnen, in den Dienst des satir. Kampfs fürdie josephin. Aufklärung. In dem »Scherz-gedicht« Der Aufstand der Dummheit zu Wien(Wien 1781), einem kom. Epos im Gefolgevon Popes Dunciad, erscheint Joseph II. alsInkarnation der letztlich siegreichen Weis-heit.

Weitere Werke: Adelstern, oder: Ehrgeiz u.Vorurteil für seine Familie. Wien 1781. – Der Fasan.Ffm./Lpz. 1785.

Literatur: Werner M. Bauer: Fiktion u. Pole-mik. Studien zum Roman der österr. Aufklärung.Wien 1978. – Ders.: Beobachtungen zum kom.Epos in der österr. Lit. des 18. u. 19. Jh. In: Zeman3, S. 465–497. Wynfrid Kriegleder

Kerckmeister, Johannes, * um 1450Münster, † um 1500 Münster. – Drama-tiker.

Nur wenige Daten in K.s Werdegang sindbekannt: das Studium in Köln (Immatriku-

lation 31.5.1466), das dort abgelegte Bacca-laureats- (25.5.1467) bzw. Magisterexamen(9.4.1470). Anschließend wirkte K. in derDomschule zu Münster im engsten UmkreisRudolfs von Langen, der zu den namhaftenRepräsentanten des westfäl. Frühhumanis-mus zählt. Mit seinem 1485 in Münster er-schienenen Drama Codrus (nach einem miss-liebigen Dichter bei Vergil) legte der mittler-weile als »Gymnasiarch« u. »praeclarushomo« bezeichnete Autor ein noch in Prosaverfasstes Spiel vor, das zwischen dem Ko-mödienschema des Terenz u. den humanis-tischen Schülergesprächen vermittelt. Wahr-scheinlich im Blick auf die anstehende Reor-ganisation der Münsterschen Domschulewerden – wie in Wimpfelings Stylpho (1480) –neue u. alte Bildung, mittelalterl. u. huma-nistischer Gebrauch des Lateinischen gegen-übergestellt. Abwechselnde Dialoge u. Mo-nologe geben Einblick in den zeitgenöss.Lehrbetrieb. Diesem Lehrbetrieb diente auchein Werk mit dialogisch gefassten Elementender Grammatik (Regule Remigij emendate cor-recteque In primum scholarium fundamentum.Münster 1486; Faks. Genf 1968).

Ausgabe: Codrus. Hg. Lothar Mundt. Bln. 1969(Lit.).

Literatur: Christel Meier: J. K. In: VL Dt. Hum.

Wilhelm Kühlmann

Kerenstein-Ballade. – Ballade, vermut-lich spätmittelalterlich.

Ihren Namen hat die siebenstrophige Balladevon dem in Strophe VI, Vers 7 genanntenHerrn »von kerenstain«, hinter dem einehistor. Figur vermutet wird. Verschiedentlichwurde angenommen, dass die Melodie einesaus dem 16. Jh. stammenden, in den erstenzwei Zeilen übereinstimmenden Lieds urspr.zur K. gehört habe.

Die »tag weys« überschriebene Balladeenthält viele Elemente des Tagelieds. EinRitter lässt der Tochter des Herrn von Ke-renstein durch einen Boten Grüße übermit-teln; diese bestellt den Ritter zu einer Lindevor dem Burgtor u. verbringt die Nacht mitihm. Am Morgen bekennt sie ihren Ab-schiedsschmerz. Der Ritter tröstet sie u. er-läutert ihr wohl einen Fluchtplan (Textver-

Keppler 368

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 145: Kafka Killy Lexikon

derbnis). Nach dem Weckruf des Wächtersbemerkt der Herr von Kerenstein das Ver-schwinden seiner Tochter. Vorwürfe wegenBestechlichkeit weist der Wächter unterHinweis auf die Macht der Liebe zurück.

Das Alter der Ballade ist umstritten. Über-liefert ist sie nur im Augsburger Liederbuch von1454. Motive, Stil u. Form sind ähnlich imfrühen Minnesang, bes. beim Kürenberger,anzutreffen u. haben deshalb die Vermutungaufkommen lassen, dass es sich um ein schonim 12. Jh. entstandenes Lied handle. SpätereZusätze sind jedenfalls die nach den StrophenII, III u. VI anzutreffenden Zeilen, die sicheiner Einordnung in das Strophenschemawidersetzen. Zu erwägen ist aber, ob hiernicht ein spätmittelalterl. Lied entweder auseinem alten Tageliedkern entstanden ist oderbeliebte ältere Motive u. Formen aufgenom-men hat. Dies würde die Annahme einer sonstnicht fassbaren »ritterlichen Balladenkunst«(Wehrli) überflüssig machen. Zudem sprichtdie Überlieferung im Augsburger Liederbuch,dessen nachweisbare Vorlagen frühestens im14. Jh. anzusiedeln sind, für eine spätereEntstehung. Die Ballade wäre dann einerReihe thematisch verwandter volkstüml.Balladen aus dem SpätMA zuzuordnen.

Ausgaben: Ludwig Uhland: Schr.en zur Gesch.der Dichtung u. Sage. Bd. 4, Stgt. 1869, S. 86–88. –John Meier (Hg.): Dt. Volkslieder mit ihren Melo-dien 1. Lpz. 1935, S. 173–179. – Klaus Jürgen Sei-del: Der Cgm 379 der Bayer. Staatsbibl. u. dasAugsburger Liederbuch v. 1454. Diss. Mchn. 1972,S. 700–720.

Literatur: Walter de Gruyter: Das dt. Tagelied.Lpz. 1887, S. 72. – Max Ittenbach: Der frühe dt.Minnesang. Halle 1939, S. 50–59. – Max Wehrli:Dt. Lyrik des MA. Zürich 1955, S. 44–49, 522, 569.– Paul Sappler: K. In: VL. – Johannes Rettelbach:Lied u. Liederbuch im spätmittelalterl. Augsburg.In: Literar. Leben in Augsburg während des 15. Jh.Hg. Johannes Janota u. Werner Williams-Krapp.Tüb. 1995, S. 283. Elisabeth Wunderle

Kerényi, Karl, Károly, * 19.1.1897 Temes-vár, † 14.4.1973 Zürich; Grabstätte: As-cona. – Klassischer Philologe u. Religi-onswissenschaftler.

Nach Studien der Klassische Philologie inBudapest u. Greifswald habilitierte sich K.,

Sohn eines Postbeamten, 1927 in Budapestüber Die griechisch-orientalische Romanliteraturin religionsgeschichtlicher Beleuchtung (Heidelb.1927). Er verband darin eine traditionellephilolog. Herkunftsfrage – hier gestellt fürden durch Nietzsches Freund Erwin Rohdegrundlegend dargestellten griech. Liebesro-man – mit religionshistor. Deutung, indem erin den Romanen zahlreiche Beziehungen zuden antiken Mysterienritualen aufwies, die ervorsichtig auf eine genet. Verwandtschaft hindeutete.

Die Beschäftigung insbes. mit griech. Re-ligion u. Mythologie – auch nach der Beru-fung auf ein altertumswissenschaftl. Ordina-riat in Pécs (1934) u. Szeged (1941) behielt K.die Dozentur für Geschichte der antiken Re-ligion in Budapest bei – brachte ihn 1929 inGriechenland mit dem Klassischen Philolo-gen Walter F. Otto zusammen. Ohne dass K.je Ottos Schüler gewesen wäre, verband sieeine gemeinsame Grundauffassung von anti-ker Religion als dem Zentrum antiker Kultur,als einer Lebenswirklichkeit u. Seinsform,die ergriffen nachfühlend, nicht rationalanalysierend verstanden werden müsse.Dies brachte beide zur Ablehnung sowohlder insbes. in Deutschland gepflegten alter-tumswissenschaftlich-philolog. Religionsfor-schung wie der evolutionistischen Religions-wissenschaft ihrer Zeit; über Otto führtenKontakte zur Frankfurter Ethnologie um LeoFrobenius. Zum erstenmal ließ sich dieseneue Haltung der »existentiellen Philologie«in der Essaysammlung Apollon. Studien überantike Religion und Humanität (Wien 1937), v. a.aber im urspr. in Italienisch erschienenenBuch Die antike Religion. Eine Grundlegung(Amsterd. 1940. Neufassung u. d. T. Die Reli-gion der Griechen und Römer. Darmst. 1963)fassen: Hier wird nicht nur die Mythologie alsTeil der Religion begriffen u. mit der Dar-stellung der Religion zgl. eine Grundlegungder antiken Kulturgeschichte intendiert, hierwird auch an die Stelle des histor. Entwick-lungsbegriffs die Suche nach nicht reduzier-baren Grundformen gesetzt, in deren Ent-faltung sich die Geschichte der Religionenabspielt.

Diese Suche nach den konstanten, je-den Wandel überdauernden Grundformen

Kerényi369

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 146: Kafka Killy Lexikon

(»Stil«, »Morphologie«) stellt K.s Arbeit indie Nähe der Religionsphänomenologie.Wichtiger aber für die Entwicklung seinermytholog. Studien war, dass er C. G. Jung1939 die Untersuchungen Zum Urkind-Mythologem u. Kore. Zum Mythologem vom gött-lichen Mädchen (in: Paideuma 1, 1938/39,S. 241–278, 341–380) zusandte: Aus Jungspsycholog. Kommentar dazu erwuchsen ge-meinsame Schriften (vereinigt u. d. T. Einfüh-rung in das Wesen der Mythologie. Gottkindmy-thos, eleusinische Mysterien. Zürich 1942. Erw.Neuaufl. u. d. T. Das göttliche Kind. Düsseld.2006). K. beteiligte sich regelmäßig an denEranos-Tagungen in Ascona u. arbeitete nachseiner Umsiedlung aus Ungarn 1943 nachAscona am neu gegründeten C.-G.-Jung-Institut in Zürich mit; auch der Wahl in dieerneuerte Ungarische Akademie der Wissen-schaften 1947 (unter kommunistischer Herr-schaft annulliert, 1989 rehabilitiert) u. demAngebot eines Lehrstuhls in Budapest zog K.die Arbeit im Kreis Jungs vor. Die Archety-penlehre schien K. von psycholog. Seite einenSchlüssel zum tieferen Verständnis der Ge-stalten der griech. Mythologie zu geben – dieBilder des vom Psychologen analysierten In-dividualtraums u. die des antiken Mythosverhielten sich analog, als jeweils überindi-viduelle, unmittelbar wirkende Gestaltungenvon Grundformen menschl. Daseins.

K.s Spätwerk kennzeichnet eine sachteRückkehr zu den Ansichten vor der Zeit mitJung: Griechische Gottheiten wie Demeter u.Kore (Eleusis. Archetypal Image of Mother andDaughter. Revidiert Princeton 1967. 1991) u.Dionysos (Mchn./Wien 1976. Stgt. 1994) wer-den wieder stärker als historisch einmaligeUrbilder von Grundgegebenheiten menschl.Daseins verstanden.

K.s Bedeutung liegt jedoch nicht in derreligionswissenschaftl. Theoriebildung, wieer auch keine Schule innerhalb der Fachwis-senschaft begründet hat, deren Fachjargon erbewusst nicht verwendete, oft auf Kosten ei-ner präzisen Begrifflichkeit. Wichtiger war K.als der erzählende Vermittler der antikenmyth. Stoffe; in der Nacherzählung findet dieMythologie »ihr ursprüngliches Medium«.Seine Mythologie der Griechen, welche Die Götter-und Menschheitsgeschichten (Zürich 1951) u. Die

Heroengeschichten (ebd. 1958) deutend nacher-zählt, sollte die Mythen nicht nur an denLaien, sondern bes. »den kommenden Dich-tern« (so die Widmung des zweiten Bands)vermitteln. Dieses Anliegen ließ ihn auch denKontakt mit Schriftstellern suchen. Insbe-sondere mit Thomas Mann verband ihn seitdem 1934 einsetzenden Briefwechsel – alsReaktion K.s auf den ersten Band des Joseph-Romans – ein enger, wenn auch einseitigerGedankenaustausch. Dagegen freilich, dass er»Manns Sachverständiger in Angelegenhei-ten des Mythos« gewesen sei, verwahrte sichK. Umgekehrt konnte Mann sich K.s an dieklassische Antike gebundenen u. von denAnschauungen der Goethezeit mitbestimm-ten Mythosbegriff nie völlig zu eigen ma-chen.

Einfluss auf das dt. Geistesleben suchte K.auch durch seine Essays zu nehmen im Sinneeines traditionellen Humanismus, der dieantiken Wurzeln der europ. Kultur nicht nurim allg. Bewusstsein halten, sondern das, waser als Zentrum der antiken Kultur ansah –Mythologie u. Religion –, wieder wirksammachen wollte: In der »Begegnung der eige-nen Existenz mit der Antike«, so hatte er inder Einleitung zu Niobe (Zürich 1949) for-muliert, falle »mit dem Erschließen histori-scher Quellen das Sicherschließen von Quel-len im Menschen selbst zusammen«. Dieseshumanistische Programm fand in der Orien-tierungskrise der 1950er u. 1960er Jahre fernder fachwissenschaftl. Entwicklungen eingroßes Echo, von dem 1971 auch die Verlei-hung der Goldenen Medaille der Humboldt-Gesellschaft zeugte.

Weitere Werke: Töchter der Sonne. Betrach-tungen über griech. Gottheiten. Zürich 1944. Stgt.1997. – Prometheus. Das griech. Mythologem v. dermenschl. Existenz. Zürich 1946. Erw. u. d. T. Pro-metheus. Die menschl. Existenz in griech. Deu-tung. Reinb. 1959. Engl.: Prometheus. ArchetypalImage of Human Existence. New York 1963. 1997.– Der göttl. Arzt. Studien über Asklepios u. seineKultstätten. Basel 1948. Engl.: Asklepios. Archety-pal Image of the Physician’s Existence. New York1959. – Zeus u. Hera. Urbild des Vaters, des Gattenu. der Frau. Leiden 1972. Engl.: Zeus and Hera.Archetypal Image of Father, Husband, and Wife.London 1976. – Briefwechsel: Thomas Mann – K. K.Gespräch in Briefen. Zürich 1960. – Ausgaben:

Kerényi 370

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 147: Kafka Killy Lexikon

Werke in Einzelausg.n. Mchn. 1966 ff. Stgt.1994 ff.

Literatur: Aldo Magris: Carlo K. e la ricercafenomenologica della religione. Mailand 1975 (mitBibliogr. S. 331–338). – Hellmut Sichtermann: K.K. Mit einem Anhang: Ein Gästebuch aus Palestri-na. In: Arcadia 11 (1976), S. 150–177. – WalterBurkert: Griech. Mythologie u. die Geistesgesch.der Moderne. In: Les études classiques aux XIXe etXXe siècles. Genf 1980, bes. S. 187–193. – JohannesKleinstück: K.’s Humanistic Approach to AncientReligion. In: Edgar C. Polomé (Hg.): Essays in Me-mory of K. K. Washington 1984, S. 66–74. – NicolaCusumano: Mito, mitologema e mitologia in K. K.In: Quaderni dell’Istituto di storia Antica. Univer-sità degli Studi di Palermo 1 (1984), S. 65–85. –Horst Fassel: K. K. u. Thomas Mann. Ein Dialogüber Kunst u. Mythos. In: Gesch., Gegenwart u.Kultur der Donauschwaben (1996), H. 7, S. 60–68.– Hans-Jürgen Heinrichs: Töchter der Sonne. K. K.u. die Mythologie. In: Merkur 51 (1997), H. 8,S. 734–740. – Volker Losemann: Die ›Krise der Al-ten Welt‹ u. der Gegenwart. Franz Altheim u. K. K.im Dialog. In: Imperium Romanum (1998),S. 492–518. – H.-J. Heinrichs: Expeditionen insinnere Ausland. Freud, Morgenthaler, Lévi-Strauss,K. Das Unbewußte im modernen Denken. Gießen2005. – Renate Schlesier u. Roberto SanchiñoMartínez (Hg.): Neuhumanismus u. Anthropologiedes griech. Mythos. K. K. im europ. Kontext des 20.Jh. Locarno 2006. Fritz Graf / Red.

Kermani, Navid, * 27.11.1967 Siegen. –Islamwissenschaftler, Publizist, Prosa-schriftsteller, Kinderbuchautor, Theater-regisseur.

Der Sohn iranischer Eltern studierte nach derSchulzeit in Siegen 1988–1998 Orientalistik,Philosophie u. Theaterwissenschaft in Köln u.war in dieser Zeit auch journalistisch, alsDramaturg am Theater an der Ruhr in Mül-heim (1994/95) u. am Schauspielhaus Frank-furt/M. (1998/99) sowie als Leiter eines in-ternat. Sprach- u. Kulturzentrums in Isfahan(1994–1997) tätig. Seine gedruckte Magis-terarbeit beschäftigte sich mit dem wegenseiner Kritik an der traditionellen Herme-neutik des Korans verketzerten Literaturwis-senschaftler Nasr Hamid Abu-Zayd (Offenba-rung als Kommunikation. Ffm. 1996), von demK. auch ein Werk herausgab (Islam und Politik.Kritik des religiösen Diskurses. Ffm 1996) u.

dessen Lebenserinnerungen er aufzeichnete(Ein Leben mit dem Islam. Freib. i. Br. 1999.22002). Die Dissertation Gott ist schön. Das äs-thetische Erleben des Koran (Mchn. 1999. 32007),das Berichte über die ästhetische Rezeptiondes Korans als Teil des kulturellen Gedächt-nisses der arab. Welt behandelt, fand eineweit über das Fachpublikum hinausgehendeAufnahme, ebenso wie K.s jüngstes religi-onswissenschaftl. Werk Der Schrecken Gottes.Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (Mchn.2005), das ein ins Extreme gesteigertes Ha-dern mit Gott wegen des Leidens in der Weltals eine jüdisch-islamische Tradition derFrömmigkeit beschreibt.

Aus den Reportagen über den Iran, die K.als Autor der »FAZ« 1995–2000 verfasste,ging das Buch Iran. Die Revolution der Kinder(Mchn. 2001. 22005) hervor, das die Demo-kratiebewegung des Landes mit skept. Sym-pathie begleitet. 2000–2003 war er LongTerm Fellow am Wissenschaftskolleg in Ber-lin u. akadem. Leiter des Arbeitskreises Mo-derne und Islam; seitdem ist er als freierSchriftsteller tätig. 2005 debütierte K. amSchauspielhaus Köln als Regisseur von Hoseanach Texten der Bibel u. aus Hebbels Judith.2006 habilitierte er sich in Bonn im FachOrientalistik.

Seit seinem Ausscheiden bei der »FAZ«2000 ist K. für zahlreiche andere führendeBlätter u. Periodika des dt. Sprachraums tä-tig. Seine neueren Reportagen versammeltSchöner neuer Orient. Berichte von Städten undKriegen (Mchn. 2003. 22003). Die prononcier-ten Beiträge zur Islamdebatte seit dem11.9.2001 finden sich in Strategie der Eskalati-on. Der Nahe Osten und die Politik des Westens(Gött. 2005). K. setzt stereotypen Abwertun-gen des Islam dessen kulturelle u. histor.Vielfalt entgegen, bestreitet die Ableitungpolit. u. sozialer Missstände in muslimischenLändern aus der Religion, ficht für eine aktivenicht-militärische Förderung der Demokratiein diesen Staaten, betont das moderne, westl.Element im islamistischen Terrorismus (Dy-namit des Geistes. Martyrium, Islam und Nihilis-mus. Gött. 2002. 32006) u. plädiert für ein aufBürgerrechten statt auf dem Christentumbasierendes Verständnis von Europa, dasauch Migranten einbeziehen kann (Nach Eu-

Kermani371

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 148: Kafka Killy Lexikon

ropa. Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnungdes Burgtheaters Wien. Zürich 2005).

Die bes. Stellung als dt. Muslim iranischerAbstammung, die Verwurzelung im multi-kulturellen Kölner Stadtteil Eigelstein u. dasInteresse des Religionswissenschaftlers anexistenziellen Fragen prägen auch K.s. belle-tristisches Werk. Das Buch der von Neil YoungGetöteten (Zürich 2002. 22002) findet ein myst.Moment in der Musik des kanad. Gitarristen.Die in Köln angesiedelten Vierzig Leben (ebd.2004), »vierzig Heiligenviten«, »ein Kate-chismus unserer Zeit« (so der Klappentext),beziehen ihren Reiz aus dem Spannungsver-hältnis zwischen dem oft skurrilen Inhalt u.den Titeln der Einzeltexte wie Von der Liebe u.Von der Hoffnung. Die düsteren erot. Vignettendes Bandes Du sollst (ebd. 2005. 22005), derauch für die Bühne bearbeitet wurde, sindjeweils mit einem Gebot des Dekalogs über-schrieben. In dem Roman Kurzmitteilung (Zü-rich 2007) wird ein iranischstämmigerEventmanager durch den Tod einer flüchti-gen Bekannten aus den gewohnten Bahnengeworfen u. landet schließlich bei eineramerikan. Sekte. K.s Kinderbuch Ayda, Bärund Hase (Wien 2006) ist eine Liebeserklärungan Köln-Eigelstein u. ermutigt Kinder zuSelbstvertrauen u. Toleranz.

Verdienste erwarb sich K. auch durch dieVermittlung dissidenter iranischer Intellek-tueller an ein dt. Publikum (Huschang Gol-schiri: Prinz Ehtedschab. Roman. Mchn. 2001,Nachw.; Mehdi Bazargan: Und Jesus ist seinProphet. Der Koran und die Christen. Mchn. 2006,Hg., Vorw.).

K. wurde mehrfach mit Preisen u. Stipen-dien geehrt. Seit 2006 ist er Mitgl. der Deut-schen Islamkonferenz, seit 2007 der Deut-schen Akademie für Sprache und Dichtung u.seit 2008 Permanent Fellow am Haus derKulturen der Welt in Berlin sowie Mitgl. desWissenschaftlichen Beirats des PotsdamerEinsteinforums.

Weiteres Werk: Wer ist wir? Dtschld. u. seineMuslime. Mchn. 2008. Volker Hartmann

Kern, Elfriede, * 20.7.1950 Bruck a. d.Mur/Steiermark. – Verfasserin von Ro-manen u. Erzählungen.

K. absolvierte zunächst eine Ausbildung zurVolksschullehrerin, dann zur Bibliothekarinu. arbeitete an der Österreichischen Natio-nalbibliothek in Wien, bevor sie 1983 nachLinz zog. Trotz Auszeichnungen u. Stipen-dien (u. a. seit 1997 mehrfach das Österrei-chische Staatsstipendium für Literatur, 2002Literaturpreis des Landes Steiermark) hat dieseit 1988 als freiberufl. Schriftstellerin le-bende K. bei Literaturkritik u. -wissenschaftbis heute wenig Beachtung gefunden.

K.s Romane u. Erzählungen gleichen Ex-perimentieranordnungen. Es dominierenAußenseiterfiguren, die vielfach mit ge-heimnisvollen, alptraumartig-unheiml. odergrotestk-abnormen Szenerien u. Ereignissenkonfrontiert werden. Irritierenderweise ak-zeptieren sie diese jedoch scheinbar alsselbstverständlich. Unabhängig davon, ob dieHandlung in einem realistischen Setting oderaber in einer atavistisch-myth. Welt angesie-delt ist, sind die jugendlichen ebenso wie dieerwachsenen, überwiegend weibl. Figurenzumeist sozial u. auch emotional isoliert.Aufgrund ihres eingeschränkt wirkendenWahrnehmungshorizontes scheint sie diesjedoch kaum zu stören. Ebenso wenig werdensie aus Erfahrung klug. Sie sind vielmehrimmer wieder bereit, sich in gefährl. Situa-tionen zu begeben oder Andere für das eigeneÜberleben zu opfern. Dies gilt für Geschwis-terpaare – z.B. die Brüder im DebütromanEtüde für Adele und einen Hund (Salzb./Wien1996) – ebenso wie etwa für die beiden Zir-kusartisten, die in der Erzählung Ruth schläft(in: Tabula rasa. Vier Erzählungen. Salzb./Wien2003) von einer Falle in die nächste geraten.Die Protagonistinnen sind einerseits stärkerReagierende bzw. Gejagte als Agierende, in-sofern ihr Handeln von einzelnen rätselhaf-ten Gegenständen (in der Erzählung Aufbre-chen in: Tabula rasa), Wundern wie etwa einernicht tödl. Kopfwunde (Kopfstücke. Roman.Salzb./Wien 1997) oder der Begegnung mitmagischen Praktiken oder archaischen Op-ferritualen (Schwarze Lämmer. Roman. Salzb./Wien 2001) ausgelöst wird. Andererseits

Kern 372

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 149: Kafka Killy Lexikon

konzentriert sich das Erzählen weniger aufeindeutige Täter-Opfer-Verhältnisse als aufSituationen, die aus Opfern (ungewollt) Mit-täter werden lassen, oder auf ein Überlebengegen alle Wahrscheinlichkeit: In der Erzäh-lung Schwarze Lämmer rächt sich ein Junge anseiner Schwester Ada, verrät seine zeitweili-gen Mitgefangenen u. erkennt dabei nicht,dass er sich dadurch nur einen Aufschub,nicht aber Rettung vor einer kannibalisti-schen Opferung erkaufen kann.

Die Leser haben in den meisten Werken K.seinen Informationsvorsprung, da sich für sieein (drohendes) Unheil abzeichnet, das denProtagonisten verborgen bleibt. Im Zentrumsteht jeweils nicht deren Erkenntnisprozess –weshalb das Erzählen konsequenterweisejegl. Introspektion der Figuren ausspart –,sondern eine Aktivierung der Leser durch Ir-ritation. Dies vermittelt in erster Linie einEinfühlung verhindernder, extrem nüchter-ner, lakon. u. distanziert-beschreibender Er-zählton. K.s Werk bewegt sich mit den immerwiederkehrenden Themen von Machtstruk-turen, Ausbeutungs- u. Abhängigkeitsver-hältnissen in zwischenmenschl. Beziehungenim weiteren Umfeld einer literar. Gesell-schaftskritik. Dies wird teilweise in der For-schung mit dem Hinweis auf die Fantastikdes Erzählens u. das Vordringen in »Grenz-bereiche« (Tanzer, S. 307) anders gesehen.Aufgrund seiner artifiziellen, sehr ostentati-ven Rätselhaftigkeit scheint das Werk alle-gorische sowie psychoanalytisch inspirierteLesarten geradezu herauszufordern. Dassatavistisch-myth. Szenerien jedoch »auch alsParodie auf die Esoterik-Welle« verstandenwerden können (Schütte, S. 82), weist ebensowie die intertextuellen Verfahren darauf hin,dass solchen Lektüren durchaus Widerstandentgegensetzt wird.

Weitere Werke: Geständert. Erzählungen.Steyr 1994. – Fore! Erzählungen. Linz 1995.

Literatur: Ulrike Tanzer: Distanziertes Grau-en. Vergleichende Aspekte im Schreiben MarlenHaushofers u. E. K.s. In: ›Eine geheime Schrift ausdiesem Splitterwerk enträtseln ...‹. Marlen Haus-hofers Werk im Kontext. Hg. Anke Bosse u. Cle-mens Ruthner. Tüb./Basel 2000, S. 297–310. – UweSchütte: Unausschöpfbare Vieldeutigkeit. Zum

Romanwerk der E. K. In: Sprachkunst 34 (2003), H.1, S. 71–86. Andrea Geier

Kerndl, Rainer, * 27.11.1928 Bad Fran-kenhausen/Thüringen. – Dramatiker, Er-zähler u. Theaterkritiker.

Der Angestelltensohn lebte mit seiner Fami-lie zwischen 1943 u. 1945 im besetzten Polenu. wurde dort zum Arbeits- bzw. Kriegsdiensteingezogen. Nach Entlassung aus der Gefan-genschaft war er zunächst Volontär, dannRedakteur der Saalfelder Kreiszeitung sowiehauptamtl. FDJ-Sekretär der Internatsober-schule Wickersdorf.

K. debütierte mit Jugendbüchern, Erzäh-lungen u. Hörspielen, bevor 1961 sein erstesDrama uraufgeführt wurde: Schatten einesMädchens. Es zeigt, wie der Mord an einerjungen Polin den Ingenieur Karl Heilmannzwingt, nach Kriegsende die eigene Schuldaufzuarbeiten. Seit 1963 schrieb K. Theater-kritiken für die Zeitschrift »Neues Deutsch-land«. 1965 erhielt er den Lessing-Preis, 1972den Goethe-Preis der Stadt Berlin u. den Na-tionalpreis III. Klasse. Als 1984 sein DramaDer Georgsberg über die »Devisensucht« desDDR-Regimes nach drei Aufführungen ab-gesetzt wurde, musste der damalige Vize-präsident des Schriftstellerverbands seineRezensententätigkeit aufgeben. K. verstandsich primär als »Publizist[] des Theaters«,wollte auf der Bühne »Fragen der Öffent-lichkeit« in ihren Auswirkungen auf denAlltag zeigen (WB 22, 1976, H. 4, S. 73). ImZentrum stehen daher sowohl marxistischeLesarten weltpolit. Ereignisse – Offiziersauf-stand vom 20. Juli 1944 (Doppeltes Spiel. 1968),Pinochet-Diktatur (Nacht mit Kompromissen.1976) – als auch die Kritik am sozialistischenDogmatismus (Ein Plädoyer für die Suchenden.1966). K.s bedeutendstes Drama, Die seltsameReise des Alois Fingerlein (1967), weist überStationentechnik u. Parabelmodell Annähe-rungen an Brechts episches Theater auf. Inder Tradition ›sozialistischer Riesen‹ (MoritzTassow, Marski) erlebt der naive Protagonistdie NS-Zeit in Polen, gerät daraufhin in denPalästina-Konflikt, bevor er – im Sinne der›Ankunftsliteratur‹ weise geworden – nachOstdeutschland zurückkehrt. Während K.

Kerndl373

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 150: Kafka Killy Lexikon

zunächst didaktisierend schrieb, distanzierteer sich in den 1970er Jahren von der Ten-denzliteratur. Insgesamt fand seine Dramatiknur wenig Bühnenresonanz. Nach dem Ge-orgsberg-Skandal konzentrierte sich K. aufKinderbücher mit polit. Hintergrund (DieSteine der Schahnas. Bln. 1986) u. Abenteuer-romane (Ein heimatloser Typ. Halle/Lpz. 1990).

Weitere Werke: . .. u. keiner bleibt zurück.Bln./DDR 1953 (E.). – Ein Wiedersehen. Bln./DDR1956 (E.). – Stücke. Bln./DDR 1972 (darin u. a.:Seine Kinder. Ich bin einem Mädchen begegnet.Wann kommt Ehrlicher?). – Eine undurchsichtigeAffaire. Halle/Lpz. 1981 (R.). – Stücke. Bln./DDR1983 (darin u. a.: Jarash, ein Tag im September. Dervierzehnte Sommer). – Landschaft meiner Kind-heit. Häuser am Kyffhäuser. In: Das Magazin 36/1(1989), S. 27–31.

Literatur: Hermann Kähler: Stücke eines Jahr-zehnts. In: R. K.: Stücke (1972), a. a. O., S. 351–361.– Erika Stephan: Vorstellungen v. unserem Leben.Zur Entwicklung des Dramatikers R. K. In: WB 22(1976), H. 4, S. 82–101. – Siegfried Schiller: 50.Geburtstag des DDR-Dramatikers u. Theaterkriti-kers R. K. In: Bibliogr. Kalenderbl. der BerlinerStadtbibl. 20/11 (1978), S. 60–68 (darin: Verz. v.Primär- u. Sekundärlit.). – Gottfried Fischborn: R.K. In: Lit. der Deutschen Demokratischen Repu-blik. Hg. Autorenkollektiv unter Leitung v. HansJürgen Geerdts. Bd. 2, Bln./DDR 1979, S. 174–185.– Michael Lee Burwell: ›Theater der Zeit‹ as aMirror of GDR Drama, with a Focus on Baierl, K.,Braun, and Müller. Diss. Univ. of Minnesota 1980.– Christoph Funke: Nachw. In: R. K.: Stücke(1983), a. a. O., S. 242–248. – Karl-WilhelmSchmidt: Zur Dramaturgie in der DDR v. 1969 bis1989. In: Dramaturgie in der DDR (1945–1990).Hg. Helmut Kreuzer u. K.-W. S. Bd. 2, Heidelb.1998, S. 593–626. – Wolf Gerhard Schmidt: Zwi-schen Antimoderne u. Postmoderne. Das dt. Dramau. Theater der Nachkriegszeit im internat. Kontext.Stgt./Weimar 2009. Wolf Gerhard Schmidt

Kerndörffer, Heinrich August, * 16.12.1769 Leipzig, † 23.9.1846 Reudnitz(heute zu Leipzig). – Romancier.

Wahrscheinlich entstammte K. einer Leipzi-ger Pastorenfamilie. Nach dem Philosophie-studium in Leipzig war er dort Universitäts-dozent u. Privatgelehrter. 1805 trat K. derLeipziger Freimaurerloge »Apollo« bei, derenMeister vom Stuhl er einige Jahre war u. für

die er ein Handbuch für Freimaurer (Lpz. 1806)verfasste.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde K. alsVerfasser zahlreicher Trivialromane bekannt,die Erfolgsautoren wie Lafontaine, Vulpiusoder Karl Gottlob Cramer nachahmten u.deren Verfasser von der Kritik wenigschmeichelhaft als »schreibseliger, größten-theils seichter Autor« bezeichnet wurde(NND 24, 1846, S. 1094, Nr. 1388). K. ließkein erfolgversprechendes Sujet des zeit-genöss. Trivialromans aus. Sein Repertoirereichte vom Familienroman über den polit.Abenteuerroman bis zum Genre der Ritter-,Räuber- u. Bundesromane. Dabei waren seineRomane Kolportage u. Abklatsch berühmte-rer Schriftstellerkollegen, zu dürftig in lite-rar. Erfindungsgabe u. sprachl. Gestaltungs-kraft, als dass K. über den Rang des Epigonenhinauswachsen konnte.

Weitere Werke: Romane: Leben, Meynungen u.Schicksale Sebaldus Göz, eines Kosmopoliten. Lpz.1795. – Lorenzo, der kluge Mann im Walde, oderdas Banditenmädchen. 4 Tle., Lpz. 1801–03. – DieUnsichtbaren, oder die Abentheuer in den Ruinenv. St. Elmo. Lpz. 1807. – Die Ahnfrau. 3 Tle., Lpz.1820/21. – Die Geheimnisse des Ahnen-Saales. Lpz.1829.

Literatur: Hartmut Weidemeier: H. A. K. Un-tersuchungen zum Trivialroman der Goethezeit.Diss. Bonn 1967. – Reinhart Meyer-Kalkus: Hein-rich v. Kleist u. H. A. K. Zur Poetik v. Vorlesen u.Deklamation. In: Kleist-Jb. 2001, S. 55–88.

Walter Weber / Red.

Kerner, (Johann) Georg, * 9.4.1770 Lud-wigsburg, † 7.4.1812 Hamburg. – Politi-scher Journalist.

Wie bei vielen seiner polit. Mitstreiter, die inDeutschland für die Ziele der FranzösischenRevolution eintraten, waren auch K.s Lebenu. Werk lange Zeit vergessen. Erst 1978 er-innerte eine Auswahlausgabe wieder an den»bis heute faszinierenden Vertreter einervergessenen demokratischen Gegenkultur«(Hellmut G. Haasis).

K.s revolutionäre Begeisterung manifes-tierte sich schon zu Ende seiner Ausbildungan der Stuttgarter Hohen Karlsschule, die derSohn einer württembergischen Honoratio-renfamilie seit 1779 besuchte. Nach der Pro-

Kerndörffer 374

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 151: Kafka Killy Lexikon

motion zum Dr. med. gelangte er Ende 1791über Straßburg, wo er Sekretär des dortigenJakobinerclubs wurde, nach Paris. Währendder Jakobinerherrschaft geriet K. durch seineParteinahme für die Gironde im Frühjahr1794 selbst auf die Haftliste. Er entkam in dieSchweiz, wo er seine Arbeit im Dienst derRevolution jedoch fortsetzte. Als Agent derRepublik knüpfte er Kontakte zu süddt. De-mokraten u. sammelte Informationen überdie dortige polit. Lage. Als sein Freund KarlFriedrich Reinhard 1795 frz. Gesandter beiden Hansestädten wurde, reiste K. als dessenPrivatsekretär mit. Seine polit. Erfahrungen,die K. in Paris u. fortan auf seinen Reisen imAuftrag Reinhards sammelte, beschrieb er inArtikeln für mehrere fortschrittl. dt. Zeit-schriften. Er kritisierte darin sowohl dieTerreur wie auch später den Verrat der re-publikan. Idee unter Napoleon. Die Grün-dung einer »Philanthropischen Gesellschaft«in Hamburg 1797 zeigt, dass K. trotz dieserEnttäuschung an der Utopie einer demokra-tischen Gesellschaft festhielt. Erst die Allein-herrschaft u. Machtpolitik Napoleons ließenK. resignieren. 1801 schied er aus frz. Diens-ten aus. Zwar schrieb er gelegentlich nochüber polit. u. soziale Fragen u. gab ein schnellverbotenes antinapoleonisches Journal (»DerNordstern«, 1802) heraus, doch widmete ersich bis zu seinem Tod v. a. seiner Arbeit alsArmenarzt in Hamburg.

Weitere Werke: Briefe über Frankreich, dieNiederlande u. Teutschland. 3 Tle., Altona 1797/98(anonym). – Reise über den Sund. Tüb. 1803 (an-onym). – Hedwig Voegt (Hg.): G. K. Jakobiner u.Armenarzt. Reisebriefe, Berichte, Lebenszeugnisse.Bln./DDR 1978.

Literatur: Adolf Wohlwill: G. K. Hbg./Lpz.1886. – Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flü-gel. 2 Bde., Reinb. 1988, passim. – Hans-WernerEngels: Republikaner ohne Republik. G. K.s ›Rei-sen‹ 1796–1801. In: Europ. Reiselit. im 18. u.Frühen 19. Jh. Hg. Wolfgang Griep u. Hans-WolfJäger. Heidelb. 1990. – Andreas Fritz: G. K. Fürs-tenfeind u. Menschenfreund. Ludwigsburg 42003.

Christoph Weiß / Red.

Kerner, Justinus (Andreas Christian),* 18.9.1786 Ludwigsburg, † 21.2.1862Weinsberg; Grabstätte: ebd., Alter Fried-hof. – Lyriker, Erzähler; Parapsychologe,Arzt.

K. war das sechste u. jüngste Kind einesOberamtmanns u. Regierungsrats; unter sei-nen Vorfahren befanden sich zahlreiche Mit-glieder der württembergischen »Ehrbarkeit«,jener im Herzogtum Württemberg führen-den Gruppe von Beamten u. Pfarrersfamilien.K.s Kindheit in Maulbronn u. Ludwigsburg,wo er die Lateinschule besuchte u. einekaufmänn. Lehre absolvierte, ist anschaulichu. humorvoll geschildert in seiner Autobio-grafie Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Erinne-rungen aus den Jahren 1786 bis 1804 (Braunschw.1849). Ermutigt durch seinen Lehrer KarlPhilipp Conz, der ihn in die dt. Literatur(Schiller, Klopstock, Hölderlin u. andere)eingeführt hatte, studierte K. 1804–1808Medizin an der Universität Tübingen (Pro-motion über die Funktion der Gehörorgane),widmete sich aber daneben in einem Kreisromantisch empfindender Freunde – Uhland,Karl Mayer, Heinrich Köstlin, Varnhagen vonEnse (1808) – der lyr. Dichtung, ab 1806 starkbeeinflusst von der Volksliederanthologie DesKnaben Wunderhorn. Von Jan. bis März 1807unterhielt der Tübinger Romantikerkreiseine eigene Zeitschrift, das handschriftlichausliegende »Sonntagsblatt für gebildeteStände« (erst 1961 in Marbach gedr. Hg.Bernhard Zeller). K. veröffentlichte erstmalsGedichte 1807/08 in Leo von Seckendorffs»Musenalmanachen« u. in Arnims »Zeitungfür Einsiedler«. Eine einjährige Bildungsreiseführte ihn im Frühjahr 1809 nach Hamburg,wo ihm sein Bruder Georg als SpitalleiterGelegenheit zu medizinischer Praxis bot, woer mit Rosa Maria Varnhagen u. AmalieSchoppe verkehrte u. von wo aus er Fouqué u.Chamisso in Berlin besuchte; im Herbst reisteer zur Fortsetzung seines Praktikums nachWien, wo er Umgang mit Friedrich u. Doro-thea Schlegel hatte u. Beethoven kennenlernte. Die auf der Reise an Uhland u. andereFreunde geschriebenen Briefe vereinigte K.zu einer originellen szen. Collage: Reiseschat-ten. Von dem Schattenspieler Luchs (Heidelb.

Kerner375

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 152: Kafka Killy Lexikon

1811), »dieses launig schöne, fantastischspielende Buch, in dem alle romantischenBlitze spielen und alle romantischen Schattenso reich und mit so traumhafter Selbstver-ständlichkeit nebeneinander wohnen« (Her-mann Hesse, 1913).

Ab Herbst 1810 wirkte K. als prakt. Arzt inkleinen württembergischen Orten: Dürr-menz, Wildbad (1811), Welzheim (1812),Gaildorf (1815) u. schließlich Weinsberg (abJan. 1819). Daneben pflegte er, auch nachseiner Heirat mit Friederike Ehmann imFebr. 1813 u. der Geburt von drei Kindern(1813 Rosa Maria, 1817 Theobald, 1822Emma), die Dichtung weiter u. unterhielteine ausgedehnte Korrespondenz. In Zusam-menarbeit mit Uhland u. Schwab erstellte erzwei Sammelwerke, den Poetischen Almanachfür das Jahr 1812 (Heidelb. Hg. J. K.) u. denDeutschen Dichterwald (Tüb. 1813. Hg. J. K.,Fouqué u. Uhland), in denen neben denschwäb. Romantikern auch Gedichte vonHebel, Fouqué, Chamisso, Varnhagen, Ei-chendorff u. anderen erschienen. K.s gesam-melte Lyrik wurde erstmals von Cotta 1826gedruckt. Seine Gedichte (41854) sind volks-liedhaft getönt u. charakterisiert durchschwärmerische, oft schwermütige Haltung,myst. u. okkulte Tendenzen neben schlichterFrömmigkeit, bisweilen auch frisch-humor-volle romant. Stimmungen; seine Balladenneigen zum Schauerlichen. Neben einerMenge formal nachlässiger Gebilde steheneinige geniale Schöpfungen: Wanderlied, DerWanderer in der Sägmühle, An das Trinkglas einesverstorbenen Freundes, Der reichste Fürst. Diespäten Sammlungen (Der letzte Blüthenstrauß.Cotta 1852. Winterblüthen. Cotta 1859) brin-gen formal u. thematisch nichts Neues. EineKuriosität sind die postum (Stgt. 1890) er-schienenen Klecksographien, ausgemalte u.dichterisch kommentierte Tintenkleckse desseit 1851 zunehmend erblindenden Autors.

Während der württembergischen Verfas-sungskämpfe, in die er mit einigen Aufsätzeneingriff, stand K. wie sein Bruder Karl, derhöhere Staatsämter innehatte, auf der Seiteeines fortschrittl. Konstitutionalismus; spä-ter zog er sich auf eine politikfeindl. Inner-lichkeit zurück. Er verfasste einige lokalge-schichtl. Studien (über Wildbad 1813, den

Welzheimer Wald 1816, Weinsberg 1822 u.andere) u. machte sich einen Namen durcheinige medizinische Untersuchungen überdie Vergiftung durch verdorbene geräucherteWürste (1820, 1822); 1831 publizierte er zweiSendschreiben in Betreff der uns drohenden Cholera(Heilbr.). K.s okkulte Neigungen, sein Inter-esse an den »Nachtseiten der Natur« wie tie-rischem Magnetismus, Somnambulismus,Siderismus, Hellsehen, all den Phänomenen,»durch die der Mensch dem Geist der Natur,einem Allgemeinleben, dem Leben der Geis-ter und Gestirne, näher kommt« (program-mat. Brief an Uhland, 26.11.1812), wurdenzuerst publik durch seine in Cottas »Mor-genblatt« 1816 veröffentlichte Erzählung DieHeimatlosen. Später versuchte er, die Existenzeines magnetischen Fluidums u. einer Geis-terwelt durch eine Reihe von okkultistischenSchriften u. zwei Periodica (»Blätter ausPrevorst«. Karlsr. 1831–39. »Magikon«. Stgt.1840–53) wissenschaftlich zu beweisen. DieSeherin von Prevorst. Eröffnungen über das innereLeben der Menschen und über das Hereinragen einerGeisterwelt in die unsere (Tüb. 1829) löste inDeutschland eine erregte Debatte aus. K.s1822 in Weinsberg nahe der Burgruine Wei-bertreu erbautes Haus, in das er auch psy-chisch kranke Menschen während ihrer Be-handlung aufnahm, wurde dank desFreundschaftsbedürfnisses u. der Ausstrah-lung des Hausherrn zu einer Stätte beispiel-loser Gastfreundschaft u. zu einem der geis-tigen Zentren Württembergs. Die Namenvieler prominenter Besucher u. zahlreichevergnügl. Anekdoten sind festgehalten vonK.s Sohn Theobald in dem Buch Das Kerner-haus und seine Gäste (Stgt. 1897. Heilbr. 81987).K.s geistiges u. materielles Erbe wird gepflegtvom Justinus-Kerner-Verein in Weinsberg,der auch das K.-Museum in dem ehem.Wohnhaus des Autors verwaltet; das Haupt-organ der K.-Forschung sind die »Suevica.Beiträge zur schwäbischen Literatur- undGeistesgeschichte« (Weinsberg, später Stgt.1981 ff.).

K. hat in verschiedenen Bereichen Spurenhinterlassen, in Dichtung, Parapsychologie u.Medizin, als Heimatkundler u. Denkmal-schützer (ihm ist die Rettung der BurgruineWeinsberg zu verdanken). Viele seiner Ge-

Kerner 376

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 153: Kafka Killy Lexikon

dichte wurden vertont, vonSchumann,Kreutzer, Silcher u. anderen Komponisten.Eine Rebsorte ist nach ihm benannt. Wäh-rend die biogr. u. literaturwiss. Forschungetwas stagniert u. wohl erst wieder inSchwung geraten wird, wenn der im Marba-cher Archiv lagernde umfangreiche Brief-wechsel K.s durch Transkription zugänglichgemacht wird, hat der Okkultist (Parapsy-chologe) u. Arzt in den letzten Jahrzehntengroßes Forschungsinteresse erregt u. – nebeneiner ganzen Reihe von Artikeln – zu einigenumfassenden, grundsätzl. Auseinanderset-zungen geführt.

Weitere Werke: K.s Werke. Ausw. in sechs Tln.Hg. Raimund Pissin. Bln. u. a. 1914. – Ausgew.Werke. Hg. Gunter Grimm. Stgt. 1981. – Briefe: J.K.s Briefw. mit seinen Freunden. Hg. TheobaldKerner. 2 Bde., Stgt. 1897. – J. K. u. sein MünchenerFreundeskreis. Eine Slg. v. Briefen. Hg. FranzPocci. Lpz. 1928. – Andrea Fix-Berger (Hg.): J. K.,Nur wenn man v. Geistern spricht. Briefe u.Klecksographien. Stgt. 1986 (S. 153–220: Briefw.K.s mit Adalbert v. Bayern).

Literatur: Heinz-Otto Burger: Schwäb. Ro-mantik. Stgt. 1928. – Heinrich Straumann: J. K. u.der Okkultismus in der dt. Romantik. Horgen-Zü-rich/Lpz. 1928. – Hartmut Fröschle: J. K. u. LudwigUhland. Gesch. einer Dichterfreundschaft. Göpp.1972. – Friedrich Pfäfflin u. Reinhard Tgahrt(Bearb.): J. K. Dichter u. Arzt. Marbach 1986. –Otto-Joachim Grüsser: J. K. 1786–1862. Arzt – Poet– Geisterseher. Bln. 1987. – J. K. Jubiläumsbd. zum200. Geburtstag. Hg. Heinz Schott. Weinsberg1990. – Bettina Gruber: Die Seherin v. Prevorst.Romantischer Okkultismus als Religion, Wiss. u.Lit. Paderb. u. a. 2000. – Wouter J. Hanegraaf:Versuch über Friederike Hauffe. Zum Verhältniszwischen Lebensgesch. u. Mythos der ›Seherin vonPrevorst‹ (I). In: Suevica 8 (2000), S. 17–45. Teil II,ebd. 9 (2001/2002), S. 233–276. – Hundert Jahre imGeiste K.s. J.-K.-Verein 1905–2005. Weinsberg2005. Hartmut Fröschle

Kernstock, Ottokar, * 25.7.1848 Marburg/Drau, † 5.11.1928 Festenburg/Steier-mark; Grabstätte: ebd. – Lyriker; Autorhistorisch-biografischer Essays u. religiö-ser Streitschriften.

Wie von ihm selbst hervorgehoben, ent-stammte K. einer altdt. Familie aus Steyr; derVater arbeitete in der Finanzverwaltung.

1867 trat K. in das AugustinerchorherrenstiftVorau ein, wo er Bibliothek u. Archiv reor-ganisierte; ab 1889 war er Pfarrer in der Fes-tenburg. – Angeregt durch die Archivarbeitschrieb K. dem Mittelhochdeutschen nach-empfundene Minnelyrik, veröffentlicht seit1878 in den Münchner »Fliegenden Blät-tern«. Erst 1901 erschien seine Gedicht-sammlung Aus dem Zwingergärtlein (Mchn.).Kaisertreue u. Patriotismus führten ihn zuKriegshetzerei u. Heldenverklärung im Ers-ten Weltkrieg; mit seiner Deutschtümelei warer einer der unwissentl. Wegbereiter des Na-tionalsozialismus. Am bekanntesten wurde erals Verfasser der Österreichischen Volkshymne(1930–1938 offizielle Staatshymne).

Weitere Werke: Unter der Linde. Mchn. 1905.– Turmschwalben. Mchn. 1908. – Aus der Festen-burg. Ges. Aufsätze u. Gelegenheitsgedichte. Graz1911. – Tageweisen. Mchn. 1912. – Schwertlilienaus dem Zwingergärtlein. Graz 1915. – SteirischerWaffensegen (zus. mit Peter Rosegger). Graz 1916.– Gedichte. Hg. u. eingel. v. Rainer Rudolf. Graz1968.

Literatur: Charlotte Grollegg-Edler: O. K. – ein›polit. Dichter‹? In: ÖGL 30 (1986), S. 139–149. –Dies.: Die wehrhaft Nachtigall. O. K. (1848–1928).Eine Studie zu Leben, Werk u. Wirkung. Graz 2006.

H. Wolf Käfer / Red.

Kerr, Alfred, eigentlich: A. Kempner,* 25.12.1867 Breslau, † 12.10.1948 Ham-burg. – Theaterkritiker, Essayist, Schrift-steller.

K. stammte aus einer jüd. Familie. Sein Vaterwar Weinhändler. Schon früh fühlte er sichzum Schriftsteller berufen. Er studierte Phi-losophie u. Germanistik, von 1887 an inBerlin, wo er 1894 bei Erich Schmidt überBrentano promovierte (Godwi. Ein Kapiteldeutscher Romantik. Bln. 1898). K. schrieb von1900 an Kritiken für die Zeitung »Der Tag«u. war bis 1930 der einflussreichste KritikerBerlins. In diese Zeit fielen die erste Begeg-nung mit dem verehrten Gerhart Hauptmannu. publizistische Fehden u. a. mit Karl Kraus.

K. erschrieb sich anfangs sein Einkommendurch Schilderungen aus dem Berliner Alltag,die durch den spött. Ton u. die pointiertePersonencharakterisierung schon den späte-ren Theaterkritiker aufscheinen lassen (Wo

Kerr377

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 154: Kafka Killy Lexikon

liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt1895–1919. Hg. Günther Rühle. Bln. 1997). Ab1909 führte er den Namen Kerr. 1912–1915war er Herausgeber der Zeitschrift »Pan«.1917 erschien sein erster Gedichtband DieHarfe (Bln.) u. die erste Reihe der GesammeltenSchriften mit fünf Bänden Die Welt im Drama(Bln.). 1919–1933 war K. Theaterkritiker am»Berliner Tageblatt«. Er warnte in mehrerenZeitungsartikeln vor den Nationalsozialistenu. einem neuen Krieg. 1933 floh er über Prag,Wien u. Zürich nach Paris.

1936–1948 lebte K. mit seiner Familie un-ter ärml. Bedingungen in London, schriebpolit. Kommentare für die BBC u. wurde1933 Präsident des dt. P.E.N.-Clubs in Lon-don. Im Exil schrieb er auch die autobiogr.Erzählung Der Dichter und die Meerschweinchen(Ffm. 2004). Ende Sept. 1948 flog er nachHamburg, erlitt während einer Theaterauf-führung einen Schlaganfall u. bereitete miteiner Überdosis Veronal seinem Leben einEnde.

K.s Kritiken waren Tagesereignisse in Ber-lin, sein Name auch im Ausland ein Begriff.Sein Wirken fiel in eine Blütezeit des Theatersu. des Dramas: Das Publikum verlangte nachBelehrung. Das Neue an K. war die Selbst-inszenierung, der auf Friedrich Schlegel,Novalis u. Wilde zurückgehende Anspruch,Kritik sei Kunst: »Produktive Kritik ist sol-che, die ein Kunstwerk in der Kritik schafft«(in: Schauspielkunst. Bln. 1904. Ess.). Grund-lage der Wertung sind für K. Erleben, »Liebeund Haß« u. Willkür, gepaart mit Sachlich-keit: »In dem criticus lebt ein exaktesterAnatom. Kein bloßer Impressionist.« Andersals sein Konkurrent Herbert Ihering zeigte K.nicht literar. Strömungen auf, sondern diejeweilige Eigenart des Dichters. Sein Aus-drucksziel heißt Verknappung. Sprachmi-schung (z.B. Verwendung von Dialektismenu. Fremdwörtern) ist sein Stilmittel. Charak-teristisch sind der hämmernde Rhythmus,pointierte Hauptsätze u. eine Neigung zuNeologismen. K.s essayistische Prosa nimmtElemente des Expressionismus bereits vor derJahrhundertwende vorweg.

Bis 1918 förderte K., ganz Fortschrittsop-timist, die moderne Literatur, danach hatte ermit ihr Schwierigkeiten. Die Theatermacher

Brahm, Leopold Jeßner, mit Abstrichen auchPiscator, waren seine Favoriten. Distanz be-wahrte er gegenüber Max Reinhardt. Er er-kannte Brechts Begabung, unterschätzte je-doch dessen Werk.

K.s Daseinslust u. Erlebnishunger zeigensich v. a. in seinen Reiseberichten; denn erwar nicht nur Kritiker. In den Reisefeuille-tons (Die Welt im Licht. Bln. 1920) kommt derBeobachter der Schönheiten dieser Welt zumZuge, der freilich auch die Schattenseitensieht, sie sarkastisch knapp streift. Die leichteHand des Erzählers verrät den Einfluss Hei-nes. K.s Prosaskizzen sind genaue Beobach-tungen des Alltags. Seine in der TraditionBuschs stehende Lyrik schlägt liebenswürdi-ge u. spött. Töne zgl. an. Der engagierte Re-publikaner K. wandelt sich gegen Ende derWeimarer Republik zusehends auch zumpolit. Autor. Er rechnet in Die Diktatur desHausknechts (Brüssel 1934. Hbg. 1981) mitHitler u. den Mitläufern ab, bricht mit Ger-hart Hauptmann.

K. hat den Beruf des Kritikers von akadem.Ballast befreit u. aufgewertet. Für heutigeVerhältnisse waren seine Kritiken politicalincorrect. Er hatte Bewunderer, doch auchGegner, die ihn schon zu seiner Berliner Zeitals eitel u. subjektiv, unsachlich u. ungerechtkritisierten. Nach dem Zweiten Weltkriegwar sein Ruhm bereits verblasst, u. die altenVorwürfe tauchten nun in der wissenschaftl.Rezeption erneut auf, später auch vereinzeltin der Kritik. In den 1960er Jahren berief sichder Kritiker Hellmuth Karasek auf ihn. DerKritiker Marcel Reich-Ranicki nennt ihn alseinen seiner Lehrmeister. Dennoch blieb K.ohne Schüler u. Nachfolger. Seine krit. Sichtauf Brecht begünstigte eine positive Rezepti-on. Durch die von Hermann Haarmann u.Günther Rühle herausgegebene neue Werk-ausgabe kam es ab den 1990er Jahren zu einerKerr-Renaissance.

Weitere Werke: Werke in Einzelbdn.: Bd. 1,1:Erlebtes. Dt. Landschaften, Menschen u. Städte.Hg. Günther Rühle. Bln. 1989. – Bd. 1,2: Erlebtes.Reisen in die Welt. Hg. H. Haarmann. Bln. 1989. –Bd. 2: Liebes Dtschld. Gedichte. Hg. T. Koebner.Bln. 1991. – Bd. 3: Essays. Theater, Film. Hg. H.Haarmann u. Klaus Siebenhaar. Bln. 1991. – Bd. 4:Jahrmarkt des Hierseins. Porträts. Hg. H. Haar-

Kerr 378

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 155: Kafka Killy Lexikon

mann. Ffm. 2007. – Bd. 7,1: Ich sage, was zu sagenist. Theaterkritiken 1893–1919. Hg. G. Rühle. Ffm.1998. – Bd. 7,2: So liegt der Fall. Theaterkritiken1919–1933 u. im Exil. Hg. G. Rühle. Ffm. 2001. –Herr Sudermann. Der D..Di..Dichter. Bln. 1903(Ess.). – Schauspielkunst. Bln. 1904 (Ess.). – Dasneue Drama. Bln. 1905 (Ess.). – New York u. Lon-don. Bln. 1923 (Reiseber.). – O Spanien! Bln. 1924(Reiseber.). – Caprichos. Bln. 1926 (L.). – Es sei wiees wolle, es war doch so schön! Bln. 1928 (Rei-seber.). – Die Allgier trieb nach Algier. Bln. 1929(Reiseber.). – Die Welt im Drama. Hg. Gerhard F.Hering. Köln/Bln. 1954. 21964 (Ausw.). – Theater-kritiken. Hg. Jürgen Behrens. Stgt. 1971 (Ausw.). –Ich kam nach England. Hg. Walter Huder u. Tho-mas Koebner. Bln. 1979 (Tgb.). – Mit Schleuder u.Harfe. Theaterskizzen aus drei Jahrzehnten. Bln.1981. – Lesebuch zu Leben u. Werk. Hg. HermannHaarmann, Klaus Siebenhaar u. Thomas Wölk. Bln.1987. – Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin?Briefe eines europ. Flaneurs 1895–1900. Hg. G.Rühle. Bln. 1999. – Der Dichter u. die Meer-schweinchen. Clemens Tecks letztes Experiment.Hg. G. Rühle. Ffm. 2004.

Literatur: Joseph Chapiro (Hg.): Für A. K. EinBuch der Freundschaft. Bln. 1928. – Herbert Kir-nig: A. K. – Alfred Polgar. Ein Vergleich. Diss. Wien1950. – Walter Schwarzlose: Methoden der dt.Theaterkritik. Diss. Münster 1951. – Maria There-sia Körner: Zwei Formen des Wertens. Die Thea-terkritiken Theodor Fontanes u. A. K.s. Diss. Bonn1952. – Hans-Dieter Roos: Der Theaterkritiker A.K. Mchn. 1959. – Joachim Biener: A. K. u. HerbertIhering. Diss. 2 Bde., Bln. 1973. – Rüdiger Stein-lein: Theaterkrit. Rezeption des expressionist.Dramas. Kronberg/Taunus 1974. – Traute Schöll-mann: Ein Weg zur literar. Selbstverwirklichung.A. K. Mchn. 1977. – Hubertus Schneider: A. K. alsTheaterkritiker. 2 Bde., Rheinfelden 1984. – Isa-bella Herskovics: A. K. als Kritiker des BerlinerTagblatts, 1919–1933. Bln. 1990 (Diss). – MarcelReich-Ranicki: A. K. – Der kämpfende Ästhet. In:Ders.: Anwälte der Lit. Mchn. 1996. – Lex. dt.-jüd.Autoren. Hendrik Markgraf

Kerr, Judith, * 14.6.1923 Berlin. – Kinder-u. Jugendbuchautorin; Illustratorin.

Die Tochter der Komponistin Julia Kerr (geb.Weismann) u. des Schriftstellers u. Publizis-ten Alfred Kerr emigrierte mit ihrer Familiebereits 1933 aus Deutschland. Nach Aufent-halten in der Schweiz u. in Frankreich ge-langten sie nach England, wo K. nach dem

Zweiten Weltkrieg ein Stipendium für dieCentral School of Arts and Crafts in Londonerhielt. Die Malerin u. Textildesignerinwurde 1953 von der BBC als Lektorin u. Re-dakteurin beschäftigt.

Seit Ende der 1960er Jahre erwarb sich K.ein internat. Renommee als Kinderbuch-autorin u. Illustratorin mit The Tiger WhoCame to Tea (London 1968. Dt. Ravensburg1979 u. ö.) u. mit den beliebten Fortset-zungsgeschichten für Kinder im Vorschul-alter über die Abenteuer des Katers Mog (Mogthe Forgetful Cat. London 1970. Dt. Ravens-burg 1977 u. ö.), die mit dem Tod des Katersenden (Goodbye Mog. London 2003).

Mit dem Jugendbuch When Hitler Stole PinkRabbit (London 1971. Dt. u. d. T. Als Hitler dasrosa Kaninchen stahl. Ravensburg 1973 u. ö.)gab K. der Jugendliteratur entscheidendeImpulse: Antisemitismus, Emigration, Exilu. Krieg waren bis dahin nicht ihre Themen.Der autobiogr. Roman, der 1974 mit demDeutschen Jugendbuch-Preis ausgezeichnetwurde, ist mittlerweile ein Standardwerk imDeutschunterricht der Sekundarstufe I. Ausder Sicht der 10-jährigen Anna erzählt K. vonder überstürzten Flucht 1933 aus Berlin u.dem strapaziösen Exilleben in den Gastlän-dern. Stereotypen über das Ausland über-kreuzen sich mit zumeist positiven persönl.Erfahrungen, die Anna u. ihr Bruder im Exilmachen, wodurch, trotz des ernsten Themas,Komik u. Distanz erzeugt werden. Den Ge-schwistern gelingt durch die als genuinkindlich dargestellten interkulturellen u.transkulturellen Kompetenzen die Integrati-on u. die Sozialisation in der Fremde – imUnterschied zu der bedrückenden Erfahrungder Heimatlosigkeit, unter der ihre Elternleiden. Diesen Exilroman, der von Kritik u.Publikum begeistert aufgenommen wurde,setzte K. mit den Werken The Other Way Round(London 1975. Dt. u. d. T. Warten bis der Friedenkommt. Ravensburg 1975 u. ö.) u. A Small Per-son Far Away (London 1978. Dt. u. d. T. Eine ArtFamilientreffen. Ravensburg 1979 u. ö.) fort.Der Titel Warten bis der Frieden kommt (u. d. T.Bombs on Aunt Dainty. London 2002), der vondem gefahrvollen u. entbehrungsreichenLondoner Alltag der Exilanten während derLuftschlacht um England erzählt, behandelt

Kerr379

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 156: Kafka Killy Lexikon

in Problemstellung u. Inhalt ebenso die derJugendliteratur bisher fremden Themen wieKrieg, Emigrantenschicksale u. Holocaust inVerbindung mit ihren traditionellen Stoffenwie Schwierigkeiten in der Adoleszenzphaseu. die erste Liebe der Protagonistin. Im ab-schließenden Teil der Trilogie Eine Art Fami-lientreffen kehrt Anna aus London, wo siemittlerweile verheiratet ist u. in gesichertenfinanziellen Verhältnissen lebt, nach Berlinzurück. Ihre Mutter hat einen Suizidversuchunternommen, da sie von dem Seitensprungihres Lebensgefährten erfahren hat. AnnasVater hatte nach einem Schlaganfall neunJahre zuvor den Freitod gewählt. Die hierbehandelten persönl. u. familiären Krisensind Spiegel der sozialen u. polit. Konflikte,die in diesem Werk, das im Jahr 1956 spielt,mit der Suezkrise u. dem Einmarsch sowje-tischer Panzer in Ungarn benannt werden. ImUnterschied zu den ersten beiden Teilen derTrilogie verzichtet der Roman auf iron. Ak-zente u. auf komische Brüche erzielende Ef-fekte. Die zuweilen klischeehaft u. trivialwirkende Handlung wird häufig unterbro-chen durch innere Monologe u. Retrospekti-ven, die ganz auf das subjektive Erleben u.Empfinden Annas zielen. Ihre Geschichteentpuppt sich als die der Identitätssuche ei-ner jungen Frau, die schließlich das uner-hoffte Mutterglück aus einer Reihe unlösbarscheinender Krisen befreit u. das Ende ihrerKindheit markiert. Somit gipfelt dasSchlussstück der Romantrilogie in der ge-lungenen Ausbildung eines spezifisch weibl.Geschlechtscharakters, der Geborgenheit u.Schutz gegen eine aus den Fugen gerateneWelt in Ehemann u. Kind findet. Damitwerden die emanzipator. Anregungen, dievon den ersten beiden Teilen der Romantri-logie ausgehen, revidiert. In seiner pädago-gischen u. moralischen Zielsetzung ist EineArt Familientreffen den Idealen der traditio-nellen Mädchenliteratur zuzurechnen.

Literatur: Michael Kerr: As Far as I Remember.London 2006. – Henrike Walter: ›Es war ja auchviel schwieriger für sie‹. Mutter u. Tochter in J. K.s›Anna‹-Trilogie. In: Inge Hansen-Schaberg, MariaKublitz-Kramer, Ortrun Niethammer u. RenateWall (Hg.): ›Das Politische wird persönlich‹ – Fa-miliengesch.(n). Erfahrungen u. Verarbeitung v.

Exil u. Verfolgung im Leben der Töchter (II).Wuppertal 2007. Yvonne-Patricia Alefeld

Kerschbaumer, Marie-Thérèse, * 31.8.1936 Garches bei Paris. – Verfasserin vonEssays, Lyrik, Romanen; Übersetzerin.

Nach den ersten drei Lebensjahren in CostaRica (österr. Mutter, kuban. Vater) wuchs K.,deren Mutter vom Nationalsozialismus ver-folgt wurde, bei den Großeltern in Tirol auf.Nach einer kaufmänn. Lehre u. Aufenthaltenin England u. Italien lebt K. seit 1957 in Wien(1963–1973 Studium der Romanistik u. Ger-manistik, Promotion 1973; 1971 Heirat mitdem Maler Helmut Kurz-Goldenstein, der2004 starb).

K. gehört zu den profiliertesten Autorin-nen Österreichs, die sich engagiert-fort-schrittl. Inhalten mit formalästhetischen Ex-perimenten anzunähern versuchen. K.s Wer-ke spiegeln den Kampf gegen jede Form vonUnterdrückung. Ihr Leben ist geprägt vonkreativem Eintreten für Antifaschismus,Frieden u. soziale Gerechtigkeit. Ebenso gehtK. der Frage nach einer weibl. Identität imhistorisch-polit. Kontext des 20. Jh. nach.

Als Lektorin in Bukarest veröffentlichte K.ihren ersten Band Gedichte (Bukarest 1970);1976 folgte der Roman Der Schwimmer(Salzb.). Mit Der weibliche Name des Widerstands(Olten/Freib. i. Br. 1980, Bln./Weimar 1986.Neuausg. Klagenf. u. a. 2005. Verfilmung vonSusanne Zanke. ORF 1981) legte sie eine Do-kumentation antifaschistischen Widerstandsvon Frauen in einer konzentrierten, reflek-tierenden Prosa vor. Im »Familienroman«Schwestern (Olten/Freib. i. Br. 1982. Neuausg.Klagenf. u. a. 2007) erweitert K. die zeitge-schichtl. Ebene um eine explizit weibliche,indem sie die Geschichte des weibl. Ich imösterr. Bürgertum in ihren politisch-ökonom.Zusammenhängen von der Jahrhundertwen-de bis zur Gegenwart rekonstruiert. Mit demGedichtband Neun Canti auf die irdische Liebe(Klagenf./Salzb. 1989, mit Illustrationen vonHelmut Kurz-Goldenstein) gibt K. ein neuerl.Zeugnis ihrer Sprachkunst.

2003 gab K. den Band Arkadien / Apologie(Wien) heraus; im selben Jahr erschien derProsaband Orfeo. Bilder Träume (Klagenf. u. a.),

Kerschbaumer 380

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 157: Kafka Killy Lexikon

2005 der Essayband Calypso. Über Welt, Kunst,Literatur (ebd.), der sich als Plädoyer für dieAufgabe jegl. Literatur liest, nämlich die krit.Bezugnahme auf die Gegenwart unter Beru-fung auf eine geistesgeschichtl. Tradition.»Die Massen erkennen nicht, wer ihre Feindesind«. Zuletzt erschien von K. der LyrikbandWasser und Wind. Gedichte 1988–2005 (ebd.2006).

K. zeichnete sich auch als Übersetzerin v. a.aus dem Rumänischen u. Spanischen aus; soübersetzte sie u. a. Paul Gomas Romane Osti-nato (1971) u. Die Tür (Ffm. 1972) sowie Vin-tila Ivanceanus u. Peter Croys »Bestiarium«Der Vultcaloborg und die schöne Belleponge (Ffm./Bln./Wien 1973).

1989–1995 war K. Vizepräsidentin der IGAutoren. 2005 gab sie die umstrittene An-thologie österr. Literatur nach 1945, Landver-messung, mit heraus.

K. erhielt 1981 den Österreichischen För-derungspreis zum Staatspreis, 1985 denMeersburger Droste-Preis, 1995 den Preis derStadt Wien für Literatur u. 1995 den Roseg-gerpreis des Landes Steiermark für österrei-chische Literatur. Seit 2002 befindet sich K.sliterar. Archiv in der Handschriftensamm-lung der Wienbibliothek im Rathaus.

Weitere Werke: Werkausg. in 13 Bdn. Klagenf.2007. – Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zutun ... Wien 1989 (Ess.s). – Die Fremde. ErstesBuch. Klagenf./Salzb. 1992. – Ausfahrt. ZweitesBuch. Klagenf./Salzb. 1994. – bilder immermehr.gedichte (1964–1987). Salzb./Wien 1997. Neuausg.Klagenf. u. a. 2007. – Fern. Drittes Buch. Klagenf.u. a. 2000. – Versuchung. Klagenf. u. a. 2002. –Neun Elegien. Klagenf. u. a. 2004. – Hörspiele: Kin-derkriegen. 1979. – Zigeuner. 1981.

Literatur: Hilde Schmölzer: Frau sein &schreiben. Wien 1982, S. 91–97. – Hans Höller:›Wer spricht hier eigentlich, das Opfer, eine Lei-densgenossin oder ein weibl. Autor?‹ [...]. In:Frauenlit. Autorinnen. Perspektiven. Konzepte.Hg. Manfred Jurgensen. Mchn. 1985, S. 142–153. –Sigrid Schmid-Bortenschlager: Die Vermittlungzwischen gestern u. heute, der Heldin u. uns [...].In: ebd., S. 153–157. – W. Bryan Kirby: ›... deinund mein Gedächtnis ein Weltall‹. A metahistoricalavenue into M.-T. K.’s literary world of women.New York u. a. 2000. – Barbara Müller: Gegen denStrich. Erzählen nach Auschwitz. Dipl.-Arb. Wien

2002. – H. Höller: Das Werk v. M.-T. K. Klagenf.u. a. 2007. Christine Schmidjell / Julia Danielczyk

Kersten, Kurt, auch: Georg Forster, * 19.4.1891 Welheiden bei Kassel, † 18.5.1962New York. – Verfasser von Monografien,Publizist.

K., Sohn eines Gutsbesitzers, studierte Ger-manistik u. Geschichte in München u. Berlinu. promovierte mit einer Arbeit über VoltairesHenriade in der deutschen Kritik vor Lessing (Bln.1914). 1915 zum Kriegsdienst eingezogen,kehrte er unmittelbar nach der Novemberre-volution nach Berlin zurück, wo er bis 1934als freier Schriftsteller lebte. Er gehörte denKreisen um die expressionistische Zeitschrift»Die Aktion« u. den Malik-Verlag an u. ar-beitete für die »Rote Fahne«, war Mitgl. desBundes proletarisch-revolutionärer Schrift-steller sowie enger Freund u. MitarbeiterWilli Münzenbergs. 1934 floh K. vor denNationalsozialisten über Zürich nach Prag u.1937 nach Paris, wo er in der Volksfront-Be-wegung mitarbeitete u. für Exilzeitschriftenwie die »Internationale Literatur« u. »DasWort« schrieb. 1940 glückte ihm die Fluchtnach Casablanca, von dort nach Martinique u.1946 nach New York. Dort blieb er bis zuseinem Tod Mitarbeiter der Exilzeitschrift»Aufbau«, veröffentlichte in zahlreichen we-stdt. u. internat. Zeitungen u. Zeitschriften u.arbeitete für den WDR. Ursprünglich vomExpressionismus beeinflusst, wurde K. ab1920 ein sozialistisch engagierter Autor. Inseinen großen Monografien Ein europäischerRevolutionär: Georg Forster 1754–1794 (Bln.1921), Fridericus Rex und die Krise des Absolutis-mus (Bln. 1922) u. Bismarck und seine Zeit (Bln.1930) erweist er sich als Meister der histor.Biografie.

Weitere Werke: Die dt. Revolution. Bln. 1923.– Peter der Große. Vom Wesen u. den Ursachenhistor. Größe. Amsterd. 1935. – Unter Freiheits-fahnen. Dt. Freiwillige in der Gesch. Straßb. 1938.

Literatur: Dieter Schiller: K. K. als Historiker u.Publizist in den Jahren des Exils 1933 bis 1940. In:Hélène Roussel u. Lutz Winckler (Hg.): Dt. Exil-presse u. Frankreich. Bern u. a. 1992, S. 227–236. –Helmut Peitsch: Vom Aktivismus zum Antitotali-tarismus. K. K.s Biogr.n Georg Forsters u. das

Kersten381

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 158: Kafka Killy Lexikon

Problem der Identifikation. In: Georg-Forster-Stu-dien 7 (2002), S. 21–59. – Dieter Schiller: ›Propa-ganda als Waffe‹. K. K. u. Willi Münzenberg. Bln.2007. Ilse Auer / Red.

Kersten, Paul, * 23.6.1943 Brakel beiHöxter. – Lyriker, Erzähler u. Literatur-redakteur.

K. wuchs in Holzminden/Weser auf u. be-gann nach dem Abitur 1963 ein Studium derGermanistik u. Philosophie in Hamburg. Erpromovierte 1970 mit einer Arbeit über NellySachs u. wirkte anschließend als Lehrbeauf-tragter am Literaturwissenschaftlichen Semi-nar der Universität Hamburg. Seit 1973 ist erLiteraturredakteur beim NDR, für den er das»Bücherjournal« betreut u. »P. K.s Bücher-rubrik« schreibt.

Zwar debütierte K. zunächst als Lyriker(Steinlaub. Bad Driburg 1963) u. legte in grö-ßeren Abständen drei weitere Gedichtbändevor; für sein zentrales literar. Thema, dasSterben, wählte er jedoch später v. a. die Formder Erzählung. In seiner ersten Prosaveröf-fentlichung Der alltägliche Tod meines Vaters(Köln 1978) protokolliert K. minutiös denlangsamen Krebstod des Vaters. Die Trauer-arbeit ruft Kindheitserinnerungen wach, dieK. im Band Die toten Schwestern (Köln 1982.Düsseld. 2007) formuliert. Durch seine de-tailbesessenen Schilderungen des Sterbens u.der Vergänglichkeit bringt K. die Grausam-keit der Wirklichkeit zum Vorschein. K.schreibt im Grenzbereich zwischen Autobio-grafie u. Fiktion gegen die Kindheit als denBeginn der Vergänglichkeit an.

Weitere Werke: Absprung. Köln 1979 (R.). –Die Blume ist ängstlich. Gedichte für ein Kind.Hbg. 1980. – Der Riese. Hbg. 1981 (E.) – Die Ver-wechslung der Jahreszeiten. Hbg. 1983 (L.). – Briefeeines Menschenfressers. Köln 1987 (R.). – Abschiedv. einer Tochter. Hbg. 1990 (R.). – Die Helligkeitder Träume. Hbg. 1992 (R.). – So viele Wunden inder Luft. Mchn. 2000 (L.).

Literatur: Rainer Zimmer: P. K. In: KLG. –Thomas Kraft: P. K. In: LGL.

Gerhard Bolaender / Günter Baumann

Kessel, Martin, * 14.4.1901 Plauen/Vogt-land, † 14.4.1990 Berlin. – Erzähler, Es-sayist, Lyriker.

Nach dem Ersten Weltkrieg studierte K. inBerlin, München u. Frankfurt Germanistik,Philosophie, Musik- u. Kunstwissenschaft.1923 promovierte er mit einer Arbeit überThomas Manns Novellentechnik. Danach ließer sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder,der seinem Empfinden nach bewegtestenStadt, um dort, inspiriert von seinem literar.Lehrmeister Tristram Shandy, einen Sinn fürRuhe gegenüber der Zeit zu finden u. den-noch nicht in Alltäglichkeit zu erstarren.Seine zweite wichtige literar. Kraftquellewaren Die toten Seelen Gogols.

Sarkastisch liefert K. poetische u. novellis-tische Beiträge zur Physiognomik Berlins. Il-lusionslos durchläuft er sein Territorium u.schildert, wie die Menschen von ihren Wün-schen in die Irre geführt u. vom Schicksalwiderlegt werden. Die Eskapaden der vomLebenshunger erfassten Menschen in denNovellen des Bands Betriebsamkeit (Ffm. 1926)zeigen sie als Opfer ihrer fixen Ideen.

K.s bedeutendster Roman ist Herrn BrechersFiasko (Stgt. 1932. Mchn. 2002), die ernüch-ternde Auslotung des »Tümpels«, in den einAngestellter gerät, der sich seinen von Ironiedurchsetzten Individualismus nicht austrei-ben lassen will. Brechers weibl. Gegenstückist die Titelheldin des Romans Lydia Faude(Neuwied/Bln. 1965. Mchn. 2003), die ihreunzeitgemäße Lebenslust u. romant. Liebha-bereien dem verknöcherten Zweckoptimis-mus ihrer auf Geld erpichten Umwelt entge-genzusetzen versucht. Zwischen den beidengroß angelegten Romanen verfasste K. denKünstlerroman Die Schwester des Don Quichote(Braunschw. 1938. Mchn. 2004), in dem dieklass. Erzählstrukturen der Novellen von E.T. A. Hoffmann u. Theodor Fontane zu un-erwartet modernem u. eigenwillig skurrilemAusdruck gelangen. Dass die Geschichte im»Dritten Reich« entstanden ist, merkt manihr nicht an, sie ist kein schlitzohrig ver-stelltes Dokument der »inneren Emigration«,sondern ein stolzes Bekenntnis zur Autono-mie der Kunst. K.s Ironie u. romantisierenderWeltsinn bestimmen auch die Eigenheit sei-

Kersten 382

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM

Page 159: Kafka Killy Lexikon

ner brillant geschriebenen literar. Essays so-wie seiner »ironischen Miniaturen« u. er-kenntniskrit. Aphorismen. Seine leichtfüßig-geistvolle, immer streng durchgeformte Lyrikfolgt vorzugsweise Morgensterns Leitsatz:»Wer fragt, der ist gerichtet, hier wird nichtkommentiert, hier wird an sich gedichtet.«

K. wurde u. a. mit der Kleist-Preis-Ehrung(1926), dem Büchner-Preis (1954) u. demBerliner Fontane-Preis (1961) ausgezeichnet.

Weitere Werke: Gebändigte Kurven. Gedichte.Ffm. 1925. – Ess.s u. Miniaturen. Stgt./Hbg. 1947.– Ges. Gedichte. Hbg. 1951. – In Wirklichkeit aber... Satiren, Glossen, kleine Prosa. Bln. 1955. – Ge-gengabe. Aphorist. Kompendium für hellere Köpfe.Darmst./Bln./Neuwied 1959. – Kopf u. Herz.Sprüche im Widerstreit. Neuwied/Bln. 1963. – Alleslebt nur wenn es leuchtet. Neue Gedichte. Mainz1971. – Ehrfurcht u. Gelächter. Literar. Ess.s.Mainz 1974.

Literatur: Wilfried F. Schoeller: Der Elan einesDichters auf verlorenem Posten. In: Literaturma-gazin (1987), Nr. 20, S. 168–179. – Norbert Miller:Nachr. auf M. K. In: Jb. der Akademie der Wiss.enu. der Lit. 41 (1990), S. 93–96. – Bernhard Spies:Die Angestellten, die Großstadt u. einige ›Internades Bewusstseins‹. M. K.s Roman ›Herrn BrechersFiasko‹. In: Sabina Becker u. Christoph Weiß (Hg.):Neue Sachlichkeit im Roman. Stgt. 1995,S. 235–254. – Wolf Peter Schnetz: Wer war ... M. K.Ein Jahrhundertgenie im Schatten der Weltlit. In:Der Literat 43 (2001), S. 11 f. – Katrin Hillgruber:Bestiarium der Angestellten. M. K.s Berlin- u. Bü-roroman ›Herrn Brechers Fiasko‹ wiedergelesen.In: NDL 49 (2001), H. 4, S. 131–136. – ClaudiaStockinger u. Stefan Scherer (Hg.): M. K.(1901–1990). Bielef. 2004 (mit Bibliogr.S. 337–349). Klaus Völker / Red.

Kesser, Hermann, eigentl.: H. Kaeser,* 4.8.1880 München, † 5.4.1952 Basel. –Erzähler, Dramatiker, Essayist.

Der Sohn eines Kunsthändlers studierte zu-nächst Ingenieurwesen, später Kunstge-schichte u. Psychologie in München u. Zü-rich, promovierte 1903 in Zürich zum Dr.phil. (Der associative Faktor im ästhetischen Ein-druck), unterrichtete Musikgeschichte u. Äs-thetik am Zürcher Konservatorium, ging je-doch bald zum Journalismus über u. wurdezu einem der kompetentesten Interpretenschweizerischer Themen in der dt. Presse. Als

Schriftsteller debütierte er mit den beidenErzählungen Lukas Langkofler u. Das Verbrechender Elise Geitler (Ffm. 1912). Vor allem LukasLangkofler, eine intensive, leidenschaftl.Schilderung der Pariser Bartholomäusnachtvon 1572, zeugte erstmals für K.s Begabung,spektakuläre, außergewöhnl. Ereignisse pa-ckend in Sprache zu bannen. Einen Höhe-punkt erfuhr diese »dynamische Epik« in K.sberühmtester Erzählung, Die Peitsche (Ffm.1917. Frauenfeld 1919. Ffm. 1926), mit derer, obwohl in histor. Gewand, direkt auf diebevorstehende dt. Revolution verwies. Maro,ein Wagenlenker, schlägt in einer unerhörtexpressiven, spannungsgeladenen Szene demröm. Kaiser die Peitsche ins Gesicht u. gibtdamit das Signal zum Aufstand der Massen.Ebenso prophetisch-visionär mutet der Ro-man Die Stunde des Martin Jochner (entstanden1914. Erstdr. Lpz. 1917. Bln. 21930) an, dieBeschreibung der hekt. Atmosphäre vor demAusbruch des Ersten Weltkriegs, seismogra-fisch genau aufgezeichnet von einem Jour-nalisten, dem der Krieg unausweichlich er-scheint. 1919 glaubte K. noch, »am neuenAnfang der Menschheit« teilzuhaben, dannaber wandte er sich immer stärker einer sozialengagierten, pragmat. Tendenz zu (vgl. dieErzählungen Straßenmann u. Schwester. BeideFfm. 1926) u. empfand den Expressionismusbereits 1930 als »flammenden Kurzschluß,hergestellt von den Ereignissen«. Auch alsDramatiker nahm K. in Stücken wie Die Brüder(Bln. 1921) oder Rotation (Wien 1931) aus de-zidiert linker Position heraus zu sozialenProblemen Stellung. 1933 verließ erDeutschland, wo er nach 1920 gelebt hatte, u.siedelte ganz in die Schweiz über, derenBürger er 1934 wurde. Während des ZweitenWeltkriegs lebte K., literarisch ohne Fortüne,in den USA. In seinen letzten Lebensjahrenversuchte er von der Schweiz aus vergeblichein Comeback in die Wege zu leiten.

Weitere Werke: Vom Chaos zur Gestaltung.Ffm. 1925 (Ess. u. L.). – Musik in der Pension. Bln.1928 (R.). – Talleyrand u. Napoleon. Zürich 1938(D.). – Das Verbrechen der Elise Geitler u. a. E.en.Hg. Bernd Jentzsch. Nachw. v. Thomas B. Schu-mann. Olten 1981.

Literatur: Franz Hammer: H. K. In: H. K: DieStunde des Martin Jochner. Bln./DDR 1975,

Kesser383

Brought to you by | University Library UtrechtAuthenticated

Download Date | 11/25/14 4:18 PM