josef pieper - Über die hoffnung
DESCRIPTION
Josef Pieper, Über die Hoffnung. 1935. Eine Abhandlung über die christliche Hoffnung, Verzweiflung und Vermessenheit.TRANSCRIPT
1
JOSEF PIEPER
ÜBER DIE HOFFNUNG Neuausgabe 2006.
Erstmals erschienen bei Kösel, München 1962.
© Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 2006.
Bemerkungen über den Begriff des Status Viatoris ................................................................................... 1
Hoffnung als Tugend ............................................................................................................................................... 5
Die Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung ........................................................................................................ 13
Die Vorwegnahme der Erfüllung ..................................................................................................................... 19
Das Geschenk der Furcht .................................................................................................................................... 22
Anmerkungen .......................................................................................................................................................... 27
I.
BEMERKUNGEN ÜBER DEN BEGRIFF DES STATUS VIATORIS
Das Wort vom Menschen als «Erdenpilger», von der «Pilgerschaft» des irdischen Lebens ist
durch eine Art pastoraler Melodramatik um seinen Ernst und seinen metallisch-realistischen
Kern gebracht worden und auch um seine verbindliche Kraft. Dies Wort ist nicht mehr der klare
Spiegel der Wirklichkeit, die es erstlich abbilden soll. Sein ursprünglicher Sinn ist von
mancherlei unverbindlich-ästhetischen Beiklängen überwuchert; er wird fast verdeckt durch
einen Schleier von mißtönenden Nebenbedeutungen, deren falsche Sentimentalität dem
heutigen Menschen, vor allem der jungen Generation und vielleicht just den Besten darunter,
geradezu die Lust verdirbt, zu der in jenem Worte letztlich gemeinten Wirklichkeit vorzustoßen.
Die aber gehört zu den Fundamenten des christlichen In-der-Welt-Seins; der Begriff des
status viatoris gehört zu den Grundbegriffen aller christlichen Lebenslehre.
Viator heißt: der auf dem Wege. Und status viatoris meint den Zustand des Auf-dem-Wege-
Seins. Der zugeordnete Gegenbegriff ist der des status comprehensoris. Wer begriffen, umfangen,
erreicht hat, ist nicht mehr viator, sondern comprehensor; dies Wort hat die Theologie einem
Paulusbrief entnommen: «Brüder, ich bilde mir nicht ein, das Ziel erreicht zu haben
(comprehendisse)» (Phil 3,14). Auf dem Wege, viator sein, heißt: ausschreiten auf die
Glückseligkeit zu; umfangen haben, (11) comprehensor sein, heißt: die Glückseligkeit besitzen.1
1 I, 15, 10. Unter den monographischen Abhandlungen, die mir zu Gesicht kamen, steht durchaus an
erster Stelle der vorzügliche Kommentar zu den sechs Quästionen des Thomas von Aquin über die
2
Unter Glückseligkeit aber ist zuerst die objektiv seinsmäßige Erfüllung und erst an zweiter Stelle
die subjektive Antwort auf diese Erfüllung verstanden. Und diese Erfüllung ist die beseligende
Schau Gottes.
Die Begriffe status viatoris und status comprehensoris bezeichnen schlechthin die Ur-
Seinsweisen aller Kreatur, vor allem des Menschen. Mehr oder weniger ausdrücklich sind fast
alle theologischen Sätze über den Menschen (und den Engel) auf je einen dieser Begriffe
bezogen; und es ist erstaunlich, wie viele Grundbegriffe der Theologie einen zweifachen Sinn
haben je nach ihrer Hinordnung auf den Zustand es Auf-dem-Wege-Seins oder des umfangenden
Besitzes.
Es ist kaum eine Aussage möglich, die tiefer in die innerste Zone geschöpflicher Existenz
eindränge als die: daß der Mensch bis zu seinem Tode in statu viatoris, im Zustand des Auf-dem-
Wege-Seins, ist.
Die Deutung, die dieser Satz durch die volkstümliche Frömmigkeit erfährt – daß die
Menschenseele nach der Unrast des irdischen Lebens in die (12) heimatliche Ruhe des Himmels
komme –, ist, obwohl der aufgeklärten Verzweiflung des Weltmenschen im fast wörtlichen Sinne
himmelhoch überlegen, doch nur die bildhaft-einprägsame Abkürzungsformel für einen dem
volkstümlichen Denken nur unvollkommen durchsichtigen metaphysischen Sachverhalt, dessen
Aufhellung den menschlichen Geist zu den tiefsten Erkenntnissen über sein eigenes Dasein zu
führen vermag.
Der Zustand des Auf-dem-Wege-Seins ist nicht im nächstliegenden, äußerlichen Sinne eine
Bestimmung des Ortes. Dieser Zustand bezeichnet vielmehr die innerste Seinsverfassung der
Kreatur. Er ist das innere seinshafte «Noch nicht» des Geschöpfes.
Das «Noch nicht» des status viatoris schließt ein Negatives und ein Positives in sich: das
Nichtsein der Erfüllung und die Richtung auf die Erfüllung.
Was die negative Seite des status viatoris vor allem begründet und ausmacht, das ist die
daseinsmäßige Nähe des Geschöpfes zum Nichts. Diese Beziehung der Kreatur zum Nichts
wurzelt in der Ur-Tatsache, daß alles Geschaffene aus dem Nichts erschaffen ist. Sie kommt zu
Wort in der Kehrseite der menschlichen Freiheit, in der Möglichkeit zu sündigen; die Sünde
nämlich ist nichts anderes als eine Hinwendung zum Nichts: «Der Möglichkeit zu sündigen kann
die vernunftbegabte Kreatur auf natürliche Weise nicht enthoben werden; denn (13)
ebendadurch, daß sie aus dem Nichts stammt, kann ihre Macht sich dem Nichtsein zukehren.»2
Die Aufhebung es status viatoris und der Eintritt in den status comprehensoris bedeutet, daß
diese Macht des Geschöpfes, sich in Freiheit dem Nichts zuzuwenden, «gebunden» wird
(ligatur3) durch die gnadenhafte Vereinigung mit dem schlechthin Seienden. Die Freiheit zu
sündigen wird umgewandelt in die höhere Freiheit des Nichtsündigen-Könnens.4
Das Positive, das der Begriff des Auf-dem-Wege-Seins einschließt, die seinshaft innere
Richtung der Kreatur auf die Erfüllung, erweist sich erstlich in der Kraft des Menschen, durch
sein eigenes Tun eine Art von gerechtem «Anspruch» auf die glückhafte Beendigung seines
Hoffnung (II, II, 17-22), den der Dominikaner J. Le Tilly in der französischen Ausgabe der Summa theologica geschrieben hat (Editions de la Revue des Jeunes, Paris 1929).
2 2 d. 23, 1. 3 Ebd. 4 I, 62, 8 ad 3.
3
Weges zu begründen. Diese Kraft ist nichts anderes als die Möglichkeit der «verdienstlichen»
Handlung, die also den Charakter eines wirklichen «Schrittes» hat. (Dadurch ist nicht berührt,
daß die «verdienstliche» Handlung etwas voraussetzt, das nicht «verdient» werden kann.) Der
status comprehensoris erfüllt den «Anspruch» der «Verdienste», jene Möglichkeit verdienstlichen
Tuns fällt also als Möglichkeit ebenso dahin wie die Freiheit zu sündigen. (14)
Im Übergang vom Zustand des Auf-dem-Wege-Seins in den status comprehensoris wird also
der status viatoris in seinem Negativen und in seinem Positiven aufgehoben: die Möglichkeit der
Hinwendung zum Nichts wird aufgehoben durch Bindung, der Anspruch und die Richtung auf
die Erfüllung wird aufgehoben durch die Erfüllung selbst.
Der status viatoris wird beendet durch den Zeitpunkt, in dem die Widerruflichkeit an die
Unwiderruflichkeit grenzt. Dieser Zeitpunkt besiegelt nicht nur die Erfüllung, sondern auch die
Nicht-Erfüllung. Auch die Entscheidung für das Nichts wird in diesem Augenblick endgültig. Der
Zustand des Auf-dem-Wege-Seins wird im einen wie im anderen Fall aufgehoben; auch «der
Satan hat durch seine Sünde augenblicks den status viatoris verloren».5
Die Verdammung ist die unwiderrufliche Fixierung des Willens auf das Nichts; wie der
status comprehensoris die comfirmatio in bono ist, die «Festmachung» des Willens auf das
höchste Sein. In der Verdammung wird das Positive des status viatoris, die Richtung auf die
Erfüllung, endgültig abgeschnitten und zerstört; und das Negative wird, isoliert, zu einer
absoluten Größe. Das seinshafte (15) innere «Noch nicht» des Geschöpfes wird schlechthin zum
seinshaft inneren «Nicht».
Der «Weg» des Menschen führt in den Tod. Seit der Mensch am Anfang seiner Geschichte
durch die Sünde unter das Gesetz des Todes trat, wurde sein Leben zu einem beginnenden
Sterben.6 Der «Weg» des Menschen führt in den Tod als in sein Ende, nicht aber als in seinen
Sinn. Der Sinn des status viatoris ist der status comprehensoris.
Für den Menschen also währt der status viatoris so lange, als sein leibhaftes Dasein währt;
der status viatoris endet mit dem leibhaften Dasein. Darum ist des Menschen «Weg» die
«Zeitlichkeit» selbst. Zeit nämlich gibt es nur im Hinblick auf das Vergängliche des Menschen.
Die Bindung des Geistes an den Leib begründet seine Bindung in die Zeit; der Geist in sich, auch
des Menschen, ist «über der Zeit».7 Im Tode, da der Mensch den status viatoris verläßt, tritt er
auch aus der Zeit. Was nicht heißt, daß er in den Raum der eigentlichen Ewigkeit Gottes
einträte.8
Die gegenwärtige «Existenzphilosophie», die das menschliche Dasein als «Sein zum Tode»
ausschließlich in seiner Zeitlichkeit in den Blick nimmt, hat so weit durchaus recht, als sie gegen
eine idealistische Lehre vom Menschen steht, in welcher der (16) status viatoris seinswidrig in
eine zeitlose Gottähnlichkeit verkleidet erscheint. Aber soweit diese «Existenzphilosophie» das
Dasein des Menschen als wesenhaft und «im Grunde seines Seins zeitlich» (Heidegger) auffaßt,
verfehlt auch sie den wahren Charakter ihres Gegenstandes. Die menschliche Existenz ist nur als
status viatoris zeitlich. Wer also die Zeitlichkeit ohne Einschränkung als schlechthin notwendiges
Wesensmerkmal des menschlichen Daseins zu begreifen sucht, dem bleibt nicht etwa nur das
«Jenseits» der Zeit verborgen, sondern auch der Sinn des innerzeitlichen Daseins selbst. Der
5 Mal. 16, 5. 6 Augustinus, De peccatorum meritis et remissione 1, 16. 7 I, II, 53, 3 ad 3. 8 I, 10, 5.
4
Idealismus verkennt das Wesen menschlicher Existenz, weil er den status viatoris «ausläßt»; die
«Existenzphilosophie» verfehlt das wahre Wesen der menschlichen Existenz, weil sie den
«Weg»-Charakter des status viatoris, seine Richtung auf die Erfüllung jenseits der Zeit, also im
Grunde gleichfalls den status viatoris selbst, leugnet.
Auch die Engel, die seligen und die gefallenen, sind im strengen Sinn viatores, «auf dem
Wege», gewesen. Aber ihr «Weg» war nicht die «Zeitlichkeit» (was wiederum nicht heißt, sie
seien der Ewigkeit Gottes teilhaftig). Für den Engel war der status viatoris ein einziger
Augenblick – («Augenblick» sagt schon wieder Zeit, es gelingt uns nicht, anders als zeithaft zu
denken); es war ein Augenblick der Möglichkeit einer geistigen Entscheidung für oder gegen
Gott. Vom ersten Nu seiner Existenz an stand (17) der Engel «am Ende seines Weges»9; die Spanne
eines einzigen unzeitlichen Aktes der Entscheidung trennte ihn vom Ziel. Dieser Akt hat im Engel
den status viatoris aufgehoben.
Der heilige Thomas sagt Gott habe dem Menschen einen «längeren Weg» bestimmt als dem
Engel, weil der Mensch in der Stufenordnung der Naturen weiter von Gott entfernt sei, «magis a
Deo distans».10
Der Begriff des status viatoris bezeichnet in einem besonderen Sinne die innere Struktur der
Geschöpflichkeit des Menschen.
Die Geschöpflichkeit des Menschen enthüllt sich vornehmlich in der tiefen
Seinsunterschiedenheit gegen Gott, die der Grundsatz von der «Analogie des Seins» ausspricht.
Diese Seinsunterschiedenheit liegt vor allem darin, daß Gott der schlechthin Seiende ist, in
dessen Seinsfülle Wesen und Dasein in eins fallen; während der Mensch sein Wesen nicht schon
«ist», sondern sein Wesen «wird». Dieser Werdenscharakter des Kreatürlichen aber tritt im
Begriff des status viatoris besonders deutlich hervor; im «Noch nicht» des Auf-dem-Wege-Seins
stellt sich die Ausgespanntheit des geschöpflichen «Werdeseins» (Przywara) zwischen den
Ufern des Seins und des Nichts wie in einem Hohlspiegel dar. (18)
Kreatursein heißt durchaus «Hineingehaltenheit in das Nichts» (Heidegger); noch mehr
aber bedeutet Kreatursein die Gegründetheit im absoluten Sein und die existentielle Richtung
auf das Sein, auf das eigene Sein und auf das göttliche Sein zugleich.11 Und es ist durchaus
richtig: «Die geschaffenen Wesen könnten, wie sie aus dem Nichts stammen, auch wieder
zurücksinken in das Nichts, wenn es Gott gefiele»12; aber: «Er hat alles geschaffen, damit es sei»
(Weish 1,14). Unter der Unzahl von Einwänden, die der heilige Thomas in seinen Quästionen sich
selbst macht, findet sich ein Satz, der Wort für Wort in den Büchern der nihilistischen
«Existenzphilosophie» unserer Zeit stehen könnte: «proprius motus naturae ex nihilo existentis
est ut in nihilum tendat», die Eigenbewegung eines Wesens, das aus dem Nichts ist, richtet sich
auf das Nichts.13 Darauf gibt der «allgemeine Lehrer» der Kirche folgende Antwort: Die Richtung
ins Nichts ist nicht die Eigenbewegung des natürlichen Seins, die immer auf ein Gut sich richtet
(gut aber bedeutet: seiend); sondern die Richtung ins Nichts kommt zustande gerade durch das
Versagen jener Eigenbewegung.14 Trotz aller Möglichkeit des Absturzes (19) ins Nichts: die
9 Quodl. 9, 8 ad 2. 10 2 d. 7, 1, 2; vgl. 2 d. 23, 1, 2 ad 2; 1, 62, 5 ad 1. 11 Pot. 5, 4. 12 Pot. 5, 4 ad 10. 13 Pot. 5, 1 obj. 16. 14 Pot. 5, 1 ad 16.
5
Richtung des «Weges» zielt auf das Sein; so sehr, daß sogar die Entscheidung für das Nichts, um
möglich zu werden, die Maske einer Entscheidung für das Sein tragen muß.
Die Ausgespanntheit der kreatürlichen Existenz zwischen Sein und Nichts kann also niemals
so verstanden werden, als sei die Beziehung zum Nichts der Beziehung zum Sein einfachhin
gleichen Ranges zugeordnet oder gar vor- und übergeordnet. Der «Weg» des homo viator, des
«Menschen auf dem Wege», ist nicht ein richtungsloses Hin und Her zwischen Sein und Nichts;
er führt in die Verwirklichung und nicht in die Vernichtung, obwohl die Verwirklichung «noch
nicht» erfüllt und obwohl der Abfall ins Nichts «noch nicht» unmöglich ist.
Für den Menschen, der in statu viatoris seine wesenhafte Kreatürlichkeit, das «noch nicht
seiende Sein» seiner eigenen Existenz, erfährt, gibt es nur eine gemäße Antwort auf diese
Erfahrung. Die Antwort kann nicht die Verzweiflung sein – denn der Sinn kreatürlicher Existenz
ist nicht das Nichts, sondern das Sein, das heißt: die Erfüllung. Die Antwort kann auch nicht die
beruhigte Sicherheit des Habens sein – denn noch grenzt das «Werdesein» der Kreatur gefährdet
an das Nichts. Beide, Verzweiflung und Besitz-Gewißheit, widerstreiten der wahren Realität. Die
einzige Antwort, die der wirklichen Existenz-Situation des Menschen entspricht, ist: die
Hoffnung. (20)
Die Tugend der Hoffnung ist die erstlich zugeordnete Tugend des status viatoris; sie ist die
eigentliche Tugend des «Noch nicht».
In der Tugend der Hoffnung vor allen anderen versteht und bejaht der Mensch sich darin,
Kreatur zu sein, ein Geschöpf Gottes. (21)
II.
HOFFNUNG ALS TUGEND
Niemals könnte ein Philosoph auf den Gedanken kommen, die Hoffnung zu einer Tugend zu
erklären es sei denn, er wäre zugleich christlicher Theologe. Denn die Hoffnung ist entweder
theologische Tugend, oder sie ist überhaupt nicht Tugend. Sie wird zur Tugend durch nichts
anderes als wodurch sie zur theologischen Tugend wird.15
Tugend ist nicht die gezähmte «Ordentlichkeit» und «Bravheit» des Spießbürgers, sondern:
seinshafte Erhöhung der menschlichen Person. Tugend ist das ultimum potentiae,16 das Äußerste
dessen, was ein Mensch sein kann; sie ist die Erfüllung menschlichen Seinkönnens. Tugend ist
die Vollendung des Menschen zu einem Tun, durch das er seine Glückseligkeit verwirklicht.17
Tugend bedeutet die Unbeirrbarkeit der Richtung des Menschen auf die wahrhafte
Verwirklichung seines Wesen, das ist: auf das Gute.
Theologische Tugend sagt eine Seinserhöhung aus, die schlechthin das übersteigt, was der
Mensch aus sich selbst «sein kann». Theologische Tugend ist die unbeirrbare Richtung auf eine
Erfüllung und eine Glückseligkeit, die dem natürlichen Menschen nicht «geschuldet» sind.
Theologische Tugend ist das Äußerste eines übernatürlichen Seinkönnens. (25) Dieses
übernatürliche Seinkönnen gründet in der realen gnadenhaften Teilhabe am göttlichen Sein, die
dem Menschen durch Christus zugefallen ist (2 Petr 1,4).
15 I, II, 62, 3 ad 2. 16 Virt. card. 3. 17 I, II, 62, 1.
6
Jene unbeirrbare Ausgerichtetheit des Menschen auf die Erfüllung also, die wir
«theologische» Tugend nennen, nimmt – erstens – ihren Ursprung aus einem eigentlich
göttlichen Sein im Menschen, aus der Gnade.18 Zweitens: sie zielt unmittelbar auf die
übernatürliche Glückseligkeit in dem auf übernatürliche Weise erkannten Gott. Und endlich:
vom Dasein, vom Ursprung und vom Gegenstand dieser theologischen Tugend wissen wir nur
durch die göttliche Offenbarung.
Der Satz, die Hoffnung sei Tugend nur als theologische Tugend, besagt also dieses: Die
Hoffnung ist nur dann unbeirrbare Hinwendung auf die wahre Wesenserfüllung, das ist, auf das
Gute, wenn sie aus der Gnadenwirklichkeit im Menschen ihren Ursprung nimmt und sich richtet
auf die übernatürliche Glückseligkeit in Gott.
Die Gerechtigkeit etwa ist auch schon diesseits der übernatürlichen Ordnung wirkliche
Tugend, klare Ausrichtung auf das Gute. Wenn die Gerechtigkeit aufhört, sich auf das Gute zu
richten, dann hört sie auch auf, Gerechtigkeit zu sein. Die Hoffnung aber kann sich – im
natürlichen Bereich – auch dem objektiv Bösen zuwenden, ohne dadurch (26) aufzuhören,
wirklich Hoffnung zu sein. Der natürlichen Hoffnung fehlt, was zum Begriff der Tugend gehört:
«quod ita sit principium actus boni, quod nullo modo mali», so sehr auf das Gute ausgerichtet zu
sein, daß sie auf keine Weise dem Bösen sich zukehren kann.19
Diese Festigkeit der Ausrichtung auf das Gute erfährt die Hoffnung erst, das ist deutlich, als
gottgewirkte Hinwendung zu Gott, das heißt: als theologische Tugend.
Die Hoffnung ist, wie die Liebe, eine der ganz einfachen Ur-Gebärden des Lebendigen. In der
Hoffnung reckt der Mensch sich «unruhigen Herzens» in vertrauend auslangender Erwartung
empor nach dem «bonum arduum futurum», nach dem steilen «Noch nicht» der Erfüllung, der
natürlichen wie der übernatürlichen.
Das Auslangen der triebhaft-geistigen Hoffnung des natürlichen Menschen hat, wie schon
gesagt wurde, aus sich nicht die Sicherheit der Richtung auf das wahrhaft Gute, die das
begriffliche Wesen der Tugend ausmacht. Aber dieses natürliche Auslangen ist – als formbarer
Stoff, als bereite materia – wesenhaft hingeordnet auf die Siegelung durch das formende
Richtmaß der Tugend, damit es aus dieser Prägung auch selbst Anteil gewinne an der
Ausrichtung auf das Gute. (27)
Die Gebärde des sinnlich-geistigen Hoffens nun, die sich hinaufreckt zu dem «Noch nicht»
der natürlichen Erfüllung des Menschen, ist, als materia, vor allem zwei Tugenden zugeordnet:
der Hochgemutheit (magnanimitas) und der Demut.20
Der eigentliche Auftrieb der natürlichen Hoffnung mündet geformt in die Tugend der
Hochgemutheit. Die Demut ist die wehrende Schranke und Ufermauer dieses Einmündens.
Die Hochgemutheit, eine sehr vergessene Tugend, ist das Sichspannen des Geistes auf die
großen Dinge, «extensio animi ad magna».21 Hochgemut ist, wer sich das Große zumutet und
sich seiner wert macht. Diese Tugend wurzelt in dem tapferen Vertrauen in die hohen
Möglichkeiten, welche die menschliche Natur, von Gott «wunderbar gegründet und wunderbarer
18 Ebd. 19 Virt. com. 2. 20 II, II, 161, 1. 21 II, II, 129, 1.
7
wiederhergestellt» (Missale Romanum), in sich schließt.22 So nimmt die Hochgemutheit den
Aufschwung der natürlichen Hoffnung in sich hinein und prägt ihn gemäß der Wahrheit des
menschlichen Seins. – Hochgemutheit ist, wie Thomas mit Aristoteles sagt, «das Geschmeide
aller Tugenden»,23 da sie auch und gerade im Ethischen immer für die jeweils größere
Möglichkeit des Seinkönnens sich entscheidet. Es ist ein (28) guter Gedanke, zu denken, daß auf
diese Weise alle große Tugend getragen ist von einem Strom, der die tapfere Unruhe unseres
natürlichen Hoffens in sich aufgenommen hat und bewahrt.
Die Demut, die der Hochgemutheit nur scheinbar widerstreitet,24 ist eine zwar nicht
vergessene, aber auf vielerlei Art mißdeutete und mißkannte Tugend. Demut ist – um das
gröbste Mißverständnis vorwegzunehmen – nicht nur nicht eine äußere Haltung, sondern sie ist
auch an keine äußere Haltung gebunden. Demut beruht auf einer inneren Entscheidung des
Willens.25 Demut ist zweitens nicht zuerst eine Beziehungshaltung im Miteinander von Mensch
zu Mensch: sie ist die Haltung des Menschen vor dem Angesicht Gottes.26 Demut ist die
Erkenntnis und die bejahende Anerkennung des unaussprechbaren Abstandes zwischen
Schöpfer und Geschöpf. Sie ist also in einem ganz präzisen Sinn «die dem Menschen
eigentümliche Würde vor Gott» (Gertrud von le Fort). Die Würde des Menschen als eines
geistbegabten Wesens liegt nämlich in nichts anderem als darin, seinsgerecht – das heißt: wahr –
zu erkennen und aus freier Entscheidung wirklichkeitsgemäß zu handeln.
Doch kehren wir zu unserem Gegenstand zurück: Demut und natürliche Hoffnung. Es ist das
(29) Amt der Demut, das negative Maß des triebhaft-natürlichen Hoffens zu sein. Die
Hochgemutheit weist dieses Hoffen in seine eigentlichen Möglichkeiten ein. Die Demut enthüllt,
im Blick auf den unendlichen Abstand des Menschen von Gott, das Begrenzte dieser
Möglichkeiten und bewahrt sie so gleichfalls vor Schein-Verwirklichungen und für die
eigentliche Verwirklichung. Aus dem Miteinander also von Hochgemutheit und Demut wird die
wesensgerechte Ordnung des natürlichen Hoffens geboren.
Darin gründet die Tatsache, daß diese beiden natürlichen Tugenden, Hochgemutheit und
Demut, die wesentlichsten Voraussetzungen sind für die Bewahrung und die Entfaltung der
übernatürlichen Hoffnung – soweit es dabei auf den Menschen ankommt. In ihnen repräsentiert
sich die äußerste Bereitetheit des natürlichen Menschen, den die Gnade «voraussetzt».
Anderseits: Aus zwei Wurzeln vor allem nährt sich der schuldhafte Verlust der
übernatürlichen Hoffnung: aus dem Mangel an Hochgemutheit und aus dem Mangel an Demut.
Davon wird noch die Rede sein.
Das übernatürliche Leben im Menschen ist dreiströmig: Im Glauben kommt die über alle
natürliche Erkenntnis hinausragende Wirklichkeit Gottes vor den Blick. Die Liebe bejaht, um
seiner selbst willen, das im Glauben verhüllt sichtbar gewordene (30) Höchste Gut. Die Hoffnung
ist die vertrauend auslangende Erwartung der Ewigen Glückseligkeit in der schauend-
umfangenden Teilhabe am dreifaltigen Leben Gottes; die Hoffnung erwartet das Ewige Leben,
das Gott selbst ist, aus Gottes eigener Hand, «sperat Deum a Deo».27
22 II, II, 129, 3 ad 4. 23 II, II, 129, 4 ad 3. 24 II, II, 129, 3 ad 4. 25 II, II, 161, 1 ad 2. 26 II, II, 161, 1 ad 5. 27 Cajetan, Kommentar zu II, II, 17, 5 (n. 7).
8
Das existentielle Zueinander dieser drei – Glaube, Hoffnung, Liebe – läßt sich
zusammengefaßt in drei Sätzen aussprechen:
Der erste Satz lautet: Glaube, Hoffnung und Liebe werden der menschlichen Natur als
übernatürliche Seinsneigungen (habitus) alle drei zugleich eingesenkt; zugleich mit der
Gnadenwirklichkeit, dem alleinigen Seinsgrund alles übernatürlichen Lebens. Der zweite Satz: In
der Ordnung der akthaften Entfaltung dieser übernatürlichen Seinshaltungen ist der Glaube
früher als Hoffnung und Liebe, und die Hoffnung ist früher als die Liebe.28 Und umgekehrt: in der
schuldhaften Unordnung der Auflösung geht zuerst die Liebe verloren, dann die Hoffnung, der
Glaube zuletzt.29 Und drittens: In der Rangordnung der Vollkommenheit hat die Liebe den ersten
Platz, der Glaube den letzten, die Hoffnung steht zwischen beiden.30 (31)
Es ist notwendig, das Verhältnis von Hoffnung und Liebe noch durch eine Unterscheidung
aufzuhellen, durch die Unterscheidung nämlich zwischen vollkommener Freundschafts-Liebe
(amor amicitae) und unvollkommener, «begehrender» Liebe (amor concupiscentiae), das heißt:
zwischen einer Liebe, die den Geliebten um seinetwillen liebt, und einer, die ihn um des
Liebenden willen liebt.
Die Tugend der Hoffnung ist erstlich mit der unvollkommenen Gottesliebe verbunden, die
das Höchste Gut um des Liebenden willen begehrt. Hoffen kann einer nämlich nur für sich selbst
(und für den Menschen, den er liebt, für das «andere Selbst»), das gehört zum Begriff und Wesen
der Hoffnung.31 Diese unvollkommene Liebe der Hoffnung aber – amour d‘espérance, sagt Franz
von Sales – ist der natürliche, nicht zu entwertende Vor-Raum der vollkommenen
Freundschaftsliebe (caritas), durch die Gott um seiner selbst willen bejaht wird. Und die
vollkommene Gottesliebe, welche theologische Tugend ist und zugleich die Mutter und Wurzel
aller christlichen Tugend, durchformt und erhöht rückflutend wiederum die Hoffnung.32 (32)
«So strömen die theologischen Tugenden in heiligem Ring in sich zurück: wer durch die
Hoffnung hineingeführt wurde in die Liebe, hat von nun an eine vollkommenere Hoffnung auch,
wie er jetzt gleichfalls kraftvoller glaubt als zuvor.»33
Es gehört zu den, wie es scheint, unausweichlichen Versuchungen zum Hochmut, durch die
gerade die starken Geister gefährdet werden: zu meinen, das erwartungsvoll auf sich selbst
bezogene Auslangen der «begehrenden» Gottesliebe – und damit die Hoffnung selbst –
entwerten zu dürfen zu einer des wahrhaft vollkommenen Christen unwürdigen,
«interessierten» «Tagelöhnerliebe» (als ob ein Mensch überhaupt «uninteressiert» sein könnte
an seiner eigenen Wesenserfüllung in Gott – nichts anderes aber ist «der Himmel»). Das Konzil
von Trient hat in dieser Sache entschieden: «Wer sagt die Gerechten sollten nicht […] von Gott
um seiner Barmherzigkeit und um des Verdienstes Jesu Christi willen den Ewigen Lohn
erwarten und erhoffen […]: der sei im Bann.»34 Zwei Jahrhunderte zuvor hatte Bonaventura in
28 I, II, 62, 4. 29 Spe 3 ad 11. 30 Virt. card 3. 31 Spe 3. 32 I, II, 62, 4. 33 Spe 3 ad 1. 34 Sessio VI, cap. 16, can. 26.
9
seinem Sentenzenkommentar geschrieben «Viele gibt es, die schauen aus nach der
Glückseligkeit und kümmern sich doch wenig um sich selbst und viel um Gott.»35 (33)
Es ist sehr schwer, die im Grunde unbegreifliche Tatsache im Blick zu behalten, daß die
Hoffnung als Tugend etwas schlechthin Übernatürliches ist. Wohl hat die eigenmenschliche Kraft
ihren Anteil an der Erringung des Erhofften, der Ewigen Glückseligkeit. «Aber: die seinshafte
Fähigkeit, zu hoffen, selbst (ipse habitus spei), kraft deren einer die Glückseligkeit erwartet,
stammt nicht aus Verdienst, sondern einzig aus der Gnade.»36 Paschasius Radbert, ein großer
fränkischer Theologe der Karolingerzeit, hat diesen Sachverhalt in seinem schönen Buche über
die theologischen Tugenden folgendermaßen ausgedrückt: «Durch die Hand der Hoffnung wird
Christus gehalten. Wir halten ihn und werden gehalten. Aber es ist etwas Größeres, daß wir von
Christus gehalten werden, als daß wir halten. Denn wir können ihn nur solange halten, als wir
von ihm gehalten werden.»37
Aus dem übernatürlichen Charakter der Hoffnung ergibt sich übrigens, daß man über diese
«eingegossene» Tugend anders sprechen und schreiben muß als etwa über die Tapferkeit oder
über die Gerechtigkeit. Was von einer Darstellung der «erworbenen» und also auch zu
erwerbenden Tugenden mit Fug erwartet werden mag, daß sie nämlich (34) zugleich ein Ansporn
sei, kann eine Schrift über die Hoffnung nur sehr mittelbar zuwegebringen wollen.
Die Verkörperung des übernatürlichen Lebens im Menschen ist, als Symbol und Ursprung
zugleich, der Mensch Christus, «in dem die Fülle der Gottheit wohnt». Er ist auch Verkörperung
unserer Hoffnung: «Christus in euch: die Hoffnung auf die Herrlichkeit» (Kol 1,27).
Christus ist die reale Begründung der Hoffnung. – In einem abgründigen Satz des
Hebräerbriefes wird gesprochen von der «Hoffnung, die wir besitzen wie einen sicheren und
starken Anker der Seele und die in das Innerste des verhüllten Heiligtums dringt, in das Christus
uns voraus eingetreten ist» (6,19). Thomas von Aquin sagt hierzu: «Christus ist für uns in das
Innere des Zeltes eingetreten und hat dort unsere Hoffnung festgemacht (fixit).»38
Christus ist zugleich auch die reale Erfüllung unserer Hoffnung. – Diese Tatsache findet sich
in großartiger Klarheit ausgesprochen in den Sätzen, durch die Augustinus das Schrift-Wort «spe
salvi facti sumus» – «auf Hoffnung hin sind wir gerettet» (Röm 8,24) – zu deuten unternimmt:
«Paulus hat also nicht gesagt ‹wir werden gerettet werden›, sondern ‹wir sind schon jetzt
gerettet›; jedoch noch (35) nicht in der Wirklichkeit (re), sondern in der Hoffnung; er sagt: ‹auf
Hoffnung hin sind wir gerettet›. Die Hoffnung ist uns in Christus, denn in ihm ist schon erfüllt,
was wir als Verheißung erhoffen.»39 «Noch sehen wir nicht, was wir hoffen. Aber wir sind der
Leib jenes Hauptes, in dem schon vollendet ist, was wir hoffen.»40
Diese seinsmäßige Gebundenheit unserer Hoffnung an Christus ist so sehr entscheidend,
daß keine Hoffnung hat, wer nicht in Christus ist (1 Thess 4,13).
Das Kompendium der Theologie, das Thomas nur zu einem Drittel vollendet zurückgelassen
hat, sollte die gesamte Heilslehre in drei nach den theologischen Tugenden benannten Teilen
35 3 d. 26, 1, 1 ad 5. 36 II, II, 17, 1 ad 2. 37 De fide, spe et caritate 2, 1. 38 In Hebr. 6, 4. 39 Contra Faustum 11, 7. 40 Sermones 157, 3.
10
darstellen. Der zweite, nur noch mit wenigen Kapiteln begonnene Teil Über die Hoffnung sollte
eine Erklärung des Vaterunser sein. «Wie uns unser Erlöser den Glauben gewirkt und vollendet
hat, so war es heilsam, daß er uns auch in die lebendige Hoffnung einführte, indem er uns das
Gebet lehrte, durch das unsere Hoffnung am meisten zu Gott hin aufgerichtet wird.»41
Gebet und Hoffnung sind einander wesenhaft zugeordnet. Das Gebet ist die Äußerung und
Kundgabe (36) der Hoffnung; es ist interpretativa spei,42 in ihm spricht die Hoffnung sich selbst
aus.
Und die Gebete der Kirche, in ihrem Hoffen «kühner als alle Gebirge der Denker», schließen
insgesamt: per Christum Dominum nostrum, durch Christus unsern Herrn. – Damit knüpft dieser
Gedanke sich an den vorigen.
Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf aufmerksam zu machen, daß die drei
vorangehenden Abschnitte durchaus die Mitte dieses Buches darstellen. Sie enthalten den Kern
der theologischen Lehre über die Tugend der Hoffnung. Dieser Kern ist die Aussage, daß es
Hoffnung als währende Seinserhöhung des Menschen nicht gibt, es sei denn: aus, durch und in
Christus.
Die Gewißheit, die der Hoffnung zukommt, ist, was Bonaventura im Sentenzenkommentar
mit einigem Nachdruck vermerkt, «schwer zu bestimmen».43
Einerseits nimmt die Hoffnung teil an der unbedingten Gewißheit des Glaubens,44 auf den
sie sich stützt: die Hoffnung gründet sich vor allem auf die göttliche Barmherzigkeit und
Allmacht, «durch die, auch wer die Gnade nicht hat, ihrer teilhaft werden kann, damit er so zum
Ewigen Leben gelange; Gewißheit über die Allmacht und (37) Barmherzigkeit Gottes aber hat ein
jeder, der den Glauben hat».45 Von hier aus, das ist: vom eigentlich gnadenhaften Seinskern der
übernatürlichen Hoffnung her gesehen, ergibt sich ihre unfehlbare Gewißheit.
Ungewiß aber ist, ob der Mensch von sich aus «in der Hoffnung bleibt». Der Mensch, auch
der «vollkommene Christ», kann, solange er im status viatoris ist, freien Willens durch die
Hinwendung zum Nichts das übernatürliche Leben in sich zerstören und damit auch die darin
wurzelnde Hoffnung auf das Ewige Leben. «Das sagt nichts gegen die Gewißheit der Hoffnung»;46
sehr viel aber sagt es gegen die Möglichkeit subjektiver Heilsgewißheit.
«Wenngleich alle auf die Hilfe Gottes die festeste Hoffnung setzen müssen, soll niemand sich
etwas absolut Sicheres versprechen. Denn Gott vollendet zwar das gute Werk, wie er es
begonnen hat, indem er das Wollen und das Vollbringen wirkt, wenn nur sie selbst, die
Menschen, sich nicht seiner Gnade entziehen. Und doch sollen, die zu stehen glauben, zusehen,
daß sie nicht fallen, und ihr Heil mit Furcht und Zittern wirken […] Sie müssen nämlich in Furcht
sein, wissend, daß sie in die Hoffnung (38) der Herrlichkeit, aber noch nicht in die Herrlichkeit
wiedergeboren sind.»47
41 Comp. theol. 2, 3. 42 II, II, 17, 4. 43 3 d. 26, 1, 5. 44 II, II, 18, 4. 45 II, II, 18, 4 ad 2. 46 II, II, 18, 4 ad 3. 47 Konzil von Trient, Sessio VI, cap. 13.
11
Nie könnte der natürliche Mensch, und wäre er noch so hochgemut, das Ewige Leben der
beseligenden Gottesschau erhoffen, ohne damit dem Hochmut zu verfallen (und also auch
aufzuhören, hochgemut zu sein). Und dennoch ist diese übernatürliche Wesenserfüllung, auf die
sich die theologische Tugend der Hoffnung richtet, in aller natürlichen Hoffnung verborgen
gemeint. Alle unsere natürlichen Hoffnungen spannen sich auf Erfüllungen, die wie undeutliche
Spiegelungen und Vor-Schatten, wie unbewußte Vorübungen des Ewigen Lebens sind.
Die Tugend der Hoffnung bringt, in einem bestimmten Sinne, rückwirkend Ordnung und
Richtung auch in das natürliche Hoffen des Menschen, das durch sie erst an ihr eigentliches und
letztes «Noch nicht» gebunden wird: «in der Hinordnung auf das Ewige Leben erhoffen wir von
Gott die Hilfe nicht nur geistiger, sondern auch leiblicher Wohltaten».48 Auf dem ahnbaren
Grunde dieses Satzes des heiligen Thomas (in dem ja nicht weniger gesagt ist als: daß wir auch
die natürlichen Güter des Lebens mit übernatürlicher, das heißt, unmittelbar gottgewirkter
Hoffnung zu umfangen (39) vermögen) zeichnen sich – schattenhaft zwar, aber dem ehrfürchtigen
Auge doch deutlich sichtbar – einige der tragenden Strukturen ab, nach denen die
übernatürliche Welt gebaut ist.
Die Selbstverständlichkeit, mit der eine sicher aus dem Glauben lebende Zeit die natürliche
Hoffnung mit der übernatürlichen verknüpfte, ist uns heute fast unzugänglich geworden. Es fällt
uns sehr schwer zu begreifen, mit welcher Unbefangenheit etwa Dante im Paradiso, im
fünfundzwanzigsten Gesang (dieser Gesang der Göttlichen Komödie entfaltet im Zwiegespräch
mit dem Apostel der Hoffnung, Jakobus, dem «Baron» des Himmelreiches, eine ganze Theologie
der übernatürlichen Hoffnung) – mit welcher Unbefangenheit, sagte ich, Dante entrückt in die
Sphären des «Fixsternhimmels», auch seiner irdischen Hoffnung auf eine ruhmvolle Rückkehr
nach Florenz freien Ausdruck gibt:
«Sollt je dem heiligen Lied es widerfahren,
Den Haß zu tilgen, der mir wehrt, zu liegen
Im schönen Pferche, drin ich schlief, ein Lämmlein:
Mit andrer Stimme dann, mit andrem Haare
Käm ich als Dichter heim, daß sich am Borne,
Wo ich getauft, die Stirn dem Lorbeer paare.»49 (40)
Die übernatürliche Hoffnung also, die nicht nur das erwartende Auslangen selbst, sondern
auch die lebendige Kraftquelle dieses Auslangens in sich schließt, vermag auch die natürlichen
Hoffnungskräfte in einem neuen Aufschwung zu verjüngen.
«Verjüngung» ist hier genau das richtige Wort. Jugendlichkeit und Hoffnung sind einander
in mehrfachem Sinne zugeordnet. Beide gehören, im natürlichen wie im übernatürlichen
Bereich, zusammen. Die Gestalt des Jünglings ist der ewige Symbolträger der Hoffnung, wie sie
auch der Symbolträger der Hochgemutheit ist.
Die natürliche Hoffnung entspringt der jugendlichen Kraft des Menschen und versiegt mit
ihr. «Jungsein ist die Ursache der Hoffnung. Die Jugend nämlich hat viel Zukunft und wenig
Vergangenheit.»50 So wird anderseits mit dem sinkenden Leben vor allem die Hoffnung müde;
das «Noch nicht» verkehrt sich in das Gewesene, und das Alter wendet sich, statt dem «Noch
nicht», erinnernd dem «Nicht mehr» zu. 48 Spe 1. 49 Paradiso 25, 1 – 9. 50 I, II, 40, 6.
12
Für die übernatürliche Hoffnung aber gilt das Umgekehrte: sie ist nicht nur nicht gebunden
an das natürliche Jungsein, sondern sie begründet gerade eine viel wesenhaftere Jugendlichkeit.
Sie schenkt dem Menschen ein «Noch nicht», das dem Sinken der natürlichen Hoffnungskräfte
schlechthin (41) überlegen und entrückt ist. Sie gibt dem Menschen so «viel Zukunft», daß die
Vergangenheit eines noch so langen und reichen Lebens dagegen als «wenig Vergangenheit»
erscheint. Die theologische Tugend der Hoffnung ist die Kraft des Auslangens nach einem «Noch
nicht», das um so unausmeßbarer sich weitet, je näher wir ihm sind.
Und die übernatürliche Spannkraft der Hoffnung strömt über und strahlt aus auch in die
Kräfte der natürlichen Hoffnung. Aus unzähligen Heiligenleben leuchtet dieser wahrhaft
erstaunliche Sachverhalt hervor. Verwunderlich ist nur, wie selten man die hinreißende
Jugendlichkeit unserer großen Heiligen, vor allem der in der Welt wirkenden, bauenden und
«gründenden» Heiligen, zu bemerken scheint. Kaum etwas anderes denn gerade diese
Jugendlichkeit der Heiligen spricht so aufrufend für die Tatsache, die doch den heutigen
Menschen besonders betroffen machen müßte: daß, im wörtlichsten Sinn der Worte, nichts so
sehr «ewige Jugend» verbürgt und begründet wie die theologische Tugend der Hoffnung. Sie
allein vermag dem Menschen zu unverlierbarem Besitz jenes Sichspannen mitzuteilen, das
gelöst ist und straff zugleich, jene Elastizität und Leichtigkeit, jene starkherzige Frische, jene
federnde Freudigkeit, jene gelassene Tapferkeit des Vertrauens, die den jugendlichen Menschen
unterscheidend auszeichnen und so liebenswert machen. (42)
Man denke nicht, hier sei nur dem «Zeitgeist» ein fatales Zugeständnis gemacht. Es gibt ein
Augustinus-Wort: «Gott ist jünger als alle.»51
Das Jungsein, das die übernatürliche Hoffnung dem Menschen gibt, prägt das menschliche
Wesen in einer viel tieferen Schicht als das natürliche Jungsein. Die übernatürlich begründete,
aber doch sehr sichtbar in das Natürliche sich auswirkende Jugendlichkeit des hoffenden
Christen lebt aus einer Wurzel, die in eine Zone des menschlichen Seins hinabdringt, welche die
natürlichen Hoffnungskräfte nicht erreichen. Die übernatürliche Jugendlichkeit nämlich strömt
aus der Teilhabe am Leben Gottes, der uns innerlicher und näher ist als wir selbst.
Darum ist die Jugendlichkeit des auf das Ewige Leben sich spannenden Menschen
wesentlich unzerstörbar. Sie ist dem Altern wie der Enttäuschung unerreichbar; sie bewährt sich
gerade im Vergehen der natürlichen Jugend und in den Versuchungen zur Verzweiflung. Paulus
sagt: «Wenn auch unser äußerer Mensch vergeht, der innere verjüngt sich von Tag zu Tag» (2
Kor 4,16). Kein Wort aber gibt es in der Heiligen Schrift und in der Menschensprache überhaupt,
das die aller Vernichtung standhaltende Jugend des hoffenden Menschen, durch einen Vorhang
von Tränen hindurch, so (43) triumphal laut werden läßt wie der Satz des Dulders Hiob: «Wenn
Er mich auch tötet, ich werde auf Ihn hoffen» (13,15).52
Diesem Satz ist dies ganze Buch über die Hoffnung deshalb unterstellt worden, weil es, wie
ich glaube, notwendig ist, daß eine Zeit, deren forcierter und sehr äußerlicher
Jungendlichkeitskult wahrscheinlich aus ihrer Verzweiflung entspringt, den äußersten Gipfel in
den Blick bekommt, bis zu dem hin das hoffende Jungsein des gotthingegebenen Menschen sich
aufzuschwingen vermag. Zugleich entzieht jenes Wort aus dem Buch Hiob einem Mißverständnis
den Boden, das in einer katastrophischen Zeit buchstäblich lebensgefährlich ist. Es ist das
Mißverständnis, als könnte die Durchformbarkeit der natürlichen Hoffnung durch die
51 De genesi ad litteram VIII, 26, 48. 52 Dieser Text entspricht der lateinischen Vulgata, aber nicht dem hebräischen Urtext.
13
übernatürliche auch von unten her (statt von oben) verstanden werden; mit anderen Worten, als
müsse die Erfüllung der übernatürlichen Hoffnung ihren Weg nehmen über die Erfüllung der
natürlichen Hoffnungen. Und es mag gut sein, wenn eine Christenheit, die in einer Epoche der
Versuchungen zur Verzweiflung die Feldzeichen der Hoffnung auf das Ewige Leben
hochzuhalten sich müht, ihrer «jungen Generation» den Satz des Hiob früh genug zu lesen und,
vor allem, zu verstehen gibt. (44)
Den Schluß dieses Kapitels jedoch sollen die Verse bilden, die ihrerseits im Buche Jesaias,
dem Hoffnungs- und Trostbuche Israels, das ruhmreiche Kapitel von der Heilsbotschaft, das
vierzigste, beschließen (das mit dem adventlichen Consolamini beginnt: «O tröstet, tröstet doch
mein Volk»). Diese Verse aber – die deutschen Mystiker würden sie eine «jubilus» genannt haben
– lauten folgendermaßen: «Die auf den Herrn hoffen, werden eine neue Tapferkeit gewinnen. Es
werden ihnen Schwingen wachsen gleich den Adlern. Sie werden laufen: unangestrengt. Sie
werden wandern: unermüdbar» (Jes 40,31). (45)
III.
DIE VORWEGNAHME DER NICHT-ERFÜLLUNG
Es gibt zwei Formen der Hoffnungslosigkeit. Die eine ist Verzweiflung, die andere die
praesumptio. Praesumptio wird gewöhnlich durch «Vermessenheit» übersetzt, obwohl die
Verdeutschung durch «Vorwegnahme» nicht nur wortgemäßer ist, sondern auch den Sinn sehr
genau trifft. Die praesumptio ist die seinswidrige Vorwegnahme der Erfüllung. Auch die
Verzweiflung ist Vorwegnahme. Sie ist die seinswidrige Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung:
«Verzweifeln heißt in die Hölle hinabsteigen.»53
Die Benennung der Verzweiflung und der Vermessenheit als «Vorwegnahme» offenbart den
Sachverhalt, daß beide den Weg-Charakter des menschlichen Daseins im status viatoris
zerstören. Beide heben das echte Werden auf. Das «Noch nicht» wird wirklichkeitswidrig
umgedeutet entweder in das «Nicht» oder in das «Schon» der Erfüllung. In der Verzweiflung wie
in der Vermessenheit erstarrt und gefriert das eigentlich Menschliche, das die Hoffnung allein in
strömender Gelöstheit zu bewahren vermag. Beide Formen der Hoffnungslosigkeit sind im
eigentlichen Sinne unmenschlich und tödlich. «Diese beiden Dinge töten die Seele: die
Verzweiflung und die verkehrte Hoffnung», sagt Augustinus.54 Und Ambrosius: (49) «Der scheint
überhaupt kein Mensch zu sein, der nicht auf Gott hofft.»55
Wenn wir heute Verzweiflung sagen, dann denken wir meist an einen seelischen Zustand, in
den man, fast wider den eigenen Willen, «gerät». Hier aber ist unter Verzweiflung eine
willentliche Entscheidung verstanden. Nicht eine Stimmung, sondern ein geistiger Akt. Also nicht
etwas, in das man gerät, sondern etwas, das man setzt.
Die Verzweiflung, von der hier gesprochen werden soll, ist Sünde. Und zwar eine Sünde, die
durch das Merkmal einer besonderen Nachdrücklichkeit und einer gesteigerten Aktivität im
Bösen ausgezeichnet ist.
53 Isidor von Sevilla, De summo bono 2, 14; zitiert in II, II, 20, 3. 54 Sermones 87, 8. 55 De Isaac et anima 1, 1.
14
Die Hoffnung sagt: es wird gut ausgehen; näherhin und eigentlicher: es wird gut ausgehen
mit dem Menschen; noch eigentlicher: es wird gut ausgehen mit uns selbst und mit mir selbst.
Diesen Eigentlichkeitsgraden der Hoffnung entsprechen die der Verzweiflung. Die eigentlichste
Form der Verzweiflung besagt: es wird schlecht enden mit uns und mit mir selbst.
Dabei ist es wesentlich für die Hoffnung wie für die Verzweiflung, daß jene Sätze nicht nur
«theologisch» gemeint werden. Der Hoffende wie der Verzweifelnde steht mit seinem Wollen zu
ihnen, und er läßt sie sein Tun bestimmen. (50)
Hoffnung und Verzweiflung können je verschiedene Grade des Tiefgangs besitzen.
Oberhalb einer Hoffnung, die in der innersten Seinstiefe der Seele wurzelt, kann es, näher
der Oberfläche sozusagen, mancherlei Verzweiflungen geben. Aber sie berühren die tiefere
Hoffnung nicht, und sie haben keine endgültige Bedeutung. Anderseits: ein im letzten Grunde
verzweifelter Mensch kann in den vorletzten Seinsbereichen etwa des Natürlich-Kulturellen
durchaus als «Optimist» erscheinen – anderen und sich selbst –, falls er nur die innerste Kammer
der Verzweiflung radikal abzudichten versteht, so daß kein Schmerzenslaut nach außen dringen
kann. Und es spricht vieles dafür, daß der zeitgenössische Weltmensch es darin zu einer
wahrhaften Virtuosität gebracht hat.
Die tiefste und eigentliche Tiefe der Hoffnung aber ist dem Menschen erschlossen worden
durch das Ur-Geschehnis der Erlösung. Und auch die Möglichkeit der Verzweiflung ist durch
dieses Geschehnis noch um einen Abgrund dunkler geworden. Niemals kann der natürliche
Mensch mit solcher Sieghaftigkeit wie der Christ sagen: es wird gut enden mit mir selbst. Und
nie kann die Hoffnung des natürlichen Menschen ein solches «Ende» erhoffen wie die des
Christen. Niemals aber auch konnte ein Heide zu so tiefer Verzweiflung versucht werden wie der
Christ und, so scheint es, gerade die großen Christen und die Heiligen. Denn (51) der gleiche Blitz,
der uns die übernatürliche Gnadenwirklichkeit sichtbar macht, erhellt auch den Abgrund
geschöpflicher Gottesferne und Schuld.
Es macht also einen großen Unterschied, ob es ein Christ ist oder ein Heide, der da sagt: es
wird schlecht enden mit dem Menschen, mit uns, mit mir selbst.
Der Christ, der am Ewigen Leben verzweifelt, hebt nicht nur den Weg-Charakter seiner
natürlichen Existenz auf, sondern er verneint den in personhafter Gestalt erschienenen, realen
«Weg» zur Ewigen Glückseligkeit und Erfüllung: Christus selbst. «Der Verzweiflung fehlt der
Fuß, auszuschreiten auf dem Wege, welcher Christus ist», heißt es bei Paschasius Radbert.56
(Wie wenig hat doch die Primitivität der zugrundeliegenden Worterklärung – spes-Hoffnung
hänge zusammen mit pes-Fuß – diese großartige Formulierung der Wahrheit verhindern oder
beinträchtigen können!) Die Verzweiflung also des Christen ist eine Entscheidung gegen
Christus. Sie ist eine Negation der Erlösung.
In der Verzweiflung tritt in besonderer Offenkundigkeit das Wesen der Sünde überhaupt
hervor: der Wirklichkeit zu widersprechen. Die Verzweiflung ist ja die Leugnung des Weges zur
Erfüllung (52) – im Angesichte dessen, der gerade schlechthin «der Weg» zum Ewigen Leben ist.
Es scheint mir nicht zufällig zu sein, daß Thomas von Aquin gerade in dem Artikel «Ob die
Verzweiflung eine Sünde sei» jene allgemeine Charakteristik der Sünde (daß sie der Realität
widerstreitet) ausdrücklich als Fundament der Darlegung an den Anfang setzt: «Jede
56 De fide, spe et caritate 2, 4.
15
Willensbewegung, die einer wahren Einsicht gemäß ist, ist in sich gut; jede Willensbewegung
aber, die einem falschen Urteil entspricht, ist in sich böse und Sünde.»57 Und anderswo heißt es:
«Wenn wirklich die Sünde nicht könnte vergeben werden, dann wäre es keine Sünde, an der
Sündenvergebung zu verzweifeln.»58
Die Verzweiflung ist die eigentliche Seinsverfassung der Verdammten. Und die Verzweiflung
des Menschen im status viatoris ist, wie schon gesagt wurde, eine Art Vorwegnahme der
Verdammung.
Der Schmerz der Verzweiflung liegt darin, daß sie den Weg zu einer Erfüllung verneint, auf
welche die Natur des Verzweifelnden dennoch angelegt bleibt. Die Verzweiflung setzt, nicht
anders als die Hoffnung, eine Sehnsucht voraus. «Wonach wir keine Sehnsucht haben, das kann
weder Gegenstand (53) unserer Hoffnung sein noch unserer Verzweiflung.»59
Verzweiflung ist Selbstwiderspruch, Selbstzerreißung (das «zwei» in dem Wort hat seinen
Sinn). In der Verzweiflung verneint der Mensch im Grunde seine eigene Sehnsucht, die
unzerstörbar ist wie er selbst.
Die Verzweiflung ist nicht die objektiv schwerste Sünde. Aber sie ist die gefährlichste von
allen.60 Sie bedroht die sittliche Existenz des Menschen; denn die Selbstverwirklichung des
Menschen ist gebunden an die Hoffnung. «Nicht so sehr die Sünde stürzt uns ins Unheil als
vielmehr die Verzweiflung», sagt Chrysostomus in seinem Kommentar zum Matthäus-
Evangelium.61
Seit dem Meister der Sentenzen, Petrus Lombardus, zählt die Theologie der Kirche die
Verzweiflung zu den Sünden wider den Heiligen Geist. Dadurch rückt die Verzweiflung in die
Nähe des dunklen Geheimnisses, das in dem Worte des Herrn ausgesprochen ist: «Wer wider
den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser noch in der
zukünftigen Welt» (Mt 12,32). Ich sagte mit Überlegung nicht mehr, als daß die Verzweiflung in
die Nähe dieses Geheimnisses rückt. Der heilige Thomas bezieht jenes (54) Herren-Wort einzig
auf den beharrlichen, blasphemischen Widerstand gegen die Gnade, während er von der
Verzweiflung nur sagt: es sei schwer, daß sie Vergebung finde.62 Schwer aber ist es deswegen,
weil die Verzweiflung gerade die Verneinung des Weges zur Sündenvergebung in sich schließt,
weil sie «eine Tür zuschlägt» (so wiederum die bildkräftige Franken-Sprache des Paschasius
Radbert63).
«Es ist die Regel, daß man im Guten wie im Bösen vom Unvollkommenen zum
Vollkommenen voranschreitet.»64 Eine so «vollkommene» Sünde wie die Verzweiflung ist
normalerweise nicht als Erstes und nicht auf ein Mal da.
Der Anfang und die Wurzel der Verzweiflung aber ist die acedia, die «Trägheit».
57 II, II, 20, 1. 58 Mal. 3, 15. 59 I, II, 40, 4 ad 3. 60 II, II, 20, 3. 61 86, 4. 62 Mal. 3, 15. 63 De fide, spe et caritate 2, 6. 64 II, II, 14, 4 ad 1.
16
Es gibt kaum einen ethischen Begriff, der im Bewußtsein des Durchschnitts-Christen so
aufweisbar «verbürgerlicht» worden wäre wie der Begriff der acedia. Einen Teil der Schuld trägt
allerdings die Verdeutschung durch «Trägheit», die zwar dem unmittelbaren Wortsinn des
griechischen akedia einigermaßen entspricht, aber den eigentlichen begrifflichen Inhalt nur
unvollkommen und unvollständig darstellt.
Die landläufig gewordenen Vorstellung von der «Haupt-Sünde» der Trägheit kreist um das
Sprichwort (55) «Müßigang ist aller Laster Anfang». Trägheit ist nach dieser Meinung das
Gegenteil von Fleiß und Arbeitsamkeit; sie gilt fast als Synonym für Faulheit und Unfleiß. Auf
diese Weise ist die acedia nahezu ein Begriff des bürgerlichen Erwerbslebens geworden. Die
Tatsache, daß sie zu den sieben «Haupt-Sünden» gezählt wird, erscheint dabei sozusagen als
religiöse Sanktion und Bestätigung für die Mußelosigkeit der modernen Arbeitsgesellschaft.
Das ist nun nicht bloß eine Verflachung und Entleerung des ursprünglichen
moraltheologischen Begriffes der Sünde acedia, sondern geradezu seine Umkehrung.
Nach der klassischen Theologie der Kirche ist die acedia eine Art von Traurigkeit (species
tristitiae65), und zwar eine Traurigkeit angesichts des göttlichen Gutes im Menschen. Dies
Traurigsein wegen der gottgewirkten Erhöhung des menschlichen Seins lähmt, beschwert,
entmutigt; das Moment der eigentlichen «Trägheit» ist also erst etwas Zweites.
Den Gegensatz zur acedia bilden nicht Arbeitsamkeit und Fleiß, sondern die Hochgemutheit
und jene Freude, die eine Frucht der übernatürlichen Gottesliebe ist. Acedia und bürgerlicher
Fleiß können nicht nur sehr gut miteinander bestehen, (56) sondern: das sinnwidrig übersteigerte
Arbeitspathos unserer Zeit ist geradezu zurückführbar auf die acedia, die ein Grundzug im
geistigen Gesicht eben dieser Zeit ist. (Die unsinnige Parole «Arbeiten und nicht verzweifeln»
enthält einige Aufschlüsse über diesen Zusammenhang.) Die Trägheit, die der Begriff der acedia
meint, widerspricht so wenig dem «Arbeiten» im bürgerlichen Sinne, daß Thomas sagen kann,
die acedia sei just eine Sünde gegen das dritte der Zehn Gebote, in welchem dem Menschen die
«Ruhe des Geistes in Gott» aufgetragen sei.66 Echte Ruhe und Muße ist nur möglich unter der
Voraussetzung, daß der Mensch seinem eigentlichen und wahren Sein zustimmt.
Die klassische Theologie der Kirche versteht unter acedia die «tristitia saeculi»,67 jene
«Traurigkeit der Welt», von der Paulus im zweiten Korintherbrief (7,10) sagt, daß sie «den Tod
wirkt».
Diese Traurigkeit ist ein Mangel an Hochgemutheit; sie will sich das Große nicht zumuten,
das der Natur des Christen gemäß ist. Sie ist eine Art von angsthaftem Schwindelgefühl, das den
Menschen befällt, wenn er der Höhe inne wird, zu der ihn Gott erhoben hat. Der in der acedia
befangene Mensch hat weder den Mut noch den Willen, so groß zu sein, wie er wirklich ist. Er
möchte lieber (57) weniger groß sein, um sich so der Verpflichtung der Größe zu entziehen. Die
acedia ist eine pervertierte Demut; sie will die übernatürlichen Güter nicht annehmen, weil sie
ihrem Wesen nach verbunden sind mit einem Anspruch an den Empfänger. – In der vital-
seelischen Sphäre von Gesund und Krank gibt es etwas Ähnliches. Die Psychiatrie macht häufig
die Erfahrung, daß ein Neurotiker zwar in einem oberflächlichen Sinne den Willen hat, gesund
zu werden, daß er aber in Wahrheit nichts mehr fürchtet als den Anspruch, der natürlicherweise
an einen gesunden Menschen gestellt wird. 65 I, II, 35, 8; II, II, 35; Mal. 11; Ver. 26, 4 ad 6. 66 II, II, 35, 3 ad 1; Mal. 11, 3 ad 2. 67 Mal. 11, 3.
17
Die acedia ist, je mehr sie aus dem Bezirk des Affekts in den der geistigen Entscheidung sich
hebt, eine bewußte Abkehr, eine eigentliche Flucht vor Gott. Der Mensch flieht vor Gott, weil Er
den Menschen zu einem höheren, göttlichen Sein emporgestaltet und ihn also an einen höheren
Maßstab des Sollens gebunden hat. Die acedia ist schließlich geradezu eine «detestatio boni
divini»,68 was die Ungeheuerlichkeit bedeutet, daß der Mensch überlegt und ausdrücklich den
Wunsch hat, Gott möchte ihn nicht erhöht, sondern «in Ruhe gelassen» haben.69
Die Trägheit als Haupt-Sünde ist der freudlose und verdrießliche, borniert selbstsüchtige
Verzicht (58) des Menschen auf den verpflichtenden Adel der Gotteskindschaft. Diese
Gotteskindschaft ist aber – als reale Möglichkeit und Notwendigkeit – wiederum eine
unwiderrufliche Tatsache, an der niemand etwas ändern kann. Und da diese unwiderrufliche
Tatsache, die ja nicht verglichen werden kann mit dem von außen kommenden Angebot
irgendeines Geschenkes, nichts anderes ist als die in den innersten Seinskern des Menschen
eingreifende Neugestaltung seines ganzen Wesens – darum besagt die acedia letztlich: daß der
Mensch nicht das sein will, als was Gott ihn will, und das heißt: daß er nicht sein will, was er
wirklich ist.
Die acedia ist das, was Kierkegaard in seinem Buche über die Verzweiflung (Die Krankheit
zum Tode) die «Verzweiflung der Schwachheit» genannt hat, die eine Vorstufe der eigentlichen
Verzweiflung sei und die darin bestehe, daß einer «verzweifelt nicht er selbst sein will».
Die Verzweiflung ist nicht die einzige, wenn auch die legitimste Tochter der acedia. Thomas
hat die filiae acediae, die Gefährten und Mitgeborenen der Verzweiflung, wie zu einem
dämonischen Sternbild zusammengefaßt.70 Es lohnt sich, einen Augenblick die Aufmerksamkeit
darauf zu richten. Denn, da ja dieser Zusammenhang nicht zufällig, sondern in der Tatsache des
gemeinsamen Ursprungs (59) begründet ist, fällt von der Erkenntnis jener Versippung her auch
ein klärendes Licht auf die Wesensart der Verzweiflung.
Außer der Verzweiflung gebiert die acedia erstlich die schweifende Unruhe des Geistes, die
evagatio mentis: «Kein Mensch vermag in der Traurigkeit zu bleiben»;71 da es aber just sein
selbsteigenes Sein ist, was den der acedia verfallenen Menschen traurig macht, so kommt es, daß
dieser Mensch aus der Ruhe der eigenen Wesensmitte auszubrechen sich müht.
Die evagatio mentis hinwiederum tut sich kund im Wortreichtum des Geredes (verbositas),
in der Unersättlichkeit der Neugier (curiositas), in der ehrfurchtslosen Unbändigkeit, «sich aus
der Burg des Geistes heraus in das Vielerlei zu ergießen» (importunitas), in der innersten
Rastlosigkeit (inquietudo), in der Unstetheit des Ortes wie des Entschlusses (instabilitas loci vel
propositi).72 – Eine Zwischenbemerkung: Alle diese der «schweifenden Unruhe des Geistes»
zugeordneten Begriffe kehren wieder in der Heideggerschen, freilich nicht zur religiösen
Bedeutung der acedia hinabdringenden Analyse des «alltäglichen Daseins»: «Flucht des Daseins
vor ihm selbst», «Gerede», «Neugier» als Besorgtheit um die «Möglichkeiten des Sichüberlassens
an die Welt», «Unverweilen», «Zerstreuung», «Aufenthaltslosigkeit».
Der evagatio mentis und der Verzweiflung folgt die dritte Tochter der acedia, die stumpfe
Gleichgültigkeit (torpor) gegen das, was zum Heile des Menschen in Wahrheit notwendig ist; sie
68 Mal. 8, 1. 69 II, II, 35, 3. 70 Mal. 11, 4; II, II, 35, 4 ad 2. 71 Mal. 11, 4. 72 II, I, 35, 4 ad 3.
18
ist einer inneren Notwendigkeit zufolge an die traurig-träge Verneinung des «höheren Selbst»
gebunden. Die vierte Tochter: die Kleinmütigkeit (pusillanimitas) im Angesicht vor allem der
mystischen Möglichkeiten des Menschen. Fünftens: die gereizte Auflehnung (rancor) gegen alle,
deren Amt es ist, dafür zu sorgen, daß das wahre Selbst des Menschen nicht der Vergessenheit,
der «Selbst-Vergessenheit», verfällt. Und endlich: die eigentliche, aus dem Haß gegen das
Göttliche im Menschen geborene Bosheit (malitia), die bewußte innere Wahl-Entscheidung für
das Böse als Böses.73
Wir sagten, die träge Traurigkeit der acedia sei einer der bestimmenden Züge im geheimen
Gesicht unserer Zeit, derselben Zeit, die das Richtbild der «totalen Arbeitswelt» proklamiert hat.
Diese Trägheit bestimmt – als Sichtmal der Säkularisation – das Gesicht einer jeden Zeit, in der
die Berufung zu den eigentlich christlichen Aufgaben die öffentliche Verbindlichkeit zu verlieren
beginnt. Die acedia ist die Signatur einer jeden Zeit, die (61) verzweifelt den verpflichtenden
Seins-Adel der Christlichkeit abzuschütteln und also verzweifelt ihr wahres Selbst zu verleugnen
sucht.
Ist nicht schon jene bloße Aufzählung der «Töchter der Trägheit», der Geschwister und
Mitgeborenen der Verzweiflung, eine geradezu erstaunliche Bestätigung dieser Diagnose? Liest
man sie nicht wie mit der beschämten Ärgerlichkeit eines Menschen, der auf ungeraden Wegen
überrascht wird? Sieht nicht diese unsere Zeit alle jene Früchte der verzweifelnden Traurigkeit
reif werden?
Diese Dinge sind hier nicht gesagt um des müßigen und übrigens sehr billig gewordenen
Vergnügens willen, den Schwächen unserer Zeit auf die Spur zu kommen. Sondern: Die
Versuchungen zur acedia und zur Verzweiflung gehören nicht zu jenen anderen, die man
abgewandten Auges flieht, damit sie ihre Macht verlieren. Die Versuchung zur acedia und zur
Verzweiflung wird überwunden einzig durch den wachen Widerstand des aufmerksam
eindringenden Blickes.74 Nicht durch «Arbeiten» vernichtet man die Verzweiflung (höchstens
das Bewußtsein von ihr), sondern allein durch die klarsichtige Hochgemutheit, die sich das
Große des selbsteigenen Daseins zutraut und zumutet, und (62) durch den begnadeten
Aufschwung der Hoffnung auf das Ewige Leben.
Die Wurzel und der Anfang der Verzweiflung ist die träge Traurigkeit der acedia. Ihre
«Vollendung» aber ist begleitet vom Hochmut. Die Theologie hat oft genug diese Beziehung
zwischen Hochmut und Verzweiflung aufgewiesen.
Kommt der anfänglich «aus Schwachheit» verzweifelnde Mensch «zum Bewußtsein dessen,
weshalb er nicht er selbst sein will, dann schlägt es um, dann ist der Trotz da».75
Der Hochmut aber ist der geheime Kanal, der die beiden einander dialektisch
entgegengesetzten Formen der Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung mit der Vermessenheit,
verbindet. Auf der Scheitelhöhe der Verzweiflung grenzt die selbstzerstörerische und
seinswidrige Verneinung der Erfüllung an die äußerste Verwirklichung des nicht minder
zerstörerischen Wahns der Vermessenheit, die Nicht-Erfüllung zu bejahen, als wäre sie die
Erfüllung. (63)
73 Mal. 3, 14 ad 8. 74 II, II, 35, 1 ad 4. 75 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Hamburg 1962, S. 62 (Übers. L. Richter, Kierkegaard, Werke IV).
19
IV.
DIE VORWEGNAHME DER ERFÜLLUNG
Indem die übernatürliche Hoffnung dem Menschen die neue «Zukunft» eines schlechthin
unaufzehrbaren «Noch nicht» einpflanzt, begründet sie eine neue Jugendlichkeit, die nur
zugleich mit der Hoffnung selbst zerstört werden kann. In den beiden Formen der
Hoffnungslosigkeit, in der Verzweiflung wie in der Vermessenheit, wird diese Jugendlichkeit des
hoffenden Menschen gleichermaßen zunichte, aber auf verschiedene Weise: in der Verzweiflung
auf die Weise der Vergreisung, in der Vermessenheit auf die Weise der Infantilität.
Die «Infantilität» der Vermessenheit liegt darin, daß die Erfüllung seinswidrig
vorweggenommen wird. Das hoffende Sich-Spannen löst und entläßt sich, noch mitten auf dem
«Wege», in die ruhende Sicherheit des Habens, weil das in Wirklichkeit noch zukünftige und
«steile» Ziel dem Menschen als schon erreicht erscheint.
Die Vermessenheit ist im übrigen der Hoffnung in geringerem Maße entgegen als die
Verzweiflung. Diese ist das eigentliche Gegenbild der Hoffnung, jene ist ihre falsa similitudo,76
ihre unechte Nachbildung. Ebenso hat ja auch die Infantilität eine falsche, «imitierende»
Ähnlichkeit mit echtem Jungsein, während die Vergreisung sein eigentliches Gegenteil ist. (67)
Die Vermessenheit, die der theologischen Tugend der Hoffnung entgegengesetzt ist, ist eine
verkehrte Haltung des Menschen gegenüber der Tatsache, daß das Ewige Leben das Sinn-Ziel
unseres irdischen «Weges» ist.
Nicht also ist hier von jener anderen Vermessenheit die Rede, die sich im Bereich der
natürlichen Kräfte und Ziele übernimmt. Thomas hat auch ihr in seiner Summa – über hundert
Quästionen entfernt von der Stelle, an der wir uns jetzt befinden – zwei Artikel gewidmet.77
Die Vermessenheit ist jene Geisteshaltung, die der Realität der Zukünftigkeit und «Steilheit»
des Ewigen Lebens widerstreitet. Diese beiden Merkmale – Zukünftigkeit und «Steilheit» –
konstituieren, zugleich mit dem Merkmal der Realisierbarkeit, das formale Wesen des Erhofften
als Erhofften.78 Wenn eines dieser Merkmale nicht gesehen wird oder verschwindet, dann ist
auch Hoffnung nicht mehr möglich. Die Vermessenheit also entwirklicht die übernatürliche
Hoffnung, indem sie verkennt und nicht anerkennt, daß das irdische Dasein des status viatoris im
präzisen und eigentlichen Sinn der «Weg» zur endgültigen Erfüllung ist; indem sie das Ewige
Leben als etwas «im Grunde» (68) schon Erreichtes, als etwas «im Prinzip» bereits Gegebenes
ansieht.
Das Wirklichkeitswidrige dieser Vorwegnahme bringen die deutschen Worte «Ver-
messenheit», «sich ver-messen» besonders klar zum Ausdruck. Der Mitklang des «Titanischen»
und des «Himmelstürmenden» aber, der in diesen Worten mitschwingt, kann anderseits leicht
die Sicht auf den wahren Seinskern der Vermessenheit, als einer Sünde wider die Hoffnung,
verbauen und zudecken.
76 II, II, 21, 3. 77 II, II, 130. 78 I, II, 40, 1.
20
Kern und Wesen der Vermessenheit nämlich ist, wie Augustinus sagt, die perversa
securitas,79 die Selbsttäuschung seinswidriger Sicherheit. In dem scheinbar «Übermenschlichen»
der Vorwegnahme der Erfüllung ist also letztlich nichts anderes wirksam als das Nachgeben an
die nicht gerade «heroische», wenn auch keineswegs verächtliche, Schwerkraft des
menschlichen Sicherheitsbedürfnisses. In der Sünde der Vermessenheit überschlägt sich der
kreatürliche Sicherungswille, indem er die Grenze des Wirklichkeitsgemäßen überschreitet. Es
ist wichtig, dies Eigentliche der Vermessenheit im Blick zu behalten.
In doppelter Grundgestalt kann Vermessenheit sich verwirklichen, je nach den beiden
einander entgegengesetzten Scheingründen, aus denen sie ihre ungemäße Selbstberuhigung
herleitet.80 (69)
Die erste Form, von der Theologie «pelagianische» Vermessenheit genannt, ist bezeichnet
durch die mehr oder weniger ausdrückliche These: es genüge die Eigenkraft der menschlichen
Natur, das Ewige Leben und die Vergebung der Sünden zu erringen. Ihr zugeordnet ist der dem
eigentlich Dogmatischen ebenso wie der sakramentlichen Wirklichkeit der Kirche
verständnislos abgeneigte, typisch liberal-bürgerliche Moralismus: ein «anständiger» und
«ordentlicher» Mensch, der «seine Pflicht tue», werde – einzig auf Grund seiner persönlichen
sittlichen «Leistung» – auch «vor Gott bestehen».
Zwischen dieser ersten Grundform der Vermessenheit und der zweiten liegt jene
pseudoreligiöse Geschäftigkeit, die aus tausend «Übungen» sich einen absolut gültigen,
sozusagen gegen Gott selbst vertretbaren Rechtsanspruch auf das Himmelreich konstruieren zu
können meint.
Die zweite Form der Vermessenheit, bei welcher jedoch der Grundcharakter der
vorwegnehmenden Sicherung nicht so am Tage liegt, gründet in der Häresie von der
Alleinwirksamkeit des erlösenden und begnadenden Gottes. Durch die Lehre von der einzig auf
das Verdienst Christi schauenden, absoluten Heilsgewißheit zerstört diese Häresie den echten
Wegcharakter der christlichen Existenz, indem sie den einzelnen Christen der Tatsache des
«eigentlich» schon erreichten Zieles (70) für sich selbst ebenso unbedingt gewiß sein läßt wie der
Offenbarungstatsache der Erlösung insgesamt. Es ist schon oft bemerkt worden, wie nah –
logisch und psychologisch – diese zweite Grundform der Vermessenheit an die Verzweiflung
grenzt und anderseits an die moralische Hemmungslosigkeit jenes «vermessentlichen
Vertrauens auf Gottes Barmherzigkeit», das die Theologie zugleich mit der Verzweiflung zu den
«Sünden wider den Heiligen Geist» zählt.
Die Vermessenheit wurzelt in einer falschen, vom eigenen Willen bejahten
Selbsteinschätzung des Menschen: sie besteht in dem Willen zu einer Sicherheit, die notwendig
unecht ist, weil es für sie in Wirklichkeit keinen gültigen Grund gibt. Diese falsche
Selbsteinschätzung ist näherhin: Mangel an Demut, Verneinung der realen Geschöpflichkeit und
seinswidrige Beanspruchung der Gottähnlichkeit.81
Hoffnung setzt nicht nur Hochgemutheit voraus, sondern auch Demut. Augustinus sagt in
seinem Psalmen-Kommentar: nur den Demütigen sei es gegeben, zu hoffen.82
79 Sermones 87, 8. 80 II, II, 21, 4. 81 II, II, 21, 4; Mal. 8, 2. 82 Enarratio in Psalmis 118, 15, 2.
21
Verzweiflung und Vermessenheit versperren den Zugang zum echten Gebet. Das Gebet
nämlich ist – in seiner Ur-Form des Bittgebets – nichts anderes als das Sprechen eines
Hoffenden. (71)
Der Verzweifelnde bittet nicht, weil er die Nicht-Erfüllung vorwegnimmt. Der Vermessene
bittet, weil er die Erfüllung vorwegnimmt, nur scheinbar.
Von hier aus fällt ein neues Licht auf den Satz der Heiligen Schrift, «daß man allzeit beten
müsse, ohne nachzulassen» (Lk 18,1): ausgesprochen ist in ihm die immerwährende
Notwendigkeit der Hoffnung, die demütig genug ist, wirklich zu bitten, und zugleich hochgemut
genug, die Erfüllung mitwirkend zu erwarten.
Die «Antithese» von göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Barmherzigkeit ist in der
theologischen Hoffnung sozusagen «aufgehoben», nicht so sehr «theoretisch» als vielmehr
existentiell: die übernatürliche Hoffnung ist die gemäße existentielle Antwort des Menschen auf
die Tatsache der Identität dieser, geschöpflich betrachtet, gegensätzlichen «Eigenschaften»
Gottes. Wer nur die Gerechtigkeit Gottes im Blick hat, vermag so wenig zu hoffen wie wer einzig
seine Barmherzigkeit sieht: beide verfallen der Hoffnungslosigkeit, der eine der Verzweiflung,
der andere der Vermessenheit. Die Hoffnung allein wird der alle Gegensätze übergreifenden
Wirklichkeit Gottes gerecht, dessen Barmherzigkeit seine Gerechtigkeit und dessen
Gerechtigkeit seine Barmherzigkeit ist.
Die Vermessenheit aber ist die geringere Sünde, die Verzweiflung die größere: «Wegen
seiner unendlichen (72) Gutheit ist es Gott eher eigen, zu schonen und sich zu erbarmen, als zu
strafen. Denn jenes kommt ihm zu kraft seines eigenen Wesens, dieses aber erst unserer Sünden
wegen.»83 Mit andern Worten: Die Vorwegnahme der Erfüllung widerspricht der wirklichen
Existenz-Situation des Menschen nicht so radikal wie die Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung. Die
unechte Sicherheit der Vermessenheit ist weniger seinswidrig als die Verzweiflung.
Gleichwohl bleibt bestehen: die Vermessenheit ist Sünde im eigentlichen und strengen Sinn;
ja, sie ist, in ihrer äußersten Verwirklichung, Sünde wider den Heiligen Geist.
Jene letzte Existenz-Unsicherheit, deren Wurzel die im status viatoris nicht aufhebbare
Möglichkeit des willentlichen Abfalls ist, begleitet unausweichlich das Dasein auch des Heiligen.
Sie gehört zum Begriff des Auf-dem-Wege-Seins dazu. Es ist dem «Menschen auf dem Wege»
schlechthin unmöglich – und darum ist es auch kein echtes menschliches Ziel –, dieser
Unsicherheit zu entgehen in eine absolute Sicherheit. Absolute Sicherheit ist dem homo viator
nicht erreichbar, auch nicht «im Prinzip». Worauf es ankommt, ist: daß der Mensch sich in der
ihm wesenhaft zukommenden existentiellen Unsicherheit als endliches, nicht aus (73) sich selbst
seiendes und also nicht sich selbst besitzendes Wesen – das heißt: als Kreatur – versteht und
sich in die barmherzige Verfügungsgewalt Gottes begibt.
Die Unsicherheit der menschlichen Existenz kann nicht restlos aufgehoben werden. Aber sie
kann «überwunden» werden: durch die Hoffnung und nur durch sie.
Die Ungesichertheit des «noch nicht seienden» kreatürlichen Daseins erfährt Antwort darin,
daß die Hoffnung untrennbar verschwistert lebt mit der Furcht. Dieses Ineinander von Hoffnung
und Furcht gilt nicht nur im Bezirk des Natürlichen, sondern auch – ein geheimnisreicher,
schwer zugänglicher Sachverhalt – für das Übernatürliche. Die theologische Hoffnung ist
83 II, II 21, 2.
22
wesenhaft gebunden an die Furcht, die unter den Sieben Gaben des Heiligen Geistes aufgezählt
wird: an die «Furcht des Herrn».84
Diese Furcht ist es, die durch die unechte Sicherheit der vermessenen Vorwegnahme
ausgeschlossen wird.85 Und: weil die Vermessenheit die Furcht ausschließt, darum hebt sie auch
die Tugend der Hoffnung auf, welche darauf beruht, daß die Erfüllung «noch nicht» verwirklicht
und die Nicht-Erfüllung «noch nicht» ausgeschlossen ist. (74)
V.
DAS GESCHENK DER FURCHT
Einer von den kaum kontrollierten Sätzen, aus denen das menschliche Richtbild unserer
Zeit gefügt ist, besagt: daß es dem Menschen nicht anstehe, sich zu fürchten.
In dieser Haltung mischen sich die Wasser zweier Quellen. Die eine ist der aufklärerische
Liberalismus, der die Furchtbarkeit in den Bereich des Uneigentlichen verweist und in dessen
Weltbild also der Furcht nur in einem uneigentlichen Sinne Raum und Ort zugewiesen ist. Die
andere Quelle ist ein unchristlicher, der Vermessenheit wie der Verzweiflung unterirdisch
verbundener Stoizismus, der sich den Furchtbarkeiten des Daseins, die durchaus klar gesehen
sind, in trotziger Unrührbarkeit entgegenstellt, ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung.
Die klassische Theologie der Kirche ist gleich weit entfernt von der Harmlosigkeit des
Liberalismus wie von der krampfhaften Trotzhaltung des Stoizismus. Nichts ist für sie
selbstverständlicher, als daß das Furchtbare eine Realität der menschlichen Existenz ist. Und
ebenso selbstverständlich dünkt es sie, daß der Mensch auf die objektive Furchtbarkeit mit
Furcht antwortet.
Gefragt wird in der klassischen Theologie etwas ganz anderes und von einem ganz anderen
Blickpunkt her. Es wird gefragt nach dem ordo timoris,86 (79) nach der Ordnung der Furcht, das
heißt: nach dem je verschiedenen (negativen) Seinsrang des Furchtbaren. Nicht die Furcht an
sich selbst wird getadelt oder gelobt, sondern die Ordnung oder die Unordnung in ihr. «Die
Furcht verwirklicht, sofern sie gegen die Ordnung der Vernunft ist, den Begriff der Sünde»,87 das
heißt: sofern sie, die Furcht, der objektiven Wahrheit der Realität widerstreitet. Das gilt aber
nicht bloß für die Furcht, sondern auch für die Furchtlosigkeit. Unter den Sünden, die der
Tugend der Tapferkeit (man kann das nicht zu deutlich sagen: der Tapferkeit!) entgegengesetzt
sind, zählt der heilige Thomas nicht nur die ungeordnete Furchtsamkeit auf, sondern auch die
seinswidrige Furchtlosigkeit (intimiditas).88
Es gibt also für das Menschenbild der klassischen Theologie eine Furchtlosigkeit, die einen
Mangel an Tapferkeit einschließt. Und es gibt ein Sichfürchten, das nicht nur nicht «unwürdig»,
sondern gerade ethisch gesollt, also dem Wesen der Realität und der geistigen Würde des
Mensch gemäß ist. Von dieser Theologie her also muß man vermuten, daß etwas in Unordnung
geraten ist, wenn ein Mensch sich vor nichts fürchtet; und daß dem Richtbild der «stoischen»
84 II, II, 19, 9 ad 1. 85 II, II, 21, 3 ad 3. 86 II, II, 125, 1 ad 1. 87 II, II, 125, 4. 88 II, II, 126.
23
Unrührbarkeit und Furchtlosigkeit eine falsche Vorstellung vom Menschen (80) und von der
Wirklichkeit überhaupt zugrunde liegt.
Thomas von Aquin deutet vor allem drei Sätze der Heiligen Schrift, die übrigens der
heutigen Christenheit kaum noch bekannt sind, als Argumente dafür, daß Furchtlosigkeit nicht
minder ungeordnet sein kann als Furchtsamkeit, ja daß totale Furchtlosigkeit als grundsätzliche
Haltung, die zudem wohl nur als Selbsttäuschung «gelingt», schlechthin seinswidrig ist. Der erste
Satz (aus dem Buche Hiob 41,25) meint, wie Thomas sagt,89 die aus der vermessenen Hybris des
Geistes geborene Furchtlosigkeit: «Er ist dahin gekommen, nichts mehr zu fürchten.» Das zweite
Schrift-Wort (Sir 1,28): «Wer ohne Furcht ist, kann nicht gerechtfertigt werden.»90 Und drittens
ein Spruch aus dem Buch der Sprüche (14,16): «Der Weise fürchtet sich und läßt vom Bösen
ab.»91
In diesen Äußerungen ist im allgemeinen von der Furcht nur die Rede, «sofern wir durch sie
irgendwie zu Gott hingewendet werden»,92 das heißt: von der «Furcht des Herrn». Auf sie
werden auch die folgenden Bemerkungen sich beschränken. In dieser Furcht aber steckt, wenn
man die Sache weniger psychologisch als metaphysisch betrachtet, (81) die – oft bis zur
Unkenntlichkeit vermummte – «Teil-Wahrheit», die alle anderen Ängste des Menschen
verborgen durchwirkt.
Der Zugang zum Verständnis dessen, was die Begriffe der «Furcht des Herrn» und der
«Gottesfurcht» eigentlich meinen, ist für den heutigen Menschen nicht leicht zu gewinnen; im
Wege stehen sowohl liberale wie stoizistische Hemmungen.
Von Anfang an muß man zunächst im Blick halten, daß die Furcht des Herrn in einem
durchaus unabgeschwächten und präzisen Sinne «Furcht» ist. Die Furcht des Herrn ist nicht
dasselbe wie «Respekt» vor Gott. Diese landläufige Mißdeutung und Verharmlosung läßt nur
wenig übrig von dem ursprünglichen Begriff. Auch die Übertragung durch «Ehrfurcht» ist
ungenau und legt ein ähnliches Mißverständnis nahe. Wie sehr diese Abschwächungen den Sinn
des Begriffes «Furcht des Herrn» verfehlen zeigt sich unter anderm darin, daß die klassische
Theologie ausdrücklich sagt, die Furcht des Herrn sei, obwohl durchaus auf Gott bezogen, doch –
selbstverständlich – nicht in gleichem Sinne Furcht «vor» Gott, in dem etwa von der Furcht «vor»
einem Unglück gesprochen werden könne.93 Diese Unterscheidung hätte nämlich gar keinen
Sinn, wenn unter Furcht des Herrn dasselbe wie «Ehrfurcht» oder «Respekt» verstanden (82)
würde; denn die Akte der Ehrfurcht und des Respekts richten sich – formal gesehen – in dem
gleichen unmittelbaren Sinn auf Gott, wie die Furcht sich auf das Übel richtet.
Es ist also die Frage: was das ist, «wovor» die Furcht des Herrn sich fürchtet.
Heute wird oft – und nicht immer ohne Selbstgefälligkeit – von der Gefährdung und
Bedrohtheit des menschlichen Daseins gesprochen. Selten aber ist dabei die äußerste und letzte
Existenzgefährdung gemeint, angesichts welcher alle Bedrohung durch Katastrophen und
Zerstörungen selbst planetarischen Ausmaßes und alle Gefahr des Daseinskampfes nur den
Charakter des Vorletzten und fast des Uneigentlichen hat. Diese äußerste Bedrohtheit, die in das
innerste Gehäuse der menschlichen Existenz die reale Möglichkeit der Seinsminderung und des
89 II, II, 126, 1. 90 II, II, 126, 1 ad 1. 91 II, II, 126, 1 ad 2. 92 II, II, 19, 2. 93 II, II, 19, 1.
24
Verfalls hineinträgt, ist nichts anderes als das posse peccare, das Schuldig-werden-Können. – Es
ist freilich sehr vonnöten, diese Aussage aus ihrer moralistischen Umklammerung zu befreien
und sie wieder an ihren ursprünglichen und tieferen, auf das Sein selbst gewendeten Sinn zu
binden.
Es ist die Furchtbarkeit der aus dem Grunde des geschöpflichen Seins stets neu
aufsteigenden Möglichkeit der Trennung vom letzten Seinsgrund durch die Schuld, worauf die
Furcht des Herrn als wahrhaftes Sich-Fürchten die gemäße Antwort gibt. (83)
Diese Furcht ist durch keinen «Heroismus» überwindbar. Ihr Wovor ist unabtrennbar
verknüpft mit der Existenzweise des «Menschen auf dem Wege». Der Mensch kann, vielleicht,
den Blick von dem diese Furcht begründenden Sachverhalt abwenden; er kann, vielleicht, die
Furcht des Herrn sozusagen vergessen. Aber es ist dann wie ein Vergessen seiner selbst und wie
ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit seines eigenen Daseins.
Auf zweierlei Weise kann der Mensch die Möglichkeit des eigenen Schuldigwerdens
fürchten: um der Schuld selbst willen und um der Strafe willen. Das eigentlichere ist die Furcht
vor der Schuld als Schuld. Weil aber die Strafe nicht durch eine «willkürliche Setzung» Gottes,
sozusagen erst nachträglich, an die Schuld gebunden ist, sondern weil sie wesenhaft und
unmittelbar durch die Schuld selbst gewirkt ist und aus ihr hervorwächst, darum kann auch die
zunächst durch die Strafe begründete Furcht doch in bestimmtem Sinne Furcht vor der Schuld
sein.
Die eigentliche Furcht vor der Schuld selbst nennt die Theologie timor filialis oder timor
castus, «der Sohnschaft gemäße» oder «keusche» Furcht (die letzte Bezeichnung ist eine aus der
Väterzeit stammende, unserem Verständnis nicht mehr ganz erschließbare Wortverbindung).
Die andere Weise der Furcht wird timor servilis genannt, «der Knechtschaft gemäße» Furcht. (84)
Die «der Knechtschaft gemäße» Furcht ist eine unvollkommene Weise der Furcht des Herrn.
Sie gründet, weil «alle Furcht aus der Liebe geboren wird»,94 und weil Furcht immer «fliehende
Liebe» ist,95 in einer unvollkommenen Weise der «begehrenden» Liebe zu Gott. Der timor servilis
fürchtet vor allem den Verlust der selbsteigenen Erfüllung des Menschen im Ewigen Leben, das
heißt: die Ewige Verdammnis. Darin liegt das Wesen der «knechtlichen» Furcht.96
Diese Substanz der «knechtlichen» Furcht, die Angst vor der Ewigen Strafe, ist wenngleich
etwas Unvollkommenes, dennoch «gut»;97 ja, sie ist «vom Heiligen Geiste».98 Sie kann wie eine
Einführung sein in die eigentliche Gottesliebe (caritas);99 und sie ist der «Anfang der Weisheit
(Ps 110,10), indem sie den Geist für die Weisheit bereit macht.100 Das sind Sätze, die wir heute
kaum ohne inneren Widerstand zur Kenntnis zu nehmen vermögen. Daran ist vielerlei schuld.
Zu den allgemeinen, schon mehrfach genannten liberalen und stoizistischen Hemmungen
kommt noch einiges Besondere hinzu. Vor allem: daß die «letzten Dinge», Himmel (85) und Hölle
im öffentlichen Bewußtsein, auch der Christenheit, mit den Attributen des im Grunde
Unernsthaften ausgestattet worden sind. Man hat den Himmel zu einer Spielwiese und die Engel
94 II, II, 126, 1. 95 Augustinus, De civitate Dei 14, 7. 96 II, II, 19, 4 ad 3. 97 II, II, 19, 4. 98 II, II, 19, 9. 99 II, II, 19, 8 ad 1. 100 II, II, 19, 7.
25
zu Spielgenossen des Kleinkindes verniedlicht – während etwa für Thomas von Aquin die
Erscheinung des Engels durchaus den Charakter des elementar Erschreckenden und
Verwirrenden hat; deshalb sei stets das erste Wort der Engel an den Menschen: Fürchte dich
nicht.101 Anderseits sind die Hölle und die gefallenen Engel dadurch entwirklicht worden, daß
man sie ihres Seinsranges als geistiger Wirklichkeit und damit ihrer letzten Furchtbarkeit
entkleidet hat.
Die Furcht vor der Ewigen Verdammnis ist, als Beweggrund der Hinwendung zu Gott, gewiß
einer unvollkommenen Stufe der Gottesliebe zugeordnet. Aber auf dieser Stufe des inneren
Lebens ist sie die alleinige Möglichkeit einer gemäßen Existenz-Antwort auf eine der
fundamentalen Realitäten des menschlichen Daseins. Es ist – wiederum: auf dieser Stufe der
Liebe – unmöglich, die Angst vor der Ewigen Strafe zu «überwinden»; weder «Haltung» noch
Gleichmut noch Optimismus reicht dazu aus. Die einzige echte und seinsgerechte Überwindung
der Furcht vor der Ewigen Verdammnis ist: das Voranschreiten in der Liebe. (86)
Durch die wahre Gottesfreundschaft, die das Höchste Gut um seiner selbst willen bejaht,
wird die «knechtliche» Furcht umgeformt und hinaufgestaltet in die «der Sohnschaft gemäße»,
in die «keusche» Furcht.
Wiederum ist zu sagen: auch die «der Sohnschaft gemäße» Furcht ist wirkliche Furcht. Sie
verwirklicht den Begriff der Furcht sogar auf eigentlichere Weise als die «knechtliche» Furcht.
Die «der Sohnschaft gemäße» Furcht blickt hin auf die Schuld als Schuld; die Schuld aber ist in
schlechthin höherem Maße «böse» als die Strafe.102 Die Furcht vor der Schuld also antwortet auf
eine tiefere Gefährdung des menschlichen Daseins als die Furcht vor der Ewigen Strafe. Sie ist
auch dem innersten Entscheidungskern der geistig-sittlichen Existenz des Menschen näher;
während die Furcht vor der Ewigen Strafe eher den vital-seelischen Bezirken zugeordnet zu sein
scheint. Die «der Knechtschaft gemäße» Furcht vor der Verdammnis nimmt ab, je tiefer die
Freundschaft mit Gott das Menschenwesen durchwirkt,103 das heißt: je näher der Mensch
seinem Ewigen Seinsgrund verbunden ist. Die «der Sohnschaft gemäße» Furcht dagegen wächst
– als wirkliches Sich-Fürchten – in dem gleichen Maße, in dem die Gottesfreundschaft sich
verwirklicht. Darin (87) liegt etwas zunächst Überraschendes, das sich aber dem tiefer
eindringenden Blick als innere Notwendigkeit enthüllt: Einerseits ist auch auf den höchsten
Stufen der Gottesliebe die reale Möglichkeit der Schuld für den «Menschen auf dem Wege» nicht
ausschließbar; solange der Mensch den status comprehensoris «noch nicht» erreicht hat, bleibt
der willentliche Abfall von Gott «ganz und gar möglich» (omnino possibilis).104 Anderseits: der
auf das Nichts und die Ver-nichtung bezogene Sinn der Sünde wird, in seiner eigentlichen
Negativität, erst dem Blick des «Gottesfreundes» sichtbar; erst die übernatürliche Liebe zu Gott
setzt – Furcht ist «fliehende Liebe» – den Menschen in den Stand und nötigt ihn zugleich, die
Möglichkeit der Schuld so sehr zu fürchten, wie es ihrer realen Furchtbarkeit entspricht.
Die «keusche» Furcht vor der schuldhaften Trennung von Gott ist in einem anderen Sinne
«Anfang der Weisheit» als die «knechtliche» Furcht vor der Ewigen Verdammnis: diese macht
den Geist für die Weisheit bereit, jene aber ist die Erstlingsfrucht der Weisheit selbst.105
101 III, 30, 3 ad 3. 102 Mal. 1, 5. 103 II, II, 19, 10. 104 II, II, 19, 11. 105 II, II, 19, 7.
26
Die «der Sohnschaft gemäße» Furcht, welche der vollkommenen Gottesliebe zugeordnet ist,
gehört zu den Sieben Gaben des Heiligen Geistes. Sie ist ein «Geschenk», das die Möglichkeiten
des natürlichen Menschen übersteigt.106
Das sittlich Gute ist nichts anderes als die Weiterführung und Vollendung der naturhaften
Ausrichtungen unseres Wesens:107 es ist die naturhafte Angst des Menschen vor der
Seinsminderung und der Vernichtung, welche sich «vollendet» in der Furcht des Herrn.
Von diesem Satze her öffnet sich ein Durchblick in sehr merkwürdige Zusammenhänge.
Wenn die auf das Nichts blickende naturhafte Angst des Menschen nicht vollendet wird durch
die Furcht des Herrn, dann dringt diese Angst «unvollendet» und zerstörend in den Raum der
geistig-seelischen Existenz. Die Herrschaft der «unvollendeten», zerstörerischen Angst ist ein
Zeichen dafür, daß ein Mensch die Furcht des Herrn willentlich verneint und von sich tut. Die
Furcht des Herrn aber ist jedem guten Tun des Menschen eigentümlich und innewohnend; und
sie wird anderseits durch jede Sünde irgendwie ausgeschlossen und aufgehoben.108 Die
«unvollendete» Angst ist die Begleitung der (objektiven) Sünde, das heißt: jeden
wirklichkeitswidrigen Tuns. – An diesem Punkte begegnet die Theologie wiederum den
Erfahrungen der modernen Psychiatrie. (89)
Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, daß die naturhafte Angst vor dem Nichts, ohne zugleich
zu zerstören, in den Bezirk der geistig-seelischen Existenz hinaufdringt. Diese einzige
Möglichkeit ist die Vollendung der naturhaften Angst durch die Furcht des Herrn. Die Furcht des
Herrn allein begreift in sich den Grund aller «Gesundheit»: sie ist der Wirklichkeit gemäß.
Die theologische Tugend der Hoffnung und die Furcht des Herrn sind einander wesenhaft
zugeordnet, sie antworten einander.109 – Das Zögern, mit dem wir diese Zuordnung aufnehmen,
scheint eine Art von bestätigender Entsprechung darin zu finden, daß auch Thomas, der nur in
sehr wenigen Lehrstücken seine Meinung gewechselt hat, erst im zweiten Teil des zweiten
Hauptteils der Summa – anders als in dessen erstem Teil, und anders als in seinem frühen
Sentenzenkommentar – das Zueinander von Hoffnung und Furcht des Herrn klar ausspricht.
Das Bindeglied zwischen Hoffnung und Furcht ist die «begehrende» Liebe, die Gott erstlich
um des Liebenden willen sucht. Diese Liebe ist, wie schon gesagt wurde, das Fundament der
Hoffnung, und die Furcht ist ihr «Negativ». Hoffen und fürchten kann einer nur für sich selbst
(und für den Menschen, den er liebt). (90)
Die «knechtliche» Furcht entspricht jener Stufe der Hoffnung, die noch nicht durchformt ist
von der caritas, von der eigentlichen Freundschaftsliebe zu Gott. Die «keusche», «der Sohnschaft
gemäße» Furcht ist das «Negativ» der in die Gottesfreundschaft hinaufgehobenen
«Hoffnungsliebe».
Die Furcht des Herrn verbürgt die Echtheit der Hoffnung. Sie schließt die Gefahr aus, daß
die Hoffnung sich verkehre in ihre falsa similitudo, in ihre unechte Nachbildung: in die
vermessene Vorwegnahme der Erfüllung. Die Furcht des Herrn hält dem hoffenden Menschen
die Tatsache gegenwärtig, daß die Erfüllung «noch nicht» wirklich ist. Die Furcht des Herrn hält
die Erinnerung daran wach, daß die menschliche Existenz, obwohl angelegt und ausgerichtet auf
106 II, II, 19, 9. 107 II, II, 108, 2. 108 Mal. 8, 2 ad 5. 109 II, II, 141, 1 ad 3.
27
die Erfüllung durch das Höchste Sein, dennoch, im status viatoris, ständig gefährdet ist durch die
Nähe zum Nichts.
Mit bewunderungswürdiger Treffsicherheit sagt Paschasius Radbert: «Die heilige Furcht
bewacht die Gipfelhöhe der Hoffnung.»110
Und in der Heiligen Schrift (Ps 113,22) heißt es: «Es hoffen auf den Herrn, die ihn fürchten.»
(91)
ANMERKUNGEN
Die zahlreichen auf den Text bezüglichen Verweisungen, vornehmlich auf die Summa theologica und
die Quaestiones disputatae des heiligen Thomas, sind keineswegs «historisch» gemeint. Es geht nicht
darum, die Gedankenwelt des «größten hochmittelalterlichen Systematikers» in ihrer geschichtlichen
Gestalt herauszustellen. Es geht darum, eine Brücke zu bauen zu dem Werk des «allgemeinen Lehrers» der
Kirche, sofern es teilhat an der übergeschichtlichen Gegenwärtigkeit des Lehramtes der Kirche selbst.
Bei den sehr häufigen Zitaten aus der Summa theologica sind nur die Ziffern angegeben; die
Bezeichnung «II, II, 19, 9 ad I» beispielsweise bedeutet also genau: Summa theologica, II. Teil des II.
Hauptteils, Quaestio 19, Artikel 9, Antwort auf den 1. Einwand. – Auch für die Zitate aus des Thomas
Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus sind nur die Ziffern genannt, deren Schriftbild
jedoch charakteristisch von dem der Summa-Zitate sich unterscheidet; die Bezeichnung «3, d. 26, 1, 5»
beispielsweise bedeutet genau: Commentum in IV libros sententiarum, 3. Buch, Distinctio 26, Quaestio 1,
Artikel 5. – Die Titel der übrigen, in den folgenden Anmerkungen aufgeführten Werke des heiligen Thomas
lauten [mit den angewandten Abkürzungen] folgendermaßen: Compendium theologiae [Comp.], Declaratio
quorumdam articulorum contra Graecos [Contra Graecos], Expositio super S. Pauli epistolam ad Hebraeos
[Hebr.], Quaestiones disputatae de malo [Mal.], Quaestiones disputatue de potentia Dei [Pot.], Quaestiones
disputata de spe [De spe], Quaestiones disputata de virtutibus cardinalibus [Virt. card.], Quaestiones
disputata de virtutibus in communi [Virt. comm.], Quaestiones disputatae de veritate [Ver.]. (95)
110 De fide, spe et caritate 2, 7.