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Jörg Meibauer: Pragmatik: Grundlagen, Entwicklung, Störung 1. Einleitung In Mark Haddons Roman The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (2003) sagt der Held Christopher über sich selbst: „I do not tell lies. Mother used to say that this was because I was a good person. But this is not because I am a good person. It is because I can‘t tell lies.“ (24) Die Unfähigkeit zum Lügen hängt damit zusammen, dass Christopher am Asperger-Syndrom leidet. Lügen ist eine wichtige pragmatische Fähigkeit: Wer nicht gelernt hat, zu lügen, ist in einem gewissen Sinn pragmatisch gestört (vgl. Lee 2000, Kümmerling-Meibauer & Meibauer 2011). Im ersten Teil des Beitrags wird ein knapper Überblick über die Entwicklung der linguistischen Pragmatik seit 1960 gegeben. Pragmatik wird als Theorie der Produktion und Interpretation von Äußerungen im Kontext verstanden. Wegweisend für das moderne Verständnis der Pragmatik war die Konzeption von Levinson (1983), der die pragmatischen Teilgebiete der Deixis, Präsupposition, Implikatur, des Sprechakts und der Konversationsstruktur beschrieb. Dazu sind inzwischen weitere Gebiete getreten, zum Beispiel Informationsstruktur, Definitheit/Indefinitheit, Höflichkeit und Humor (vgl. Horn & Ward 2004, Allan & Jaszczolt 2012). Die neuere Diskussion kreist um die Frage der Abgrenzung der Pragmatik von der Semantik. Es wird angenommen, dass semantische Strukturen im Allgemeinen unterdeterminiert sind und dass die Pragmatik Einfluss auf die Wahrheitsbedingungen von Äußerungen hat. Dieser „kontextualistischen“ Sicht steht eine „minimalistische“ Sicht gegenüber, wie sie auch von Grice (1989) vertreten wurde. Es zeigt sich, dass der Kontextbegriff für das Verständnis der Pragmatik zentral ist. Im zweiten Teil geht es um die pragmatische Entwicklung von Kindern. Durch die starke Konzentration der Spracherwerbsforschung auf die Entwicklung der Morphosyntax wurde die Erforschung des Pragmatikerwerbs vernachlässigt (siehe aber Ochs & Schieffelin 1979, Bruner 1981, Bates et al. 1979, Ninio & Snow 1996, 1999, Rosenthal Rollins 2010). Es ist aber einsichtig, dass in allen pragmatischen Dimensionen Erwerbsprozesse stattfinden. Diese

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Page 1: Jörg Meibauer: Pragmatik: Grundlagen, Entwicklung, … · Deixis, Präsupposition, Implikatur, des Sprechakts und der Konversationsstruktur beschrieb. Dazu sind inzwischen weitere

Jörg Meibauer: Pragmatik: Grundlagen, Entwicklung, Störung

1. Einleitung

In Mark Haddons Roman The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (2003) sagt der

Held Christopher über sich selbst:

„I do not tell lies. Mother used to say that this was because I was a good person.

But this is not because I am a good person. It is because I can‘t tell lies.“ (24)

Die Unfähigkeit zum Lügen hängt damit zusammen, dass Christopher am Asperger-Syndrom

leidet. Lügen ist eine wichtige pragmatische Fähigkeit: Wer nicht gelernt hat, zu lügen, ist in

einem gewissen Sinn pragmatisch gestört (vgl. Lee 2000, Kümmerling-Meibauer & Meibauer

2011).

Im ersten Teil des Beitrags wird ein knapper Überblick über die Entwicklung der linguistischen

Pragmatik seit 1960 gegeben. Pragmatik wird als Theorie der Produktion und Interpretation

von Äußerungen im Kontext verstanden. Wegweisend für das moderne Verständnis der

Pragmatik war die Konzeption von Levinson (1983), der die pragmatischen Teilgebiete der

Deixis, Präsupposition, Implikatur, des Sprechakts und der Konversationsstruktur beschrieb.

Dazu sind inzwischen weitere Gebiete getreten, zum Beispiel Informationsstruktur,

Definitheit/Indefinitheit, Höflichkeit und Humor (vgl. Horn & Ward 2004, Allan & Jaszczolt

2012). Die neuere Diskussion kreist um die Frage der Abgrenzung der Pragmatik von der

Semantik. Es wird angenommen, dass semantische Strukturen im Allgemeinen

unterdeterminiert sind und dass die Pragmatik Einfluss auf die Wahrheitsbedingungen von

Äußerungen hat. Dieser „kontextualistischen“ Sicht steht eine „minimalistische“ Sicht

gegenüber, wie sie auch von Grice (1989) vertreten wurde. Es zeigt sich, dass der

Kontextbegriff für das Verständnis der Pragmatik zentral ist.

Im zweiten Teil geht es um die pragmatische Entwicklung von Kindern. Durch die starke

Konzentration der Spracherwerbsforschung auf die Entwicklung der Morphosyntax wurde die

Erforschung des Pragmatikerwerbs vernachlässigt (siehe aber Ochs & Schieffelin 1979, Bruner

1981, Bates et al. 1979, Ninio & Snow 1996, 1999, Rosenthal Rollins 2010). Es ist aber

einsichtig, dass in allen pragmatischen Dimensionen Erwerbsprozesse stattfinden. Diese

Page 2: Jörg Meibauer: Pragmatik: Grundlagen, Entwicklung, … · Deixis, Präsupposition, Implikatur, des Sprechakts und der Konversationsstruktur beschrieb. Dazu sind inzwischen weitere

reichen zum Teil noch bis in die Adoleszenz. Im frühen Spracherwerb sind Prozesse des

lexikalischen Lernens von Bedeutung, die zum Teil von pragmatischen Prinzipien abhängen

(vgl. Clark 1993, 1994, Clark & Amaral 2010). Ein weiterer Meilenstein ist der Erwerb der

Theory of Mind (ToM), die Kinder dazu befähigt, Gedanken, Einstellungen und Absichten von

anderen ins Kalkül zu ziehen. In der neueren Forschung zur experimentellen Pragmatik wird

unter anderem die Fähigkeit von Kindern untersucht, pragmatische Schlüsse zu ziehen. Dabei

spielt wiederum die Beachtung des Kontexts eine große Rolle.

Im dritten Teil stelle ich dar, wie die Pragmatik von der Erforschung der pragmatischen

Störungen profitieren kann, und wie man umgekehrt Kenntnisse der pragmatischen Theorie

benötigt, um pragmatische Störungen zu identifizieren (vgl. Perkins 2007, Cummings 2009,

2011b). Diagnostizierte Abweichungen von einer pragmatischen Norm können einerseits in

den Bereich der spezifischen Sprachentwicklungsstörung (sSES) oder des Pragmatic

Language Impairment (PLI) fallen, oder im Zusammenhang mit anderen Krankheitsbildern wie

dem Autismus oder der Aphasie vorkommen. Einiges spricht dafür, dass pragmatische

Störungen mit der Schwierigkeit zusammenhängen, die Intentionen Anderer oder den

Kontext zu begreifen.

2. Grundlagen der Pragmatik

Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich das Gebiet der linguistischen

Pragmatik sehr stark entwickelt. Aktuelle Dokumentationen dieser Entwicklung finden sich in

der von Louise Cummings herausgegebenen The Pragmatics Encyclopedia(2011), im von

Keith Allan und Kasia Jaszczolt herausgegebenen Cambridge Handbook of Pragmatics (2012),

sowie in The Oxford Dictionary of Pragmatics von Yan Huang (2012). Und es gibt viele weitere

neuere Versuche, das Gebiet der Pragmatik in einen theoretisch kohärenten Rahmen zu

packen, z.B. Ariel (2010) und Bara (2010).

Ich gehe hier davon aus, dass die Pragmatik die Produktion und das Verstehen von

Bedeutung im Kontext untersucht. Diese Annahme führt zu einer Reihe von Fragen, die in der

modernen pragmatischen Forschung intensiv diskutiert werden.

Wie kann ich als Sprecherin gewährleisten, dass ich vom Hörer verstanden werde?

Wie kann ich als Hörer sicher sein, dass ich die Sprecherin verstanden habe?

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Wie kann man zwischen wörtlicher Bedeutung und kontextabhängiger Bedeutung

unterscheiden?

Was ist ein Kontext?

Diese Fragen werden in bestimmten pragmatischen Dimensionen beantwortet, die zugleich

eine zumindest klassifikatorische Antwort auf die Frage „Was ist Pragmatik?“ geben (Levinson

1983, Meibauer 1999, Horn & Ward 2004). Diese Dimensionen sind: Sprechakte (Illokutionen),

Deixis und Referenz, Präsuppositionen, Implikaturen, Informationsstruktur und

Konversationsstruktur. Als weitere Gebiete werden manchmal genannt:

Definitheit/Indefinitheit, Höflichkeit und Humor.

Dass die genannten sechs Dimensionen schon bei den einfachsten Äußerungen eine Rolle

spielen, lässt sich leicht an einem Beispiel zeigen. Im Kontext eines Interviews der ZEIT mit

dem DFB-Präsidenten Wolfgang Niersbach (ZEIT 13/2012, 3.5.2012, S. 13) ergab sich

folgende Sequenz:

(1) ZEIT: Würden Sie dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch im Stadion die Hand

reichen?

Niersbach: Normalerweise kommen wir als Delegation mit einem Staatsoberhaupt nicht

in Kontakt. Aber selbst die Vorstellung, auf derselben Tribüne zu sitzen – wie beim

letzten Länderspiel im November –, löst bei mir ein Gefühl der Beklommenheit aus.

ZEIT: Bei einer Siegerehrung würde sich ein Handschlag möglicherweise nicht

vermeiden lassen.

Niersbach: Ich bin nicht unglücklich, dass ein solches Szenario im Protokoll nicht

vorgesehen ist.

Wir betrachten hier nur die letzte Äußerung von Wolfgang Niersbach, nämlich Ich bin nicht

unglücklich, dass ein solches Szenario im Protokoll nicht vorgesehen ist. Der von ihm realisierte

Sprechakt ist eine Behauptung; mit dem Personalpronomen ich referiert Wolfgang Niersbach

auf sich selbst, es handelt sich um Personaldeixis. Durch die Präpositionalphrase im Protokoll

wird präsupponiert, dass es ein bestimmtes Protokoll gibt (Existenzpräsupposition). Durch die

Konstruktion nicht unglücklich gibt Wolfgang Niersbach zu verstehen, dass er eher glücklich

ist (Litotes, konversationelle Implikatur). Dass die Äußerung auch eine bestimmte

Informationsstruktur hat, kann man sich klarmachen, wenn man bedenkt, dass neben der

Formulierung „dass ein solches Szenario im Protokoll nicht vorgesehen ist“ auch die

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Formulierung „dass im Protokoll ein solches Szenario nicht vorgesehen ist“ möglich gewesen

wäre. Schließlich hat der ganze Austausch in (1) eine bestimmte Konversationsstruktur

(sequenzielle Organisation), nämlich Frage – Antwort – Behauptung – Gegenbehauptung.

Man kann sagen, dass es Paul Grice war, der den Weg zu der modernen pragmatischen

Analyse gebahnt hat (vgl. Grice 1989). Sprecherbedeutung (‚speaker meaning’) wird bei Grice

(1989) als eine Bedeutung aufgefasst, die aus zwei Komponenten besteht, nämlich dem

Gesagten (‚what is said’) und dem Implikatierten (‚what is implicated’). Im Bereich der

Implikaturen wird zwischen konventionellen Implikaturen und konversationellen Implikaturen

unterschieden und im Bereich der konversationellen Implikaturen zwischen generalisierten

und partikularisierten Implikaturen. Dies ergibt folgende Klassifikation der

Sprecherbedeutung:

(2) Sprecherbedeutung bei Grice (1989)

speaker meaning

what is said what is implicated

conventionally conversationally

generalized (GCI) particularized (PCI)

Wichtig und einflussreich ist bei dieser Klassifikation die dahinter stehende Idee, prinzipiell

zwischen Semantik (‚what is said’) und Pragmatik (‚what is implicated’) zu unterscheiden (vgl.

Meibauer 2006, Doran et al. 2012). (Über die Angemessenheit von pragmatischen Größen wie

der konventionellen Implikatur oder der Unterscheidung zwischen GCI und PCI kann man

natürlich streiten.)

Die Unterscheidung zwischen dem wörtlich Gesagten und dem Implikatierten spielt in der

modernen pragmatischen Diskussion eine große Rolle. Dies sei an drei miteinander

zusammenhängenden Feldern der Diskussion und Forschung verdeutlicht.

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Unterbestimmtheit und pragmatische Anreicherung. In der Pragmatik nach Grice wurde vor

allem betont, dass die einfache Unterscheidung zwischen ‚what is said’ und ‚what is

implicated’ irreführend sei. Vielmehr könne an Daten, die mit Unterbestimmung

(‚underdeterminacy’) zusammenhängen, gezeigt werden, dass pragmatische Prozesse Einfluss

auf die Wahrheitsbedingungen eines Satzes haben, d.h. diese selbst mitbestimmen. Diese

Sicht ist Teil verschiedener Pragmatiktheorien, z.B. der „Relevanztheorie“ (Carston 2002), der

„Presumptive-Meaning-Theorie“ (Levinson 2000) und der „Truth-conditional pragmatics“

(Recanati 2010). Betrachten wir dazu einen einfachen (von mir erfundenen) Text, an dem

typische Unterdeterminierungs-Phänomene gezeigt werden können:

(3) Besuch bei der Diva

An diesem Tag besuchte ich die große Diva. Wir waren um 5 Uhr verabredet und

wollten ins Theater. Die Villa lag in einem quadratischen Park und war umstanden von

alten Bäumen. Die Diva öffnete mir selbst. Sie hatte ein eckiges Gesicht und lachte

freundlich. „Ich stehe da drüben“, rief ich und deutete auf meinen Ferrari. „Fahren wir

zum Café Exzellenz? Ich habe noch nichts gegessen.“

Es ist sicherlich fair zu sagen, dass dieser Text leicht verständlich ist. Umso erstaunlicher ist es,

wenn man zeigen kann, dass hier sehr viele Anreicherungsprozesse eine Rolle spielen:

(4) Besuch bei der Diva (angereichert)

An diesem Tag besuchte ich die große Diva [‚bedeutend’: METAPHER]. Wir waren um 5

Uhr [‚ungefähr 17.00 Uhr’: LOCKERUNG, EINENGUNG] verabredet und wollten ins

Theater [‚Theateraufführung’: KONZEPTUELLE VERSCHIEBUNG]. Die Villa [‚der Diva’:

INDIREKTE ANAPHER] lag in einem quadratischen [‚nicht exakt quadratisch’:

LOCKERUNG] Park und war umstanden von alten Bäumen. Die Diva öffnete mir [‚die

Tür’: FEHLENDE KONSTITUENTE] selbst. Sie hatte ein eckiges [‚nicht exakt eckig’:

LOCKERUNG] Gesicht und lachte freundlich. „Ich [‚mein Auto’: REFERENZTRANSFER]

stehe da drüben“, rief ich und deutete auf meinen Ferrari. „Fahren wir [‚mit dem Auto’:

FEHLENDE KONSTITUENTE] zum Café Exzellenz? Ich habe [‚heute’: FEHLENDE

KONSTITUENTE] noch nichts gegessen.“

Was die pragmatische Eigenart der Prozesse ist, die zur Anreicherung führen, ist umstritten.

Es gibt auch verschiedene theoretische Etiketten, die der spezifischen Art der Anreicherung

gerecht werden sollen, z.B. „Explikatur“ (Relevanztheorie, z.B. Robyn Carston), „Implizitur“

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(Kent Bach), „pragmatic intrusion“ (Stephen Levinson), oder „saturation“ (François Recanati).

Dennoch ist die Grundthese eine, die man im Prinzip empirisch überprüfen können sollte.

Der Begriff des Kontexts. Der Begriff des Kontextes ist ganz zentral für den Begriff der

Pragmatik. „In pragmatics, context is everything“, wie Wharton (2010) mit entwaffnender

Einfachheit formuliert. Aber was ist ein Kontext? Typische Definitionen lesen sich etwa so wie

bei Bach (2005: 21), der erläutert:

(5) “What is loosely called ‘context’ is the conversational setting broadly construed. It

is the mutual cognitive context, or salient common ground. It includes the current state

of the conversation (what has just been said, what has just been referred to, etc.), the

physical setting (if the conversants are face to face), salient mutual knowledge between

the conversants, and relevant broader common knowledge.”

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Umstand, dass man gern in so lockerer

Weise über den Kontext redet, damit zusammenhängt, dass Kontexte so ungeheuer vielfältig

und in sich auf komplexe Weise strukturiert sein können (vgl. Meibauer 2012a).

Für die Sprecherin und den Hörer ergibt sich damit ein Problem, das man als „Frame-

Problem“ bezeichnen kann und das Wharton (2010: 75) folgendermaßen formuliert:

(6) “How, from all the myriad pieces of information available from memory, perception

and inference, do hearers manage to converge on the single set of assumptions that

yield the interpretation the hearer intended?” (Wharton 2010: 75)

Nicht nur ist es ein Wunder, wenn Kommunikation (jedenfalls nach unserem subjektiven

Eindruck) gelingt, es ist auch kein Wunder, wenn sie gelegentlich misslingt oder gestört ist.

Für die pragmatische Forschung ergeben sich daher Fragen wie die folgenden:

(a) Wie kann man den Kontext untersuchen? Wenn es so etwas gibt wie den Kontext,

sollte man in der Lage sein, ihn genau zu erforschen. Wenn es aber so etwas wie den

Kontext nicht gibt, muss man begründen können, warum wir überhaupt den Begriff des

Kontexts benutzen.

(b) Welche Definition des Kontexts ist sinnvoll, und warum? Welche Faktoren spielen in

den verschiedenen Kontexttheorien eine Rolle?

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(c) Welche sprachlichen Prozesse sind kontextabhängig und welche sind

kontextunabhängig? Aus welchen Quellen schöpfen wir die relevante kontextuelle

Information?

Es wird sich zeigen, dass auch für die pragmatische Entwicklung und die pragmatische

Störung der Kontextbegriff von größter Wichtigkeit ist.

Experimentelle Pragmatik und pragmatische Evidenz. Neben die sprachanalytische Tradition in

der Pragmatikforschung ist in den letzten Jahren eine experimentelle Tradition getreten.

Einflussreich war in dieser Hinsicht die Psycholinguistik, insbesondere die experimentelle

Spracherwerbsforschung (vgl. Meibauer 2007). Inzwischen sind zu diesem Bereich mehrere

Sammelbände erschienen (Noveck & Sperber 2004, Sauerland & Yatsushiro 2009, Meibauer

& Steinbach 2011). Als typisches Beispiel einer experimentell-pragmatischen Untersuchung

betrachten wir Noveck & Posada (2003), die die Verarbeitung skalarer Implikaturen erforscht

haben (die Beispiele wurden von mir übersetzt).

(7) a. Einige Elefanten haben Rüssel. (+> nicht alle …)

b. Logische Urteile: Wahr, denn wenn alle Elefanten einen Rüssel haben, gilt auch, dass

einige Elefanten einen Rüssel haben.

c. Pragmatische Urteile: Falsch, da ja alle Elefanten einen Rüssel haben und der

Sprecher dies dann auch hätte sagen sollen.

In Bezug auf skalare Implikaturen wie in (7a) wurden Reaktionszeitmessungen und eine ‚Event

related brain potential‘ (ERP)-Studie mit 19 Teilnehmern im Alter zwischen 21-32

durchgeführt. Dabei wurden Sätze wie unter (7a) zusammen mit Sätzen wie (8a) und (8b)

präsentiert:

(8) a. Einige Krähen haben Radios. (ganz klar falsch)

b. Einige Häuser haben Ziegelsteine. (ganz klar wahr)

Das Ergebnis war, dass 7 Personen auf die unterinformativen Sätze mit „true“ antworteten, 12

mit „false“. Die Mehrheit urteilte also „pragmatisch“, die Minderheit „logisch“ (vgl. auch

Noveck 2001).

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Für die Reaktionszeiten in Bezug auf die unterinformativen Sätze ergaben sich 655 ms. bei

den logischen Antworten (n=7) und 1203 ms. bei den pragmatischen Antworten (n=12). In

Bezug auf die ERP-Daten, bei denen die Negativierung nach 400 ms. (N400) eine wichtige

Messgröße darstellt, ergab sich Folgendes:

„The ERP data indicate that (a) the Patently True and Patently False sentences

prompt steeper N400’s – indicating greater semantic integration – than the

Underinformative sentences and that (b) regardless of one‘s ultimate response to

the Underinformative sentences, the N400’s were remarkably flat, indicating no

particular reaction to these sentences.“ (Noveck & Posada 2003: 203)

Ingesamt sehen die Autoren als bestätigt an, dass mit der Ableitung von Implikaturen ein

kognitiver Verarbeitungsaufwand verbunden sei: „(…) implicatures are part of a late arriving,

effort-demanding process.“

Untersuchungen von diesem Typ sind inzwischen weiter differenziert worden; ein Überblick

findet sich bei Katsos (2012). Als ein wesentliches methodisches Problem hat sich

herausgestellt, dass zur Ableitung von konversationellen Implikaturen ein situativer Kontext

gegeben sein muss, dieser aber in der experimentellen Situation nicht authentisch ist,

sondern irgendwie vorgegeben wird, damit die im Kontext wirksamen Variablen möglichst

kontrolliert werden können. Im Rahmen des gerne verwendeten Truth Value Judgement Tests

besteht der vorgegebene Kontext oft in einer kleinen Geschichte, an deren Ende eine

Äußerung eines Protagonisten als wahr oder falsch zu beurteilen ist. Diese

Untersuchungsprozedur setzt aber voraus, dass die entsprechende Geschichte von den

Testpersonen in gleicher Weise verstanden wird. Diese Uniformitätsannahme könnte aber

problematisch sein, denn bei der Interpretation von Geschichten spielen individuelle

Erfahrungen und auch Emotionen eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. Meibauer 2012b).

Oben habe ich eine Reihe von typischen pragmatischen Forschungsfragen identifiziert. Die

erste hat das Problem benannt, wie wir die Produktion und die Interpretation der

Sprecherbedeutung (‚speaker meaning’ im Sinne von Grice 1989) verstehen können. Hier

schließt sich die Frage an, ob die volle Sprecherbedeutung rekonstruierbar ist. Nicht nur

können die Intentionen des Sprechers unklar oder diffus sein, auch Vagheit und

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Ungenauigkeit spielen eine große Rolle in der Kommunikation, so dass das Missverstehen

pragmatisch so aufschlussreich ist wie das (möglicherweise nur eingebildete) Verstehen.

Die zweite Frage betraf das Verhältnis von kontextunabhängiger und kontextabhängiger

Bedeutung und damit das Verhältnis von Semantik und Pragmatik. Hier muss man

hinzufügen, dass die Pragmatik auch Schnittstellen zu weiteren Komponenten hat,

insbesondere zur Phonologie, zur Morphologie und zur Syntax. Dies betrifft sozusagen die

externe Modularität. Fasst man die Pragmatik mit ihren Teilkomponenten selbst als

modulares Kenntnissystem auf, muss man sich fragen, wie das Verhältnis dieser

Teilkomponenten zueinander ist, wie zum Beispiel Sprechakte und Implikaturen sich

zueinander verhalten.

Die dritte Frage betraf den Kontext. Oft wird in linguistischen Analysen ein bestimmter Aspekt

des Kontexts fokussiert, der für die jeweilige Analyse relevant ist. Eine umfassende Theorie

des Kontexts muss aber allen Aspekten des Kontexts gerecht werden, auch solchen, die mit

Aufmerksamkeitssteuerung und Salienz zu tun haben, mit Hintergrundwissen und

Weltwissen, mit Faktoren der emotionalen Zustände von Sprechern und Hörern, bis hin zu

subjektiven Assoziationen.

3. Pragmatische Entwicklung

Während es vollkommen einsichtig ist, dass sich alle pragmatischen Fähigkeiten entwickeln,

und zwar in Abhängigkeit von der Entwicklung grammatischer Fähigkeiten und von der

Entwicklung sensomotorischer, kognitiver und emotionaler Fähigkeiten, gibt es erstaunlich

wenig Arbeiten, die diese Entwicklung in ihrer zeitlichen Ordnung in systematischer Weise

rekonstruieren (vgl. Ochs & Schieffelin 1979, Dohmen et al. 2009). Auch die folgenden

Ausführungen können nur schlaglichtartig einige Aspekte dieser komplexen Entwicklung

umreißen.

Eine gewisse Vernachlässigung des Pragmatikerwerbs mag auch damit zusammenhängen,

dass Teile der psycholinguistischen Spracherwerbsforschung wegen ihrer nativistischen

Grundannahmen (z.B. dass es einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus gebe, und

dass Kinder keine „negative Evidenz“ erhalten würden) dem Bereich der pragmatischen

Kompetenz wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben und sich mehr auf den Erwerb der

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Morphosyntax konzentrierten. Doch wurde nachgewiesen, dass es sehr wohl eine

„kindgerechte Sprache“ gibt, die Kindern den Spracherwerb erleichtert (Snow 1995), und es

wurden Spracherwerbstheorien entwickelt, die gerade den Sprachgebrauch fokussieren (vgl.

Tomasello 2003, 2008).

Im Folgenden stelle ich einige Erkenntnisse über Entwicklungen in den Bereichen Sprechakte,

Deixis und Referenz, Präsupposition, Implikatur, Informationsstruktur und

Informationsstruktur dar. Wie auch sonst in der Spracherwerbsforschung ist zu beachten,

dass anhand der Erwachsenensprache entwickelte Beschreibungskategorien nicht unbedingt

auf Kinder zutreffen müssen. Zum Beispiel kann man danach fragen, welche Wortarten Kinder

im Alter von 15 Monaten beherrschen, aber das bedeutet in keiner Weise, dass Kinder eine

auch nur implizite Idee davon haben müssen, was eine „Wortart“ überhaupt ist.

Sprechakte. Eine zentrale Annahme der Sprechakttheorie ist, dass Sprechakten eine

bestimmte kommunikative Intention zugrunde liegt. So ist es wichtig, danach zu fragen, wann

überhaupt von Intentionalität des Kindes die Rede sein kann. Schon im Alter von 2 Monaten

kann man Intentionen von Kindern nachweisen. Zwischen 9 und 12 Monaten zeigen kindliche

Gesten und kindliches Vokalisieren kommunikative Intentionen an (vgl. Carpenter 2010). Als

erste Sprechakte („Proto-Sprechakte“) kann man Aufforderungen und Proteste betrachten

(vgl. Wankelmuth 1993, Bächli 2007). Soziale Handlungen, die geteilte Aufmerksamkeit

verlangen (die ja für menschliche Kommunikation unbedingt erforderlich ist), sind Spiele wie

das Winke-Winke-Spiel oder das Guck-Guck-Spiel. Weitere soziale Aktivitäten, die wichtig für

die Kommunikation sind, sind das auf etwas Zeigen (‚pointing’) und jemand Anderem etwas

zeigen (‚showing’).

Schon in der Phase des kleinen Wortschatzes von etwa 50 Wörtern erweitern die Kinder ihr

Sprechaktarsenal. Ab 18 Monaten, wenn die Phase der Zweiwortäußerungen beginnt und der

Wortschatz regelrecht „explodiert“ (‚vocabulary explosion’) (Clark 1993, Kauschke 2012),

beherrschen die Kinder nach Miller (1976: 113-129) Sprechakte wie Aufforderung, Bitte,

Ja/Nein-Frage, Beschreibung, Kommentar, Zustimmung, Ablehnung, Widerspruch und

Selbstaufforderung (Miller 1976: 113-129).

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Die spätere Sprechaktentwicklung eines Kindes dürfte sehr stark abhängig sein von seinen

allgemeinen Diskursfähigkeiten, von seiner Fähigkeit, den Kontext zu überblicken (dabei

dürfte das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis eine wichtige Rolle spielen), sowie seines

Erwerbs der Theory of Mind, verstanden als die Fähigkeit, Gedanken, Einstellungen und

Perspektiven von Anderen zu „lesen“ (vgl. Happé 1993).

So haben Forschungen zum Versprechen ergeben, dass viele Kinder zwischen 5 und 9 Jahren

annehmen, dass Versprechen wahre Feststellungen sind, die sich auf zukünftige oder

vergangene Sachverhalte beziehen (Astington 1988, Bernicot & Laval 2004). Und in Bezug auf

das Lügen konnte gezeigt werden, dass sich Kinder zwischen 3 und 5 Jahren in erster Linie

daran orientieren, ob ein behaupteter Sachverhalt faktisch wahr oder falsch ist (Wimmer &

Perner 1983). In beiden Fällen neigen die Kinder dazu, den Aspekt der Sprecherintention (Hat

sich jemand verpflichtet, etwas Bestimmtes zu tun? Hatte jemand die Absicht, einen Anderen

zu täuschen?) zu vernachlässigen. Forschungen zur False Belief Task zeigen deutlich, dass die

kindliche Fähigkeit zur Reflexion über die epistemischen Einstellungen Anderer mit 3 Jahren

noch in der Entwicklung begriffen ist (vgl. Rubio-Fernandéz & Geurts, erscheint). Mit sich

entwickelnder Theory of Mind betonen die Kinder mehr und mehr die Intention des

Sprechers.

Deixis und Referenz. Zur Orientierung in Zeit und Raum, zur Bezugnahme auf Sprecher und

anwesende oder abwesende Personen, zur Referenz auf gegenwärtige, vergangene,

zukünftige oder fiktionale Entitäten und Sachverhalte erwirbt das Kind ein sprachspezifisches

Verweissystem, muss aber in dessen Anwendung immer den aktuellen Redekontext beachten.

Schon in der Phase der ersten 50 Wörter verwenden die Kinder im Deutschen das

Demonstrativum da, das ihnen erlaubt, auf beliebige, in der Redesituation präsente Personen,

Dinge oder Sachverhalte zu verweisen. Eine besondere Schwierigkeit stellt die Verwendung

der 1. Person da. So bezieht sich das Kind Simone noch mit 22 Monaten auf sich selbst,

indem es Mone sagt (Miller 1976). Möglicherweise denkt es eine Zeit lang, dass sich ich

immer auf andere Sprecher bezieht, zum Beispiel auf die Mutter (Bloom 2000).

Insgesamt kann man beim Deixiserwerb eine Verschiebung von der gemeinsamen Referenz

(Bezug auf das Hier und Jetzt in der aktuellen Redesituation) zur verschobenen Referenz

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(Bezug auf das Da und Dann) feststellen (vgl. Hickmann 1995, 2000). So ist eine gelungene

Redewiedergabe etwas, was im Spracherwerb erst relativ spät gemeistert wird.

Präsupposition. Unter einer (pragmatischen) Präsupposition versteht man bestimmte

Voraussetzungen, die beim Führen eines Gesprächs of stillschweigend gemacht werden. Die

Fähigkeit, die richtigen Voraussetzungen in ein Gespräch einzubringen und über diese

Voraussetzungen im Laufe des Gesprächs „Buch zu führen“, hängt von der Fähigkeit des

Kindes ab, den relevanten Kontext zu überblicken. Man hat festgestellt, dass Kinder ab dem

Alter von etwa 4 Jahren dazu in der Lage sind, ihren Ausdruck von Intentionen in

Abhängigkeit von dem jeweiligen Adressaten zu modifizieren – sie aktualisieren dabei also

bestimmte Präsuppositionen, zum Beispiel bestimmte Annahmen darüber, was ihr

Gesprächspartner weiß. Eine Feinabstimmung auf den Redehintergrund von einzelnen

Adressaten scheint aber erst mit etwa 9 Jahren erworben zu werden, d.h. diese

Feinabstimmung verlangt noch nach mehr sozialer und emotionaler Reifung.

Implikaturen. Konversationelle Implikaturen (pragmatische Schlüsse) entstehen unter

Beachtung oder (scheinbarer) Verletzung der Konversationsmaximen (Grice 1989). Typische

Beispiele für konversationelle Implikaturen sind nach Grice (1989) Ironie und Metapher, bei

denen ein scheinbarer Verstoß gegen die Maxime der Qualität erfolgt. Es ist bekannt, dass

Ironie und Metapher für Kinder relativ schwer zu verstehen und zu produzieren sind.

Während konventionelle Formen der Ironie und Metapher schon in der Vorschulzeit

beherrscht werden, werden subtilere Fälle erst mit ca. 12 Jahren begriffen (vgl. Winner 1988,

Özcaliskan 2005, Creusere 2007).

Zu den skalaren Implikaturen, auf die wir schon oben kurz eingegangen sind, gibt es eine

reichhaltige experimentelle Forschung (vgl. Katsos 2012). Eine Äußerung wie „Einige Giraffen

haben einen langen Hals“ wird wohl nicht die Implikatur ‚Nicht alle Giraffen haben einen

langen Hals’ auslösen, weil es zu unserem prototypischen Wissen gehört, dass Giraffen lange

Hälse haben. Dennoch neigen bis zu 85% der befragten 8- und 10-Jährigen dazu, der

unterinformativen „Einige ...“-Äußerung zuzustimmen, während die erwachsene

Kontrollgruppe nur zu etwa 41% zustimmte (Noveck 2004: 305f). Wie kann man diesen

Befund erklären? Es könnte einerseits sein, dass junge Kinder ganz einfach unter einige soviel

wie ‚einige, sogar alle‘ verstehen, d.h. die Ergebnisse sind eigentlich Resultat

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unvollkommenen lexikalischen Lernens. Es könnte anderseits sein, dass Kinder (und auch

Erwachsene) den Versuchsaufbau nicht immer gut verstehen, z.B. dass sie nicht annehmen

wollen, dass die Puppe lügt. Schließlich ist zu beachten, dass schlechte, „logische“ Leistungen

der Kinder möglicherweise nicht mit der pragmatischen Entwicklung zusammenhängen

(Pragmatic Delay Hypothesis), sondern mit einer begrenzten Verarbeitungsfähigkeit

(Processing Limitation Hypothesis) (vgl. Chierchia et al. 2004; Katsos 2012; Müller et al. 2011;

Meibauer 2012b).

Informationsstruktur. Zum Bereich der Informationsstruktur gehört die Frage, wie eine

bestimmte Information, ein Aussageinhalt, sprachlich „verpackt“ wird. Über sehr frühe

Informationsstrukturen weiß man wenig, vermutlich weil wenig über mögliche alternative

Formulierungen für das Kind bekannt ist. Kinder in der Zweiwortphase sind einerseits noch

recht stark an beschränkte syntaktische Strukturen gebunden, sie vertrauen anderseits auf die

Macht des situativen Kontexts.

Besonders deutlich werden Aspekte der Informationsstruktur im Narrationserwerb. Ab 3

Jahren informieren Kinder über vergangene und zukünftige Ereignisse. Sie erzählen kurze

Geschichten, die oft einen Mangel an Kohäsion und Kohärenz haben. Kohäsive Mittel (z.B.

Anaphern) werden ab ca. 3;6 Jahren erworben, ihr Erwerb dehnt sich bis zum Alter von 12

Jahren. Die meisten Kinder können das Thema (die Quaestio) einer Erzählung mit 5-7 Jahren

verständlich wiedergeben (Boueke et al. 1995). Betrachten wir ein Beispiel für die

Nacherzählung einer Bildergeschichte (Boueke et al. 1995: 235) aus „Der kleine Herr Jakob“

durch den 7-jährigen Bernd:

(9) also da kamen se also jetzt eh . auf ne ei/e der fährt auf dieser Richtung und der

krach/e dach . dieser . Richtung noch n anderer . und dann auf einmal . krachen se

zusamm und das Rad e bei dem is n bißchen . krumm und dann repariert d.er das . und

dann . noch . und dann pas/ . dann fahrn se wieder richtig das eine Rad liegt da auf ner

Wiese . und dann . krachen se nochmal zusamm

Altersgemäß arbeitet das Kind die zentrale Episode mit einer Komplikation heraus. Dies

entspricht dem „strukturierten“ Erzähltyp nach der Klassifikation von Boueke et al. (1995).

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Im „isolierten“ Erzähltyp setzen Kinder die Elemente der Geschichte unverbunden

nebeneinander. Im „linearen“ Erzähltyp gelingt die Verknüpfung von Elementen zu einer

linearen Kette (Beachtung der Bildreihenfolge). Im Kindergartenalter, zwischen ca. 3 und 5

Jahren, beherrschen die meisten Kinder den isolierten bzw. linearen Erzähltyp. Im

„strukturierten“ Erzähltyp arbeiten die Kinder bei einer Geschichte die zentrale Episode mit

Komplikation/Bruch heraus. Der lineare bzw. strukturierte Erzähltyp wird von den meisten

Kindern mit ca. 7 Jahren (in der 2. Klasse) beherrscht. Der vierte Erzähltyp ist „narrativ

strukturiert“, d.h. das allgemeine Erzählschema „Setting > Episode (auslösendes Ereignis +

Komplikation) > Auflösung“ ist vollständig ausgebildet. Die meisten Kinder sind mit ca. 9

Jahren (in der 4. Klasse) in der Lage, strukturiert bzw. narrativ zu erzählen.

Konversationsstruktur. Ab ungefähr 18 Monaten ergreifen Kinder die Gesprächsinitiative (vgl.

Pan & Snow 1999). Sie können über zwei Gesprächsbeiträge (‚turns’) hinweg ein Gespräch

aufrecht erhalten und beachten schon elementare Regeln des Sprecherwechsels, obgleich es

bei der Übergabe des Rederechts noch manchmal zu Schwierigkeiten kommt. Ab 36 Monaten

sind die kindlichen Äußerungen auf das Gesprächsthema abgestimmt. Mit 4-5 Jahren können

die meisten Kinder ein längeres Gespräch mit verschiedenen Personen über unterschiedliche

Themen führen. Sie zeigen adäquate Reaktionen auf Nachfragen, wiederholen oder

modifizieren die eigene Äußerung, beherrschen schon Selbstreparaturen und Strategien zur

Beendigung von Gesprächen. Ab 2-3 Jahren findet man klärende Nachfragen bei

Verständnisproblemen. Vertrautheit mit der Gesprächspartnerin oder dem Gesprächspartner

spielt dabei aber eine große Rolle. Wenn Kindern der nötige Hintergrund fehlt, agieren sie

zurückhaltender oder schüchterner.

Der Versuch, Entwicklungen in den verschiedenen pragmatischen Domänen zu

veranschaulichen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle diese Entwicklungen parallel

verlaufen und sich gegenseitig bedingen. Zudem sind sie von anderen kognitiven und

sozialen Entwicklungen abhängig. Ein allgemeingültiges Entwicklungsszenario im Bereich der

pragmatischen Entwicklung aufzustellen, ist daher außerordentlich schwierig.

Als pragmatischen Meilenstein betrachte ich den Wortschatzspurt ab 18 Monaten (u.a.

gesteuert durch pragmatische Prinzipien, vgl. Clark 2004), der im Zusammenhang mit der

syntaktischen Entwicklung ein stetig wachsendes Äußerungspotenzial eröffnet. Der Erwerb

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einer Theory of Mind (Verstehen der Einstellungen, Gedanken und Emotionen von Anderen)

ab 3 Jahren bereitet den Weg für pragmatisches Schließen, das unbedingt nötig ist für die

pragmatische Anreicherung. Schließlich ist ein weiterer Meilenstein der pragmatischen

Entwicklung der Erwerb des Lesens und Schreibens in den ersten Schuljahren, welcher in den

Kontext von Early Childhood Literacy (Hall & Larson & Marsh 2003) zu stellen ist.

Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch erwähnen, dass manche Fragestellungen in

Bezug auf die pragmatische Entwicklung noch einer systematischen Reflexion harren: (a) Wie

kann man den kindlichen Entwicklungsweg vom Voraussetzen des Kontexts zu seiner

Versprachlichung beschreiben? (b) Wie hängen frühe pragmatische Fähigkeiten (in der

Vorschulzeit) mit späteren pragmatischen Fähigkeiten (bis zur Adoleszenz) zusammen? (c)

Was begünstigt oder behindert die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten? Um diese Fragen

sinnvoll beantworten zu können, bedarf es noch mehr empirischer Forschung und

theoretischer Reflexion.

4. Pragmatische Störung (Pragmatic Language Impairment)

Pragmatische Fähigkeiten entwickeln sich, sie werden im Spracherwerb aufgebaut und im

Sprachverlust abgebaut. Kinder wie auch Erwachsene können unter mangelnder

pragmatischer Kompetenz leiden, mit gravierenden psychischen und sozialen Folgen. Man

fragt sich, wie diese Störungen zu erkennen sind. Was ist ein „normales“ pragmatisches

Verhalten und inwieweit kann davon abgewichen werden?

Die Beantwortung dieser Fragen setzt eine pragmatische Normierung voraus, etwa durch das

Erstellen eines pragmatischen Profils von Kindern im Sinne von Dohmen et al. (2009).

Diagnostizierte Abweichungen können dann einerseits in den Bereich der spezifischen

Sprachentwicklungsstörung (sSES) oder des Pragmatic Language Impairment (PLI) fallen, oder

im Zusammenhang mit anderen Krankheitsbildern wie dem Autismus oder der Aphasie

vorkommen (vgl. Leinonen et al. 2000, Norbury & Bishop 2002, Ryder et al. 2008, Ryder

2011). Das ganze zu vermessende Gebiet ist also groß und vielfältig.

Man muss betonen, dass die Forschung sich nicht auf normales pragmatisches Fehlverhalten

bezieht oder ein pragmatisch abweichendes Verhalten, das soziale oder charakterliche

Wurzeln hat. Wenn ein Kind generell auf Fragen keine Antwort gibt oder unpassende

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Antworten, wenn es keine indirekten Sprechakte ausführen kann, wenn es nicht weiß, was die

Glückensbedingungen für einfache Sprechakte sind, wenn es Ironie und Metapher

grundsätzlich nicht versteht, besteht der Verdacht, es könne sich dabei um eine pragmatische

Störung handeln (Leinonen et al. 2000). Dieser Verdacht kommt zum Beispiel auf, wenn man

sich die folgende Antwort des Kindes auf die Erwachsenenfrage anschaut (Beispiel aus

Perkins 2007: 31):

(10) Adult: and what‘s in the picture?

Child: it’s a sheep .on a farm . And my uncle’s farm and it has babies .bamby lambs .

and tadpoles . frogs have baby tadpoles but tadpoles don’t have any legs . do they? but

frogs have legs . and it was in the pond . and mommy saw it …

In den beiden aktuellen Monografien von Perkins (2007) und Cummings (2009) wird betont,

dass nicht nur die klinische Praxis von der Entwicklung der kognitiven Pragmatik profitieren

kann, sondern dass auch umgekehrt die theoretische Pragmatik von der Untersuchung

pragmatischer Störungen lernen kann (und muss).

Bei Perkins (2007) steht der Versuch im Vordergrund, eine pragmatische Theorie zu

entwickeln, die den Ergebnissen und Erfordernissen klinischer Forschung Rechnung trägt. Die

Theorie, die er entwickelt bzw. vertritt, heißt „emergentist pragmatics“ (EP). Pragmatik wird

hier nicht als ein mentales Modul betrachtet, sondern, durchaus holististisch, als ein

emergentes Produkt verschiedener kognitiver, semiotischer und sensomotorischer Prozesse.

Die Theorie soll so allumfassend sein, dass sie sowohl pragmatischen Fähigkeiten als auch

ihren Störungen gerecht wird. Ein weiter Bogen wird gespannt, was die Quellen in der

Forschungsliteratur angeht: von der Sprechakt- und Implikaturentheorie bis hin zur

Relevanztheorie und Diskursanalyse. Da viele empirische Studien zu pragmatischen

Störungen auf der Analyse von authentischem Diskurs gründen, ist es sinnvoll, an konkreten

Beispielen eines abweichenden Diskursverhaltens zu zeigen, was eine pragmatische Störung

sein könnte. Der nächste Schritt ist es, dieses Verhalten mit einem bestimmten Krankheitsbild

in Verbindung zu bringen, gibt es nun einen ätiologischen Befund oder nicht.

Den Begriff der pragmatischen Störung, obgleich durchaus üblich, hält Perkins für

ungeeignet. Er sei zu vage, um dem Spektrum klinischer Befunde gerecht zu werden. Für die

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emergente Pragmatik im Sinne von Perkins sind zwei Begriffe wichtig: der der Wahl (‚choice’)

und der der kompensatorischen Adaption (‚compensatory adaptation’).

In jeder Sprechsituation, so die Annahme, hat die Sprecherin eine Wahl zwischen

verschiedenen pragmatischen Strategien. Wenn ich ein Brötchen bekommen will, kann ich

zum Beispiel fragen Könnte ich ein Brötchen haben? oder Ist noch ein Brötchen da?, usw.

Perkins (2007) zeigt anhand dreier Fallstudien zu den Patienten Len, Lucy und Peter, dass der

Verlust pragmatischer Fähigkeiten mit der Verringerung von Wahlmöglichkeiten zu tun hat: „

(…) the range of linguistic choices open to them is more restricted than those enjoyed by

more typical speakers.“ (S. 57)

Hat ein Sprecher ein pragmatisches Defizit, ist kompensatorische Adaption erwartbar.

Sprecherinnen entwickeln Strategien, ihr Defizit zu kompensieren. Genau dieser Umstand ist

es, der eine eindeutige Verbindung zwischen einem diagnostizierten Krankheitsbild und

einem bestimmten pragmatisch auffälligem Verhalten schwierig, wenn nicht gar unmöglich

macht.

Während Perkins von emergenter Pragmatik spricht, fasst Cummings (klinische) Pragmatik als

multidisziplinär auf (siehe auch Cummings 2005, 2010b). Zum Beispiel muss ein

Sprachpathologe Kenntnisse der linguistischen Pragmatik und der Psycholinguistik haben:

Cummings (2009) unterscheidet zwischen developmentalen Pragmatikstörungen, wozu sie

SLI, Krankheiten des autistischen Spektrums, emotionale und Verhaltensauffälligkeiten und

mentale Retardation rechnet und erworbenen Pragmatikstörungen. Erworbene pragmatische

Dysfunktionen sind links- und rechtshemisphärische Läsionen, Schizophrenie, traumatische

Gehirnverletzungen und neurodegenerative Dysfunktionen.

Für die klinische Praxis sind natürlich präzise Mess- und Diagnoseinstrumente enorm wichtig

(vgl. Spreen-Rauscher 2007). Dies sind im Wesentlichen Checklisten, die auf angenommenen

pragmatischen Profilen basieren (vgl. Grimm & Doil 2000), oder experimentelle Verfahren.

Nehmen wir als Beispiel für ein Diagnoseinstrument das „Pragmatische Profil“. Betrachtet

werde die Fähigkeit, eine Aufforderung auszudrücken. In der Kurzübersicht über die

Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten heißt es dazu (Dohmen et al. 2009: 41).

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(11) „Mit 9-24 Monaten ist es Kindern möglich, alle Typen von Aufforderungen

auszudrücken: zunächst ausschließlich präverbal, dann durch Kombination von Gesten

und einzelnen Worten bzw. Fragepronomen. Ab 3 Jahren recht kompetenter Einsatz

von Sprache, der im Laufe der Jahre weiter ausdifferenziert wird.“

In der Langform des Interviews I heißt die dazu passende Interviewfrage „Aufforderung zur

Handlung“ (Dohmen et al. 2009, S. 49):

(12) Was macht (Name des Kindes), wenn sie/er auf den Arm genommen werden

möchte?

• guckt zu Ihnen hoch

• streckt Ihnen die Arme entgegen

• sagt etwas wie: „Hoch!“ oder „Arm!“

• sagt etwas wie „Ich bin müde!“, „Ich will kuscheln!“

Wenn also ein vierjähriges Kind in entsprechenden Handlungssituationen immer nur zum

Interviewpartner hochgucken würde (die erste Möglichkeit), würde es nicht der

altersgemäßen Verhaltensnorm entsprechen.

Ist ein pragmatisches Fehlverhalten diagnostiziert, stellt sich die Frage nach seiner

Therapierbarkeit. Es scheint so zu sein, dass man über Angemessenheit und Wirksamkeit der

diagnostischen und therapeutischen Instrumente wenig weiß, so dass hier kritische Reflexion

und Weiterentwicklung angebracht sind (Cummings 2009).

Insgesamt ist es Cummings ein Anliegen, kernpragmatischen Ansätzen, also solchen, die in

der pragmatischen Tradition auf Konzepte wie Sprechakt, Implikatur, Deixis, Präsupposition

und Konversation rekurrieren, gegenüber einer ausufernden und unspezifischen Verwendung

von „Pragmatik“, die im Grunde die gesamte Kommunikation (manchmal noch paraverbale

Aspekte wie Gestik, Mimik, usw.) umfasst, zu mehr Recht zu verhelfen (siehe auch Cummings

2009).

Darüber hinaus betont sie die Relevanz, aber auch die Problematik der Unterscheidung

zwischen primären und sekundären pragmatischen Störungen. Sekundäre pragmatische

Störungen sind solche, die auf strukturelle Defizite zurückzuführen sind. Wenn ein Patient

zum Beispiel keine höfliche indirekte Bitte produzieren kann, könnte dies damit zu tun haben,

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dass eine Aphasie oder eine SLI vorliegt. Dagegen liegen primäre pragmatische Störungen

zum Beispiel dann vor, wenn Syntax and Semantik im Prinzip in Ordnung sind, aber der

Patient unfähig ist, den Redekontext zu überblicken, der etwa eine höfliche Bitte verlangt.

Jedoch ist nicht nur die präzise Abgrenzung schwierig, es können auch beide Störungen bei

der gleichen Person vorliegen.

Ähnlich wie auch Perkins im Zusammenhang mit der kompensatorischen Adaption betont

auch Cummings, dass vor lauter Eifer, die pragmatischen Dysfunktionen aufzuspüren,

manchmal das Gefühl dafür zu verloren gehen scheint, was pragmatisch gestörte

Sprecherinnen und Sprecher noch für große pragmatische Fähigkeiten haben und wie sie

diese geschickt einsetzen. Auch diese kompensatorischen Strategien sind ein eigener

Untersuchungsgegenstand für die linguistische Pragmatik, zumal man daraus eventuell

Hinweise auf geeignete therapeutische Verfahren ableiten könnte.

In Handbuchdarstellungen wie Glück (2007) oder Ryder (2010: 338) findet man Definitionen

wie die folgenden, die auf die große Bedeutung des Kontexts bzw. der Fähigkeit, diesen zu

beherrschen, verweisen:

(13) a. „Unter pragmatischen Störungen werden Auffälligkeiten in der

Sprachverwendung von Kindern und Jugendlichen verstanden. Die Auffälligkeiten

resultieren aus einer mangelnden Anpassung der Sprachverwendung an den jeweiligen

Kontext. Die Äußerungen erscheinen unangemessen.” (Glück 2007)

b. “Pragmatic language impairment (PLI) refers to difficulties with the pragmatic use of

language, particularly the use of relevant context in interpretation.” (Ryder 2010: 338)

Wie schon dargestellt, ist der Kontextbegriff alles andere als geklärt, so dass auch hier

weiterer Forschungsbedarf besteht. Die Idee, dass pragmatische Störungen mit Problemen

der Kontextbeherrschung zu tun haben könnte, ist auf jeden Fall verfolgenswert (vgl. auch

Cummings 2012).

Vor dem Hintergrund dessen, was wir über pragmatische Theorie und pragmatische

Entwicklung wissen, stellt sich die Frage, welche Ansätze am ehesten den bekannten

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Beobachtungen gerecht werden, oder umgekehrt: Welche Beobachtungen aus der klinischen

Praxis am ehesten eine bestimmte pragmatische Theorie oder Theorie des pragmatischen

Erwerbs unterstützen. Diese Debatte hat kaum begonnen. Hilfreich sind erste Überlegungen

von Stainton (2011), der vor dem Hintergrund von Perkins (2007) und Cummings (2009) erste

Einordnungen vornimmt.

Stainton (2011) unterscheidet zwischen drei verschiedenen Annahmen:

A1: Pragmatics Module: A pragmatic impairment is a clinical dysfunction in the

pragmatics module, typically resulting in troubled linguistic social interaction (compare

a coronary impairment).

A2: Not-Specifically-Pragmatic Causes: A pragmatic impairment is a breakdown in

linguistic social interaction, whatever the clinical cause (compare mobility impairments).

A3: Pragmatic Abilities: A pragmatic impairment is a clinical dysfunction in one or more

specifically pragmatic abilities (compare hearing impairments).

A 1 entspricht am ehesten der Sicht von Cummings (2009), während sich die Sichtweisen A2

und A3 beide bei Perkins (2007) finden. Es ist deutlich, dass beim gegenwärtigen Wissen über

pragmatische Störungen Argumente für alle drei Annahmen gefunden werden können. Wie

nicht anders zu erwarten, spielen generelle Auffassungen darüber, was Pragmatik ist und wie

sie sich entwickelt, bei der Option für eine dieser Grundannahmen eine zentrale Rolle.

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