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52 DER FORTSCHRITTLICHE LANDWIRT • www.landwirt.com Heft 18 / 2012 FAMILIE, HAUS UND GARTEN Ulrike Halmschlager ist Kamarafrau und hat ihre an Alzheimer er- krankte Mutter die letz- ten Jahre mit der Video- kamera begleitet. Eine Geschichte über Liebe, Angst, Scham und dem langen Abschied. Mehr Erkrankungen Morbus Alzheimer ist die häufigste Form der Demenzerkrankungen und wird uns früher oder später alle betreffen. Denn allein in Österreich hat sich die Zahl der Alzheimer Erkrankungen seit den 1950er Jahren verdreifacht. Die Zahl soll weiter steigen. Auch Ulrike Halmschlager und ihre Schwester Andrea mussten sich mit der Krankheit auseinandersetzen. Nach dem Tod ihres Vaters bemerkten die beiden, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimm- te. Die 70 jährige begann, Dinge zu ver- gessen, auch die Trauer um ihren Mann. Sie suchte nach Worten, ihr Wesen ver- änderte sich. Es kamen Defizite ans Licht, die zuvor der Ehemann ausgeglichen hatte. „Lange wollten wir es nicht wahr- haben und verdrängten die Tatsache“, gestand die Salzburgerin. Erst eine Un- tersuchung in der Gedächtnisambulanz brachte die nötige Klarheit. „Unsere Mut- ter hat Alzheimer.“ Alzheimer bedeutet, die Verantwortung Stück für Stück abzugeben Jeden Tag ein bisschen weniger Von Angelika KONRAD, St. Peter Freienstein Jeden Tag ein bis- schen we- niger – Alzheimer bedeutet die Ver- antwor- tung lang- sam abzu- geben.

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52 DER FORTSCHRITTLICHE LANDWIRT • www.landwirt.com Heft 18 / 2012

FAMILIE, HAUS UND GARTEN

Ulrike Halmschlager ist Kamarafrau und hatihre an Alzheimer er-krankte Mutter die letz-ten Jahre mit der Video-kamera begleitet. Eine Geschichte überLiebe, Angst, Schamund dem langen Abschied.

Mehr Erkrankungen

Morbus Alzheimer ist die häufigsteForm der Demenzerkrankungen undwird uns früher oder später alle betreffen.Denn allein in Österreich hat sich dieZahl der Alzheimer Erkrankungen seitden 1950er Jahren verdreifacht. Die Zahlsoll weiter steigen.

Auch Ulrike Halmschlager und ihreSchwester Andrea mussten sich mit derKrankheit auseinandersetzen. Nach demTod ihres Vaters bemerkten die beiden,dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimm-te. Die 70 jährige begann, Dinge zu ver-gessen, auch die Trauer um ihren Mann.Sie suchte nach Worten, ihr Wesen ver-änderte sich. Es kamen Defizite ans Licht,die zuvor der Ehemann ausgeglichenhatte. „Lange wollten wir es nicht wahr-haben und verdrängten die Tatsache“,gestand die Salzburgerin. Erst eine Un-tersuchung in der Gedächtnisambulanzbrachte die nötige Klarheit. „Unsere Mut-ter hat Alzheimer.“

„Alzheimer bedeutet, dieVerantwortung Stück für Stück

abzugeben“

Jeden Tag ein bisschen wenigerVon Angelika KONRAD, St. Peter Freienstein

Jeden Tagein bis-

schen we-niger –

Alzheimerbedeutetdie Ver-antwor-

tung lang-sam abzu-

geben.

FAMILIE, HAUS UND GARTEN

Im Film quietscht und singt ihre Schwe-ster am Krankenbett der Mutter. IlseHalmschlager lacht, blabbert mit.„Unsere Mutter hat sich immer Enkel-kinder gewünscht. Aber sie ist zu unse-rem Kind geworden“, sagt die Filmema-cherin. „Gefühle zeigen konnte sie immergut, dafür hat sie nie Worte gebraucht.“Für die beiden Schwestern war es einLernprozess, ihre Mutter so zu erlebenund sich nicht dafür zu schämen, odersie gar zu verstecken.

Langer Abschied

In der Zeit des langen Abschiedskonnte sich Ulrike Halmschlager mit ih-rer Mutter, die sie, seitdem sie erwachsenist, nur noch Ilse nennt, wieder versöh-nen. „Wir hatten unsere schwierigen Pha-sen“, gesteht sie. Mit der Krankheit be-kam sie einen neuen Zugang zu ihrerMutter. Eines hat die Kamerafrau gelernt:„Es ist wichtig, das Hier und Jetzt zu le-ben. Angst über das Bevorstehende rui-niert unser Leben und behindert nur un-sere Zukunft. Alzheimer ist ein lang-sames Sterben. Die Krankheit gibt Zeit,um Unverarbeitetes und versteckte Ge-fühle hochkommen zu lassen und sich von Altlasten zu befreien. Viele Men-schen konfrontieren sich ein Leben langnicht mit ihren eigenen Bedürfnissen undkonzentrieren sich zu sehr auf andere.Dabei übersieht man die Zeichen, dieder Körper setzt. Wir tragen Verantwor-tung für uns!“

Ulrike Halmschlager lebt in Salzburg.Nach dem Studium an der Universitätfür Musik und darstellende Kunst inWien (Abteilung Film und Fernsehen,Studienrichtung Kamera) ist sie selbst-ständig und arbeitet unter anderem fürden ORF Salzburg als Kamerafrau.

Mit ihrem Film „Ilse, wo bist du?“ hatsie beim TV & Media Award Cannes denSilbernen Delphin bekommen. Mehr über den Film finden Sie unterwww.ilsewobistdu.at ■

Alzheimer der einzige Weg zu gehen“,ist sich die gelernte Kamerafrau sicher.

Stummes Ertragen

Ilse Halmschlager gehörte jener Ge-neration an, der die Meinung der ande-ren sehr wichtig ist. „Was würden dieLeute sagen?“, prägte sie. Die Kremserinwar eine brave Tochter, die trotz ihrerstarken Persönlichkeit, sehr unter dem

stärkeren Willen derMutter litt. StummesErtragen, leiden unddas gefallen Wollen be-schreiben ihr Lebensehr. Ein ganzes Lebenlang hat sie sich daraufkonzentriert, wie sieauf andere wirkt. DieKrankheit Alzheimerhat diese Selbstkontrol-le jeden Tag ein bis-schen mehr verschwin-den lassen.

Alleine lebengeht nicht mehr

Das jeden Tag ein bisschen wenigermachte es irgendwann nicht mehr mög-lich, Ilse Halmschlager alleine zu lassen.Ihre beiden Töchter räumten das Kin-derzimmer aus und slowakische Pflege-rinnen zogen ein. „Es dauerte lange, bisIlse sie akzeptiert hat“, erinnert sich dieSalzburgerin. Doch sie haben sich arran-giert. Von da an hatte Ulrike Halmschla-ger wieder mehr Zeit und begleitete ihreMutter die letzten fünf Jahre mit der Vi-deokamera. Bilder aus dem Privatarchivarbeitete sie auch mit in den Film ein.„Schon seit früher Kindheit wurde inder Familie fotografiert und gefilmt. Mei-ne Mutter hat mich öfters zu Drehter-minen begleitet. Die Kamera war ihr alsovertraut. Sie hat sie mit mir in Verbin-dung gebracht“, so die Salzburgerin. DieKritik, sie wolle ihre Mutter nur ver-markten, weist sie zurück: „Ich möchteanderen die Angst vor der Krankheitnehmen und sie dazu ermuntern, diePatienten nicht zu verstecken.“

Gefühle zulassen

Wenn die Kommunikation mit Wortennicht mehr funktioniert, muss man esauf der nonverbalen Ebene versuchen.

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Der Beginn

Für die Angehörigen ist die Diagnosewie ein Todesurteil. Es gibt kein heraus-kommen, keine Medikamente, um dieKrankheit heilen zu können. Man kannnur ohnmächtig zusehen. Die ersten An-zeichen werden immer deutlicher. Ilsebeginnt wegzulaufen, wird zur Getrie-benen und wird öfters von der Polizeinach Hause gebracht. Sie war eine gute

Köchin, doch plötzlich weiß sie mit denLebensmitteln nichts mehr anzufangen.Sie schreibt sich einfache Worte auf No-tizzetteln auf. Da sich ihre Töchter nichtsicher waren, ob sie noch alleine lebenkann, organisierten sie Hausbesuche vonder Caritas. Anfangs wöchentlich, spätertäglich. „Wir wohnen beide in anderenStädten und konnten nicht jeden Tag beiunserer Mutter vorbeischauen“, sagt Ul-rike Halmschlager. Für sie war die erstePhase die mitunter schwierigste. „Ichkonnte immer zu meiner starken Mutteraufsehen. Wir mussten plötzlich Verant-wortung übernehmen, ob wir wolltenoder nicht.“

Langsamer Rückzug

Alzheimer ist ein langsamer Rückzugaus dem Leben. Jeden Tag ein bisschenweniger. Dafür kommen die Gefühlestärker ans Licht. „Anfangs war es unspeinlich und wir waren genervt“, gestehtUlrike Halmschlager. Bei Spaziergängensang ihre Mutter laut vor sich hin, sprachDinge aus, die sie zuvor nie gesagt hätte.Sie begann sogar, in Mundart zu spre-chen, was sie sonst nie tat. „Im Nach-hinein betrachtet war für meine Mutter

Ulrike Halmschlager hat ihre Mutter Ilse mit der Kamerabegleitet.  

„Wir konntendich halten, nicht

aufhalten“

Buchtipp

ISBN: 978-3-942509-13-8 Ulrike Halmschlager

„ILSE, WO BIST DU?" Softcover, 170 Seiten, 140 x 215 mm

€ 19,50

Zu beziehen bei:Bücherquelle

Buchhandlungsgesellschaft m.b.H.Hofgasse 5, 8010 Graz

Tel.: +43/316/821636-112 und 111 Fax: +43/316/835612

E-Mail: [email protected] Internet: www.buecherquelle.at