inselbegabte savants

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Savants 29.06.2006 http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,423748,00.html Inselbegabte Die Geistes-Giganten Von Karin Steinberger Sie sind oft hilfsbedürftig und behindert. Aber in ihren Gehirnen haben Inselbegabte Platz für alles Wissen der Welt: Sie lernen Telefonbücher auswendig, zeichnen Stadtpläne aus dem Gedächtnis und spielen spontan Pianokonzerte nach. Wo liegt der Schlüssel zum Genie? Zum Frühstück gibt es Cheese-Bagel mit Eiern. Kim Peek schiebt sich das Zeug in den Mund, schnell muss es gehen. Er hat viel zu sagen. Dazu gibt es Cola und ein paar Brocken deutsche Geschichte. Er erzählt von den Franken und den Habsburgern, schreit Regierungsdaten und Geburtstage in das Restaurant, stößt Lacher aus und immer neue Zahlen. "Nicht so laut, Kim", sagt der Vater. Kim Peek versucht es leiser, singt Melodien aus "Tristan und Isolde", Richard Wagner, 1859 komponiert, 1865 uraufgeführt, sechs Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen. Tamdadaram. Ein gurgelndes Lachen rollt aus ihm heraus. Irgendwie kommt er dann über Käptn Nemo zurück zu den Habsburgern. "1438 bis 1806", sagt er, "immer Habsburger." Dann zählt er sie auf, im Schnelldurchlauf, verhaspelt sich, so viele Namen, sind alle in seinem Kopf. Nur die Sprache kommt nicht mit. Bei den letzten Bissen ist Zweiter Weltkrieg. Bei Hitlers Tod ist der Teller leer. Den Rest erledigt er im Hinausgehen: "Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel. Stimmt doch, Dad?" Dad nickt. So ist das, wenn man mit Kim Peek unterwegs ist. Es ist großartig. Im Auto geht es weiter. Kim Peek macht das Radio an, Klassik, volle Lautstärke, dann singt er mit. Er singt immer mit, weil er jedes Lied kennt, das er einmal gehört hat. Jede Note. In Konzerte kann man ihn deshalb schon lange nicht mehr mitnehmen. In Shakespeare-Aufführungen auch nicht. Ein Fehler, und er sprengt die Vorstellung. Es gibt Menschen, die ihn Kimputer nennen, weil er die Daten irgendwo in seinem Kopf speichert in endloser Zahl. Jederzeit abrufbar. Aber wenn Kim Peek nach Hause kommt, putzt ihm sein Vater die Zähne. So ist das, wenn man nicht vergessen kann; wenn es keine Löschtaste und keinen Filter gibt; wenn man, wie es der australische Hirnforscher Allan Snyder sagt, "einen privilegierten Zugang zu den tieferen Schichten des Gehirns hat". Wenn die normalerweise wenig genutzte rechte Hirnhälfte wie besessen arbeitet, weil die sonst immer dominante linke Hälfte ausgeschaltet wurde. Bei manchen durch einen angeborenen Fehler. Andere wurden durch einen Unfall genial. Es ist verwirrend. 1 / 32

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Page 1: Inselbegabte Savants

Savants

29.06.2006 http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,423748,00.html

Inselbegabte

Die Geistes-Giganten

Von Karin Steinberger

Sie sind oft hilfsbedürftig und behindert. Aber in ihren Gehirnen haben Inselbegabte Platz für alles Wissen der Welt: Sie lernen Telefonbücher auswendig, zeichnen Stadtpläne aus dem Gedächtnis und spielen spontan Pianokonzerte nach. Wo liegt der Schlüssel zum Genie?

Zum Frühstück gibt es Cheese-Bagel mit Eiern. Kim Peek schiebt sich das Zeug in den Mund, schnell muss es gehen. Er hat viel zu sagen. Dazu gibt es Cola und ein paar Brocken deutsche Geschichte. Er erzählt von den Franken und den Habsburgern, schreit Regierungsdaten und Geburtstage in das Restaurant, stößt Lacher aus und immer neue Zahlen. "Nicht so laut, Kim", sagt der Vater.

Kim Peek versucht es leiser, singt Melodien aus "Tristan und Isolde", Richard Wagner, 1859 komponiert, 1865 uraufgeführt, sechs Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen. Tamdadaram. Ein gurgelndes Lachen rollt aus ihm heraus. Irgendwie kommt er dann über Käptn Nemo zurück zu den Habsburgern. "1438 bis 1806", sagt er, "immer Habsburger." Dann zählt er sie auf, im Schnelldurchlauf, verhaspelt sich, so viele Namen, sind alle in seinem Kopf. Nur die Sprache kommt nicht mit. Bei den letzten Bissen ist Zweiter Weltkrieg. Bei Hitlers Tod ist der Teller leer. Den Rest erledigt er im Hinausgehen: "Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel. Stimmt doch, Dad?" Dad nickt.

So ist das, wenn man mit Kim Peek unterwegs ist. Es ist großartig.

Im Auto geht es weiter. Kim Peek macht das Radio an, Klassik, volle Lautstärke, dann singt er mit. Er singt immer mit, weil er jedes Lied kennt, das er einmal gehört hat. Jede Note. In Konzerte kann man ihn deshalb schon lange nicht mehr mitnehmen. In Shakespeare-Aufführungen auch nicht. Ein Fehler, und er sprengt die Vorstellung. Es gibt Menschen, die ihn Kimputer nennen, weil er die Daten irgendwo in seinem Kopf speichert in endloser Zahl. Jederzeit abrufbar. Aber wenn Kim Peek nach Hause kommt, putzt ihm sein Vater die Zähne.

So ist das, wenn man nicht vergessen kann; wenn es keine Löschtaste und keinen Filter gibt; wenn man, wie es der australische Hirnforscher Allan Snyder sagt, "einen privilegierten Zugang zu den tieferen Schichten des Gehirns hat". Wenn die normalerweise wenig genutzte rechte Hirnhälfte wie besessen arbeitet, weil die sonst immer dominante linke Hälfte ausgeschaltet wurde. Bei manchen durch einen angeborenen Fehler. Andere wurden durch einen Unfall genial. Es ist verwirrend.

Vor dem Fenster rauscht Salt Lake City vorbei, diese Stadt, in der Kim Peek jedes Haus kennt, jede Straßennummer, jeden Eigentümer, jeden Mieter. Weil er alle Adress- und Telefonbücher der Stadt gelesen hat. Alle, die es in der Bibliothek von Salt Lake City gibt. Gestern hat er stundenlang das Buch aus dem Jahr 1901 durchgearbeitet. Er hat es ganz nah an sein Gesicht gezogen und gelesen, die linken Seiten mit dem linken Auge, die rechten mit dem rechten. Kim Peek nennt das "scannen". Acht Seiten in 53 Sekunden. Vergessen wird er fast nichts davon.

Seit ein paar Jahren ist Kim Peek mit diesem "Telefonzeug" beschäftigt, wie es sein Vater nennt. Manche Namen schreibt Kim Peek auf, andere nicht. Er ordnet Menschen. Warum, weiß niemand. Aber er arbeitet an seinem Projekt wie ein Besessener, als hätte er einen geheimen Auftrag. Im Auto kommt das Wissen zum Einsatz: Dort, in Haus 5070, lebt das älteste Mitglied des Mormonenchors. Da drüben war einmal eine Wäscherei, dann ein Parkplatz, dann Dairy Queen, jetzt ein griechisches Restaurant. Kim Peek starrt seine Finger an. "Ich bin auf dem Sofa aufgewachsen. Ist es nicht so, Dad?" - "Ja, dein Kopf war so groß, dass dein Hals ihn nicht tragen konnte", sagt Fran Peek und schiebt seinem Sohn ein Pfefferminzbonbon in den Mund.

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Am 11. November 1951 kam Kim Peek auf die Welt, mit einem Kopf, der ein Drittel größer war als der normaler Babys. Die Eltern haben es am Anfang gar nicht gemerkt, haben sich mehr Sorgen gemacht um die winzigen Nachbarkinder.

Und Kim lag da mit seinem Schädel, groß wie ein Medizinball.

Es ist ein Kopf, von dem die Wissenschaftler heute gar nicht genug bekommen können. Es gibt wohl kaum ein Gehirn, das öfter gescannt, durchleuchtet und getestet wurde als das von Kim Peek. Es wurde mit Röntgenstrahlen bearbeitet und bei der Kernspintomographie magnetischen Feldern ausgesetzt, ihm wurden für die Positronen-Emissions-Tomographie radioaktiv markierte Substanzen injiziert, an der Universität von Kalifornien wurde bei ihm mithilfe des Diffusion Tensor Imaging die Verteilung von Wasserstoffmolekülen und Nervenfaserverbindungen gemessen, und Forscher haben zugeschaut, welche Neuronen bei ihm bei welchen Gedanken aktiv sind. Kim Peeks Gehirn ist weltweit millimeterscheibchenweise und dreidimensional abrufbar. Es gibt viele, die sein Hirn kennen, aber durchschaut hat ihn trotzdem noch niemand. Man hat nur einen Namen für Menschen wie Kim Peek - Savants, die Wissenden, die Inselbegabten.

Wer zu Darold Treffert in den Keller seines Hauses in Wisconsin geht, kann sich die Gehirne sehr vieler Savants ansehen. Der Psychologe gilt als einer der bedeutendsten Savant-Forscher der Welt. Während er in Kisten und Papierstößen nach den Unterlagen zu Kim Peek sucht, sagt er: "Solange wir das Savant-Syndrom nicht erklären können, können wir uns selbst nicht erklären."

Natürlich sei man vorangekommen, seit der Arzt Benjamin Rush 1789 erstmals die unerklärlichen Fähigkeiten des Thomas Fuller beschrieb, sagt Treffert. Fuller, der mit Mühe zählen konnte, antwortete einst auf die Frage, wie viele Sekunden ein Mann gelebt habe, der 70 Jahre, 17 Tage und 12 Stunden alt sei, nach nur eineinhalb Minuten mit: 2210500800. Es dauerte dann noch einmal fast 100 Jahre, bis der Arzt John Langdon-Down den Begriff "idiots-savants" einführte, weil er einen Patienten beobachtet hatte mit dem sehr niedrigen IQ von 25, der Edward Gibbons Buch "Verfall und Untergang des römischen Imperiums" nach einmaligem Lesen auswendig konnte. Alles lange her. Der Begriff Idiot wurde verworfen und man weiß mittlerweile, dass es auch Savants mit sehr viel höherem IQ gibt. Man weiß auch, dass jeder zehnte Autist ein Savant ist und dass sechs von sieben Savants Männer sind.

Sie sind vorangekommen, aber letztlich stehen sie noch immer vor einem Rätsel.

Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt sich Treffert mit Savants, er hat Männer untersucht, die aus der Ferne einen Turm anschauen und sagen, wie hoch er ist, auf den Zentimeter genau. Er hat so viel Unerklärliches gesehen, dass er eigentlich alles glaubt. Treffert hält Kims Gehirnscan hoch, schaut ihn an wie ein Kunstwerk und sagt: "Die Menschen sehen Savants, staunen und vergessen sie wieder. Aber wir können sie nicht einfach da draußen rumfliegen lassen wie Ufos. Wir müssen versuchen, sie zu verstehen. Kein Modell über Gehirnfunktionen ist komplett, bevor es nicht Kim mit einbezieht."

Was ist also los im Gehirn von Kim Peek? Wie kann es sein, dass ein Baby, das sich nicht bewegen konnte und aus dessen rechtem Hinterkopf eine gigantisch große Blase herauswucherte, plötzlich Bücher aus dem Regal zog und anfing, alles auswendig zu lernen? Namen, Jahreszahlen, das komplette Fernsehprogramm, alle Telefonvorwahlen der USA, das gesamte Straßennetz. Die Ärzte gaben Kim 14 Jahre, ein so schwer behindertes Kind mache es nicht länger, sagten sie und rieten, ihn in ein Heim zu geben.

Kim Peek ist jetzt 54 Jahre alt. Und er ist immer noch da.

Und er ist berühmt. "Er ist der Gigant unter den Savants, ein Mega-Savant", sagt Treffert. Kim Peeks Fähigkeit ist Wissen. In 15 Bereichen. Jedes Buch, das er gelesen hat, merkt er sich, jedes Musikstück, das er einmal gehört hat, kennt er für immer, jedes Bild, das er gesehen hat, jedes Zitat, das er gehört hat. Einen wie Kim habe es in den letzten 120 Jahren so nicht gegeben, sagt Darold Treffert.

Er muss es wissen, er kennt sie alle. Viele sind es ohnehin nicht. Treffert sagt, es gibt 100 weltweit. 100 so genannte Prodigious Savants. Savants, die nicht nur die Busfahrpläne eines Bundeslands auswendig lernen oder die Fußballtabellen herunterrattern. Wer in Darold Trefferts Keller aufgenommen werden will, muss mehr können. Er muss wie der blinde und geistig behinderte Leslie Lemke mit 14 Jahren mitten in der Nacht hinuntergehen zum Klavier und Tschaikowskys Pianokonzert Nummer eins perfekt spielen. Ohne jemals Klavierunterricht gehabt zu haben. Einfach so, weil das Stück im Fernseher als Hintergrundmusik lief.

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Oder er muss sich wie Matt Savage mit sechs über Nacht selbst das Klavierspielen beibringen, mit sieben Jazz komponieren, und zwar so gut, dass Jazzlegenden wie Chick Chorea von einem Jahrhunderttalent sprechen. Matt, der Autist, den die eigene Mutter nicht berühren durfte.

Oder er muss wie Stephen Wiltshire nach einem 45-Minuten-Flug über Rom die Stadt nachzeichnen, aus dem Gedächtnis, über eine Papierbahn von fünf Metern Länge, und dabei jedes Haus, jedes Fenster, jeden Torbogen richtig erinnern. Stephen, der erst mit fünf sein erstes Wort sprach.

Oder er muss wie der autistische Alonzo Clemons schon als kleines Kind perfekte Tierskulpturen formen. Wundersame Gebilde, die er mit denselben Händen bastelt, die nicht dazu fähig sind, Essen in seinen Mund zu schieben oder seine Schuhe zu binden.

Oder er muss wie der vor kurzem verstorbene Schotte Richard Wawro detailgenau Szenen nachmalen, die er ein paar Sekunden gesehen hat. Er, der als Kind stundenlang nur im Kreis lief und auf dem Klavier immer und immer wieder eine einzige Taste anschlug.

Darold Treffert sieht das so: Man habe fast alles, was man über gesunde Körper wisse, durch Krankheiten gelernt. Und so werde man auch mehr über das gesunde Gehirn lernen, wenn man anormale Gehirne verstehe. Savants wissen Dinge, die sie nie gelernt haben. Woher? Und was für ein Potenzial steckt dann in uns allen? Wie können wir es an die Oberfläche bringen, ohne einen Herzinfarkt zu bekommen oder einen Schlag an den Kopf wie Orlando Serrell, der zehn Jahre alt war, als er von einem Baseball getroffen wurde. Seitdem erinnert er sich an jedes Detail, an jeden Tag in seinem Leben. An jeden Cheeseburger und jeden Regenschauer.

Darold Treffert dachte immer, dass es Zeit braucht, bis ein Defizit in der linken Hirnhälfte von der rechten kompensiert werden kann. "Aber die Plötzlichkeit, mit der es bei Serrell hochkam, bedeutet, dass es schon da ist, das muss nicht erst entwickelt werden. Es ist nur eine Art Entkommen aus der dominanten, linken Hemisphäre."

2. Teil

So ähnlich hat es sich auch der Hirnforscher Allan Snyder gedacht. Dann hat er bei mehreren Versuchspersonen an der Universität von Sydney mit einer Magnetspule Teile ihres Gehirns gelähmt. Vorübergehend und unblutig, seine Methoden sind trotzdem einigermaßen umstritten.

Mit seinen Versuchen will Snyder beweisen, dass er Menschen künstlich kreativ machen kann. Er will ihnen neue Tore öffnen, indem er Teile ihrer Gehirne abstellt. Die Fähigkeiten der Savants seien bei uns allen da, sagt Snyder, nur komme man nicht dran, weil die dominante linke Hirnhälfte uns die Welt durch Vorwissen ordne und viele nebensächliche Details herausfiltere. "Im täglichen Leben fahren wir damit ganz gut, aber wir tun so viel unbewusst. Manchmal frage ich mich, wer ist eigentlich der Chef in unserem Kopf?"

Und tatsächlich erkennen die von Snyder temporär hirnverletzten Personen jeden kleinen Schreibfehler, Dinge, die sie vorher übersehen haben, weil ihre linke Hirnhälfte sie ausgeblendet hat. Sie malen plötzlich Hunde dreidimensional und proportional richtig, nicht die unbeholfenen Strichfiguren, die sie davor hingekritzelt haben. Ein Beweis ist das noch nicht. Aber ein Ansatz.

"Irgendwann werden wir Kappen tragen, die uns die Fähigkeiten von Kim geben. Wir haben keinen Zugang zu den Hinterräumen unseres Gehirns, weil wir nur sehen, was wir kennen. Weil es im normalen Leben nicht von Vorteil ist, jedes Detail wahrzunehmen. Kim Peek sieht alles. Er ist hundert Prozent Detail", sagt Snyder.

Also schaut man es sich an, Kim Peeks Gehirn. In der Mitte ist nichts, nur erschreckende Leere. Es fehlt das Corpus callosum, die Verbindungsfasern zwischen den Hirnhälften. Und dahinter hängt das Cerebellum im schwarzen Raum, klein und verschrumpelt. Es fehlen also ganz entscheidende Teile im Kopf von Kim Peek.

Ihn stört das nicht. Er hat trotzdem gerade einen großen Auftritt.

Kim Peek steht jetzt in der Brigham Young Universität in Provo, Utah, Saal 111, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Vor ihm sitzen mehr als hundert Studenten, die Fragen stellen. Sie rufen ihre Geburtstage in den Saal. 9. August 1974. Kim Peek sagt: "Freitag. Dieses Jahr ist es ein Mittwoch. Und dein letzter Arbeitstag wird 2039 ein Dienstag sein." Ungläubiges Geraune. So geht das stundenlang. Die Studenten fragen nach Postleitzahlen in Wyoming, nach Straßenverbindungen in Texas, nach empfangbaren Fernsehkanälen in

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Alabama, nach den Geburtsdaten der amerikanischen Präsidenten, nach Shakespeare-Zitaten, Spaceshuttle-Flügen und nach Opern-Erstaufführungen.

Kim antwortet: schnell, emotionslos, korrekt. Manchmal stößt er Schreie aus. Manchmal schlägt er sich an den Kopf oder er setzt sich zu seiner Cousine in der ersten Reihe und umarmt sie. Bis eine neue Frage kommt. "Warum bist du nicht getauft worden?", fragt ein Mädchen. "Weil mir niemand das Schwimmen beigebracht hat", sagt er. Tosender Applaus. Kim gähnt.

So ist das mit Kim Peek. Er macht Witze über die Mormonen und ihre Tradition, Menschen bei der Taufe unterzutauchen, mitten im Land der Mormonen, in einer Universität, die im Besitz der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist, auf einem Campus, an dem sie vor und nach jeder Stunde ein Gebet sprechen. Nach Zufall sieht das nicht aus. Kim Peek hat noch überall gesagt, was er dachte. Als ihn einmal einer der hohen Priester der Mormonen fragte, ob er das heilige Buch Mormon gelesen habe, sagte er: "Nein, ich lese keine Fiktion." Und als er in Hollywood Dustin Hoffman traf, weil der den Menschen sehen wollte, nach dem die Hauptfigur des Films "Rain Man" geschaffen wurde, sagte Kim Peek ihm, dass sie hier ein paar wirklich gute Filme gemacht hätten. Aber auch ein paar wirklich schlechte.

Das hat er gesagt und das ist es, was Darold Treffert so erstaunt. Kim Peek verändert sich. Am Anfang waren es nur soziale Umgangsformen. Er ist ein anderer Mensch seit "Rain Man", er schaut den Menschen jetzt in die Augen, wenn er mit ihnen spricht, umarmt Wildfremde, wenn er mit seinem Vater durchs Land tourt. Aber Kim Peek verändert sich auch im Kopf. Früher sei er wie eine Enzyklopädie gewesen, wenn man etwas herausfinden wollte, konnte man bei ihm nachschlagen, sagt Treffert und legt eine DVD in den Computer. Aber Kim werde immer kreativer. "Jetzt ist er wie Google, er stellt selber Bezüge her", sagt Treffert. Hinter ihm baut sich das Gesicht von Kim Peek auf dem Bildschirm auf, braune, viereckige Brille - und ein Kopf wie ein Medizinball.

Darold Treffert lacht, als er ihn sieht. Neben dem Computer steht ein Kalender mit den bunten Bildern des elfjährigen Zeichen-Savants Ping Lian Yeak aus Malaysia, daneben Wolkenkratzer von Stephen Wiltshire, den sie die "lebende Kamera" nennen und dessen Schwester sagt, er sei wie ein Videorekorder. Wenn er wolle, spule er das Band einfach zurück. Dann malt er plötzlich und wie von einer fremden Macht getrieben Dinge auf, etwa das Opera House in Sydney, schnell und genau, jede Treppenstufe so, wie er sie auf dem Poster gesehen hat, an dem er gestern vorbeigegangen ist. Neben Wiltshires Wolkenkratzern stehen Pferde von Alonzo Clemons, den sie in ein Heim steckten und den Lehm wegnahmen, damit er lerne, sich die Schuhe zu binden. Er hat sich dann den Kitt aus den Fensterrahmen herausgekratzt, weil er es nicht sein lassen kann.

So ist das. Stephen Wiltshire muss malen. Alonzo Clemons muss formen. Und Kim Peek muss wissen. Darold Treffert sagt, als sie Alonzo den Lehm wegnahmen, sei dies ein Desaster gewesen. "Trainiert das Talent, das ist meine Meinung. Wenn sie ihr Talent benutzen, werden sie sozialer und weniger isoliert und ihre Sprache wird besser. Es ist die beste Art, sie im Leben zu halten."

So hält auch Fran Peek seinen Sohn im Leben. Vor mehr als zwei Millionen Menschen ist er mittlerweile aufgetreten. Es gibt nur zwei Regeln: Sie nehmen kein Geld. Und wenn Kim nicht mehr will, hören sie auf. Aber Kim will. Irgendwo muss es ja hin, das Wissen, das er abgespeichert hat, 12.000 Bücher. Manchmal sitzt Fran vor seinem Sohn wie vor einem fremden Wesen: "Hey, was für eine Spezies bist du eigentlich, Kim?"

"Ich bin ein guter Mann", sagt Kim Peek. "Ich glaube, er ist die nächste Dimension", sagt der Vater und fährt weiter mit ihm durch diese Stadt, von der nie wieder ein Mensch so viel wissen wird wie Kim Peek.

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Der wahre „Rain Man“

Niemand ist eine InselVon Nina Rehfeld, Phoenix

25. August 2007 Fran Peek folgt einem seltsamen Ritual, wenn er jemandem seinen Sohn Kim vorstellt: „Sagen Sie ihm Ihren Geburtstag“, bittet er. Auf die Daten hin legt Kim den Kopf ein wenig schief, blickt ins Leere und sagt mit leicht gedehnter Intonation: „24. März 1968, war ein Sonntag. Dieses Jahr war's ein Samstag, 2033 werden Sie 65, ein Donnerstag.“ Sein Vater nickt anerkennend, und Kim wendet sich mit einem tiefen Stöhnen, das in ein meckerndes Glucksen übergeht, seinen Händen zu. „Woher wissen Sie das, Kim?“ „Ich rechne es mir aus“, sagt er.

Kim Peek ist der Mann, der einst für den vierfach oscarprämierten Film „Rain Man“ mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle Modell stand. Die außerordentliche Struktur seines Gehirns, das einen schweren Geburtsschaden an anderer Stelle überkompensierte, machte ihn berühmt. Er kann nicht nur den Ewigen Kalender auswendig aufsagen. Er kann alle deutschen Regierungschefs seit Bismarck aufzählen; die Postleitzahl jeder beliebigen amerikanischen Kleinstadt nennen; die einzelnen Instrumente eines sekundenkurzen Ausschnitts aus einem Orchesterstück identifizieren; eine Shakespeare-Sonate nach bloßem Überfliegen rezitieren; die Baseballergebnisse der Saison 1973 herunterbeten. Oder der von 1985. Oder 2003. Er hat den Inhalt von 12.000 Büchern gespeichert und muss eine Melodie nur einmal hören, um sie fehlerfrei nachsummen zu können. „Kim-Puter“, nennt sein Vater ihn. Kim Peek ist ein Genie.

Nur allein duschen kann er nicht

Aber im Moment konzentriert sich der 55 Jahre alte Mann mit dem übergroßen Kopf und den leicht schräg stehenden Augen auf die Stadtführung in seiner Heimat Salt Lake City. „Mein Vater hat mal mit einem Mann zusammengearbeitet, der dort drüben wohnte“, sagt Kim Peek in seinem gleichmäßig lauten Bass, der das heisere Wispern seines Vaters mühelos übertönt, und zeigt aus dem Beifahrerfenster des alten Ford Taurus auf ein Haus in den Hügeln am Stadtrand. „Hier sind meine Mutter und mein Vater zur Schule gegangen. Und da drüben ist . . .“ - er dudelt ein paar Takte aus einer lokalen Chevrolet-Werbung, und sein Vater erklärt, dass das Liedchen die Straße nennt, in der das Haus von Larry Miller steht, dem Besitzer der Basketballmannschaft Utah Jazz.

Kim fährt fort: „Hier hat vor acht Jahren ein Tornado alle Bäume entwurzelt. Und wenn man dort hinauf fährt: Beethoven!“ Sein Vater springt ein: „Beethoven ist Kims Wort für Bastard. Als Kim sechs war, riet uns der Gehirnchirurg Peter Lindström zu einer Lobotomie.“ Lindströms Ehefrau Ingrid Bergman, so erklärt Fran Peek weiter, hatte mit dem Regisseur Roberto Rossellini eine uneheliche Tochter, also einen Bastard, aber da sich dieses Wort in der Öffentlichkeit nicht schickt, hat es Kim durch das Wort Beethoven ersetzt. Der Komponist bezeichnete einst in einem Brief an seinen Bruder das uneheliche Kind seiner ungeliebten Schwägerin als Bastard.

Es sind rasante gedankliche Hakenschläge, die Kim Peek vollführt, und ohne die interpretatorische Hilfe seines Vaters kann man kaum folgen. Manchmal scheint es, als höre man einem Fünfjährigen bei der Beschreibung seiner Sommerferien zu, dann wieder fühlt man sich dem intellektuellen Universum von Kim Peek schlicht nicht gewachsen - trotz der Tatsache, dass dieser Mann Schwierigkeiten hat, sein Hemd richtig herum anzuziehen („in zwei von drei Fällen macht er es falsch“, sagt sein Vater) und nicht allein duschen oder sich rasieren kann. Neulich wies man Fran an einer Flughafen-Sicherheitskontrolle darauf hin, dass Kim seine Schuhe falsch herum trage. Auf die Frage des Vaters, ob ihn die Füße nicht schmerzten, sagte Kim: „Ich habe mich damit noch nicht beschäftigt, Dad.“

Inzwischen macht er lieber Witze

Für Darold Treffert, einen langjährigen Freund von Kim und Fran Peek und führenden Experten bei der Erforschung des Phänomens sogenannter Inselbegabter, bricht sich in Kims Assoziationskapriolen ungeahnte Kreativität Bahn. „Kim verfügt über ein enormes Erinnerungsvermögen. Aber in den vergangenen Jahren scheint

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er lieber, als einfach nur Bücher auswendig zu lernen, Freude an Wortspielen zu finden. Manchmal geht mir erst Stunden später auf, wie witzig eine Bemerkung von ihm war.“ Offenbar langweilt sich der mnemonisch Hochbegabte mit der bloßen Wiedergabe abgespeicherten Wissens.

Das nimmt beinahe noch mehr Wunder als Kims fantastisches Gedächtnis. Denn Humor gilt als Fähigkeit, die Abstraktionsvermögen voraussetzt - eine Fähigkeit, die Kim bislang weitgehend abgesprochen wurde. „Kim nimmt die Dinge sehr buchstäblich, wie ein Kind“, sagt sein Vater. „Die Fähigkeit zu argumentieren fehlt ihm.“ Doch einem befreundeten Priester trug er einst eine Botschaft an den Papst auf: Er möge sich mal mit dem Tippfehler jener Mönche beschäftigen, die anno 1611 die Bibel neu übersetzten. „Sie haben bei dem Wort ,celebrate' das ,r' vergessen“ - eine Anspielung auf das englische Wort für zölibatär, „celibate“.

Kein emotional verödeter Autist wie „Rain Man“

"Ich bin gern unter Menschen" - Kim Peek war das Modell für Filmheld "Rain Man"

Beim Mittagessen im Stammrestaurant der Peeks bestellt Fran - „das Übliche, Kim?“ - seinem Sohn ein Sandwich und Milchreis und fragt: „Wer war der erste Regierungschef der Deutschen?“ Kim setzt sein Wasserglas ab, das er mit beiden Händen festhält, und sagt mit halbgeschlossenen Augen: „Sie wurden erst Kurfürsten genannt, dann Könige, dann Weimar, dann Hitler, dann Aufteilung und Besetzung, dann fiel die Mauer und Wiedervereinigung unter Kohl.“ Offenbar will er die lästige Übung hinter sich bringen, um zu Interessanterem vorzudringen: „Was halten Sie eigentlich von Angela Merkel?“ fragt er mit geschärftem, direktem Blick. „Ich finde, sie wirkt wie eine feine Lady.“

Dies ist nicht jener in sich gekehrte, emotional verödete Autist, den Dustin Hoffmann in Barry Levinsons „Rain Man“ darstellte. Dies ist einer, dessen Hirn auf anderen Umlaufbahnen schaltet und der damit recht selbstsicher lebt. Hin und wieder sagt er Dinge, die wie seltsam verschrobene Weisheiten klingen: „Wenn Sie an mich denken, werde ich stets unter Menschen sein.“ Oder: „Ich suche nach Leuten, die den Anblick von Menschen mögen.“

Dustin Hoffman riet zur Öffentlichkeit

„Früher“, sagt Fran, während Kim aufsteht und mit einem Geschichtsbuch unterm Arm gedankenversunken durch das Restaurant streift, „habe ich nicht gewagt, ihn mit in die Öffentlichkeit zu nehmen.“ Es war Dustin Hoffman, der den Anstoß zur Veränderung gab. Als er im Rahmen der Recherchen zu „Rain Man“ einen Tag mit Kim verbrachte, nahm er Fran Peek beiseite und sagte: Sie sollten Ihren Sohn nicht länger der Welt vorenthalten.“ Fran zögerte. Immer wieder hatte er gehört, dass sein schwerstbehinderter Sohn am besten in der heimischen Sicherheit aufgehoben sei. Doch nach und nach wagte Fran sich vor. Er akzeptierte Interview-Anfragen und Vortragseinladungen von Schulen und Universitäten.

Und er staunte, wie sehr Kims Selbstbewusstsein aufblühte: Der Mann, der früher Augenkontakt mied und auf Ansprache von Fremden nicht reagierte, genießt es heute, seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Er streift selbstsicher durchs Publikum und beantwortet Fragen, er weiß sogar mit Provokationen umzugehen. Einen jungen Mann, der vor sechshundertköpfigem Publikum in Salt Lake City von ihm wissen wollte, wie viele Donuts man stapeln müsse, um die Höhe des Eifelturms zu erreichen, beschied er: „Man hat mir gesagt, dass dies eine intellektuelle Veranstaltung sei. Ich weiß nicht, ob Sie qualifiziert sind.“

IQ zwischen 184 und 72

3,8 Millionen Menschen haben Kim nach den Berechnungen seines Vaters inzwischen bei Vorträgen und Symposien gehört. Nach der Überzeugung von Darold Treffert haben die umfangreiche soziale Interaktion und

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die Anerkennung, die Kim Peek dabei erfuhr, ihm ganz neue Bereiche seiner Persönlichkeit eröffnet. „Durch die Anwendung seines Talents hat er seine Sprachfähigkeiten und seine Kapazitäten zur Sozialisation erstaunlich steigern können. Er scheint eine Phase kreativer Improvisation zu durchlaufen, und es ist bemerkenswert, in welch neuer Komplexität sein Genie dabei zum Vorschein kommt.“

Als Kim neun Monate alt war, eröffnete man seinen Eltern, dass er schwerstbehindert sei, keine geistigen Fortschritte machen würde und am besten in eine Pflegeeinrichtung zu geben sei. Doch Fran erkannte Kims Begabung - mit drei konnte er lesen, mit vier lernte er ganze Buchbände auswendig - und förderte ihn, so gut er nur konnte. Er gab ihm stapelweise Bücher und Zeitungen zu lesen und organisierte, als man Kim wegen Verhaltensauffälligkeiten aus der Schule verwies, eine Heimlehrerin. Mit vierzehn hatte Kim das Schulcurriculum absolviert. Bei Intelligenztests schnitt er auf einigen Gebieten mit 184 höher als Albert Einstein (149) ab, auf anderen erreichte er mit 72 bloß Idioten-Niveau.

Zwei unverbundene Gehirnhälften

Bis heute löst Fran, IQ 135, jeden Morgen mit ihm die Rätselseite der „Salt Lake City Tribune“- „und ich bin immer noch erstaunt, was Kim alles weiß“. Oft, sagt Fran, helfe Kim ihm geistig auf die Sprünge. 81 Jahre ist er alt, die vielen Reisen ermüden ihn: „1,8 Millionen Flugmeilen haben wir bisher zurückgelegt, und 150.000 im Auto.“ Wenn man Kim nach seinem Lieblingsziel fragt, sagt er schlicht: „Ich bin gern unter Menschen.“

Anders als man vermuten würde, zählt Autismus nicht zu Kim Peeks Krankheitsbild, auch wenn er eine Reihe von autistischen „Macken“ pflegt. Kims übergroßer Schädel wies bei der Geburt eine schwere Schädigung der linken Gehirnhälfte auf. Zudem stellte sich heraus, dass den Hemisphären seines Hirns die verbindende Brücke fehlt, das sogenannte corpus callosum. Sein Vater hat diese Brückenfunktion weitgehend übernommen. Fran ist eine Art Interface des Kim-Puter, dessen komplexer Daten-Output sonst vielleicht weitgehend unlesbar wäre.

„Ich bin gern in Ihrer Zeit“

Als ein Journalist in Kims Hörweite eine Bemerkung über die symbiotische Beziehung der beiden machte, sagte Kim: Sie brauchen es nicht so vornehm zu sagen. Wir teilen uns einfach denselben Schatten. Ohne Fran würde Kim heute womöglich in einer psychiatrischen Anstalt verwahrt. Eine fürchterliche Vorstellung für den Vater. „Kim würde irre werden, wenn er mit einer Handvoll ,Reader's Digest'-Büchern auskommen müsste.“ Wie es einmal sein wird, wenn Fran sich nicht mehr um seinen Sohn kümmern kann, mag er sich nicht ausmalen.

Seit seiner Trennung von Kims Mutter 1981 betreut Fran Peek rund um die Uhr seinen ältesten Sohn. Ein weiterer Sohn und eine Tochter haben wie die Mutter nur sporadischen Kontakt zu Kim. Doch mit Kims zunehmender Selbstständigkeit hat auch sein Vater ein Stück Autonomie zurückgewonnen. Am Nachmittag lässt er Kim oft für einige Stunden in der Stadtbücherei allein, wo dieser mit schräggestelltem Kopf die Gänge durchstreift, bis er etwas findet. Dann setzt er sich an einen Tisch, legt seine Brille ab und vollführt ein Ritual, das einem zärtlichen Tanz gleicht: Mit einem Buch dicht vor der Nase neigt er seinen Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, als würde er sich den Buchstaben und Ziffern zu einem Kuss nähern. Oder er führt sein rätselhaftes rotes Journal, in dem er in krakeliger Handschrift aus Telefonbüchern die Besitzer von Nummern mit bestimmten Ziffernkombinationen kopiert. Nicht einmal sein Vater weiß, was das zu bedeuten hat.

Kim schließt sein Heft, und steht auf, um sich zu verabschieden. Er fasst mich an den Händen, zieht mich an seinen runden Bauch und schaut mir lange tief in die Augen. Dann legt er seine Stirn an meine und sagt: „Sie sind ein großartiger Mensch. Ich bin gern in Ihrer Zeit.“

Text: F.A.Z., 25.08.2007, Nr. 197 / Seite Z3Bildmaterial: Cinetext Bildarchiv, Nina Rehfeld

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„Inselbegabte“

Vier ist schüchtern und stillVon Melanie Mühl

Synästhetiker mit Asperger-Syndrom: Daniel Tammet nimmt alles anders wahr

13. August 2007 Er hat sich noch nie geirrt. Daniel Tammet rechnet schneller und präziser als jeder Computer dieser Welt. Bittet man ihn, 13 durch 97 zu teilen, bekommt man ein Ergebnis, das mehr als hundert Stellen nach dem Komma umfasst. Er bildet mühelos die vierte Potenz der Zahl 37 und kann die mathematische Konstante Pi bis auf 22.514 Stellen nach dem Komma aus dem Gedächtnis aufsagen.

Wenn Daniel Tammet eine Zahl durch eine andere teilt, sieht er vor seinem inneren Auge eine Spirale, die sich in immer größer werdenden Windungen und Schleifen nach unten schraubt. Von Primzahlen fühlt er sich magisch angezogen, weil sie sich glatt und rund anfühlen, wie Kieselsteine am Meer.

Asperger-Syndrom, eine leichte Form von Autismus

Innerhalb von nur einer einzigen Woche lernt Daniel Tammet eine völlig neue Sprache - zehn beherrscht er mittlerweile, darunter hochkomplizierte Sprachen wie Walisisch und Isländisch. Sein Gehirn ist ein gigantisches, perfekt sortiertes Lagerhaus, gefüllt mit Informationen, die jederzeit abrufbar sind. Zahlen nimmt Tammet als Farben wahr. Hinzu kommt, dass für ihn jede Ziffer auch noch eine ganz bestimmte Form und Struktur aufweist. Wissenschaftler nennen diese Begabung Synästhesie. Sie tritt bei nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung auf. Das Besondere bei Daniel Tammet jedoch ist, dass seine Synästhesie zusammen mit einer leichten Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom, auftritt. Das macht ihn zu einem Wunder.

Menschen wie ihn nennt man Savants, Inselbegabte. Nur etwa hundert dieser Genies gibt es weltweit. Der berühmteste von ihnen heißt Kim Peek, wegen seines brillanten Gedächtnisses nennt man ihn auch Kimputer. Er inspirierte den Regisseur Barry Morrow zu dem Film „Rain Man“, der später mit vier Oscars ausgezeichnet wurde. Savants, das sind Menschen, die nicht wissen, wie man einen Schuh zubindet, aber zwanzig Sprachen fließend sprechen, die große Mühe haben, rechts und links zu unterscheiden, aber meisterhaft Klavier spielen, die einen Disney-Film nicht verstehen, aber den Inhalt von Tausenden von Sachbüchern speichern können. Sie sind meistens schwer behindert und unfähig, anderen Zutritt zu ihrem abgezirkelten Kosmos zu gewähren. Ihre Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt bleibt in der Regel ein gut gehütetes Geheimnis.

Tammet weiß, wie sein Gehirn tickt

Bei Daniel Tammet ist das anders. Er kann sich selbst beobachten, kann zur Seite treten, seine mentalen Fähigkeiten analysieren und beschreiben. Er weiß, wie sein Gehirn tickt. Darüber hat er ein Buch geschrieben, das nun ins Deutsche übersetzt wurde und den Titel „Elf ist freundlich und Fünf ist laut“ trägt. Dieses Buch ist eine Sensation, weil es uns einen einzigartigen Einblick in die Welt der Savants gewährt. In einem anrührenden Ton, der nie ins Pathetische kippt, erzählt es die erstaunliche Lebensgeschichte Daniel Tammets.

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Seine Inselbegabung trat urplötzlich auf, nach einer Reihe epileptischer Anfälle in seiner frühen Kindheit - damit fällt er in die Kategorie des, wie es heißt, erworbenen Savant-Syndroms. Für jeden Wissenschaftler ist der achtundzwanzig Jahre alte Brite eine Goldgrube, das perfekte Forschungsobjekt. Und Daniel Tammet lässt sich nur allzu gerne erforschen. Darold A. Treffert, der ehemalige Chef der psychiatrischen Abteilung am St. Agnes Hospital in dem amerikanischen Städtchen Fond du Lac, schreibt im Vorwort des Buches: Nun sei es möglich, die Beschreibungen eines Inselbegabten mit neuropsychologischen Untersuchungen in Beziehung zu setzen.

Zahlen führen Regie in Tammets Leben

Alles drehe sich schließlich nur um die eine Frage: „Wie machen die das bloß?“ Wie funktioniert das Gehirn eines Savants? Wer weiß, fragt sich der Psychiater, vielleicht schlummert ja in uns allen dieses übermenschliche Potential, vielleicht existiert in jedem von uns ein „Rain Man“, ein Wunderkind. Vielleicht bedarf es ja einfach nur des richtigen Auslösers, um unsere natürlichen Grenzen zu überschreiten. Es ist verlockend, diesen Gedanken zu Ende zu denken, sich in allen Details auszumalen, wie es wäre, in seiner Haut aus seiner Haut zu können. Wie es wäre, das Natürliche zu überlisten. Daniel Tammets Begabung gehe über alles Menschliche hinaus, sagt seine Lehrerin Sirrý aus Reykjavík, die ihm Isländisch beibrachte. Damit hat sie recht und unrecht zugleich.

Zahlen führen Regie in Tammets Leben. Sein unendliches Zahlenvokabular besteht aus schönen und hässlichen Ziffern; Einsen passen perfekt zu dunklen Zahlen wie Achten und Neunen, die Zahl 117 ist groß und schlacksig, so wie David Letterman, in dessen Late Night Show er schon saß, die Vier ist schüchtern und still. Bei der 87 denkt er an fallenden Schnee, die 5 erinnert ihn an einen Donnerschlag. Löst er eine komplizierte Rechenaufgabe, spaziert er durch eine bunte Zahlenlandschaft, einen Fluss aus Farben und Formen.

Ein Koordinatensystem aus Ziffern

Daniel Tammet bewegt sich in einem Koordinatensystem aus Ziffern. Ohne sie wäre er verloren. Sein Abstraktionsdrang ist die Folge einer großen inneren Beunruhigung durch die Erscheinungen der Außenwelt. Das Zählen tröstet ihn. Erst die algebraische Färbung aller Vorstellungen lässt ihn zur Ruhe kommen. Abstraktion ist sein Fluchtweg. Selbst einen ganz normalen Restaurantbesuch erlebt er als ein Risiko. Tammet erträgt keine übervollen Räume, keine Hitze, keinen Lärm. Er meidet Supermärkte und kauft lieber in überschaubaren Bioläden ein. Manchmal, schreibt er, sei es für ihn schwierig, Emotionen zu verstehen, Metaphern zu begreifen, sich das Uneigentliche zu erschließen. Deshalb helfe er sich mit Zahlen. „Wenn ein Freund sagt, er sei traurig oder niedergeschlagen, stelle ich mir vor, dass ich in der dunklen Leere der Zahl Sechs sitze, um seine Gefühle nachzuempfinden und zu begreifen. Auf diese Weise tragen Zahlen tatsächlich dazu bei, dass ich andere Menschen besser verstehe.“

Heute lebt Daniel Tammet mit seinem Freund Neil, einem Computerspezialisten, in dem Küstenstädtchen Herne Bay. Sie haben ein kleines Haus mit einem Garten, in dem sie Obst und Gemüse anbauen. Die beiden lernten sich im Internet kennen, chatteten, schrieben sich vertraute Mails, bis sie sich irgendwann trafen und nicht mehr voneinander ließen. Tammet beschreibt die Anfangsmomente dieser Liebe mit ungeheurer Zärtlichkeit. In Neil hat er einen Seelenverwandten gefunden. Gemeinsam gründen sie den erfolgreichen Online-Sprachkurs „Optimnem“, ein Internetunternehmen, das Tammet ermöglicht, von zu Hause aus zu arbeiten und Geld zu verdienen. Situationen, die sich seiner Kontrolle entziehen, versetzen ihn noch immer in Panik.

Als „Brainman“ erlangte er Berühmtheit

Jeden Morgen frühstückt er exakt 45 Gramm Porridge. Bevor er das Haus verlässt, zählt er die Kleidungsstücke, die er am Körper trägt. Neil und er sehen sich rund um die Uhr, auch Neil erledigt die meiste Arbeit von zu Hause aus. Vor zwei Jahren hat der britische Sender Channel Five Daniel Tammet entdeckt und einen Dokumentarfilm über ihn gedreht - „Brainman“ -, seither ist er eine Berühmtheit. Und Tammet nutzt diese Popularität, er engagiert sich für Wohltätigkeitsorganisationen wie die National Autistis Society und die National Society for Epilepsy. Er versteht sich als Botschafter der Autisten.

Dass Daniel Tammet heute ein fast normales Leben führt, verdankt er einem jahrelangen Lernprozess. All die Kodes, die unsere soziale Interaktion diktieren und die für uns ganz selbstverständlich sind, musste er mühsam entschlüsseln. Seine acht Geschwister zwangen ihn dazu, nach und nach ein Gefühl für Kommunikation zu entwickeln. Vom Fenster aus beobachtete er seine Brüder und Schwestern im Garten, er studierte ihre Bewegungen, ihre Blicke, ihr Spiel. In der Schule blieb er dennoch ein Außenseiter. Einer, der niemandem in die

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Augen sah und über den die anderen Kinder nur verständnislos den Kopf schüttelten - wenn sie ihn nicht mit ihren Bosheiten quälten. Wohl fühlte sich Daniel Tammet in dieser Zeit nur an zwei Orten: zu Hause und in der örtlichen Bibliothek, wo er sich in Enzyklopädien verlor und lange Listen mit den Namen und Daten aller amerikanischer Präsidenten erstellte.

Bastelt eine Art Handbuch der Kommunikation

Mit achtzehn reist er nach Litauen, in die Stadt Kaunas, wo er ein Auslandsjahr verbringt und Englisch unterrichtet. Es ist das allererste Mal, dass er auf sich alleine gestellt ist, ohne das schützende Netzwerk Großfamilie. Dieses Jahr sollte das wichtigste Jahr seines Lebens werden. Tammet lernt, sich unter Menschen zu bewegen, er schließt Freundschaften, geht ins Kino, fährt täglich mit dem Bus. Er übernimmt für sich selbst Verantwortung. Für ihn ein gewaltiger Schritt. „Litauen“, schreibt er, „hatte mir die Gelegenheit gegeben, mich selbst etwas objektiver zu betrachten und mich mit meinem ,Anderssein' zu arrangieren, weil ich dort erkannte, dass es nichts Negatives sein muss.“ In der Fremde bastelt er an einer Art Handbuch der Kommunikation. Ein Datenbestand, der ihm Sicherheit gibt und auf den er in heiklen Situationen vertrauen kann.

Noch als Jugendlicher verwirrten ihn idiomatische Redewendungen. Ihre Eigentümlichkeiten blieben ihm fremd. Auf Sätze wie „Ich bin heute mit dem falschen Fuß aufgestanden“ stellte er die Gegenfrage, warum man denn nicht gleich mit dem richtigen Fuß aufgestanden sei. Auch die Redensart „Du bist aber durch den Wind“ machte ihn stutzig. Müssen wir nicht alle durch den Wind? Als Neil ihm bei der ersten Begegnung mit dem Satz schmeichelte, „Dein Foto wird dir nicht gerecht“, verstand Tammet kein Wort.

Sprache als Mittel des sozialen Austauschs

Er weiß nicht, wie man zwischen den Zeilen liest. Erst die Erfahrung lehrte ihn, dass auf die Aussage „Ich hatte heute einen schlechten Tag“ eine einfühlsame Frage nach dem Grund des Unwohlseins erwartet wird. In seinem Buch schreibt er: „Ich erkenne nicht intuitiv, wenn jemand eine Antwort auf eine Äußerung erwartet, und habe nur durch sehr viel Übung gelernt, wie man Sprache als Mittel des sozialen Austauschs benutzt.“

Man liest Daniel Tammets Erzählungen und staunt. Es ist mehr als nur ein Staunen über die phantastischen Fähigkeiten dieses Menschen. Es ist ein Staunen über das eigene Bild, das man nun wunderbarer wahrnimmt als vor der Lektüre des Buches. Daniel Tammets Sichtweise lässt uns unser eigenes Leben mit anderen Augen sehen. Er öffnet uns den Blick für die Wundermaschine Gehirn. Er rückt das Wesen Mensch in ein anderes Licht. Man wird gewahr, wie es tief in uns brodelt und wie viel zerbrechlicher, als wir meinen, unser scheinbar so intaktes System doch ist.

Daniel Tammet: „Elf ist freundlich und Fünf ist laut“. Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Mit Vorworten von Darold Treffert und Simon Baron-Cohen. Aus dem Englischen übersetzt von Maren Klostermann. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 247 S., geb., 19,90 Euro.

Text: F.A.Z., 13.08.2007, Nr. 186 / Seite 37Bildmaterial: picture-alliance / dpa

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21. Juli 2009, 5:30 Uhr | EinsFestival

Expedition ins Gehirn

Gedächtnis-Giganten

Folge 1 der dreiteiligen Dokumentation

Woher kommt das Gedächtnis? Was führt dazu, dass wir uns manche Dinge merken können? Und manches sofort vergessen? Welche "Filtersysteme" sorgen dafür, dass wir manche Dinge speichern und andere nicht? Oder speichern wir alles, wie Prof. Gerhard Roth von der Universität Bremen sagt? Und wenn wir alles speichern - wie könnten wir es fertig bringen, wie ein Savant die Geheimkammern zu öffnen?

Orlando Serrell wurde mit 10 Jahren von einem Baseball am Kopf getroffen. Seither erinnert er sich an die kleinsten Details jedes Tages aus seinem Leben.

Der Archivar

Orlando aus Virginia war zehn, als er beim Spielen von einem Baseball an der Schläfe getroffen wurde. Orlando verlor kurze Zeit das Bewusstsein, doch als er wieder zu sich kam, schien alles wie zuvor. Erst ein Jahr später bemerkte Orlando, dass er sich seit dem Tag des Unfalls an jedes Detail jedes Tages in seinem Leben erinnern konnte. An das Datum, den Wochentag, an das Wetter, was es zu essen gab und welche Farbe die Socken seiner Schwester hatten oder was es im Fernsehen gab. Orlando, inzwischen über 40, geht es blendend - aber das Archiv in seinem Kopf nimmt von Tag zu Tag zu.

Kim Peek

Der Rainman

Kim Peek aus Salt Lake City ist der "wahre Rainman". Er liest nicht, er scannt Buchseiten. Das visuelle System seines Gehirns erlaubt ihm offenbar, mit dem einen Auge eine Seite und mit dem anderen Auge parallel eine andere Seite zu lesen und den jeweiligen Inhalt in etwa acht Sekunden zu speichern.

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Genauso speichert Kim beliebige Daten, wie auf einer internen Festplatte: Melodien, Namen, historische Jahreszahlen, den Kalender, das komplette Fernsehprogramm, alle Telefonvorwahlen der USA, das Straßennetz aller Staaten. Doch Kim bezahlt einen Preis für seine geheimnisvollen Fähigkeiten: Kim galt als Kind als geistig schwerbehindert - ehe er mit vier die ersten Lexikonbände im heimischen Wohnzimmer auswendig konnte. Auch mit über 50 kann der Mega-Savant, wie ihn die Wissenschaftswelt bewundernd nennt, nicht allein für sich sorgen.

Howard Potter

Der Erbsenzähler

Howard Potter, der als Kind auffiel, weil er exakt die Anzahl von Erbsen auf Tellern kalkulieren konnte, ist auch mit 40 auf die tägliche Hilfe seiner Mutter angewiesen. Howard zieht Quadratwurzeln, wie andere die fünf Finger an ihrer Hand zählen, er liebt Primzahlen und vor allem: das endlose Reservoir der Fußballresultate. "Die Begeisterung, wenn jemand ein Tor schießt", erzählt seine Mutter, "ist Howard fremd. Er interessiert sich nur für die Zahlen."

Howard Potter ist nicht verwandt mit Harry Potter. Howard Potters Zauberkunststücke jedoch sind ganz real. Sein besonderes Talent wurde beim Erbsenzählen entdeckt: Als Neunjähriger saß er am heimischen Mittagstisch in Bournemouth an der englischen Südküste. Mit seiner Beschwerde, Bruder Duncan habe "zwei Erbsen mehr auf dem Teller" verblüffte er die Eltern. Die zählten nach: Howard hatte Recht!Howard Potter ist ein "Savant", wie Hirnforscher sagen, ein "Wissender" - eine Extrembegabung.

Howard Potter

Was ist ein Savant?

Die Expedition ins Gehirn begegnet Savants, die sich Zahlen, Daten oder Relationen merken, so selbstverständlich wie unsereins Radfahren oder Spazierengehen "lernt"; die mit sechs Jahren Klavier spielen, wie Mozart komponieren, die sich die kompliziertesten Gebäude anschauen und diese anschließend mit

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unglaublicher Präzision aus dem Gedächtnis aufzeichnen oder die die dreiunddreißigste Potenz einer zweistelligen Zahl in wenigen Sekunden im Kopf ausrechnen. Manche erinnern sich in Furcht erregender Präzision an Details jedes einzelnen Tages in ihrem Leben. Oder kalkulieren Erbsen auf einem Teller bis auf die letzte Erbse genau. Die Hirne der Savants stellen für die Forscher ein einmaliges Fenster ins menschliche Gehirn dar. Dr. Darold Treffert geht soweit zu sagen: "Solange wir das Savant-Syndrom nicht verstehen, werden wir niemals verstehen, wie unser Gehirn funktioniert". Treffert ist seit den 1960-er Jahren der weltweit führende Savant-Experte und einer der wissenschaftlichen Berater dieser Fernsehreihe. Ihn und seine Kollegen weltweit bewegt die Frage: Woher kommt dieses unglaubliche Wissen? Steckt etwas davon in jedem von uns? Könnten wir Normalhirne diese schlafenden Fähigkeiten wecken und anzapfen?

"Expedition ins Gehirn" stellt die heimlichen Stars unter den Savants in den Mittelpunkt. Ihre geniereifen Fähigkeiten sind oft mit Autismus und anderen Einschränkungen verbunden.Gerade deshalb haben sie die Autoren zu den Helden, zu den Hauptpersonen der Reihe gemacht. Bereits der Drehbuchautor Barry Morrow erhielt durch einen Savant seine Inspiration für den Kinofilm "Rainman". Dustin Hoffman spielte darin den autistischen Savant.

Kim Peek

Kim lebt in Salt Lake City und kann derzeit etwa 12.000 Bücher Wort für Wort auswendig, kennt unzählige Geschichtsdaten, nennt zu jedem Kalender-Datum den Wochentag, ohne nachzudenken. Kim Peek, der "wahre Rainman", ist geistig behindert, inzwischen über 50 und lebt noch immer bei seinem Vater Fran. Er kann sich weder alleine anziehen, noch ein Spiegelei oder ein Sandwich machen.

Die Film-Reihe

Kopfrechen-Gigant Rüdiger Gamm (rechts) ein lebender Taschenrechner. Er beherrscht 50er Potenzen zweistelliger Zahlen, achtstellige Winkelfunktionen und das alles ohne Taschenrechner. Links Dr. Thorsten Fehr von der Universität Bremen.

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"Expedition ins Gehirn" macht den Brückenschlag. In drei Filmen führen uns Savants und international führende Wissenschaftler in drei herausragende Forschungsbereiche: Die erste Folge "Gedächtnis-Giganten" beschäftigt sich mit dem Phänomen des menschlichen Gedächtnisses, die zweite Folge "Der Einstein-Effekt" mit der Kreativität und der erstaunlichen menschlichen Gabe, nie gedachte Gedanken erstmals zu denken. Die dritte Folge schließlich "Der große Unterschied" ist der ewigen Frage gewidmet: Sind Männer- und Frauen-Gehirne tatsächlich gleich?

Der Einstein-Effekt

Folge 2 der dreiteiligen Dokumentation

Der Dubliner Hirnforscher Prof. Michael Fitzgerald vertritt die Theorie, dass herausragende Kreativität sehr häufig mit den Fehlschaltungen von Autisten zusammengeht. Einstein, Newton, Mozart und Beethoven, so sagt Fitzgerald, seien extreme Begabungen gewesen, weil ihre Gehirne falsch verkabelt waren. Irgendwie so, wie die von Matt Savage und Stephen Wiltshire.

Stephan Wiltshire zeichnet das Panorama von Rom

An der Universität Sydney versucht Prof. Alan Snyder deshalb, bei Versuchspersonen Teile des Hirns zeitweilig zu lähmen, um aus ihnen eine größere Kreativität herauszuholen: "Faszinierend", sagt Snyder, "dass man Teile unseres Gehirn abschalten muss, damit unsere schöpferischen Kräfte sich entfalten können." Doch Snyders Experimente sind höchst umstritten.

Matt Savage

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Der musikalische Autist

Matt Savage war ein seltsames Kind. Bis er vier war, durfte ihn nicht einmal seine Mutter anfassen. Beim kleinsten Geräusch bekam er Schreikrämpfe. Matts Eltern bekamen bald die Diagnose des Kinderarztes: Matt sei Autist. Man müsse sich mit schweren Fehlschaltungen seines Gehirns abfinden, die zu extremen Verhaltensweisen führen.

Als Matt Savage 6 war, brachte er sich, mehr oder weniger über Nacht das Klavier spielen bei. Mit 7 begann er zu komponieren - Jazz. Im selben Jahr erschien seine erste CD mit eigenen Kompositionen. Am Tage vor seinem 13. Geburtstag tritt Matt Savage in New Yorks berühmtestem Jazzclub, dem "Birdland" auf. Jazzlegenden wie Chick Corea nennen ihn ein Jahrhunderttalent. "Aber woher", fragt Dr. Darold Treffert, ausgezeichnet als einer der 100 besten Ärzte der USA und weltweit bedeutendster "Savant"-Spezialist, "nimmt Matt Savage sein Wissen über Musik? Gibt es einen musikalischen Chip im Gehirn, auf dem alles schon vorgespeichert ist und wir haben nur normalerweise keinen Zugang dazu? Wie kann Matt all das über Musik wissen, wenn er es nie gelernt hat?"

Stephan Wiltshire - der Zeichensavant

Die "lebende" Kamera

Nicht weniger verblüffend sind die Künste von Stephen Wiltshire. Der Londoner, ebenfalls als autistisches Kind diagnostiziert, fliegt für "Expedition ins Gehirn" knapp 45 Minuten lang mit einem Helikopter über Rom. Anschließend soll er ein 5 Meter langes detailgetreues Luftbild-Panorama der ewigen Stadt zeichnen - aus dem Gedächtnis. Denn Stephen ist ein Zeichen-Savant, dem ein ähnliches Kunststück schon in seiner Heimatstadt London gelungen ist. Damals hat er selbst die Zahl der Fenster von wichtigen Gebäuden exakt gezeichnet.

Der große Unterschied

Folge 3 der dreiteiligen Dokumentation

Prof. Simon Baron-Cohens Erkenntnisse brechen mit dem gesellschaftlich erwünschten Dogma, dass Männer- und Frauen-Gehirne sich nur unwesentlich unterscheiden. Die Fehlkonstruktion des extrem männlichen Gehirns kann Genies und Monster hervorbringen - und Savants.

Empathie und System

Prof. Baron-Cohen hat keine Angst, sich unbeliebt zu machen. Der Professor der Universität von Cambridge gilt als einer der größten Autismus-Experten der Welt. Er behauptet, dass das männliche und das weibliche Gehirn - zumindest im Durchschnittswert - gravierende Unterschiede aufweist. Das weibliche Gehirn sei ein "E"-Gehirn, was für "Empathie" steht, also die Fähigkeit sich in die Gefühle und Denkweisen hinein zu versetzen. Männer dagegen seien tendenziell "S"-Gehirn, was für "System" stehe: Motoren, Computer, Briefmarkensammlungen. Im Extremfall führe diese "männliche" Gehirn-Konstellation zu Autismus und anderen Defekten. Und dazu, dass Menschen zu "Savants" würden, mit wundersamen Fähigkeiten, aber sozialen Defiziten.

Wissenschaftler wie Simon Baron-Cohen denken inzwischen, dass eine Überdosis des männlichen Geschlechtshormons Testosteron während der embryonalen Entwicklung zur Extremform des männlichen Gehirns führt und damit zu Autismus und in Einzelfällen zu Savant-Fähigkeiten. Sind also Männer und Frauen im Prinzip extrem unterschiedlich verkabelt? Sind Männer tendenziell aggressiver und gewaltbereiter, weil tief

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liegende Regionen im „männlichen“ Hirn sie dazu prädestinieren? Ist das durchschnittliche Frauengehirn zwar weniger „systemtalentiert“, aber dafür für Kommunikation, Ausgleich und Verständnis geeignet?

Temple Grandin

Die Frau, die mit den Kühen spricht

Als kleines Mädchen sprach Temple Grandin gar nicht. Und danach hänselten die anderen Schulkinder sie, weil sie "wie ein Kassetten-Recorder" aufgeschnappte Worte und Sätze nur abzuspielen schien. Menschensprache hat sie sich - Dank ihrer herausragenden Intelligenz - als "Fremdsprache" angeeignet. Die Sichtweise von Tieren aber, die ebenfalls nicht in Sprache, sondern in Bildern "denken", kennt Temple wie ihre Muttersprache. Prof. Baron-Cohen meint, dass in Temples Kopf ein eigentlich männliches "System"-Gehirn arbeitet.

Dr. Temple Grandin ist heute die wichtigste Frau in der Viehindustrie der Steak- und Burger-besessenen USA. Sie hat mehr als die Hälfte aller Tierzuchtanlagen der größten fleischproduzierenden Nation der Welt designt, weil sie die Ängste der Kühe, Schweine oder Schafe genau kennt. Doch die Gefühls- und Denkwelt der "Normalmenschen" versteht sie nach wie vor nicht. Sie wird sich nie im Leben verlieben können.

Christopher Tayler liest mühelos internationale Zeitungen

Das Sprach-Genie

Ebensowenig wie Christopher Taylor. Er wäre nicht in der Lage, den Weg zum Pub in dem Dorf zu finden, in dem er seit 20 Jahren lebt. Aber Christopher liest in fast 25 Sprachen Zeitung und spricht zwei Hände voll Sprachen mehr oder weniger fließend.

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DISCOVER Vol. 23 No. 2 (February 2002)

The Inner Savant Are you capable of multiplying 147,631,789 by 23,674 in your head, instantly? Physicist Allan Snyder says you probably can, based on his new theory about the origin of the extraordinary skills of autistic savants By Douglas S. FoxPhotography by James Smolka

Nadia appeared healthy at birth, but by the time she was 2, her parents knew something was amiss. She avoided eye contact and didn't respond when her mother smiled or cooed. She didn't even seem to recognize her mother. At 6 months she still had not spoken a word. She was unusually clumsy and spent hours in repetitive play, such as tearing paper into strips.

But at 31/2, she picked up a pen and began to draw—not scribble, draw. Without any training, she created from memory sketches of galloping horses that only a trained adult could equal. Unlike the way most people might draw a horse, beginning with its outline, Nadia began with random details. First a hoof, then the horse's mane, then its harness. Only later did she lay down firm lines connecting these floating features. And when she did connect them, they were always in the correct position relative to one another. | Nadia is an autistic savant, a rare condition marked by severe mental and social deficits but also by a mysterious talent that appears spontaneously—usually before age 6.

Sometimes the ability of a savant is so striking, it eventually makes news. The most famous savant was a man called Joseph, the individual Dustin Hoffman drew upon for his character in the 1988 movie Rain Man. Joseph could immediately answer this question: "What number times what number gives 1,234,567,890?" His answer was "Nine times 137,174,210." Another savant could double 8,388,628 up to 24 times within several seconds, yielding the sum 140,737,488,355,328. A 6-year-old savant named Trevor listened to his older brother play the piano one day, then climbed onto the piano stool himself and played it better. A savant named Eric could find what he called the "sweet spot" in a room full of speakers playing music, the spot where sound waves from the different sources hit his ears at exactly the same time.

Most researchers have offered a simple explanation for these extraordinary gifts: compulsive learning. But Allan Snyder, a vision researcher and award-winning physicist who is director of the Center for the Mind at the University of Sydney and the Australian National University, has advanced a new explanation of such talents. "Each of us has the innate capacity for savantlike skills," says Snyder, "but that mental machinery is unconscious in most people."

Savants, he believes, can tap into the human mind's remarkable processing abilities. Even something as simple as seeing, he explains, requires phenomenally complex information processing. When a person looks at an object, for example, the brain immediately estimates an object's distance by calculating the subtle differences between the two images on each retina (computers programmed to do this require extreme memory and speed). During the process of face recognition, the brain analyzes countless details, such as the texture of skin and the shape of the eyes, jawbone, and lips. Most people are not aware of these calculations. In savants, says Snyder, the top layer of mental processing—conceptual thinking, making conclusions—is somehow stripped away. Without it, savants can access a startling capacity for recalling endless detail or for performing lightning-quick calculations. Snyder's theory has a radical conclusion of its own: He believes it may be possible someday to create technologies that will allow any nonautistic person to exploit these abilities.

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Allan Snyder, director of the Center for the Mind in Sydney, Australia, thinks temporarily inhibiting neural activity through a technique called transcranial magnetic stimulation could lead to creative breakthroughs.

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The origins of autism are thought to lie in early brain development. During the first three years of life, the brain grows at a tremendous rate. In autistic children, neurons seem to connect haphazardly, causing widespread abnormalities, especially in the cerebellum, which integrates thinking and movement, and the limbic region, which integrates experience with specific emotions. Abnormalities in these regions seem to stunt interest in the environment and in social interaction. Autistic children have narrowed fields of attention and a poor ability to recognize faces. They are more likely to view a face, for example, as individual components rather than as a whole. Imaging studies have shown that when autistic children see a familiar face, their pattern of brain activation is different from that of normal children.

That narrowed focus may explain the autistic child's ability to concentrate endlessly on a single repetitive activity, such as rocking in a chair or watching clothes tumble in a dryer. Only one out of 10 autistic children show special skills.

In a 1999 paper, Snyder and his colleague John Mitchell challenged the compulsive-practice explanation for savant abilities, arguing that the same skills are biologically latent in all of us. "Everyone in the world was skeptical," says Vilayanur Ramachandran, director of the Center for Brain and Cognition at the University of California at San Diego. "Snyder deserves credit for making it clear that savant abilities might be extremely important for understanding aspects of human nature and creativity."

Snyder's office at the University of Sydney is in a Gothic building, complete with pointed towers and notched battlements. Inside, Nadia's drawings of horses adorn the walls; artwork by other savants hangs in nearby rooms.

Snyder's interest in autism evolved from his studies of light and vision. Trained as a physicist, he spent several years studying fiber optics and how light beams can guide their own path. At one time he was interested in studying the natural fiber optics in insects' eyes. The question that carried him from vision research to autism had to do with what happens after light hits the human retina: How are the incoming signals transformed into data that is ultimately processed as images in the brain? Snyder was fascinated by the processing power required to accomplish such a feat.

During a sabbatical to Cambridge in 1987, Snyder devoured Ramachandran's careful studies of perception and optical illusions. One showed how the brain derives an object's three-dimensional shape: Falling light creates a shadow pattern on the object, and by interpreting the shading, the brain grasps the object's shape. "You're not aware how your mind comes to those conclusions," says Snyder. "When you look at a ball, you don't know why you see it as a ball and not a circle. The reason is your brain is extracting the shape from the subtle shading around the ball's surface." Every brain possesses that innate ability, yet only artists can do it backward, using shading to portray volume.

"Then," says Snyder, speaking slowly for emphasis, "I asked the question that put me on a 10-year quest"—how can we bypass the mind's conceptual thinking and gain conscious access to the raw, uninterpreted information of our basic perceptions? Can we shed the assumptions built into our visual processing system?

A few years later, he read about Nadia and other savant artists in Oliver Sacks's The Man Who Mistook His Wife for a Hat and Other Clinical Tales. As he sat in his Sydney apartment one afternoon with the book in hand, an

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Drawings by normal 4-year-olds When 4-year-old children draw a horse, they typically choose to establish its contour and familiar features such as head, eyes, legs, and tail. Allan Snyder believes that these kids draw on a concept of the horse to re-create it rather than recalling the precise physical details, as savants do.

A Drawing by a 3-year-old Savant became famous for her ability to sketch spectacularly detailed horses and riders from memory A 3-year-old child named Nadia. Savants like Nadia show the ability to perform unusual feats of illustration or calculation when they are younger than 6. Snyder wants to figure out how they do it.

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idea surfaced. Perhaps someone like Nadia who lacked the ability to organize sensory input into concepts might provide a window into the fundamental features of perception.

Snyder's theory began with art, but he came to believe that all savant skills, whether in music, calculation, math, or spatial relationships, derive from a lightning-fast processor in the brain that divides things—time, space, or an object—into equal parts. Dividing time might allow a savant child to know the exact time when he's awakened, and it might help Eric find the sweet spot by allowing him to sense millisecond differences in the sounds hitting his right and left ears. Dividing space might allow Nadia to place a disembodied hoof and mane on a page precisely where they belong. It might also allow two savant twins to instantaneously count matches spilled on the floor (one said "111"; the other said "37, 37, 37"). Meanwhile, splitting numbers might allow math savants to factor 10-digit numbers or easily identify large prime numbers—which are impossible to split.

Compulsive practice might enhance these skills over time, but Snyder contends that practice alone cannot explain the phenomenon. As evidence, he cites rare cases of sudden-onset savantism. Orlando Serrell, for example, was hit on the head by a baseball at the age of 10. A few months later, he began recalling an endless barrage of license-plate numbers, song lyrics, and weather reports.

If someone can become an instant savant, Snyder thought, doesn't that suggest we all have the potential locked away in our brains? "Snyder's ideas sound very New Age. This is why people are skeptical," says Ramachandran. "But I have a more open mind than many of my colleagues simply because I've seen [sudden-onset cases] happen."

Bruce Miller, a neurologist at the University of California at San Francisco, has seen similar transformations in patients with frontotemporal dementia, a degenerative brain disease that strikes people in their fifties and sixties. Some of these patients, he says, spontaneously develop both interest and skill in art and music. Brain-imaging studies have shown that most patients with frontotemporal dementia who develop skills have abnormally low blood flow or low metabolic activity in their left temporal lobe. Because language abilities are concentrated in the left side of the brain, these people gradually lose the ability to speak, read, and write. They also lose face recognition. Meanwhile, the right side of the brain, which supports visual and spatial processing, is better preserved.

"They really do lose the linguistic meaning of things," says Miller, who believes Snyder's ideas about latent abilities complement his own observations about frontotemporal dementia. "There's a loss of higher-order processing that goes on in the anterior temporal lobe." In particular, frontotemporal dementia damages the ventral stream, a brain region that is associated with naming objects. Patients with damage in this area can't name what they're looking at, but they can often paint it beautifully. Miller has also seen physiological similarities in the brains of autistic savants and patients with frontotemporal dementia. When he performed brain-imaging studies on an autistic savant artist who started drawing horses at 18 months, he saw abnormalities similar to those of artists with frontotemporal dementia: decreased blood flow and slowed neuronal firing in the left temporal lobe.

One blustery, rainy morning I drove to Mansfield, a small farm town 180 miles northeast of Melbourne. I was heading to a day clinic for autistic adults, where I hoped to meet a savant. The three-hour drive pitched and rolled through hills, occasionally cutting through dense eucalyptus forests punctuated with yellow koala-crossing signs. From time to time, I saw large, white-crested parrots; in one spot, a flock of a thousand or more in flight wheeled about like a galaxy.

I finally spotted my destination: Acorn Outdoor Ornaments. Within this one-story house, autistic adults learn how to live independently. They also create inexpensive lawn decorations, like the cement dwarf I see on the roof.

Joan Curtis, a physician who runs Acorn and a related follow-up program, explained that while true savants are rare, many people with autism have significant talents. Nurturing their gifts, she said, helps draw them into social interaction. Guy was one of the participants I met at Acorn. Although he was uncomfortable shaking my hand, all things electronic fascinated him, and he questioned me intently about my tape recorder.

Every horizontal surface in Guy's room was covered with his creations. One was an electric fan with a metal alligator mouth on the front that opened and closed as it rotated from side to side. On another fan a metal fisherman raised and lowered his pole with each revolution. And then I saw the sheep. Viewed from the left, it

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was covered in wool. Viewed from the right, it was a skeleton, which I learned Guy had assembled without any help. Guy didn't say much about himself. He cannot read nor do arithmetic, but he has built an electric dog that barks, pants, wags its tail, and urinates.

During my visit, another Acorn participant, Tim, blew into the room like a surprise guest on The Tonight Show. He was in a hurry to leave again, but asked me my birthday—July 15, 1970.

"Born on a Wednesday, eh?" he responded nonchalantly—and correctly.

"How did you do that?" I asked.

"I did it well," he replied.

"But how?" I asked.

"Very well," he replied, with obvious pleasure. Then he was out the door and gone.

How do calendar savants do it? Several years ago Timothy Rickard, a cognitive psychologist at the University of California at San Diego, evaluated a 40-year-old man with a mental age of 5 who could assign a day of the week to a date with 70 percent accuracy. Because the man was blind from birth, he couldn't study calendars or even imagine calendars. He couldn't do simple arithmetic either, so he couldn't use a mathematical algorithm. But he could only do dates falling within his lifetime, which suggests that he used memory.

He could, however, do some arithmetic, such as answer this question: If today is Wednesday, what day is two days from now? Rickard suspects that memorizing 2,000 dates and using such arithmetic would allow 70 percent accuracy. "That doesn't reduce it to a trivial skill, but it's not inconceivable that someone could acquire this performance with a lot of effort," he says. It's especially plausible given the single-minded drive with which autistics pursue interests.

Yet Tim, the savant at Acorn, can calculate dates as far back as 1900, as well as into the future. And there are reports of twins who could calculate dates 40,000 years in the past or future. Still, practice may be part of it. Robyn Young, an autism researcher at Flinders University in Adelaide, Australia, says some calendar savants study perpetual calendars several days a week (there are only 14 different calendar configurations; perpetual calendars cross-reference them to years).

But even if savants practice, they may still tap into that universal ability Snyder has proposed. Here it helps to consider art savants. That Nadia began drawings with minor features rather than overall outlines suggests that she tended to perceive individual details more prominently than she did the whole—or the concept—of what she was drawing. Other savant artists draw the same way.

Autistic children differ from nonautistic children in another way. Normal kids find it frustrating to copy a picture containing a visual illusion, such as M. C. Escher's drawing in which water flows uphill. Autistic children don't. That fits with Snyder's idea that they're recording what they see without interpretation and reproducing it with ease in their own drawings.

Even accomplished artists sometimes employ strategies to shake up their preconceptions about what they're seeing. Guy Diehl is not a savant, but he is known for his series of crystal-clear still lifes of stacked books, drafting implements, and fruit. When Diehl finds that he's hit a sticking point on a painting, for example, he may actually view it in a mirror or upside down. "It reveals things you otherwise wouldn't see, because you're seeing it differently," he says. "You're almost seeing it for the first time again."

Diehl showed me how art students use this technique to learn to draw. He put a pair of scissors on a table and told me to draw the negative space around the scissors, not the scissors themselves. The result: I felt I was drawing individual lines, not an object, and my drawing wasn't half bad, either.

Drawing exercises are one way of coaxing conceptual machinery to take five, but Snyder is pursuing a more direct method. He has suggested that a technique called transcranial magnetic stimulation, which uses magnetic

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fields to disrupt neuronal firing, could knock out a normal person's conceptual brain machinery, temporarily rendering him savantlike.

Young and her colleague Michael Ridding of the University of Adelaide tried it. Using transcranial magnetic stimulation on 17 volunteers, they inhibited neural activity in the frontotemporal area. This language and concept-supporting brain region is affected in patients with frontotemporal dementia and in the art savant whom Miller studied. In this altered state, the volunteers performed savantlike tasks—horse drawing, calendar calculating, and multiplying.

Five of the 17 volunteers improved—not to savant levels, but no one expected that, because savants practice. Furthermore, transcranial magnetic stimulation isn't a precise tool for targeting brain regions. But the five volunteers who improved were those in whom separate neurological assessments indicated that the frontotemporal area was successfully targeted. "Obviously I don't think the idea is so outlandish anymore," says Young. "I think it is a plausible hypothesis. It always was, but I didn't expect we'd actually find the things we did."

Snyder himself is experimenting with grander ideas. "We want to enhance conceptual abilities," he says, "and on the other hand remove them and enhance objectivity." He imagines a combination of training and hardware that might, for example, help an engineer get past a sticking point on a design project by offering a fresh angle on the problem. One method would involve learning to monitor one's own brain waves. By watching one's own brain waves during drawing exercises, Snyder imagines it may be possible to learn to control them in a way that shuts down their concept-making machinery—even the left temporal lobe itself.

Even if further research never fully reveals why savants have extraordinary skills, we may at least learn from their potential. Snyder is optimistic. "I envisage the day," he says, "when the way to get out of a [mental rut] is you pick up this thing—those of us with jobs that demand a certain type of creativity—and you stimulate your brain. I'm very serious about this."

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