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Institut für Sozialforschung · Frankfurt am Main Greta Wagner Selbstoptimierung Praxis und Kritik von Neuroenhancement Institut für Sozialforschung · Frankfurt am Main Campus

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Institut für Sozialforschung · Frankfurt am Main

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Greta Wagner

SelbstoptimierungPraxis und Kritik

von Neuroenhancement

Institut für Sozialforschung · Frankfurt am Main

Campus

Selbstoptimierung

Greta Wagner, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie

herausgegeben von Axel Honneth im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität,

Frankfurt am Main Band 23

Mit dieser Buchreihe will das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« ein neues Kapitel in seiner eigenen Geschichte aufschlagen. In Anleh-nung an die Schriftenreihe, die 1955 von Theodor W. Adorno und Wal-ter Dirks gegründet und im Jahr 1971 eingestellt wurde, sollen hier in re-gelmäßigen Abständen Monografien und Forschungsberichte veröffentlicht werden, in denen sich die theoretischen und empirischen Fragestellungen der Institutsarbeit niederschlagen; bewusst wurde dabei das thematische Spek trum der Reihe um die Sozialphilosophie erweitert, weil heute nicht mehr wie selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, dass zur soziologi-schen Forschung auch die Reflexion auf die philosophische Begriffsbildung gehört. In die Reihe werden neben den im Institut entstandenen Arbeiten auch Studien zur Veröffentlichung aufgenommen, die die gegenwärtigen

Forschungsabsichten in markanter Weise widerspiegeln.

Greta Wagner

SelbstoptimierungPraxis und Kritik von Neuroenhancement

Campus VerlagFrankfurt/New York

Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2014D.30

ISBN 978-3-593-50579-4 PrintISBN 978-3-593-43518-3 E-Book (PDF)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Copyright © 2017 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainSatz: Ina Walter, Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main

Gesetzt aus: GaramondDruck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH

Printed in Germany

www.campus.de

Die Forschung des Instituts für Sozialforschung wird durch die institutionelle Förderung der Stadt Frankfurt und des Landes Hessen ermöglicht.

Die Publikation geht hervor aus dem DFG-geförderten Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Inhalt

Vorwort von Axel Honneth und Sighard Neckel . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1 . Neuroenhancement – Substanzen, Geschichte und Prävalenz . 35

1 .1 Zusammensetzung, Wirkung und Indikation der Substanzen . . 36

1 .2 Neuroenhancement – Welche Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1 .3 Prävalenz der Einnahme leistungssteigernder Medikamente . . . . 48

2 . Neuroenhancement in der Bioethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2 .1 Treatment und Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2 .2 Neuroethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

2 .3 Neuroenhancement – Von der Bioethik in die Öffentlichkeit . . . 63

2 .4 Bioliberale und Biokonservative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

2 .5 Anstrengung und human excellence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

2 .6 Wettbewerb und Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

2 .7 Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

2 .8 Bioethik des Neuroenhancements und das gute Leben . . . . . . . . 86

3 . Neuroenhancement zwischen Natur und Gesellschaft . . . . . . . 91

3 .1 Gouvernementalität der Bioethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

3 .2 Medikalisierung oder Biosozialität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

3 .3 Neuroenhancement in der Neurokultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

6 Selbstoptimierung

3 .3 .1 Neurodeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

3 .3 .2 Neuroplastizität und Neurotechnologien des Selbst . . . . . 107

3 .3 .3 Neuroenhancement und Selbstoptimierung . . . . . . . . . . . 110

4 . Leistung, Leistungssteigerung und Authentizität im Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

4 .1 Der Geist des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

4 .2 Der neue Geist des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

4 .3 Selbstökonomisierung und die Subjektivierung der Arbeit . . . . 122

4 .4 Leistung und Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

4 .5 Authentizität und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

5 . Soziologie der Kritik und dokumentarische Methode . . . . . . .137

5 .1 Soziologie und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

5 .2 Soziologie der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

5 .3 Operationalisierung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

6 . Neuroenhancement: Normative Orientierungen in Frankfurt am Main und New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

6 .1 Kurzporträts der Gruppendiskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

6 .2 Typologie normativer Orientierungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . 162

6 .2 .1 Neuroenhancement als Zurichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

6 .2 .2 Neuroenhancement als autonome Praxis . . . . . . . . . . . . . 183

6 .2 .3 Neuroenhancement als Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

6 .2 .4 Neuroenhancement als legitime Erfolgsstrategie . . . . . . . . 204

6 .3 Zwischenfazit: Authentizität und Fairness in Frankfurt am Main und New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

7 . Konsumenten leistungssteigernder Medikamente . . . . . . . . . . 225

7 .1 Fallporträts der Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

7 .1 .1 Aleksandra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Inhalt 7

7 .1 .2 Tabitha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

7 .1 .3 Tyler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

7 .1 .4 Zoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

7 .1 .5 Dana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

7 .1 .6 Nils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

7 .1 .7 Anne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

7 .2 Typologie des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

7 .2 .1 Bedingter Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

7 .2 .2 Avantgardistischer Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

7 .2 .3 Enttäuschter Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

8 . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

8 .1 Neuroenhancement zwischen Selbstgestaltung und Zurichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

8 .2 Neuroenhancement zwischen Leistungs- und Erfolgsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

8 .3 Neuroenhancement zwischen Begrenzung und Entgrenzung von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

8 .4 Neuroenhancement zwischen Authentizität und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

8 .5 Neuroenhancement in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Vorwort

Es bedarf keines großen Vorstellungsvermögens, um sich klarzumachen, dass Theodor W . Adorno mit nervöser Aufmerksamkeit all die Verhaltensweisen verfolgt hätte, die heute mit dem Begriff »Neuroenhancement« belegt wer-den; und nach allem, was seine soziologischen Schriften an Auskünften über die gesellschaftliche Lage des Subjekts enthalten, dürfen wir nahezu sicher sein, dass er in der damit gemeinten Bereitschaft, die eigene Leistungsfähig-keit mit Hilfe pharmakologischer Mittel zu steigern, das untrügliche Zei-chen einer weiteren Intensivierung des selbstauferlegten Zwangs zur sozialen Anpassung gesehen hätte . Von solchen kritischen Reflexen und Voreinschät-zungen nimmt die vorliegende Studie, die überarbeitete Fassung einer am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt vertei-digten Dissertation, erst einmal grundsätzlich Abstand; die Autorin, Greta Wagner, versucht vielmehr, zunächst ein möglichst vollständiges, die Per-spektive der Betroffenen einbeziehendes Bild der neuen Verhaltensweise zu entwerfen, bevor sie sich behutsam an deren diagnostische Bewertung wagt . Das Ergebnis dieser vorsichtigen, viele Stimmen sammelnden Vorgehenswei-se ist eine umfassende, empirisch höchst anspruchsvolle Untersuchung zum viel beschworenen Phänomen des Neuroenhancements, die wir froh sind, in der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung veröffentlichen zu kön-nen . Kaum etwas scheint uns heute besser geeignet, die Tradition einer kri-tischen Sozialforschung produktiv fortzusetzen, als unvoreingenommen und mit soziologischem Spürsinn den Versuch zu unternehmen, der Bedeutung neuartiger, gesellschaftlich auffällig wirkender Verhaltensweisen möglichst genau auf die Schliche zu kommen .

Wenn auch weniger praktiziert, als in der Öffentlichkeit gerne angenom-men, stellt die private Einnahme von verschreibungspflichtigen Medika-menten zum Zweck der Steigerung kognitiver Leistungsfähigkeiten gegen-wärtig fraglos ein solches auffälliges, zunächst vielleicht bizarr erscheinendes Verhaltenssyndrom dar . Die Absicht der Studie von Greta Wagner ist es,

10 Selbstoptimierung

dieses neue Phänomen in seiner sozialen Bedeutung zu entschlüsseln, indem es aus der Perspektive verschiedener Akteure als mögliches Symptom einer veränderten Selbstbeziehung der Subjekte untersucht wird; den roten Faden der Rekonstruktion bildet dabei die Frage, ob und, wenn ja, inwiefern die vermehrte Nutzung derartiger leistungssteigender Medikamente in einem kausalen Zusammenhang mit jenen Zwängen zur individuellen Selbstop-timierung steht, die heute gemeinhin als ein charakteristischer Grundzug des gegenwärtigen Kapitalismus gedeutet werden . Entsprechend der um-fangreichen Aufgabe, die Greta Wagner sich damit gestellt hat, muss sie in ihrer Studie thematisch sehr weit ausholen; sowohl die Beschaffenheit der verwendeten Medikamente selber, die Perspektive der Öffentlichkeit auf die damit einhergehenden Praktiken und schließlich die Selbstinterpretationen der Nutzer müssen untersucht werden, um am Ende nach Möglichkeit zu einer überzeugenden Gesamtdeutung des Phänomens gelangen zu können . Mehr noch, alle diese Schritte verlangen ihre je eigenen Zugangsweisen, so dass verschiedene methodische Register zu ziehen sind, die ihrerseits aber doch wieder in einen stimmigen Erklärungsrahmen integriert werden müs-sen . Die Autorin löst die damit angedeuteten Herausforderungen, indem sie in Anschluss an Luc Boltanski ihre Studie nach dem Muster einer »Soziolo-gie der Kritik« versteht; in einem solchen Ansatz werden die gesellschaftli-chen Handlungsfelder als Rechtfertigungsordnungen begriffen, deren häufig umstrittenen Prinzipien die als kompetent verstandenen Subjekte die nor-mativen Ressourcen entnehmen können sollen, um ihr eigenes Verhalten in dem entsprechenden Feld vor sich selbst und anderen zu begründen . Auf diese Weise können die öffentlichen Debatten um das Neuroenhancement, die ja einen wesentlichen Bezugspunkt der vorliegenden Studie bilden sol-len, zugleich als normative Horizonte der Deutungsaktivitäten betrachtet werden, mit deren Hilfe die Benutzer_innen ihren Gebrauch von leistungs-steigernden Pharmazeutika zu rechtfertigen versuchen . Aus einem Guss ist mithin, was uns im Folgenden als Vorschlag für eine umfassende Deutung des neuen Verhaltenssyndroms begegnet, weil das Außen und das Innen, die gesellschaftliche Sichtweise und die Binnenperspektive der Beteiligten, immanent aufeinander bezogen bleiben .

Es liegt auf der Hand, dass Greta Wagner, wenn sie sich ihrem Thema von Außen zu nähern versucht, zunächst einmal die stoffliche Materie selbst in den Blick nehmen muss, die in dieser Praxis der leistungssteigernden Einnahme von Medikamenten Anwendung findet . Nichts weniger als eine überblicksartige Kulturgeschichte der Herkunft und praktischen Verwen-

Vorwort 11

dungszwecke solcher optimierend auf die Hirnfunktionen einwirkenden Pharmazeutika wird uns hier geboten, die von den Anfängen in militärischen Kontexten über die Nutzung zur Gewichtskontrolle ab den 1940er Jahren bis hin zur heutigen Bekämpfung von sogenannten ADHS-Symptomen bei Jugendlichen reicht . Unter den vielen chemischen Substanzen, die im Zuge dieses medizinischen Suchprozesses getestet und genutzt wurden, ist es eine Handvoll, die gegenwärtig von privaten Nutzern – und darunter vor allem »Wissensarbeitern«, wie betont wird – ohne ärztliche Begleitung zum Zweck der Leistungsoptimierung eingenommen werden . Bei allen Unter-schieden in der chemischen Zusammensetzung, so berichtet Greta Wagner, teilen die derart verwendeten Substanzen allesamt die Eigenschaft, entweder die Wachheit, die Aufmerksamkeit, den Antrieb oder die individuelle Mo-tivation zu steigern, um dadurch die zur Verfügung stehende Zeit effektiver nutzen zu können und gezielt anstehende Dinge »erledigt zu bekommen« . Dass die Praxis, die sich in einer solchen rein privaten Einnahme der chemi-schen Substanzen abzuzeichnen begann, alsbald die kritische Aufmerksam-keit der politischen Öffentlichkeit erregte, kann nicht weiter überraschen; zu offenkundig waren doch die vielzähligen Risiken, die damit sowohl unter gerechtigkeitstheoretischen als auch unter ethischen Gesichtspunkten ein-hergingen, als dass sich nicht in kürzester Zeit eine Reihe von skeptischen Stimmen zu Wort gemeldet hätten . Diesen breitgefächerten Reaktionen auf das neue Verhaltenssyndrom widmet sich Greta Wagner in den anschließen-den Kapiteln ihrer Studie; und auch hier gilt wieder, dass uns mit großem Geschick für pointierte Zusammenfassungen ein Einblick in Diskursstränge gewährt wird, deren Kenntnis für ein angemessenes Verständnis der sozialen Bedeutung von Neuroenhancement unverzichtbar ist .

Den Anfang bei dieser Aufarbeitung der das Phänomen umlagernden Diskurse macht die bioethische Debatte, die in den letzten beiden Jahrzehn-ten vor allem in Deutschland eine stark polarisierende Form angenommen hat . In der in ihren vielen Verzweigungen kaum zu überblickenden Diskus-sion – umso größer das Verdienst der Autorin, durch beherzte Typisierungen hier für Klarheit zu sorgen – stehen sich nicht nur die beiden Lager der eher auf gerechtigkeitstheoretische Prinzipien bedachten und der stärker ethisch argumentierenden Vertreter gegenüber, sondern innerhalb der beiden La-ger auch noch einmal Befürworter und Gegner des Neuroenhancements . Kreist der gerechtigkeitstheoretische Zweig der Debatte um die Frage, ob die Einnahme leistungssteigender Medikamente die Bedingungen eines fairen Wettbewerbs verletze oder nicht, so beschäftigt deren ethischen Flügel vor-

12 Selbstoptimierung

dringlich die Frage, inwiefern der Konsum solcher Mittel den Tatbestand der Selbstmanipulation erfülle und damit unseren tiefverankerten Vorstellungen persönlicher Authentizität widerspreche . Mit sicherer Hand führt uns Greta Wagner durch diese vielstimmige Landschaft, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie zerklüftet und vieldeutig die Legitimationsordnung ist, auf die sich die Nutzer bei ihren Versuchen einer Selbstrechtfertigung stüt-zen können; von klaren, diskursiv abgewogenen Prinzipien der Beurteilung sozialen Handelns kann im Feld der leistungssteigernden Verwendung von Medikamenten vorläufig gewiss nicht die Rede sein . Über die widersprüch-liche Disparatheit der zugrunde liegenden Rechtfertigungsstandards hinaus möchte Greta Wagner an diesen gesellschaftlichen Diskursen aber noch ei-nen zweiten auffälligen Zug hervorheben; ihrer Beobachtung zufolge bleibt nämlich in allen bioethischen Beiträgen zum Thema die stillschweigend vo-rausgesetzte Prämisse, nach der der Wettbewerb um Positionen und Güter etwas sozial entweder Wünschenswertes oder zumindest Unvermeidbares sei, so gut wie unangetastet; ob auf Authentizität verwiesen oder Fairness eingeklagt wird, stets schwingt im Hintergrund die Vorstellung mit, es sei selbstverständlich, dass Subjekte sich im Leistungswettbewerb zu bewähren hätten . Insofern beflügelt die öffentliche Diskussion trotz ihrer kontrover-sen Vielstimmigkeit, so ließe sich mit der Autorin sagen, die Neigung der Nutzer_innen, sich in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf verstrickt zu sehen, bei dem gegebenenfalls auch pharmazeutische Mittel eine legitime Hilfsquelle darstellen können .

Bei ihrem Versuch, sich einen Überblick über die das neue Verhaltens-muster beobachtenden und beurteilenden Diskurse zu verschaffen, beschäf-tigt sich Greta Wagner im nächsten Schritt mit den »biopolitischen« Dia-gnosen, die im Anschluss an Foucault zum Thema erstellt wurden . Erneut ist das Spektrum der Analysen, die zu durchmustern die Autorin sich damit vorgenommen hat, erheblich, weil trotz des gemeinsamen Ausgangs von der These einer heute herrschenden »Gouvernementalität« der »biopolitischen« Selbstverantwortung die jeweiligen Auslegungen und Anwendungen stark voneinander abweichen; schon an der Vielzahl der Bedeutungen, die der Begriff der »Biopolitik« in solchen an Foucault orientierten Studien mitt-lerweile angenommen hat, ist ja unschwer erkennbar, wie breit gefächert die Palette der damit verbundenen Zeitdiagnosen tatsächlich ist . Es mag nach dem bislang Gesagten nicht mehr überraschen, dass Greta Wagner auch beim Durchgang durch dieses zweite Feld intellektueller Reaktionen auf das Phänomen des Neuroenhancements den sicheren Überblick bewahrt;

Vorwort 13

wieder werden verschiedene Positionen typisierend voneinander abgehoben, auf ihre jeweiligen Kernaussagen hin überprüft und schließlich miteinander so verglichen, dass sich am Ende ein deutlicher Eindruck von den sich hier auftuenden Alternativen ergibt: Die Praxis der medikamentösen Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit wird im Umfeld der an Foucault anschlie-ßenden Diagnosen entweder als Ausdruck einer selbstbestimmten, in die eigenen Hände genommenen Lebensführung verstanden oder als Zeichen einer invasiven Zurichtung des Körpers zum Zweck einer kapitalistischen Wettbewerbsethik gedeutet .

So hilfreich und klärend wie diese Sichtung ist schließlich auch der Überblick über das dritte Feld, dem sich Greta Wagner in ihrem Versuch zuwendet, zunächst einmal das diskursive Umfeld der Praxis des Neuroen-hancements zu erschließen . Waren es im ersten Schritt die bioethischen De-batten, im zweiten Schritt die Analysen zur veränderten »Biopolitik«, so sind es jetzt die gesellschaftstheoretischen Diskussionen um die gestiegene Rolle von Leistung im gegenwärtigen Kapitalismus, denen sie ihre Bemühungen um eine solche Rahmung des zu untersuchenden Phänomens widmet . Im Ausgang von der berühmten Protestantismus-Studie Max Webers wird hier dargestellt, welche Neudeutungen die von ihm ins Zentrum seiner Kapita-lismusanalyse gerückten Prinzipien der »Leistung« und des innerweltlichen »Erfolgs« inzwischen deswegen erfahren haben, weil sich mit der heutigen Entgrenzung der kapitalistischen Wirtschaft auch die Anforderungen an die berufliche Bewährung erheblich verändert oder zugespitzt haben . Der Aus-blick, der uns damit auf diesen dritten Strang der diskursiven Behandlung der Praktiken von Neuroenhancement eröffnet wird, umfasst erneut ein gan-zes Spektrum unterschiedlichster Positionen, denen allerdings gemeinsam ist, dass sie einen ganz engen Zusammenhang zwischen verschärften Wett-bewerbsanforderungen und gestiegenen Leistungs- und Erfolgszumutungen vermuten; souverän wird diese soziologische Diskussion über mehrere Etap-pen nachverfolgt, bis schließlich wieder die Alternative angedeutet wird, vor die die entsprechenden Analysen heute gestellt sind: entweder im Neuro-enhancement den Ausdruck einer Erfolgskultur zu erblicken, in der es die Akteure auch mit pharmakologischen Mitteln unternehmen müssen, sich für die Durchsetzung im Wettbewerb zu rüsten, oder aber darin die Umrisse einer widerständigen Praxis zu erkennen, in der die »inauthentischen« Me-dikamente genutzt werden, um den Authentizitätszumutungen moderner Arbeitsanforderungen zu entgehen .

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Nachdem sie in diesen drei Runden die intellektuelle Auseinanderset-zung mit dem Phänomen des Neuroenhancements rekonstruiert hat, nähert sich Greta Wagner mit dem nächsten Kapitel dem eigentlichen Herzstück ihrer Studie an, der empirischen Untersuchung der Bewertung der neuen Praxis unter Studierenden in Frankfurt am Main und New York . Bevor sie die Ergebnisse dieser in Form sowohl von Einzelinterviews als auch von Gruppendiskussionen durchgeführten Befragungen präsentiert, legt sie in einem vorgeschalteten Schritt allerdings erst einmal dar, wie sich die empi-rische Erhebung in den Gesamtrahmen der Studie einfügen soll und wel-che methodischen Verfahren der Befragung und Datenauswertung dabei verwendet wurden . Hier wird zunächst nachträglich mit Ausblick auf die diversen Möglichkeiten einer Sozialkritik gerechtfertigt, warum die gesamte Studie in ihrem Aufbau und Verfahren der durch Luc Boltanski und Laurent Thévenot begründeten »Soziologie der Kritik« folgen soll; deren Vorteil ge-genüber alternativen Formen der Kritik wird nämlich darin gesehen, so ist in diesen metatheoretischen Überlegungen zusammenfassend noch einmal zu lesen, dass in der normativen Beurteilung eines Sachverhalts die ihrerseits als gesellschaftlich vermittelt betrachteten Eigendeutungen der Betroffenen maßgeblich Berücksichtigung finden müssen . Durch diese Erläuterungen ist dann der Weg bereitet, der es verständlich werden lässt, warum den im Fol-genden vorgestellten Ergebnissen der Befragung von Studierenden bei der kritischen Erschließung der Praxis des Neuroenhancements ein so großes Gewicht zufallen soll; dabei handelt es sich nicht um bloße Illustrationen, nicht um das letztlich überflüssige Beiwerk einer empirischen Veranschau-lichung, sondern um eine ganz wesentliche Quelle zur Beantwortung der Frage, wie das Phänomen einer solchen artifiziellen Leistungsoptimierung im Ganzen zu verstehen und zu bewerten ist .

Weil den Ergebnissen der empirischen Erhebung mithin ein großes Ge-wicht für die Gesamtdeutung zukommen soll, ist Greta Wagner mit Recht darauf bedacht, die einzelnen Schritte ihrer Befragung von den Gründen zur Auswahl des Samples bis zur Entscheidung über die Methode der Datenaus-wertung vorgängig so durchsichtig wie möglich darzulegen . Gruppendiskus-sionen wurden gegenüber Einzelinterviews aus der bekannten Überlegung heraus vorgezogen, dass bei solchen thematisch nur schwach strukturierten Gesprächen die latenten Motive und Wissensbestände der Beteiligten des-wegen eher zutage treten, weil sie durch Rede und Gegenrede zur spontanen Versprachlichung angestachelt werden; die Auswahl der Probanden fiel auf Studierende aus größeren Universitätsstädten in zwei Ländern, weil damit

Vorwort 15

erstens dem Umstand Rechnung getragen werden sollte, dass von Neuroen-hancement vorzüglich jüngere »Wissensarbeiter_innen« Gebrauch machen, und zweitens den möglichen regionalen Unterschieden in der kulturellen Be-wertung dieser leistungssteigernden Praxis Tribut gezahlt werden konnte; und was schließlich das Auswertungsverfahren anbelangt, so hat sich die Autorin zur Anwendung der dokumentarischen Methode entschlossen, die ihr in der Kombination von performanz- und inhaltsbezogenen Interpretationen gut geeignet schien, das latente Wissen der Diskussionsteilnehmer in Bezug auf Themen eines »konjunktiven Erfahrungsraumes« zu entschlüsseln . Das Sample der Gruppendiskussionen, die Greta Wagner zwischen Herbst 2010 und Frühjahr 2011 mit Studierenden aus New York und Frankfurt geführt hat, bestand aus je drei Gruppengesprächen, wobei die Teilnehmer_innen nicht Angehörige von Realgruppen waren, sondern durch eigene Initiative der Autorin rekrutiert wurden . Bei den zusätzlichen Einzelinterviews, die Greta Wagner mit 13 Nutzerinnen und Nutzern (sieben aus New York, sechs aus deutschen Städten) führte, wurde ebenfalls auf die bereits erwähnte Aus-wertungstechnik der dokumentarischen Methode zurückgegriffen .

Das zentrale Kapitel der Studie, in dem die Ergebnisse der Auswertung des empirischen Materials aus den Gruppendiskussionen präsentiert werden, beginnt mit Kurzporträts der sechs Gruppen, die Greta Wagner über die Pra-xis des Neuroenhancements hat diskutieren lassen; das ist insofern ein kluger Schachzug der Autorin, weil auf diese Weise die Leserinnen und Leser darauf eingestimmt werden, mit wem sie es bei der folgenden Charakterisierung von unterschiedlichen Typen der Beurteilung solcher Praktiken zu tun ha-ben . Im Einzelnen glaubt Greta Wagner, auf der Basis der von ihr dokumen-tierten Gruppendiskussionen vier verschiedene Reaktionsmuster bei den Be-teiligten unterscheiden zu können: Im ersten Typ wird Neuroenhancement als eine soziale »Zurichtung« verstanden, nämlich als eine heteronome Praxis der Medikalisierung, die dem Zwang zur permanenten Leistungssteigerung unterliegt, welcher von den Instanzen der Wettbewerbsgesellschaft ausge-übt wird . Interne Differenzen entstehen dort, wo Neuroenhancement wie in Frankfurt als Problem von Eliten begriffen wird, während es aus der New Yor-ker Perspektive eher die unteren Schichten sind, denen Psychopharmaka aus Gründen ihrer erzwungenen »Normalisierung« verschrieben werden . Beim zweiten Typ, mit dem Stichwort »Neuroenhancement als autonome Praxis« gekennzeichnet, werden diese Praktiken als ein freiwilliges Tun verstanden, das keine moralischen Einwände verdient, weil es in den Bereich individu-eller Präferenzen fällt . Die Konsumenten der pharmazeutischen Substanzen

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werden als leistungsstark und erfolgsorientiert vorgestellt, die Einnahme die-ser Mittel wird als Ausdruck des symbolischen Werts verstanden, der mit der Erfolgsorientierung verbunden ist . Nur in einer New Yorker Gruppendis-kussion taucht ein davon abweichendes Muster auf, welches auf Adoleszente mit riskantem Konsumverhalten und ausgeprägter Willensschwäche als Pro-tagonisten von Neuroenhancement abstellt . Der dritte Typ, kurz mit dem Ausdruck »Neuroenhancement als Doping« charakterisiert, bezieht sich auf die Normen der Chancengleichheit oder der Fairness und interpretiert Neu-roenhancement als Verzerrung des Leistungswettbewerbs . Allerdings taucht interessanterweise dieser dritte Typ allein in den deutschen Gruppendiskus-sionen auf, während in New York die Studierenden die Einnahme von Rita-lin oder Adderall eher als eine akzeptable Praxis begreifen, um (überflüssige) Arbeitsanstrengungen abzukürzen oder zu vermeiden . Das leitet über zum vierten Typ, dem Orientierungsmuster »Neuroenhancement als legitime Er-folgsstrategie«, welcher in den New Yorker Diskussionsgruppen zu identifi-zieren war . Aufschlussreich daran ist, dass hier die reale Ungleichheit in den gesellschaftlichen Erfolgschancen, die durch Klassenzugehörigkeit oder die Hautfarbe bedingt ist, als argumentative Rechtfertigung dafür herangezo-gen wird, individuelle Benachteiligungen oder soziale Ungleichheiten durch Neuroenhancement zu überwinden . Noch einmal auf die Ergebnisse dieser Typenbildung zurückblickend, wagt sich Greta Wagner am Ende des Kapi-tels an den Versuch einer weiteren Generalisierung, der zu erkennen geben soll, worin die Differenzen zwischen den Gesprächsgruppen in Frankfurt und New York vor allem bestehen . Zwar drehen sich die Beurteilungen der Praxis von Neuroenhancement an beiden Orten, wie die Autorin feststellt, vornehmlich um das Verhältnis von Leistung und Erfolg, aber zwischen den zwei Größen werden nach ihrer Auffassung jeweils doch sehr unterschied-liche Beziehungen geknüpft: Während die Frankfurter Gruppen Neuroen-hancement als eine Praxis bewerten, die das Leistungsprinzip verletzt und stattdessen eine Erfolgskultur befestigt, deren personales Sinnbild für sie der erfolgreiche Manager darstellt, ziehen die New Yorker Gruppen aus der fak-tischen Geltung des Erfolgsprinzips im gesellschaftlichen Wettbewerb die Konsequenz, alle Mittel für legitim zu halten, mit deren Hilfe Erfolge zu er-ringen sind, die einem ansonsten aufgrund der eigenen Unterprivilegierung verwehrt blieben – so dass hier konsequenterweise auch nicht der Manager, sondern die Person aus benachteiligten Schichten das personale Sinnbild für die Praxis des Neuroenhancements abgibt . Die Ursachen für diese ins Auge springenden Differenzen sieht Greta Wagner nicht nur in einer anderen kul-

Vorwort 17

turellen Einstellung gegenüber dem Einsatz von Medikamenten in den USA und in Deutschland, sondern viel stärker noch darin, dass Studierende in New York bei aller Gesellschaftskritik eine insgesamt liberale und individu-alistische Haltung gegenüber sozialen Ungleichheiten einnehmen, während Studierende in Frankfurt Gesellschaftskritik als Einspruch gegen eine wachs-tumsgetriebene Steigerungslogik entfesselter Konkurrenz begreifen, der ge-genüber man sich persönlich bedroht und ausgeliefert fühlt – schlagender lassen sich die leichten Unterschiede im Verständnis von Politik, Gesellschaft und Kritik, die man im Umgang mit beiden Studierendenmilieus immer wieder festzustellen glaubt, wohl kaum auf den Punkt bringen .

Hatten wir es im empirischen Teil der Studie bisher mit Beurteilungen des Neuroenhancements durch Studierende zu tun, die nur in den seltensten Fällen selbst die entsprechenden Pharmazeutika einnehmen, so lernen wir im anschließenden Kapitel nun die Perspektive derer kennen, die sich zum Konsum der leistungssteigernden Mittel ausdrücklich bekennen . Mit dem Ziel, ihr Bild von der Bewertung dieser Praxis durch ein studentisches Publi-kum um die Sichtweise tatsächlicher Nutzer_innen zu ergänzen, hat Greta Wagner auf Basis ihrer bereits erwähnten Einzelinterviews sechs Fallporträts erstellt, die in einer gekonnten Mischung aus Interviewzitaten, Paraphra-sen und analytischen Zusammenfassungen überaus plastisch verschiedene Typen des studentischen Konsumenten hervortreten lassen . Dabei handelt es sich um drei Gruppen, deren Mitglieder in Hinblick auf bevorzugte Prak-tiken, auf die benannten Umstände und auf das Selbstverhältnis jeweils ge-nügend Übereinstimmungen aufweisen, um als »Typus« bezeichnet werden zu können: Wer dem Typus des »bedingten Konsumenten« angehört, sieht die eigene Verwendung leistungssteigender Medikamente an die Bedingung geknüpft, dass diese in zeitlicher oder sachlicher Weise begrenzt bleibt; wer zum Typus des »avantgardistischen Konsumenten« zählt, begreift die Nut-zung solcher Pharmazeutika als Ausdruck einer autonomen Praxis jenseits gesellschaftlicher Konventionen; und derjenige schließlich, der dem Typus des »enttäuschten Konsumenten« zugerechnet wird, hat sich vom Medika-mentenkonsum abgewendet, nachdem entweder dessen Wirkungen nicht den anfänglichen Erwartungen entsprachen oder aber dieser selbst mit den eigenen normativen Überzeugungen in Konflikt geriet . Zusätzliche Tie-fenschärfe gewinnen die damit hier nur kurz zusammengefassten Konsu-mententypen in der Darstellung von Greta Wagner dadurch, dass sie stets mit den in den Gruppendiskussionen gewonnenen Orientierungsmustern verglichen werden; die normativen Kontraste oder argumentativen Gegen-

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horizonte, die dadurch entstehen, machen es der Leserin oder dem Leser leicht, sich einen Eindruck von der ganzen Bandbreite der in den empiri-schen Befunden zu Tage getretenen Legitimationsprinzipien zu verschaffen . Im Schlusskapitel ihrer Studie führt Greta Wagner die Erträge der einzel-nen Schritte ihrer Untersuchung zusammen, um auf diese Weise zu der in Aussicht gestellten Gesamtdeutung der Praxis des Neuroenhancements zu gelangen; gemäß dem Vorsatz, ein neues soziales Phänomen nur dann voll-ständig beurteilen zu können, wenn dabei auch die normativen Perspektiven der Beteiligten Berücksichtigung finden, muss hier mithin der schwierige Versuch unternommen werden, im Abgleich zwischen öffentlicher Debatte und individueller Wahrnehmung eine möglichst umfassende Interpretation der sozialen Bedeutung solcher Praktiken der Leistungssteigerung zu liefern . Es würde zu weit führen, all die hochinteressanten Befunde aufzulisten, mit denen die Autorin in diesen abschließenden Betrachtungen ihrer Studie auf-wartet; zusammengenommen geben sie zu erkennen, dass die gravierenden Unterschiede in der Bewertung von Neuroenhancement, die sich zwischen den Diskussionsgruppen in New York und Frankfurt aufgetan hatten – dort überwog deutlich eine bioliberale, hier hingegen eine biokonservative Hal-tung –, mit den Gesellschaftsbildern zusammenhängen, die in den beiden Ländern jeweils vorherrschen: Ist in Deutschland nach Auffassung von Greta Wagner die Norm der Chancengleichheit so wirksam im öffentlichen Be-wusstsein verankert, dass artifizielle Mittel der Leistungssteigerung als un-lauter und zudem als wettbewerbsbeschleunigend empfunden werden, so sieht sie in den USA eine Vorstellung als dominant an, nach der der ökono-mische Wettbewerb ohnehin derart ungerecht und brutal ist, dass die Ver-wendung leistungssteigernder Medikamente als Ausgleich für marktbedingte Benachteiligungen betrachtet werden kann . Auf die zentrale Pointe dieser in mehreren Schritten unternommenen Bemühungen, die Innen- und die Außenperspektive im Umgang mit dem Neuroenhancement zu integrieren, steuert die Autorin freilich erst dann zu, wenn sie es am Ende unternimmt, die neue Verhaltensweise im Licht ihrer vielfältigen Befunde als den geschei-terten Versuch einer Bewältigung verstärkter Leistungsanforderungen zu deuten: Die Einnahme von Medikamenten zum Zweck der individuellen Leistungssteigerung, so heißt es mit großem Sinn für zeitdiagnostische Zu-spitzungen, begegnet der entfremdenden Erfahrung, wachsenden Zwängen der Selbstoptimierung ausgeliefert zu sein, mit einer Praxis, die ihrerseits auf höherer Stufe eine neue Art der Entfremdung entstehen lässt, nämlich die

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der artifiziellen Abwehr von leistungsbeeinträchtigenden Ablenkungen und Zerstreuungen .

Kehren wir von diesem Resümee noch einmal zum Beginn unseres Vor-worts zur Studie von Greta Wagner zurück, so wird man feststellen müssen, dass sich ihre Bilanz von derjenigen, die wir Adorno zugeschrieben hatten, letztlich gar nicht so gravierend unterscheidet – nur, dass aus dem, was zuvor allein eine bloße Intuition war, jetzt durch die Verzahnung von theoretischer Analyse und empirischer Beweisführung eine beweiskräftige, allgemein über-prüfbare Hypothese geworden ist . Weit über Adorno hinaus, aber durchaus in seinem Geiste, deutet Greta Wagner die Praxis des Neuroenhancements als ein Symptom, in dem sich die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die gewachsenen Zwänge zur Selbstoptimierung wie in einem Brennglas spiegeln; schaut man in dieses nur aufmerksam und besonnen genug hinein, wie die Autorin es tut, so zeigt sich beides, dass sich die Akteure sowohl der Fallstricke der ihnen aufgezwungenen Zumutungen bewusst sind als aber auch ihnen nicht selten in der Absicht der Hintertreibung oder Überlistung erliegen . Mit diesem ausgewogenen Bild dürfte Greta Wagner eine Gesamt-deutung der neuen Verhaltensweise vorgelegt haben, die wohl auf absehbare Zeit als Standardwerk zum Thema gelten dürfte . Umso glücklicher sind wir, wie gesagt, ihre Studie in unserer Schriftenreihe veröffentlichen zu können .

Axel Honneth und Sighard NeckelFrankfurt am Main, im Dezember 2016

Einleitung

Für viele Menschen, die jenseits festgelegter Arbeitszeiten Deadlines einhal-ten müssen, ist es eine verlockende Vorstellung, Substanzen zu konsumieren, die es ermöglichen, motivierter und länger zu arbeiten . Die nötige Selbst-disziplinierung einfach an ein Medikament zu delegieren, das die Arbeit am Selbst ersetzt und den Enthusiasmus hervorruft, den man nicht in der Lage ist aufzubringen, klingt attraktiv . Allerdings möchte kaum jemand in einer Gesellschaft leben, in der viele Menschen Tabletten einnehmen, um mit ihrer Arbeit zurechtzukommen . Diese Vorstellung wird zumeist als ab-schreckend empfunden, sie erinnert an den dystopischen Roman Brave New World von Aldous Huxley .

Neuroenhancement ist in den letzten Jahren zu einem Diskursereignis geworden, zuweilen mit futuristischen Konnotationen . Der Begriff sugge-riert das Anbrechen einer Zukunft, in der die Gehirne der Menschen durch neue Substanzen verbessert werden, die Ergebnis neurowissenschaftlicher Forschung sind . Der Diskurs in Deutschland ist darüber hinaus von der Sor-ge geprägt, die Menschen könnten immer stärker gezwungen sein, Medika-mente einzunehmen, um überzogenen Leistungsanforderungen zu genügen . Das passt in die Beschreibungen zur Selbstoptimierung im Neoliberalismus . In neoliberalen Gesellschaften herrscht eine Ethik des Wettbewerbs (vgl . Amable 2010), gesellschaftliche Risiken werden auf das Individuum über-tragen, das maximal eigenverantwortlich auf Märkten agiert . Marktlichkeit wird zunehmend in nichtmarktliche Sphären hineingetrieben und reicht von der Privatisierung öffentlicher Güter bis hin zur Partnersuche . Um auf Märkten wettbewerbsfähig zu sein, müssen die Individuen ihren Marktwert steigern und ihre Fähigkeiten optimieren . Hierzu gehören subjektive Res-sourcen wie Disziplin und Durchhaltevermögen ebenso wie Motivation und Begeisterung . Können wir Neuroenhancement also als neoliberale Selbstop-timierungsstrategie verstehen?

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Unter Neuroenhancement wird die nichtmedizinische Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten mit dem Ziel der kognitiven Leis-tungssteigerung verstanden . Bei den Medikamenten, die mit dem Ziel der Leistungssteigerung eingenommen werden, handelt es sich im Wesentlichen um Medikamente mit den Wirkstoffen Methylphenidat oder Modafinil und um Medikamente auf Amphetamin- beziehungsweise Dexamphetaminba-sis . Letztere sind in den USA zugelassen, nicht aber in Europa . Alle drei Substanzen erhöhen auf die eine oder andere Weise die Konzentration der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin in den Zwischenräumen der Nervenzellen . Die Wirkung dieser drei Medikamente besteht nicht in der Steigerung von Intelligenz: Sie erhöhen zwar in unterschiedlichem Ausmaß Antrieb, Wachheit und Aufmerksamkeit, die Gedächtnis- oder Planungs-funktionen verändern sie jedoch nicht . Der Schweizer Pharmakologe Boris Quednow kommt daher zu dem Schluss, dass es sich bei diesen Medika-menten eher um »Cognitive Enhancer zweiter Ordnung« handelt und man eigentlich von Vigilance- oder Motivation-Enhancern sprechen sollte (Qued-now 2010a: 21) . Darüber hinaus weist Quednow darauf hin, dass es sich bei der Wirkungsweise dieser Stoffe um eine inverse U-Funktion handelt . Eine Steigerung kognitiver Funktionen ist nur dann möglich, wenn der optimale Grad der Konzentration der entsprechenden Neurotransmitter noch nicht erreicht ist . Andernfalls verschlechtert sich die Aufmerksamkeit nach der Einnahme von Substanzen wie Methylphenidat wieder (vgl . ebd . und Qued-now 2010b) . Die Substanzen rufen bei manchen Menschen gar keine Wir-kung hervor, und manche verspüren lediglich eine unbestimmte Nervosität . Bei den Konsumenten, die eine gesteigerte Motivation und Aufmerksamkeit verspüren, ist die Wirkung am deutlichsten, wenn sie müde sind . Das ge-sunde und ausgeschlafene Gehirn besitzt in der Regel bereits das Optimum seiner Leistungsfähigkeit (vgl . Quednow 2010a: 21) .

Weil es sich bei Neuroenhancement um die Einnahme von Medikamen-ten handelt, die gegebenenfalls Wachheit, Aufmerksamkeit, Antrieb und Motivation steigern, stellt sich die Frage, welche Bedeutung diesen Eigen-schaften in der Gesellschaft der Gegenwart zukommt und ob der Begriff der neoliberalen Selbstoptimierung zur Beschreibung dieser Praxis geeignet ist . Denn man spricht in der Regel dann von Selbstoptimierung, wenn das Subjekt dauerhaft in einen optimierten Zustand versetzt wird . Dagegen wird das Selbst durch Neuroenhancement pharmakologisch in einen Zustand versetzt, der sich wieder auflöst, sobald der Organismus die Wirkstoffe abge-baut hat . Die Wirkung hält im Durchschnitt drei bis vier Stunden an . Das

Einleitung 23

Selbst wird unter dem Einfluss der Medikamente zwar geformt und opti-miert, es schnurrt aber immer wieder in seinen »suboptimalen« Zustand zu-rück . Darüber hinaus werden durch die Wirkung von Neuroenhancern auch andere Fähigkeiten eingeschränkt, zum Beispiel die Fähigkeit, empathisch zu kommunizieren, zu schlafen oder mehrere Einflüsse gleichzeitig wahrzu-nehmen . Pharmakologisches Neuroenhancement wirkt zeitlich begrenzt auf den Gehirnstoffwechsel ein . Bei einigen Konsumenten führt die Einnahme dazu, dass ihnen die Arbeit leichter von der Hand geht und sie mehr Arbeit in kürzerer Zeit verrichten können .

Obwohl die Medikamente nicht zu einem dauerhaft optimierten Selbst beitragen, werden sie eingenommen . Sie lösen drei für die Arbeitssubjekte der Gegenwart zentrale Handlungsprobleme: Sie strukturieren Arbeitszeit, sie aktivieren und sie erzeugen Interesse an beliebigen Inhalten .

Parzellierung der Zeit . Zeit spielt bei Neuroenhancement in zweifacher Hin-sicht eine bedeutende Rolle . Medikamente verkürzen die Zeitspanne, die Konsumentinnen brauchen, um sich auf etwas zu konzentrieren und mit der Arbeit zu beginnen . Viele, die Kopfarbeit jenseits geregelter Arbeitszei-ten verrichten, etwa Studentinnen, Doktorandinnen, Freelancer und ande-re arbeitszeitsouveräne Wissensarbeiterinnen, klagen über die Mühen, sich zu bezwingen, sich nicht ablenken zu lassen und den Fokus auf das eigene Werk zu richten . Die Medikamente erleichtern diesen Schritt, sie verengen das Wahrnehmungsfeld . Weil sie, zweitens, das Bedürfnis nach Schlaf auf-schieben und die Aufmerksamkeitsspanne verlängern, wenn mehrere Tablet-ten hintereinander eingenommen werden, werden sie häufig gebraucht, um Deadlines einzuhalten und eine Nacht durchzuarbeiten . Da die Arbeit also schneller aufgenommen und länger vollzogen werden kann, verlängert sich die Zeitspanne, die mit Arbeit verbracht wird . Werden jedoch nicht mehrere Tabletten hintereinander genommen, so richtet die Wirkung der Medika-mente den Fokus nur für wenige Stunden aus . Beiden Gebrauchsweisen ist gemeinsam, dass die Wirkung der Substanzen die Zeit der Arbeitssubjekte parzelliert und sie in Arbeitszeit und Freizeit unterteilt . Konsumenten leis-tungssteigernder Medikamente entscheiden qua Einnahme von Tabletten, wann ihre Arbeitszeit beginnt und wie lange sie anhält . In diesem Zusam-menhang wäre zu fragen, welche Bedeutung der Einteilung von Arbeitszeit und Freizeit heute zukommt und welche der Fähigkeit, Arbeitszeit zu ver-längern . Studierende arbeiten seit jeher arbeitszeitsouverän, sie entscheiden selbst, wann sie arbeiten und wie viel Zeit sie in das Lernen investieren . Sie

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werden nicht für den Umfang erbrachter Arbeitsstunden, sondern für Er-folge in Klausuren und Hausarbeiten gratifiziert . Deshalb sind sie mit dem Handlungsproblem konfrontiert, ihre Zeit in Arbeitszeit zu verwandeln . Immer mehr jedoch gleichen sich die Arbeitszeitmodelle der Unternehmen in der Verwirklichung von Arbeitszeitsouveränität einander an . Mitarbei-terinnen entscheiden selbständig, wie sie ihre Zeit einteilen, und werden anhand ihres Ergebnisses bewertet . Während Stechuhren, die den zeitlichen Aufwand der Mitarbeiter messen, an Bedeutung verlieren, nehmen flexible Arbeitszeiten und Projektarbeit mit autonomer Arbeitszeitgestaltung zu (vgl . Boltanski und Chiapello 2006 [1999]; Voß und Pongratz 1998) .

Aktivierung . Das zweite Handlungsproblem, das Neuroenhancement lösen soll, besteht in der Anforderung, initiativ tätig zu sein, also Dinge in Angriff zu nehmen . Selbst-Aktivierung ist heute eine bedeutende Anforderung an die Subjekte, weil sie im flexiblen Kapitalismus immer wieder eigenverant-wortlich nach Gelegenheiten suchen müssen, ihre Fähigkeiten in Wert zu setzen . In dem Maße, in dem befristete Beschäftigungsverhältnisse zur Nor-malität werden, finden Arbeit und Leben zunehmend in zeitlich begrenzten Einheiten statt . Luc Boltanski und Ève Chiapello sprechen in diesem Kon-text von der »projektbasierten Polis«, in der das Leben als eine Abfolge von Projekten aufgefasst wird (vgl . Boltanski und Chiapello 2006 [1999]: 156) . Die Wertigkeit von Personen wird in der projektbasierten Polis an ihrer Ak-tivität gemessen (vgl . ebd .: 155) . »Etwas in Angriff nehmen, etwas unterneh-men, sich verändern sind Begriffe, die gegenüber einer oft mit Tatenlosigkeit gleichgesetzten Stabilität zunehmend positiv bewertet werden .« (Ebd .: 209 f .) »Das Maß an Aktivität«, so schreibt auch Stephan Lessenich, verdrängt »ten-denziell alle anderen sozialen Unterscheidungen, oder genauer: Alle anderen sozialen Unterscheidungen lassen sich tendenziell unter die gesellschaftliche Metadifferenz von Aktivität oder Inaktivität, Mobilität versus Immobilität subsumieren .« (Lessenich 2009a: 161 f .) Passivität und Routinen sind der größte Feind des unternehmerischen Selbst und sollen, laut Ulrich Bröckling, durch ein »Ethos des Beginnens« (Bröckling 2002: 19) überwunden werden . Die Medikamente, die als Neuroenhancer eingenommen werden, haben eine aktivierende Wirkung . Sie richten den Fokus auf einen beliebigen Gegen-stand und rufen Tatendrang hervor . Eine Interviewpartnerin antwortet auf die Frage, warum sie Medikamente einnimmt: »It’s about getting shit done .«

Dabei müssen die Aktivierten darauf achten, dass die Selbstaktivierung nicht in fehlgeleitete Aktivität mündet, wie es bei der Prokrastination der

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Fall ist . Der ziellose Tatendrang, der einen Fenster putzen lässt, wenn ein Text fertiggeschrieben werden müsste, und über den viele Studierende und Wissensarbeiter ohne feste Arbeitszeiten klagen, kann unter Umständen auch durch leistungssteigernde Medikamente hervorgerufen werden . So beschreibt eine Interviewpartnerin die Wirkung der Medikamente mit den Worten: »You just wanna do things . It can be the laundry or it can be the midterm paper .« Viele Konsumenten der Substanzen müssen daher ihren Fokus bereits ausrichten, wenn die Wirkung einsetzt, um sicherzustellen, dass sich ihre Aktivität auf den erwünschten Gegenstand richtet .

Erzeugung von Interesse . Dem emotionalen Erleben, insbesondere der Fähig-keit, Motivation, Interesse und Begeisterung zu empfinden, kommt heute eine besondere Bedeutung bei der Verbesserung der eigenen Marktchancen zu . In den neuen Arbeitsformen – insbesondere im Bereich der Kopfarbeit – sind zunehmend weniger Pflichterfüllung und Zuverlässigkeit gefragt, stattdes-sen immer mehr Kompetenzen der eigenen emotionalen Selbststeuerung und »charismatischen Selbstenthusiasmierung« (Neckel 2005: 424; vgl . Voswinkel 2002) . Die »Verbesserung von Emotionen« bildet deshalb einen interessanten Fall der Selbstoptimierung, weil Emotionen als leibgebunde-ne Reaktionen auf Situationen gelten . Als implizites Bewertungswissen sind Emotionen – könnte man denken – nicht ohne weiteres optimierbar, denn sie »folgen dem Modus der Widerfahrnis« (Neckel 2014: 119; vgl . Wagner 2015) . Dennoch werden Emotionen heute auf verschiedene Weisen zu steu-ern versucht . Jährlich erscheint eine Vielzahl von Ratgebern, die Übungen zur gezielten Erzeugung bestimmter Emotionen und von Motivation ent-halten . Während Ratgeber behaupten, dass sich durch Selbstinstruktion und -konditionierung unliebsame Emotionen unterdrücken und erwünschte Emotionen herstellen lassen, greifen Psychopharmaka direkt in den Hirn-stoffwechsel ein, bewirken die Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter und sorgen so beispielsweise dafür, dass ihre Konsumentinnen sich enthu-siastischer fühlen .

Auch wenn gemeinhin vor allem stimmungsaufhellende Psychopharma-ka wie Prozac mit der Hervorbringung emotiver Zustände in Verbindung gebracht werden, so besteht auch bei den leistungssteigernden Medikamen-ten die wohl wichtigste Wirkung in der Erzeugung von Motivation und In-teresse . Jeder beliebige Text, jedes Thema, jede Handlung kann unter dem Einfluss der Substanzen Interesse hervorrufen . Konsumenten berichten von einer regelrecht euphorischen Stimmung in Bezug auf ihre Arbeit . So er-

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zählt eine New Yorker Interviewpartnerin, wie sie ihre erste Einnahme von Dexamphetamin beim Lernen erlebte: »I was like ›wow this actually works, I’ve never been so interested‹ .« Eine andere beschreibt die Wirkung von Rita-lin mit den Worten: »Du musst dir das so vorstellen, dass du, egal was du machst, du bist komplett drin .«

Kritik und Praxis. Zum Phänomen Neuroenhancement gehören nicht nur die Wirkung der Medikamente, die Gründe, aus denen sie genommen werden, und die Selbstverhältnisse der Konsumenten . Teil des Phänomens bildet auch die Kritik, die an Neuroenhancement formuliert wird . Häufig wird Neuro-enhancement als Ausdruck einer allgemeinen Steigerungslogik kritisiert . Da-rin äußert sich die Sorge, dass durch pharmakologische Leistungssteigerung Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit verletzt werden . Auch die menschliche Natur als zu beschützende Instanz oder die Authentizität von Personen bilden Maßstäbe für Formen der Kritik an Neuroenhance ment . Be-merkenswert ist dabei, dass oft ganz allgemein ein Unbehagen in Bezug auf Neuroenhancement formuliert wird, ohne dass dies im Einzelnen begründet werden könnte . Worauf also bezieht sich die Kritik an Neuroenhancement und in welchem Verhältnis steht diese Kritik zur Praxis des nichtindizierten Medikamentenkonsums?

Neuroenhancement ist eine Praxis mit Beobachtern und Teilnehmern, deren Perspektiven hier einander gleichberechtigt gegenübergestellt werden . Das bedeutet, dass weder die Beobachter die Teilnehmer noch die Teilneh-mer die Beobachter vorschnell einer Fehldeutung überführen können soll-ten . Tatsächlich sind die Deutungen von Beobachtern und Teilnehmern der Praxis des Neuroenhancements miteinander verschränkt . So setzen sich die Teilnehmer in ihrer Rechtfertigung mit der Kritik an ihrer Praxis ausei-nander, und die Beobachter berücksichtigen in ihrer Kritik die Perspektive der Teilnehmer . Beide Perspektiven, so wird sich zeigen, fallen dabei umso weiter auseinander, je weniger Prävalenz das Phänomen Neuroenhancement aufweist, da die Teilnehmer aufgrund ihrer geringen Zahl in diesem Fall we-niger Einfluss auf die Kritik der Beobachter nehmen . Teilen dagegen Beob-achter und Teilnehmer, also Konsumentinnen und Nicht-Konsumentinnen leistungssteigernder Medikamente, einen sozialen Kontext, weisen deren Deutungen eine größere Schnittmenge auf . Wenn die Beobachter eine deut-lich andere Deutung von Neuroenhancement haben als die Teilnehmer, viel-leicht sogar eine, die auf die Praxis Neuroenhancement nicht zutrifft, so hat dies trotzdem reale Folgen . Denn werden Situationen als real definiert, so

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sind sie auch in ihren Konsequenzen real, weil Handlungen durch subjektive Interpretationen von Situationen ausgelöst werden . Diese Regel wird als das Thomas-Theorem bezeichnet . Verhaltensschwierigkeiten kommen demzu-folge besonders dann auf, wenn eine »große Diskrepanz zwischen der Situa-tion, wie sie anderen erscheint, und der Situation, wie sie dem betreffenden einzelnen erscheint« besteht (Thomas und Thomas 1973: 334) . Um die Pra-xis von Beobachtern wie Teilnehmern von Neuroenhancement zu verstehen, werden also deren subjektive Interpretationen des Phänomens untersucht .

Meine Perspektive ist dabei die einer Beobachtung zweiter Ordnung, die die normativen Bezugnahmen der Beobachter und ihre Kritik ebenso ernst nimmt wie die normativen Bezugnahmen der Teilnehmer und ihre Rechtfer-tigung . Auf diese Weise soll ein komplexes Verständnis von Neuroenhance-ment erreicht werden, das versucht, beide Perspektiven im Kontext sozio-logischer Beschreibungen der Gegenwartsgesellschaft sinnhaft zu verstehen .

Bei den Teilnehmern der Praxis handelt es sich um Konsumenten leis-tungssteigernder Medikamente . Wer aber zählt zu den Beobachtern? Für die Perspektive der Beobachter könnte die Bioethik paradigmatisch sein, die eine mögliche Gefährdung der Autonomie der Person durch die Einnah-me von Neuroenhancern, den intrinsischen Wert von Anstrengungen sowie die faire Verteilung von Erfolgschancen diskutiert . Über die Bioethik hinaus gibt es jedoch ein Unbehagen, das weiter verbreitet ist und das sich in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Neuroenhancement dokumentiert . In der Diskussion darüber kommt verdichtet eine Kulturkritik zum Ausdruck . Versteht man Neuroenhancement als Verdichtungssymbol, so heißt dies, dass der Begriff mehr kommuniziert als nur den nichtmedizinischen Medi-kamentenkonsum . In der Auseinandersetzung konzentriert sich eine Kritik an gesellschaftlichen Umständen, die als ursächlich für das Phänomen ge-deutet werden . Mit der theoretischen Perspektive einer Soziologie der Kritik soll diesen normativen Bezugnahmen auf Neuroenhancement ein eigener epistemischer Status zukommen (vgl . Boltanski und Thévenot 2007 [1991]) .

Entwicklung der Fragestellung. Zu Beginn meiner Arbeit, Ende 2009, suchte ich über Monate hinweg einen Feldzugang zu Konsumentinnen und Kon-sumenten leistungssteigernder Medikamente, die in den Zeitungen als eine stetig anwachsende Gruppe beschrieben werden . So heißt es beispielswei-se: »Die Hoffnung auf schnelleres Denken verführt immer mehr Menschen dazu, Medikamente einzunehmen .« (Süddeutsche Zeitung, 17 . Mai 2010) »Die Prüfungszeit gerät für viele Studenten zur Belastungsprobe . Mit ein

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paar Tassen Kaffee ist es da nicht immer getan, nicht wenige greifen zu Pillen, um den Schlaftrieb auszuschalten und die Denkleistung zu beschleunigen .« (n-tv, 19 . Juli 2010) Oder: »Ritalin, Energy-Drinks, koffeinhaltige Fruchtsäf-te: Studenten putschen sich mit ›Hirndoping‹ auf, um im hektischen Alltag zu bestehen .« (Tagesanzeiger, 24 . März 2009)1 Wenn Freunde und Kolle-ginnen von meinem Forschungsthema erfuhren, räumten viele von ihnen immense Schwierigkeiten ein, sich beim akademischen Arbeiten zu konzen-trieren, und fragten scherzhaft, ob ich Hinweise geben könne, wie man an solche Medikamente gelange, sie würden sich im Gegenzug als Interview-partner zur Verfügung stellen . Doch auf all meine Aufrufe in Onlineforen, um Interviewpartner zu finden, die Medikamente zur Leistungssteigerung nehmen, meldeten sich zunächst lediglich Journalisten . Zwei Privatsender und zwei öffentliche Sender sowie mehrere Printmedien kontaktierten mich auf Grundlage meiner Inserate im Internet und baten mich darum, für ihre Reportagen einen Kontakt zu den Interviewpartnern herzustellen, von de-nen sie annahmen, dass ich sie bereits gefunden hatte . Konsumentinnen leis-tungssteigernder Medikamente meldeten sich lange Zeit jedoch gar nicht .

Als 2010 die erste seriöse quantitative Erhebung zur Prävalenz von Neu-roenhancement unter Studierenden erschien, zeigte sich, dass die Lebens-zeitprävalenz von Studierenden in Deutschland, die verschreibungspflichtige Medikamente zur kognitiven Leistungssteigerung nehmen, mit 0,78 Pro-zent deutlich geringer war als von den meisten erwartet . Die Prozentzahl jener, die im letzten Jahr zu Medikamenten gegriffen hatten, lag nur bei 0,20 Prozent (vgl . Franke et al . 2011) . Das Verhältnis dieser relativ geringen Verbreitung des Phänomens und der relativ großen Aufmerksamkeit in den Medien ist erklärungsbedürftig . Ich untersuche daher auch das Diskursereig-nis Neuroenhancement . Neben den Einzelinterviews mit Konsumentinnen leistungssteigernder Medikamente, die ihre eigene Praxis deuten, geraten anhand von Gruppendiskussionen mit Nicht-Konsumenten die Deutungen und Bewertungen, Phantasien und Ängste in Bezug auf Neuroenhancement in den Blick . Schließlich kann man fragen, warum ein Phänomen eine sol-che Aufmerksamkeit erfährt, obgleich es empirisch so selten anzutreffen ist . Ist der Wunsch nach leistungssteigernden Medikamenten so verbreitet, dass die Journalisten zu Recht einen Trend auszumachen glauben, der uns bald alle erfasst? Oder steht Neuroenhancement als Verdichtungssymbol eigent-

1 Die Darstellung von Neuroenhancement in englischsprachigen Medien untersuchten Bradley Padridge et al . (2011); sie fanden heraus, dass 94 Prozent der Artikel in ihrem Sample Neuroenhancement als verbreitet, als zunehmend oder beides darstellen .

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lich für etwas anderes, für gesellschaftliche Entwicklungen, die damit in Ver-bindung gebracht werden?

New York bildet neben Frankfurt am Main den zweiten Erhebungsort, weil Neuroenhancement dort ein Teil der Alltagskultur von Studierenden ist . Eine Studie aus den USA ergab, dass die Prävalenz der Einnahme ver-schreibungspflichtiger Medikamente zur Leistungssteigerung an US-ameri-kanischen Universitäten unter Studierenden bei ca . 6,9 Prozent liegt . Die Verbreitung unterscheidet sich jedoch deutlich in Bezug auf Regionen und Colleges . Mehr als 80 Prozent der Colleges, an denen mindestens 10 Prozent der Studierenden im Vorjahr Neuroenhancer genommen hatten, liegen im Nordosten der USA und haben ein sehr selektives Zulassungsverfahren (vgl . Teter et al . 2006); zu ihnen zählen die acht Ivy League-Universitäten sowie viele weitere Colleges mit hohen Studiengebühren . In New York war also mit einem erleichterten Feldzugang zu Konsumenten leistungssteigernder Medi-kamente zu rechnen . Auch bestand dort die Möglichkeit, Gruppendiskussio-nen zu erheben, die sich von jenen in Frankfurt dadurch unterschieden, dass die Studierenden sich mit der realen Frage auseinandersetzen müssen, ob sie selbst zu Stimulanzien greifen sollten, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Kommilitoninnen haben (und von ihnen wissen), die leistungssteigernde Medikamente nehmen . Die USA bieten einen interessanten Vergleichsfall, was den Umgang mit Psychopharmaka betrifft, weil in ihnen traditionell eine positive Bezugnahme auf (bio)technologische Problemlösungen verbrei-tet und der Konsum von Medikamenten allgemein höher ist als in jedem anderen Land . Der zweite Erhebungsort soll aber nicht zu einem Vergleich zwischen Deutschland und den USA führen, denn dafür ist New York zu wenig repräsentativ für die USA und das Sample insgesamt zu klein . Viel-mehr soll er einen Vergleichshorizont eröffnen, der die Spezifität der Fälle deutlicher zutage treten lässt .

Aufbau. Einen Blick auf die Substanzen und ihren Gebrauch richte ich in Kapitel 1, in dem es um Wirkung, Geschichte und Prävalenz geht . Methyl-phenidat und Dexamphetamin sind Wirkstoffe, die bereits seit Jahrzehnten auf dem Markt und keineswegs das Ergebnis neuer neurowissenschaftlicher Forschung sind . So sind Amphetamine seit den 1930er Jahren erhältlich und Methylphenidat seit den 1950er Jahren . Modafinil, der dritte Wirkstoff, der als Neuroenhancer eingenommen wird, wurde in den Neunzigern entwi-ckelt, ist jedoch weit weniger verbreitet als die beiden anderen Substanzen . Der Wirkstoff Methylphenidat, wie er auch in Ritalin enthalten ist, wird me-