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1 Deutschlandfunk Gesichter Europas Samstag, 8. Dezember 2012, 11.05 – 12.00 Uhr Wo sich der Balkan an Mitteleuropa anlehnt: Die Vielvölker-Provinz Vojvodina Mit Reportagen von Dirk Auer und Merlin Nadj-Torma Moderation und Redaktion: Gerwald Herter Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – T r a i l e r Musik-1 O-Ton: (ungarisch ov) Ich liebe die Vojvodina, weil sie eine so weite Ebene ist. Wohin Du gehst, kannst Du schauen. Man kann sich in alle Richtungen drehen. Und stellen Sie sich nur vor, im Sommer, wenn der Wind durch die Weizenfelder weht, wie schön das ist. O-Ton (Deutsch) Ich sag immer, mein Herz ist voll mit so vielen Leuten, wenn ich Serbisch höre und Ungarisch und Deutsch. Da sag ich immer. Das ist so schön, wenn man das alles so hört, so viele Sprachen. Nicht nur meine Nation. Zusammen!

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Deutschlandfunk

Gesichter Europas

Samstag, 8. Dezember 2012, 11.05 – 12.00 Uhr

Wo sich der Balkan an Mitteleuropa anlehnt:

Die Vielvölker-Provinz Vojvodina

Mit Reportagen von Dirk Auer und Merlin Nadj-Torma Moderation und Redaktion: Gerwald Herter

Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar –

T r a i l e r Musik-1 O-Ton: (ungarisch ov) Ich liebe die Vojvodina, weil sie eine so weite Ebene ist. Wohin Du gehst, kannst Du schauen. Man kann sich in alle Richtungen drehen. Und stellen Sie sich nur vor, im Sommer, wenn der Wind durch die Weizenfelder weht, wie schön das ist. O-Ton (Deutsch) Ich sag immer, mein Herz ist voll mit so vielen Leuten, wenn ich Serbisch höre und Ungarisch und Deutsch. Da sag ich immer. Das ist so schön, wenn man das alles so hört, so viele Sprachen. Nicht nur meine Nation. Zusammen!

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Mod.1:

Gesichter Europas: „Wo sich der Balkan an Mitteleuropa anlehnt – die Vielvölkerprovinz

Vojvodina“. Mit Reportagen von Dirk Auer und Merlin Nadj-Torma, im Studio ist Gerwald

Herter.

Mod 2:

„Eine so weite Ebene“ – die Vojvodina war einst Teil Österreich-Ungarns, sie gehörte zum

Königreich- und später zur „Sozialistisch Föderativen Republik“-Jugoslawien. Jetzt ist sie

Teil Serbiens, aber selbst dort immer noch etwas Besonderes. Anders als der verarmte

serbische Süden ist die Vojvodina relativ gut entwickelt, die Arbeitslosigkeit ist niedriger,

Dörfer und Ländereien sind gepflegter, und auch die Verwaltung funktioniert besser.

Durch die Grenze zu Ungarn und Kroatien fühlen sich die meisten Menschen hier eher als

Teil Zentraleuropas, weniger als Bewohner des Balkanraums.

Was die Vojvodina mit ihren 2 Millionen Bewohnern in ganz Europa einzigartig macht, ist

ihre ethnische Vielfalt. Neben Serben, das sind rund 65 Prozent der Bevölkerung, leben

hier Ungarn, Slowaken, Kroaten, Ruthenen, Montenegriner, Rumänen und Roma

weitgehend friedlich zusammen - insgesamt 26 Nationen, nationale Minderheiten und

ethnische Gruppen.

Atmo: Anziehen, Flur

Osijek und Vukovar sind von hier aus schnell zu erreichen, nach Srebrenica ist es nicht

allzu weit. Anders als in Kroatien oder Bosnien ist es jedoch in der Vojvodina selbst nicht

zu kriegerischen Konflikten gekommen, als es mit Jugoslawien zu Ende ging. Die Provinz

gilt zumindest heute wieder als vorbildliches Beispiel für Mehrsprachigkeit,

Minderheitenschutz und politische Beteiligung der ethnischen Gruppen. Das gilt auch für

das Land: In fast jedem Dorf wohnen Volksgruppen Tür an Tür, wie, etwa anderthalb

Autostunden nördlich von Belgrad, in Belo Blato.

Reportage 1: Autor

Anuska Simon, eine kleine kräftige Frau Mitte Fünfzig, tritt auf die Straße und atmet die

Luft eines kalten Novembermorgens durch ihre Nase. Zügig schiebt sie ihr Fahrrad die

3

Hauptstraße von Belo Blato hinab. Sie heißt bis zum heutigen Tag Marschall Tito Straße

und wird links und rechts von dichten Bäumen gesäumt.

O-Ton 1 Es ist ein kleines Dorf, aber es ist fast ein bisschen wie in Europa. Hier neben uns steht zum Beispiel ein ungarisches Haus, dann ein slowakisches, gegenüber ein serbisch-slowakisches, dann wieder ein slowakisches, so dass in einem kleinen Umkreis hier sehr viele Nationalitäten zusammenleben.

Autor

Und das Zusammenleben werde hier durchaus wörtlich genommen, versichert Anuska.

O-Ton 2 Es gibt eigentlich nur noch sehr wenig Häuser, die rein ungarisch, rein slowakisch oder rein serbisch sind. Die Alten haben hier immer gesagt: Das Bett glättet alles (Lachen). Die Liebe schert sich nicht darum, wer was ist. Atmo Autor

Anuska stellt ihr Fahrrad ab und betritt den kleinen Dorfladen. Auf Slowakisch bestellt sie

drei große Stücke Käse, dann noch zwei Pfund Zucker, und auf einmal wechselt das

Gespräch ins Ungarische. Danke, Auf Wiedersehen – dann setzt Anuska ihren Weg fort.

O-Ton 3 Sehen Sie, wir verstehen uns auch auf Slowakisch. Ich bin Ungarin, sie Slowakin. Wir sprechen auf Slowakisch, aber ab und zu antwortet sie mir auch auf Ungarisch. Das ist Belo Blatski, die Sprache dieses Dorfes! Und ich freue mich wirklich sehr, dass ich in einer Gegend lebe, wo man von Kindesbeinen drei Sprachen spricht. Atmo Autor

Ankunft in der Dorfschule, auch sie heißt noch immer „Brüderlichkeit und Einheit“ – die alte

Parole des jugoslawischen Vielvölkerstaats. Seit elf Jahren sorgt Anuska hier dafür, dass

die Kinder in den großen Pausen etwas zu Essen bekommen.

Atmo: Kingeln, Kinder stürmen rein

Von der ersten bis zur vierten Klasse werden die Kinder hier in ihrer Muttersprache

unterrichtet, d.h. auf Slowakisch, Serbisch und Ungarisch. Erst in der fünften Klasse geht

es für alle auf Serbisch weiter. Auch im angeschlossenen Kindergarten herrscht ein

munteres Sprachengewirr.

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Atmo: „Guten Appetit“ in drei Sprachen

Artig bedanken sich die Kinder für die Käsebrote, die ihnen Anuska vorbeigebracht hat und

wünschen guten Appetit.

O-Ton 4 In Slowakisch, Ungarisch, Serbisch und Romanes. Sie sehen, wieder gibt es hier vier Sprachen, und am Ende verbindet sich alles, so dass auch der Ungar etwas auf Serbisch sagt! Wir sprechen das alles. (Lachen) Autor

Vrska Ilonka, die Kindergärtnerin, ist Serbin und stammt aus einem Nachbardorf. In Belo

Blato ist sie mit einem Slowaken verheiratet. Als Zugezogene spricht sie leider nur ein

wenig Ungarisch, sagt sie - fast ein wenig entschuldigend.

O-Ton 5 Für mich ist das ein Nachteil. Wäre ich aber nicht erst mit 16 hierher gezogen, wäre ich hier aufgewachsen, könnte ich das. Ich glaube wirklich, dass ich hierher gehöre - genau wegen dieser Toleranz, von der man so viel spricht. Was Toleranz und Miteinander bedeuten, das kann man sich hier anschauen. Und das Schöne ist: Niemand hat uns das aufgezwungen, sondern das wird hier tatsächlich seit vielen Jahren gelebt. Atmo Autor

Wieder zu Hause bereitet Anuska das Abendessen zu. Ihr Mann Janos sitzt auf dem Sofa.

Es gibt "Paprikasch" mit "Galuschka", ein Eintopf mit Knödeln.

Atmo: Zwiebel schneiden O-Ton 6 Die Zwiebel quietscht ganz schön, wir werden auch noch weinen. Die Alten sagen: Wenn Du beim Zwiebel schälen weinst, dann hat derjenige, der die Zwiebeln gepflanzt hat, stark gefurzt (lacht) Atmo: Kochtopf blubbern Autor

Später am Abend kommt das Gespräch noch auf die Politik: auf die 1990er Jahre, als in

ganz Jugoslawien nationalistische Parolen um sich griffen. Hat das nicht auch das

Zusammenleben in Belo Blato schwieriger gemacht? Anuska schüttelt heftig den Kopf.

O-Ton 7 Nein, nein. Wir haben das nie gespürt, die Politik hat sich hier nicht eingemischt.

5

Autor

Und Janos stimmt zu.

O-Ton 8 Hier zeigt niemand mit dem Finger auf den anderen. Hier können sie ruhig über die Straße gehen und niemand wird sie darauf ansprechen, wer und was sie sind. So was gibt es hier einfach nicht. Musik-2 Literatur-Musik LIT 1 Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich liebe diese Ebene, die sich zu einem trostlosen Strich verdünnt, nichts, das sie einem schenkt; vollkommen allein in dieser Ebene, von der Du nichts wollen kannst, auf die du dich höchstens legen kannst, mit ausgebreiteten Armen, und das ist der Schutz, den sie dir gewährt. Wenn ich gesagt hätte, dass ich Matteo liebe (…), dann hätten mich womöglich die meisten verstanden, aber wie sagt man, dass man eine Ebene liebt, die Pappeln, staubig, gleichgültig, stolz, und die Luft dazwischen? Im Sommer, wenn die Ebene um ein Stockwerk gewachsen ist, Sonnenblumen-, Mais- und Weizenfelder, wo du nur hinblickst, und man erzählt, dass immer wieder Menschen in den endlosen Feldern verschwinden, wenn du nicht aufpasst, packt dich die Ebene und frisst dich auf, sagt man, und ich glaube nicht daran, ich glaube, dass die Ebene ein Meer ist, mit eigenen Gesetzen. Mod. 3:

Es wirkt wie ein Widerspruch: die Menschen der Vojvodina lieben ihre Heimat und sie sind

stolz auf das Zusammenleben dort - doch Übersiedlung, Auswanderung und auch Flucht

können ihnen andererseits nicht fremd sein. Die ungarische Familie der Autorin Melinda

Nadj-Abonji hatte die Vojvodina schon in den 70er Jahren verlassen. „Tauben fliegen auf“-

in diesem Roman beschreibt Nadj-Abonji die Geschichte einer fiktiven Familie aus der

Vojvodina, die in die Schweiz umzieht. In ihrem Schicksal spiegeln sich die Entwicklung

Jugoslawiens und die Entwicklung der Vojvodina bis in die 90er Jahre.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die autonome Provinz Vojvodina der jugoslawischen

Teilrepublik Serbien angeschlossen. Tito erweiterte den Autonomiestatus 1974 mit einer

Verfassungsänderung. Ende der 80er Jahre stufte der serbische Präsident Slobodan

Milosevic die Autonomie wieder auf den Stand von 1974 herunter und stärkte damit die

Kontrolle Belgrads. Erst nach seinem Sturz erhielt die Vojvodina einen Teil der alten

Rechte zurück. Zu ihrer politischen Sonderstellung gehört, dass es sechs Amtssprachen

gibt: Serbisch, Ungarisch, Slowakisch, Kroatisch, Rumänisch und Russinisch.

6

Atmo

RT Vojvodina ist der wichtigste staatliche Fernsehsender. Das zweite Programm wird in

zehn Sprachen ausgestrahlt. In den 90er Jahren war der Sender dem serbischen

Staatsfernsehen RTS untergeordnet worden. 1999 wurde das Gebäude durch die NATO

bombardiert und zerstört. Heute, nach der Wiederherstellung der Autonomie, ist auch RT

Vojvodina wieder eigenständig und sendet aus einem alten Fabrikgebäude im Zentrum

von Novi Sad:

Reportage 2: Autor

Sechs Redakteure sitzen vor ihrem Computer und texten Beiträge für die

Abendnachrichten. Hajnalka Buda, ein Energiebündel mit schwarzen langen Haaren, läuft

von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. Sie ist die Chefredakteurin der ungarischen Redaktion

von RT Vojvodina. Die Chefredakteurin ist seit 35 Jahren dabei und kennt alle Höhen und

Tiefen, die der Sender in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat.

O-Ton 1 Als ich hier angefangen habe, war die Stimmung noch besser. Wir waren noch nicht belastet von diesem Bürgerkrieg, den wir in den 90er Jahren erlebt haben. Jeder wollte bei seiner Arbeit einfach nur so kreativ wie möglich sein. Also ich kann wirklich sagen, dass die zehn Jahre von 1977 bis 1987 voller Optimismus waren, wir schauten voller Hoffnung in die Zukunft. Autor

Ersten Warnungen der älteren Journalisten, dass es nach dem Tod Titos 1980 zu großen

Probleme kommen würde, hatte Hajnalka damals noch keinen Glauben geschenkt. Doch

im Kosovo gärte es bereits, und Ende der 1980er Jahre griffen die nationalistischen

Parolen auch in der Vojvodina um sich.

O-Ton 2 Sie haben das Problem hierher importiert und damit auch das Zusammenleben der 26 Nationalitäten in der Vojvodina erschwert. Das wirkte sich dann auch auf unsere Arbeit im Fernsehsender aus: Plötzlich übernahmen Menschen die Leitung, die verlangten, wir sollen die serbische Hegemonie, den serbischen Nationalismus preisen.

Autor

7

Hajnalka schaut auf die Uhr - noch drei Stunden bis zu den Nachrichten, in ihrem Büro ist

Zeit für einen Kaffee. Eigentlich, so sagt sie, will sie an diese Zeit überhaupt nicht mehr

zurückdenken - die 1990er Jahre, als Milosevic unter der Parole „Kampf der

Politbürokratie“ nicht nur die Autonomie des Kosovo, sondern auch der Vojvodina

einkassierte. Auch der Sender in Novi Sad verlor damit seine Unabhängigkeit und wurde

dem serbischen Staatsfernsehen untergeordnet.

O-Ton 3 Das war nicht nur ein Namenswechsel, sondern ein sehr tiefer Einschnitt, so dass viele aus der ungarischen Redaktion ins Ausland gegangen sind. Für jeden von uns stellte sich die Frage: Gehen oder bleiben? Ist der, der bleibt der Verräter? Oder der, der geht? Es ist schwer darüber zu sprechen. Jeder hatte seine eigenen Gründe. Autor

Hajnalka entschied sich zu bleiben. Und irgendwie haben sie versucht, mit den

Umständen zurecht zu kommen. Denn der Zuschauer habe schließlich ein Recht auf die

Wahrheit, so rechtfertigt Hajnalka ihren damaligen Durchhalte-Willen.

O-Ton 4 Unsere ungarische Redaktion hat in den Kriegsjahren versucht, so gut es ging objektiv zu bleiben. Das war nicht einfach, aber oft haben sich auch Serben, die ein wenig Ungarisch verstehen, unsere Sendungen angeschaut, weil sie der Ansicht waren, dass sie von uns mehr erfahren als von dem serbischen Sender aus Belgrad.

Autor

Um so größer war der Schock, dass im Krieg der NATO gegen Serbien auch der Sender

zum Angriffsziel wurde. Das Bombardement begann am 24. März 1999 um kurz vor 20

Uhr. Drei Monate sollte es dauern. Bis Slobodan Milosevic die serbischen Soldaten aus

dem Kosovo zurückzog.

O-Ton 5 Als alles begann, hatte ich frei und konnte weder meinen Augen noch meinen Ohren trauen als die erste Bombe etwa 500 Meter von meiner Wohnung entfernt einschlug. Wir fragen uns immer noch, warum dann auch unser Fernsehsender bombardiert wurde, der doch in fünf Sprachen gesendet hat. Wir verloren unser Archiv, erst zwei Jahre zuvor war ein kompletter Gebäudeflügel erneuert worden. Wir hatten einen wunderbaren Arbeitsplatz, und seitdem müssen wir mit diesen Bedingungen hier kämpfen. Atmo: Aufzug

8

Autor

Die Schneideräume und die Studios befinden sich unten im Keller, ein kleines Labyrinth

mit engen Gängen, durch die sich freiliegende Heizungsrohre ziehen. Wie überall in dem

ehemaligen Gebäude des Konzerns Naftagas, hat sich auch hier der Staub der Zeit

niedergelassen.

Atmo: Schneideraum

Noch eine Stunde bis zur Sendung, im Schneideraum arbeiten die Redakteure mit den

Cuttern noch immer an ihren Beiträgen. Rückblickend ist Hajnalka froh, dass sie geblieben

ist. Vor zwölf Jahren wurde Milosevic gestürzt, es war wieder ein freies Arbeiten möglich.

O-Ton 6 2006 haben wir uns dann endlich auch wieder vom serbischen Radio getrennt, und seitdem existieren wir unabhängig als Radio Televizija Vojvodine. Das heißt aber natürlich nicht, dass die Sorgen verschwunden sind. Atmo

Autor

Es ist 19 Uhr. Die Hauptnachrichten beginnen. Hajnalka steht im Regieraum und

überwacht den Sendeablauf. Die Monitore stehen auf einem Regal, alte und neue, bunt

durcheinander gewürfelt.

O-Ton 7 Wir haben uns vom Big Brother befreit, aber die Rundfunkgebühren, von denen wir uns finanzieren, fließen leider immer noch direkt nach Belgrad. Das heißt, wir müssten auch ein eigenes Justizsystem haben. Das gibt es zurzeit nicht, aber wir hoffen, dass es wieder eins geben wird. Auf jeden Fall werden auch die Parteien der Vojvodina weiter für die vollständige Autonomie kämpfen. Autor

Dass dahinter letztlich der Wunsch nach einer Abspaltung von Serbien stehe – manchmal

hört man das in Belgrad -, hält Hajnalka für Unsinn. Es geht um Selbstbestimmung, sagt

sie. Und darum, dass die Gelder, die in der relativ wohlhabenden Provinz erwirtschaftet

werden, auch dort verwaltet und wieder ausgegeben werden können.

Atmo

Noch eine kurze Besprechung mit den Redakteuren, dann hat Hajnalka Feierabend. Zum

Abschied fällt ihr noch ein weiterer Grund für die Sonderstellung der Vojvodina ein.

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O-Ton 8 Ich kann wirklich sagen, dass die Vojvodina eine eigene Seele hat. Für die Ungarn hier ist das vor allem eine österreichisch-ungarische Seele. Jemand aus der Vojvodina sagt nie, dass er vom Balkan stammt, er sagt, er sei aus der Vojvodina – ein Vojvodinaer Ungar. Selbst die hier geborenen Serben sagen, sie seien Vojvodinaer. Und auch ich sage stolz, dass ich aus der Vojvodina stamme und eine Vojvodinaer Ungarin bin. Musik-3 Literatur-Musik LIT 2: Die Bergers, die sich letzte Woche höflich erkundigt haben, von welchem Teil des Balkans wir herkämen. Aus dem Norden von Jugoslawien, südlich von Ungarn, antwortete ich, und Ungarn ist immer die Rettung, jeder kennt einen ungarischen Zahnarzt, und den Aufstand von 1956 hat man noch gut in Erinnerung, da man in der Folge die Sympathie mit den Aufständischen bekundete, indem man Tonnen von abgetragenen Kleidern endlich sinnvoll entsorgen konnte; (…) Ihre Muttersprache ist also Ungarisch und nicht Serbokroatisch, kombinierte Frau Berger, ja, antwortete ich. Dann sind sie gar nicht vom Balkan? Nicht eigentlich, antwortete ich, aber doch irgendwie, dachte ich. Mod.4:

Auch wenn es in den 90er Jahren nie eine Front gab, die die Vojvodina durchtrennte, auch

wenn es hier zu keinen Kämpfen kam: Etwa 100.000 Angehörige nationaler Minderheiten

flüchteten - vor allem Kroaten und Ungarn. Im Gegenzug siedelten sich serbische

Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina oder dem Kosovo an – nach Schätzungen

etwa 300.000. Damit hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung nachhaltig

verändert.

Mit der kroatischen Unabhängigkeit 1991, dem Beginn des Krieges in der benachbarten

Republik und den Auswüchsen der großserbischen Ideologie gerieten vor allem die

Kroaten in der Vojvodina unter Druck. Plötzlich wurden sie zur feindlichen Gruppe.

Serbische Nationalisten versuchten die Kroaten zu vertreiben - durch Einschüchterung,

offene Drohungen und oft genug auch mit brutaler Gewalt.

Atmo: Ins Auto einsteigen …

Obwohl in Novi Slankamen Kroaten einst in der Mehrheit waren, sind die meisten von

ihnen weggezogen. In Kroatien haben sich viele eine neue Existenz aufgebaut. Einige

jedoch sind bis heute in der Vojvodina geblieben – so schwer das auch war:

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Reportage 3 : Atmo: losfahren Autor

Zügig lenkt Priester Berislav Petrovic seinen klapprigen Golf aus der Hofeinfahrt. Sein Ziel

ist die Stadt Sremska Mitrovica, wo die katholische Kirche den Tag ihres Schutzpatrons

feiert. Igor Baric und Josip Micic sitzen mit ihm im Auto, zwei Bauern aus Novi Slankamen.

Atmo

„Hier, das waren alles kroatische Häuser“, sagt Baric. Er ist Mitte Vierzig und anders als

der Priester in Novi Slankamen geboren. „Überall hier haben Kroaten gelebt“. Dann zeigt

er auf einen länglichen Bau: „Das ist das kroatische Kulturzentrum“.

Atmo

Viel passiert dort allerdings nicht mehr, die Leute seien weniger gesellig als früher, klagt

der Bauer. Aber vor allem: Es sind ja leider nur noch wenige Kroaten übrig geblieben. Vom

Fahrersitz kommt ein bestätigendes Seufzen. Dabei fährt und überholt Borislav Petrovic

wie einer, der weiß, dass er Gott an seiner Seite hat. Er ist in Kroatien geboren und hat in

Belgrad studiert. Es war 1992, also mitten im Krieg, als er in die serbische Stadt Sid an der

Grenze zu Kroatien versetzt wurde.

O-Ton 1 Zuvor war in der Gemeinde ein Priester, der zusammen geschlagen wurde und der dann über Ungarn nach Kroatien geflohen ist. Und auf diese freie Stelle kam ich im September 1992. Ich habe dort schlimme Dinge erlebt: Gemeindemitglieder wurden vertrieben, so dass einige Kirchen geschlossen werden mussten. Autor

Im Vorbeifahren zeigt Petrovic auf eine dieser jetzt verlassenen Kirchen. Rundherum

wuchert das Unkraut.

O-Ton 2 Die Männer wurden Nachts aus Häusern abgeholt und zusammen geschlagen. So sind viele über Ungarn nach Kroatien geflohen. Es gab Bombenanschläge und Telefonanrufe, man solle das Land verlassen, ansonsten würde man umgebracht. Es gab einen ungeheuren physischen und moralischen Druck.

11

Autor

Die Situation sollte sich nur kurz beruhigen. Im Sommer 1995 startete die kroatische

Armee mit der Operation Oluja eine militärische Großoffensive. In nur drei Tagen eroberte

sie die serbisch kontrollierten Gebiete in Kroatien zurück. 200.000 serbische Flüchtlinge

waren nun die Folge.

O-Ton 3 Die Serben kamen und bevölkerten die Orte in den Grenzregionen. Und die paar Kroaten, die in der Kriegszeit geblieben sind, wurden dann gezwungen, ihre Häuser mit den Flüchtlingen zu tauschen, so dass wirklich nur noch sehr wenige geblieben sind. Atmo

Autor

Ankunft in Sremska Mitrovica. Von allen Seite strömen die Gläubigen herbei. Es herrscht

eine heitere Atmosphäre. Selbst heute noch kann Berislav Petrovic kaum glauben, dass

die nationalistischen Parolen damals so schnell um sich greifen konnten.

O-Ton 4 Die Medien haben dabei die größte Rolle gespielt, sie haben den Hass produziert. Es gab so viele Lügen, so dass selbst friedfertige Menschen das alles in sich aufgenommen haben Dann kamen diese paramilitärischen Gruppen, und auf einmal haben Serben, mit denen wir vorher normal zusammengelebt haben, uns auf der Straße den Rücken zugedreht und uns nicht mehr gekannt. Autor

Selbst ehemals gute Nachbarn wurden sich so fremd.

O-Ton 5 Denn es gab ja immer noch einen dritten Nachbarn, der Druck ausgeübt hat: Wie, Du bist mit dem befreundet, der unser Feind ist? Das heißt, selbst wer gute Absichten hegte und mit seinem Nachbarn gut zusammenleben wollte, hat sich nicht mehr getraut, das zu zeigen. Atmo Autor

Nach dem Gottesdienst gibt es im Kroatischen Kulturzentrum noch ein geselliges

Zusammensein und Musik. An langen Tischen sitzen die – vorwiegen älteren – Menschen,

trinken Kaffee, Bier oder Schnaps. Berislav Petrovic steht etwas am Rand und schaut auf

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die Menge.

O-Ton 7 15 Jahre danach normalisieren sich die Dinge wieder. Es scheint, dass die Leute versuchen, das Geschehen so schnell wie möglich zu vergessen. Viele sagen, es war überflüssig und Du bis nicht schuld, und ich bin nicht schuld - sondern jemand anders hatte Interesse an diesem Krieg. Autor

Der inzwischen übliche Trick, mit dem sich die jugoslawischen Völker 20 Jahren nach den

Kriegen wieder etwas Nähe ermöglichen. Über das Geschehene will man lieber nicht

sprechen – schuld daran seien die Politiker gewesen, Kriminelle, die das vormals gute

Zusammenleben zerstörten. Ob richtig oder nicht, dadurch können wieder die

Gemeinsamkeiten in den Vordergrund rücken, die Sprache, die Kultur - und natürlich die

wirtschaftlichen Probleme.

Atmo: Musik

Zwischen den Tischen beginnt die Band zu spielen. Eine Tamburica-Gruppe mit ihren

verschiedenen Saiteninstrumenten, gekleidet in den traditionellen Trachten.

Atmo

Igor Baric wippt mit dem Fuß. Ja, sagt auch er, es hat sich Gott sei Dank alles wieder

beruhigt.

O-Ton 8 Man lebt weiter, arbeitet, geht zur Kirche. Man hat sogar angefangen wieder untereinander zu heiraten. Unsere Kinder beginnen sich zu mischen. Niemand fragt mehr danach, wer oder was man ist, sondern man konzentriert sich auf die wirtschaftliche Situation, dass man Arbeit und genug zum Leben hat. Es tut mir nur Leid für diejenigen, die gestorben sind im Krieg. Aber es ist geschehen, was geschehen ist. Musik-5 Literatur-Musik: LIT 3 Wie es ihr geht?, gut, es geht ihr ausgezeichnet, wie soll es einem Menschen gehen, der sein ganzes bisheriges Leben von einem auf den anderen Tag aufgeben muss? Sie ist mit ihrem Mann und ihrem Kind nach Ungarn geflüchtet, weil ihr Mann auch als Soldat

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vorgesehen war, bei der jugoslawischen Volksarmee!, und weil ihre Arbeit beim Radio ständig zensuriert wurde! Vater, der den Brief wieder einsteckt, nein, ich müsste ihn erst gar nicht lesen, das Wichtigste sei ja jetzt gesagt und das Zweitwichtigste, Ildi: Nichts ist mehr so, wie es war in Jugoslawien, die Männer werden eingezogen, wer sein Hirn noch beieinander und die Möglichkeit hat, der flüchtet, und was meinst du, wie es in der Stadt aussieht, wenn so viele Menschen da nicht mehr leben, wo sie hingehören? Jedes dritte Haus steht leer, weisst du, was das bedeutet, wenn nur noch der Friedhof wächst? Mod.5:

Das „Modell Vojvodina“, das Zusammenleben in dieser Region war schon lange vor den

1990er Jahren auf die Probe gestellt worden. Zu den ethnischen Minderheiten gehören

auch Deutsche. Im 18. Jahrhundert waren viele Siedler dem Ruf der habsburgischen

Kaiser gefolgt. In der Zeit zwischen den Weltkriegen bildeten Deutsche sogar die größte

nationale Minderheit.

Eine Mehrheit der "Volksdeutschen" oder „Donauschwaben“ kollaborierte bereitwillig oder

gezwungenermaßen mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht. Sie übernahmen

die Verwaltung, bildeten Polizei- oder Militär-Einheiten und wurden zur Bekämpfung der

Partisanen eingesetzt. Die 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division Prinz Eugen war für ihre

Grausamkeit besonders berüchtigt.

Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg floh der Großteil der deutschen Bevölkerung.

Für jene, die blieben galt die Kollektivschuld: Enteignung, Aberkennung der Bürgerrechte.

Bis zum Sommer 1945 wurden etwa 120.000 Donauschwaben interniert. In den ersten

Nachkriegsjahren kamen rund 50.000 auf der Flucht oder in den Lagern ums Leben.

Atmo

Lange wurde das totgeschwiegen, doch in Serbien wird inzwischen wieder offen über die

Ereignisse nach 1945 gesprochen. Es sind nicht einmal mehr 4-Tausend Menschen, die in

der Vojvodina leben und sich als „Deutsche“ verstehen und doch bewegt sich etwas: In

den letzten Jahren gründeten sie eine Reihe von deutschen Vereinen. Mehrere Denkmäler

erinnern an die Toten und die Lager - so auch im Ort Kikinda:

14

Reportage 4 : Atmo Autor

Es ist Allerseelen, etwa 20 Menschen haben sich auf dem katholischen Friedhof von

Kikinda versammelt. Sie gedenken der Donauschwaben, die nach dem Zweiten Weltkrieg

in den Lagern umgekommen sind.

Atmo

Und wie jedes Jahr findet aus diesem Anlass vor der Gedenkstätte auch ein Gottesdienst

statt – in ungarischer Sprache.

Atmo O-Ton 1 Das sind hauptsächlich Personen, die deutsche Abstammung haben, das sind sehr wenige die Deutsche sind. Autor

erklärt Aleksandar Konečni, der etwas abseits steht. Er ist Vorsitzender des deutschen

Vereins von Kikinda.

O-Ton 2 Die meisten sind weg. Viele sind getötet worden. Autor

Sie sind nach dem Zweiten Weltkrieg geflohen oder im Lager umgekommen. Und die

Übrigen haben sich nach dem Krieg assimiliert, d.h. als Ungarn oder Serben ausgegeben.

O-Ton 3 So dass die meisten überhaupt nicht mehr Deutsch sprechen. Atmo: Blumen werden niedergelegt Autor

Blumen werden niedergelegt, dann setzt sich die kleine Gruppe langsam in Bewegung –

hin zum eigentlichen Grab, das am Rand des Friedhofs liegt.

Atmo: Schneuzen, Gebet, ungarisch …

Hilda Banski, eine kleine, zarte Frau war noch ein Kind, als sie mit ihrem Bruder Hansi und

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ihren Großeltern ins Lager kam. Ihre Mutter war nach Russland deportiert worden, der

Vater im Krieg gefallen.

O-Ton 4 Sehr viele waren wir dort einquartiert in diesem großen Haus. Wir hatten dort Strohbetten gehabt, nur Stroh. Autor

Reihenweise sind die Inhaftierten an Krankheit und Erschöpfung gestorben, schließlich

auch jener Großvater, der geliebte Ota.

O-Ton 5 Und er war neben mir. Und in der Früh hab ich ihn angepackt, und da war er kalt. Und eine Ratte ist von unten gesprungen. Und der Ota hat keine Fersen mehr gehabt. In der Nacht haben die Ratten die Fersen gefressen. Autor

Nach vier Jahren wurde die kleine Hilda in ein Kinderheim verlegt. Ihre Tante, ebenfalls

eine Deutsche, aber mit einem Ungarn verheiratet, holt sie schließlich zu sich und zieht sie

wie ihr eigenes Kind groß.

O-Ton 6 Und die Tante hat gesagt, Kinder, bis ihr nicht Ungarisch oder Serbisch spricht, könnt ihr auf der Straße überhaupt nicht reden. Man darf nicht Deutsch sprechen. Atmo Autor

Das ist lange her. Heute gibt es sogar einen deutschen Verein zur Förderung der

deutschen Sprache und Kultur. Er hat seinen Sitz im Zentrum der Stadt - in einem großen

Gebäude, zusammen mit vielen anderen Gruppen und Initiativen.

O-Ton 7 Das ist unser Raum, da treffen wir uns eine jede Woche, am Dienstag Nachmittag. Da kommen wir zusammen und dann plaudern wir, dann Kaffee trinken. Und wir fühlen uns sehr gut, sehr schön. Autor

In Kikinda angekommen, hatte sich das Leben für Hilda Banski schnell normalisiert.

Endlich konnte sie wie ein normales Kind zur Schule gehen.

O-Ton 8

16

Wir haben später ein sehr schönes Leben hier in Kikinda gehabt. Niemals haben wir gespürt, dass man, ach, das sind deutsche Kinder. Nicht in der ungarischen Schule und nicht in der serbischen Schule. Aber, das muss ich sagen, wir wurden so erzogen in der Geschichte, dass die Deutschen alle schlecht sind, dass im 2. Weltkrieg, das haben die Deutschen gemacht. Und da habe ich es so gefühlt, dass ich auch schuld bin. Ein sehr schweres Schuldgefühl hatte. Autor

Und daran sollte Hilda Banski lange zu tragen haben. O-Ton 9 Und damals hab ich auch gesagt, ich bin keine Deutsche, ich bin Ungarin. Ich war offiziell Ungarin. Autor

Erst viele Jahre später, in einer Nacht im Jahre 1998, sollte sich das plötzlich ändern. Im

Fernsehen lief eine Dokumentation über das Lager in Gakovo.

O-Ton 10 Ich war alleine zu Hause. Gakovo? Ich hab so sehr geweint, Ota ist gestorben, was in Gakovo war, was früher war. Was ist geschehen? Und ich hab ganz kurz alles so geschrieben. Autor

Das war genau 50 Jahre, nachdem sie aus dem Lager entlassen wurde. „Bilder der

Kindheit“ hat sie ihre kurze aphorismenartigen Texte genannt, niedergeschrieben noch in

derselben Nacht.

O-Ton 11 (liest) Wir sitzen beim Tisch und essen Grenadiermarsch. Hier ist Ota, Oma, Hansi und ich. Auf einmal Geschrei. Sidi bellt. Da kommen Leute mit Gewehr. Sidi bellt. Sie schießen. Sidi fliegt an den Zaun. Er blutet. Ich weine. Hansi weint auch. Wir wollen zu unserem Sidi. Ota sagt: Nein. Wir gehen zurück. Und nie wieder waren wir zusammen beim Mittagmahl in unserem Haus. Atmo: Schrank aufschließen O-Ton 12 Als ich das geschrieben hab, ich fühlte mich befreit. Alles was mir schwer war, kam raus. Und man sagt jetzt, dass Schuld nur persönliche Schuld ist, keine kollektive Schuld.

Autor Hilda Banski holt ein Fotoalbum aus dem Schrank. Einweihungen von Gedenkstätten sind

darin zu sehen mit Gästen aus dem In- und Ausland.

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O-Ton 13 Das ist jetzt schon Gakovo, das war 2004. Und da habe ich gesagt, jetzt habe ich meinen Großvater beerdigt. Autor

Aber Hilda Banski will nicht nur in die Vergangenheit schauen. Und deshalb ist für sie der

deutsche Verein so wichtig. Es gibt Deutschkurse, eine kleine Bibliothek mit deutscher

Literatur und kulturelle Veranstaltungen.

O-Ton 14 Und wir möchten eine Brücke zwischen allen Nationen bauen und ein schönes Zusammenleben haben. Und nur das pflegen, was schön und gut ist für alle Leute. Atmo: Flur, Gespräch …

Autor

Draußen auf dem Flur noch ein kleiner Schwatz, dann geht es zur nächsten Verabredung.

O-Ton 15 Jetzt sind wir sehr, sehr beliebt hier. Und jetzt spricht man schon sehr viel, wie das Leben mit den Deutschen sehr schön war. Die Beziehungen, die Leute, die hier früher hier mit den Deutschen gelebt haben, sagen, das war ein sehr schönes Leben. Lit.Musik/länger LIT 4 Und wir sitzen alle um den Tisch, dicht gedrängt, ein greller Lichtkegel, der uns, unsere aufgeregt, umherwandernden Augenpaare beleuchtet, wir alle wollen schauen, sehen, was die Jahre gebracht haben, die Zeit, wie sie vergangen ist! (…) aber lasst uns nicht von Politik sprechen, Onkel Piri füllt die Schnapsgläser mit einem gekonnten Schwung, beeilt sich das Glas zu heben: Zur Feier des Tages soll Gott allen verzeihen, den Tagedieben, den Strolchen, die mir neulich mein Fahrrad wie eine warme Semmel weggestohlen haben! Ach, Kinder, Gott soll uns einen Tropfen gönnen, der uns das Herz wärmt und nicht nur das Herz, lasst uns die Sorgen des Tages vergessen, die Politiker sollen sich ans Bein pinkeln, wir haben was zu feiern, und wenn es das Letzte ist, was wir tun! Mod.5

Trotz des jugoslawischen Niedergangs, trotz der Kriege, der Sanktionen, der Mißwirtschaft

und der Korruption: verglichen mit dem Rest Serbiens ist die Vojvodina noch immer eine

wohlhabende Region. Viele der Unternehmen sind allerdings längst pleite und viele

Menschen arbeitslos. Auszuwandern, das ist deshalb bis heute ein wichtiges Thema. Und

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so besteht die große Gefahr, dass von diesem „Europa im Kleinen“ nur noch Erinnerungen

bleiben. Ethnische Minderheiten wie Ruthenen, Tschechen, Slowaken oder Rumänen

drohen von der Bildfläche zu verschwinden, während sich Ungarn und Roma behaupten

dürften.

Die Wirtschaft der Vojvodina ist bis heute vor allem durch die Landwirtschaft geprägt. Sie

galt als „Kornkammer“ Jugoslawiens, doch selbst hier kämpfen Bauern mittlerweile um

ihre Existenz.

Atmo: Heranfahrender Traktor, Motor aus

Mehr und mehr Billig-Waren werden importiert. Andererseits wurden die staatlichen

Subventionen für die Landwirtschaft in den vergangenen Jahren immer stärker gekürzt.

Als die serbische Regierung im Sommer 2011 noch einen Schritt weiter gehen wollte, stieß

sie auf heftigen Widerstand:

Reportage 5 : Autor

Miroslav Grubanov hat Feierabend. Zügig fährt er seinen Traktor durch die Einfahrt auf

seinen kleinen Hof.

Atmo: Begrüßung

"Es war gut heute“, ruft Grubanov und springt vom Fahrersitz. „Es hat nur ein bisschen

geregnet.“ Er ist Anfang 50, hat grau meliertes Haar, trägt ein dunkelblaues Sweatshirt und

eine Trainingshose. Über seinen braunen Augen hängen buschige Brauen. Mit routinierten

Bewegungen klemmt er die Batterie vom Kabel.

O-Ton 1 Das ist ein russischer Traktor, Baujahr 1971, eine unzerstörbare Maschine. Er wurde gebaut während der Zeit des Sozialismus, als noch nicht am Eisen und der Qualität gespart wurde. Seitdem man Traktoren auch mit Plastik baut, haben sie nicht mehr so ein langes Leben. Kennen Sie das russisches Sprichwort: Was geht als erstes kaputt an einem russischen Traktor? Autor

„Der Fahrer“, gibt sich Grubanov nach einer kleinen Pause selbst die Antwort, lacht, und

läuft über den Hof zum Stall.

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Atmo: stellt Maschine an, „Oppa“ O-Ton 2 Hier gab es mal sechs Kühe, aber jetzt wird der Stall nur noch benutzt, um den Mais zu mahlen. Denn die Viehwirtschaft ist schon fast zerstört in Serbien, hauptsächlich durch Monopole und den Import von Milchpulver. Deshalb haben viele ihre Kühe verkauft, weil die Preise für Milch gesunken sind. Autor

Grubanov lebt deshalb fast nur noch vom Mais, doch wie die meisten serbischen Bauern

hat er durch den trockenen Sommer große Ernteausfälle zu verkraften. Er zeigt auf seinen

Speicher, der gerade einmal zur Hälfte gefüllt ist.

O-Ton 3 Das einzig Verlässliche in Serbien ist, dass sich die Saat jedes Jahr um 30 Prozent verteuert, ohne dass wir die Preise unserer Erträge anheben könnten, denn die werden von den großen Handelsmonopolen diktiert. Ich weiß auch nicht, wie das weitergehen soll. Im Sozialismus haben wir von 10 Hektar besser gelebt als heute mit 100. Atmo: Gang ins Haus! Autor

Im kleinen Wohnzimmer werden Kaffee und Schnaps serviert. An der Wand hängt ein

gerahmtes Foto: Es zeigt Grubanov inmitten einer Demonstration, er steht auf seinem

seinem Traktor und reckt seine rechte Faust in den Himmel.

O-Ton 4 Die größten Revolutionäre der Welt sind Hugo Chavez, Che Guevara und ich (lacht). Autor

Es ist eine Foto vom vergangenen Jahr, von den größten Bauernprotesten, die Serbien bis

dahin erlebt hatte.

Atmo: „Bauern of all world unite! My indian englisch ...“

Auslöser war, dass der Staat die Subventionszahlungen kürzen wollte. Das brachte für die

ohnehin schon geplagten Landwirte das Fass zum Überlaufen. Sechs Tage lang

blockierten sie mit ihren Traktoren die gesamte Vojvodina.

O-Ton 5 Es war eine Überraschung sowohl für die Regierung als auch für uns. Wir hatten nicht erwartet, dass so eine große Anzahl von Leuten kommt. Wir hatten auch nicht erwartet, dass es sechs Tage dauern würde. Es war spontan, ohne irgendwelche politische Beeinflussung. Letztes Jahr – das war ein wirklicher Volksprotest.

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Autor

Erst am dritten Tag der Proteste ließ sich der Präsident des Bauernverbands blicken:

Kommt, lasst uns nach Hause gehen, forderte er die Demonstranten auf. Wir werden das

schon für euch regeln.

O-Ton 6 Wenn der nicht gleich wieder geflüchtet wäre, hätten ihn die Leute gleich an der nächsten Stange aufgehängt. Und dann hat sich auch niemand mehr gemeldet, niemand konnte uns mehr kontrollieren. Und nach sechs Tagen Kampf, so kann man wohl sagen, hatten wir gewonnen. Autor

Die geplanten Subventionskürzungen wurden zurückgezogen. Ein großer Erfolg, sagt

Grubanov, aber langfristig genau so wichtig sei doch auch noch etwas anderes gewesen.

O-Ton 7 Die Leute haben uns unterstützt, sie haben gesagt, ihr seid die einzige Kraft im Land, die vielleicht noch etwas ändern kann, die nicht korrupt ist. Es waren tatsächlich ehrliche, spontane Landwirte, die den Menschen das Gefühl gegeben haben, dass man etwas ändern kann. Autor

In Kürze wird er wieder im Fernsehen auftreten. Die neue Regierung hat ein neues

Subventionsgesetz angekündigt, das nun für die nächsten fünf Jahre gelten soll. Miroslav

Grubanov ist skeptisch. Gedankenverloren dreht er sich mit seiner kleinen Tabakmaschine

eine Zigarette. Damit, und mit dem Tabak aus dem eigenen Garten, hatte er auch die Zeit

des Wirtschaftsembargos in den 1990er Jahren überstanden, sagt er. Dann wird er ernst.

O-Ton 8 Wozu brauchten wir das alles? Heute sind wir zehn Mal so stark verschuldet. Es wäre besser gewesen, wenn wir das alte Jugoslawien erhalten hätten. Es war ein kleines vereintes Europa, wo auch verschiedenen Nationalitäten gelebt haben. Und das hat funktioniert. Mir tut es leid. Mir tut es wirklich leid um dieses Land. Autor

Vom Computer spielt er ein Musikvideo ab, eine alte Balkanschnulze von 1988, ein Duett:

Sie ist Serbin, er ein Bosnier aus Sarajevo, und wie in böser Vorahnung besingen sie den

Schmerz einer unvermeidlichen Trennung – und dass sich es ohne den anderen doch

nicht leben lässt

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Atmo: Musik

Und die Vojvodina? Ist die denn auch noch Balkan - oder nicht doch etwas ganz anderes,

wie viele andere behaupten. Grubanov winkt ab.

O-Ton 9 Alle sind hier vorbeigezogen. Von jedem haben wir etwas übernommen, so dass hier eigentlich nicht nur ein Europa im Kleinen ist, sondern die ganze Welt. Autor

Insofern könne sich hier doch jeder so verstehen, wie er will. Er selbst hat überhaupt

nichts dagegen, ein Mensch vom Balkan zu sein. Im Gegenteil.

O-Ton 10 Der Balkan – das ist letztlich eine Frage der Seele, verstehst Du? Es ist keine Frage der Geografie. Wie die Schwarzen sagen: Du musst den Blues spüren. Und der Balkan, entweder verstehst Du ihn oder nicht. Das kann Dir niemand erklären. Und ich kann sagen ich bin stolz darauf, dass wir so sind. Autor

Dann füllt er nach – noch eine Runde Rakija:

O-Ton 11 (Original) To je balkanische philosophische Schule from Crepaja. Auf Wiedersehen, meine liebe German people. Musik-6 Abmod: „Wo sich der Balkan an Mitteleuropa anlehnt – die Vielvölkerprovinz Vojvodina“. Das

waren „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Dirk Auer und Merlin Nadj-Torma.

Musikauswahl und Regie: Babette Michel, Endproduktion: Anne Barthel und Wolfgang

Rixius.

Die Literaturauszüge stammen aus dem Roman „Tauben fliegen auf“ von Melinda Nadj-

Abonji. Sie wurden gelesen von Angela Metzler.

Sie finden diese Sendung auch im Internet unter dradio.de.

Danke für’s Zuhören! Am Mikrophon war Gerwald Herter.