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1 Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 28. Januar 2012, 11.05 - 12.00 Uhr Alltag im Niemandsland - Zankapfel Nordkosovo Mit Reportagen von Dirk Auer Redakteur am Mikrofon: Gerwald Herter Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (GSE-Stimmen) Musik O-Ton Bascarevic Politisch ist wirklich jeder Aspekt des Lebens hier. Und es tut mir sehr leid für die jungen Leute - irgendwie fühle ich mich dafür verantwortlich, dass wir ihnen nicht etwas Anderes überlassen haben als diese Unsicherheit und diese politischen Tumulte. Das sagt der Musiker Ljubisha Bascarevic (Aussp. Bastscharevic), er ist Serbe und er lebt im vorwiegend serbischen Norden von Mitrovica. Der Kosovo- Albaner Halil Qelal (Ausspr. Tschelal) arbeitet ein paar Kilometer entfernt, in der Mine von Trepca, wo Albaner in der Mehrheit sind. O-Ton Quelal Wenn man die Politik wegnimmt von Trepca, nicht nur von Trepca, auch von ( ... ) andere Sachen, dann Trepca wird wieder Hauptsäule der Entwicklung. Dass die Leute wiederstolz sein werden. Gesichter Europas: Politisches Niemandsland - Leben im Norden des Kosovo. Reportagen von Dirk Auer, herzlich willkommen! Am Mikrophon ist Gerwald Herter

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Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 28. Januar 2012, 11.05 - 12.00 Uhr

Alltag im Niemandsland -

Zankapfel Nordkosovo

Mit Reportagen von Dirk Auer Redakteur am Mikrofon: Gerwald Herter

Musikauswahl: Babette Michel

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

©

- unkorrigiertes Exemplar -

Opening: (GSE-Stimmen)

Musik O-Ton Bascarevic Politisch ist wirklich jeder Aspekt des Lebens hier. Und es tut mir sehr leid für die jungen Leute - irgendwie fühle ich mich dafür verantwortlich, dass wir ihnen nicht etwas Anderes überlassen haben als diese Unsicherheit und diese politischen Tumulte. Das sagt der Musiker Ljubisha Bascarevic (Aussp. Bastscharevic), er ist Serbe und er lebt im vorwiegend serbischen Norden von Mitrovica. Der Kosovo-Albaner Halil Qelal (Ausspr. Tschelal) arbeitet ein paar Kilometer entfernt, in der Mine von Trepca, wo Albaner in der Mehrheit sind. O-Ton Quelal Wenn man die Politik wegnimmt von Trepca, nicht nur von Trepca, auch von ( ... ) andere Sachen, dann Trepca wird wieder Hauptsäule der Entwicklung. Dass die Leute wiederstolz sein werden. Gesichter Europas: Politisches Niemandsland - Leben im Norden des Kosovo. Reportagen von Dirk Auer, herzlich willkommen! Am Mikrophon ist Gerwald Herter

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Musik-1 Mit dem "jüngsten Staat Europas" wollen die meisten von ihnen überhaupt nichts zu tun haben - etwa 60-Tausend Serben leben im Norden des Kosovo - in vier Gemeinden und ein paar Dutzend Dörfern. Dieses Gebiet liegt in direkter Nachbarschaft zu Serbien. Vom serbischen Stammland wird es allerdings seit einigen Jahren durch die Grenzen der unabhängigen albanisch dominierten Republik Kosovo getrennt. Belgrad erkennt die Unabhängigkeit der früheren Provinz Kosovo nicht an und auch die Serben hier denken nicht einmal daran. So werden zum Beispiel Rechnungen im Norden der alten Bergbaustadt Mitrovica ganz selbstverständlich in serbischen Dinar beglichen - und nicht etwa in Euro, der offiziellen kosovarischen Währung. Die Regierung des Kosovo hatte dem lange nur zugesehen. Im letzten Sommer schickte Pristina jedoch Zollbeamte in einer Kommandoaktion an die Grenze zwischen Kosovo und Serbien. Serben aus dem Nordkosovo randalierten und schossen. Auch mit deutschen Soldaten der internationalen KFOR-Truppe kam es zu Auseinandersetzungen. Atmo Motor anlassen

Trotz langer Verhandlungen und vieler Vermittlungsversuche dauert die Krise an. Barrikaden befinden sich immer noch auf wichtigen Verbindungsstraßen. Die Teilung hat sich sogar vertieft. In Mitrovica wird das besonders deutlich. Diese Stadt ist ethnisch geteilt. Wer aus dem albanischen Süden kommt und den Fluß Ibar überquert, gelangt gleichsam in eine andere Welt. Für einige Menschen hier ist dieser Kontrast dennoch seltsamer Alltag:

Reportage 1 Milos im Süden arbeiten, im Norden wohn en

Atmo: Fahren Autor

Milos Golubovic hat Feierabend. Umsichtig steuert er seinen alten

VW Polo durch die engen Gassen von Süd-Mitrovica. Jeden Tag

überquert er den Fluss Ibar, erst von Nord nach Süd, und dann

wieder zurück vom albanischen Süden in den serbischen Norden,

wo er zu Hause ist.

Atmo im Hintergrund: Handygespräch

Milos ist Mitte 30, groß, stämmig und trägt einen grauen

Kapuzenpullover. Er ist einer der ganz wenigen Serben, die im

albanischen Teil der Stadt arbeiten - und für sie ist seit dem

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Sommer alles noch umständlicher geworden. Milos nimmt nicht

mehr die Ostbrücke. Stattdessen fährt er in einem großen Bogen in

die entgegensetzte Richtung.

O-Ton 1 Es ist die Zeit der Barrikaden. Die Menschen sind sehr nervös. Deshalb nehme ich zurzeit die andere Brücke. Das ist sicherer, gerade weil es dort keine Kontrollen gibt. Manche wissen, dass ich mit Albanern zusammenarbeite, und das bedeutet für sie zwangsläufig, dass ich gegen die Serben arbeite. Sie könnten mich bei einer Kontrolle also anhalten und dann könnte es unangenehm werden. Atmo

Autor

Kurz vor der Brücke nimmt Milos einen Schraubenzieher aus dem

Handschuhfach, er steigt aus und schraubt seine kosovarischen

Nummernschilder ab. Jeder mache das hier so, sagt er - zur

eigenen Sicherheit.

O-Ton 2 Die Leute im Norden wollen nicht einmal die alten Kosovo-Nummernschilder benutzen, die die UN-Verwaltung noch eingeführt hatte. Sie akzeptieren nur serbische Nummernschilder, ausgegeben vom serbischen Innenministerium. Autor

Von Süd- nach Nord-Mitrovica zu fahren, das ist, also ob man eine

innereuropäische Grenze überquert. Es gibt keine Schilder, keine

Formalitäten, aber plötzlich ist doch alles irgendwie anders: die

Nummernschilder der Autos, wenn sie überhaupt vorhanden sind;

die Schilder der Geschäfte, die Auslagen an den Kiosken, die

Sprache. Milos deutet Richtung Hauptbrücke. Mitten auf der Straße

ist ein meterhoher Wall aus Kies und Schutt zu sehen, darauf noch

einmal tonnenschwere Betonplatten - davor sind ein Zelt und ein

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Container aufgebaut. Die Botschaft, Richtung Süden ist

unmissverständlich: Spätestens hier, an dieser Brücke, endet euer

Einflussbereich, denn hier ist Serbien.

O-Ton 3 Die Leute bewachen die Barrikaden Tag und Nacht. Sie wechseln alle vier Stunden. Alles ist bestens organisiert. Sollte jemand versuchen, die Barrikaden zu räumen, würden sie die anderen informieren und alle zusammen trommeln. Autor

Weiter geht es die Hauptstraße entlang, vorbei an in die Jahre

gekommenen Wohnblöcken aus jugoslawischer Zeit. Dazwischen:

Frisch gestrichene Neubauten, Kioske, Cafes und Kneipen. Links

und rechts der Straße hängen serbische Flaggen, dazwischen

immer wieder Schilder mit dem Hinweis: "Hier ist Serbien" oder dem

Aufruf: "Russland hilf uns!".

Atmo: Parkendes Auto Autor

Fast alle seine Besucher führt Milos irgendwann einmal auf den so

genannten "miner's hill" - den Hügel der Bergleute. Oben

angekommen, eröffnet sich der Blick über die ganze Stadt.

O-Ton: From here you don't see that the city is divided "Von hier aus sieht man nicht, dass die Stadt geteilt ist", stellt Milos

fest. Lange lässt er seinen Blick auf dem Häusermeer ruhen.

O-Ton 4 Ich bin wirklich sehr stolz ein Mitrovicianer zu sein. Aber das gilt nur für die alte Zeit. Mitrovica war eine große Industriestadt, wir hatten eine gute Musikszene und viele berühmte Sportler. Der Fußballklub Trepca zum Beispiel hat damals in der ersten jugoslawischen Liga gespielt - zusammen mit Hajduk Split, Dynamo Zagreb, Roter Stern

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Belgrad. Wir haben alle in guter Nachbarschaft zusammen gelebt und gearbeitet. Ob Serben, Albaner oder Roma - eigentlich hatte das keine große Bedeutung. Autor

Die guten alten Zeiten - aus und vorbei! Milos war 13 Jahre alt, als

er im Keller saß und die Bomber der NATO am Himmel hörte.

Nach dem Krieg blieb in Mitrovica nichts wie es war: Die Albaner

aus dem Norden wurden in den Süden vertrieben, die Serben aus

dem Süden in den Norden, und so wurde aus der ehemaligen

gemischt-ethnischen Stadt: Mitrovica Süd und Mitrovica Nord, mit

dem Fluss Ibar als informelle Grenze. Zusätzlich wurde der Norden

von serbischen Flüchtlingen aus den südlichen Regionen von

Kosovo überschwemmt, während viele der alten Mitrovicianer die

Stadt für immer verließen.

O-Ton 5 Diejenigen, die hier geboren sind, sind inzwischen fast schon in der Minderheit. Viele von ihnen haben bessere Jobs in Belgrad gefunden. Und die Leute hier haben meistens immer noch keine Arbeit. So hatten sie viel Zeit, immer radikaler zu werden und in die Politik zu gehen. Die ganze Kultur der Stadt hat sich geändert. Mitrovica hat die alten Werte verloren, die es hier einmal gab. Autor

Wieder unten in der Stadt. Es ist Mittagszeit, und die verbringt Milos

in einem der unzähligen Kaffees, zusammen mit seinem Freund

Marko. Marko ist ein junger angehender Anwalt. Aber das hält ihn

nicht davon ab, regelmäßig Schichten an den Straßenbarrikaden zu

übernehmen.

O-Ton 6 Es wird immer gesagt, dass diese Leute Kriminelle sind. Das ist das Einfachste, aber so ist es nicht. Ich gehe zur Barrikade. Meine Familie ist dort, meine Mutter, meine Schwester - ganz normale Leute. Wir kämpfen einfach nur für unsere Rechte, nichts anderes.

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Autor

Denn was sei schon dabei, sagt er. Die Albaner wollten nicht mehr

Teil von Serbien sein. Und sie, die Serben, eben nicht Teil von

Kosovo. Marko fordert deshalb neue politische Verhandlungen,

zumindest über die Zukunft von Nordkosovo. Denn, so sagt er:

O-Ton 7 Alles hängt an einem seidenen Faden. Wenn es keine Lösung gibt, dann kann die Situation auch leicht wieder eskalieren. Niemand kann das voraussagen. Autor

Währenddessen starrt Milos auf einen Flachbildschirm, wie er hier

inzwischen in fast jedem Café hängt. Wenn es um Politik geht, dann

klinkt er sich meistens aus. Überhaupt ist er mit seinen Gedanken

schon ganz woanders. Bald wird er seine Heimatstadt Mitrovica

verlassen. Er hat ein Stipendium für einen Masterstudiengang im

Ausland erhalten.

O-Ton 8 Ich will noch einmal etwas Neues lernen. Aber danach will ich zurückkehren. Nur Menschen, die hier gelebt haben, können der Stadt helfen. Ich denke tatsächlich, dass noch nicht alles verloren ist. Ich sehe Mitrovica als eine vereinte Stadt. Aber wohl erst in ferner Zukunft. Musik Literatur-Zitat-1: "Im Südosten Serbiens liegt die 10 887 Quadratkilometer grosse Sozialistische Autonome Provinz Kosovo mit 1 585 000 Einwohnern. In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Verfassung über die volle Gleichberechtigung aller in Jugoslawien lebenden Völker und Nationalitäten werden in Kosovo in Verwaltung und Öffentlichkeit das Albanische und Serbokroatische, in Siedlungsgebieten der türkischen nationalen Minderheit auch die türkische Sprache gebraucht. Kosovo, im Zentrum der Balkanhalbinsel gelegen, gliedert sich in zwei große Beckenlandschaften, um die sich ringförmig eine Gebirgskette schließt: die Ebene Kosovo sowie Metohija, um die sich im Norden das Kopaonik-Gebirge,

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Im Westen und Süden das Sara- (Ausspr.: "Schara") und Prokletje-Gebirge auftürmen. Von den 1 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Flächen sind 450 000 Hektar Waldland und 200 000 Hektar Weideland. ( ... )Die Region Kosovo ist eines der wichtigsten Bergbaugebiete Jugoslawiens( ... )." Musik Mod. So steht es im Kunstreiseführer "Jugoslawien - Sehenswürdigkeiten, Kulturdenkmäler, Kunstschätze", der 1983 in Belgrad erschien. Die volle Gleichberechtigung alle Völker und Nationalitäten war selbst in Jugoslawien ein Prinzip, das aus Sicht vieler zu kurz kam. Schon unter dem Kroaten Tito war häufig von der serbischen Dominanz die Rede. Als er tot war, wurden "großserbische" Ideen bald salonfähig. Belgrad ist die Unterstützung der Serben im Kosovo auch heute noch viel Wert. Mehr als 200 Millionen Euro überweist die serbische Regierung jährlich. Serbien will in die Europäische Union, Brüssel und auch Berlin können damit Druck auf Belgrad ausüben. Die serbische Regierung soll ihre Unterstützung für die Serben im Kosovo aufgeben und sie dazu bewegen, mit der albanischen Regierung in Pristina zusammenzuarbeiten. Ansonsten will die EU mit Serbien gar nicht erst über den Beitritt verhandeln. Atmo Straße Die so genannten "Parallelinstitutionen" im Norden des Kosovo erweisen sich allerdings als beständig. Welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, im Niemandsland zu leben, zeigt sich zum Beispiel an der Rechtssprechung. Verschiedene Gerichtshöfe halten sich für zuständig, einer ist kosovop-albanisch, ein anderer serbisch. Sie berufen sich auf unterschiedliches Recht, kein Gesetz ist im Norden des Kosovo jedoch uneingeschränkt gültig. Reportage-2 Der serbische Anwalt Vlajic Atmo: Tür Autor

Das Anwaltsbüro von Nebojsa Vlajic. Etwa 20 Quadratmeter ist der

Raum groß, den er sich mit seinem Partner teilt. Die Einrichtung ist

schlicht, das Mobiliar schon etwas abgewetzt. In einem von zwei

braunen Ledersesseln sitzt ein alter, hagerer Mann. Er ist

gekommen, um sich sein Testament aufsetzen zu lassen.

Atmo: Gespräch

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Vlajic und Pantovic: das ist inzwischen die Hauptadresse für die

Bürger von Mitrovica, wenn sie Rechtsbeistand brauchen. Seit Mitte

der 1990er Jahre betreiben sie hier ihre Kanzlei. Damals gab es

noch 10 Anwälte in der Stadt, jetzt sind es gerade noch einmal fünf.

Eigentlich noch weniger, weil einige nur noch in Teilzeit arbeiten,

sagt Vlajic, der jetzt hinter seinem riesigen Schreibtisch

verschwindet. Viel sei hier ja auch nicht mehr zu tun - an einem Ort,

an dem es seit drei Jahren noch nicht einmal mehr ein ordentliches

Gericht gibt.

O-Ton 9 Bis 2008 hatten wir noch ein Gericht unter Verwaltung der UN. Es gab dort auch einige serbische Richter, aber mit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos hat sich die Situation vollständig geändert. Plötzlich sollte auf den Urteilsverkündungen der albanischen Richter "Republik Kosovo" stehen - und das wollten die Bürger von Nord-Mitrovica nicht akzeptieren. Autor

Die serbischen Richter und Justizangestellten besetzten das

Gericht. Wenige Tage später räumten Spezialeinheiten der UN-

Polizei das Gebäude, es kam zu schweren, gewalttätigen

Auseinandersetzungen mit serbischen Demonstranten: Panzer

fuhren auf, Handgranaten wurden geworfen, Autos brannten, auf

beiden Seiten wurde scharf geschossen. Monatelang blieb das

Gericht geschlossen, dann wurde es wieder eröffnet - allerdings im

Exil: in der 15 Kilometer entfernten und ausschließlich von Albanern

bewohnten Stadt Vushtrri.

O-Ton 10 Aber dort arbeiten sie einfach nicht. Natürlich gibt es einige objektive Hindernisse. Sie würden sagen, wir haben kein Räumlichkeiten, keine Ausstattung. Wir sind nicht in unserer Stadt, nicht in unserem Gebäude. Aber manchmal fehlt einfach nur der Wille zu arbeiten.

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Autor

Und das serbische Gericht? Es hat seinen Sitz in der benachbarten

Gemeinde Zvecan, theoretisch ist es zuständig für ganz Kosovo,

aber praktisch ist es auf den Norden beschränkt.

O-Ton 11 Mit den Fällen, die sie bearbeiten können, arbeiten sie besser. Aber die Anzahl und die Art der Fälle, die sie überhaupt behandeln können, ist extrem beschränkt. Eigentlich geht es dort nur um Zivilrecht . Das Gericht hat außerdem keine Mittel, Urteile zu vollstrecken, sie durchzusetzen. Autor

Das heißt aber, es arbeitet weiterhin vollständig unter serbischer

Hoheit und wendet ausschließlich die serbischen Gesetze an? Eine

Frage, die Vlajic sichtbar irritiert. Natürlich, sagt er.

O-Ton (engl.): Because Kosovo was always part of Serbia "Weil Kosovo immer Teil von Serbien war". Dass das auch weiterhin

der Fall sein wird, daran gibt es auch für Nebojsa Vlajic keinen

Zweifel. Auch wenn er als Anwalt ganz pragmatisch ist:

O-Ton 12 Manche unserer Mandaten ziehen es vor, zum kosovarischen Gericht zu gehen, manche zum serbischen Gericht. Es liegt an ihnen, das zu entscheiden. Wir vertreten sie vor jedem Gericht. Meistens wissen sie aber, dass es nicht viel gibt, was sie erreichen können. Ihre Erwartungen sind also sehr gering. Atmo

Das Testament ist aufgesetzt, jetzt geht es an die Unterschrift. Der

86-jährige Zharko hat Probleme mit seiner Hand und ziert sich.

Atmo: Dialog

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"Auf geht's, unterschreib einfach so gut, wie Du kannst." "Gut,

was?" "Gut. Warum soll das nicht gut sein? Fantastisch!" Während

sich der alte Mann noch freut, macht Nebojsa Vlajic die Unterlagen

fertig. Er weiß, was dem Besucher durch den Kopf geht. Ein

kosovarisches Gericht, das sich im Exil befindet und nicht arbeitet;

ein serbisches Gericht, das angeblich arbeitet, aber es tatsächlich

nicht kann, weil es mit der kosovarischen Polizei nicht kooperiert?

Und das noch dazu bei der Urteilsvollstreckung auf den "good will"

der Beteiligten angewiesen ist?

O-Ton 13 Es ist schwierig das zu erklären. Es ist normal zu denken, dass die Menschen ohne Gesetz oder Polizei, ohne Gerichte durchdrehen. Aber das passiert in Mitrovica nicht. Ich kann Ihnen sagen, dass die Kriminalitätsrate hier viel geringer ist als vor dem Krieg. Es gibt fast keine Morde und fast keine Diebstähle in Nord-Mitrovica. Autor

Woran das liegt, dafür hat Vlajic eine Erklärung. Ausgerechnet hier

in Mitrovica, da glaubt er doch manchmal auch wieder an das Gute

im Menschen.

O-Ton 14 Die Leute sind sich ziemlich klar über ihre bürgerlichen Pflichten. Sie wissen genau, was sie tun sollten und was nicht. Und deshalb glaube ich, dass es manchmal Kooperation zwischen den Menschen geben kann, ohne dass Zwang auf sie ausgeübt werden muss. Autor

Das Testament von Zharko ist fertig. "Frag lieber nicht", antwortet

der auf die Frage nach seiner Gesundheit. Die Beine machen nicht

mehr mit.

Atmo: Dialog

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"Trinkst Du?" Ja, ab und zu ein Glas Rakia. Und rauchst Du? Ja,

das auch. "Hör auf zu rauchen, und dann ist alles in Ordnung", sagt

der Anwalt und lacht. Dann wird er wieder ernst - er hat zwei

Abschlüsse amerikanischer Universitäten erworben. Oft fragt er sich

deshalb, ob er damit nicht auch etwas anderes hätte erreichen

können.

O-Ton 15 Manchmal würde ich gerne ein besseres, ein anderes Leben führen. Ich bin nicht glücklich mit der ganzen Situation hier. Aber ich bin glücklich mit meinem kleinen Leben. Ich habe einen guten Ruf in meiner Stadt. Ich habe meine Mandanten, wenn auch weniger als früher. Autor

Und dann sagt er etwas, dass man immer wieder hört, von den

alten Mitrovicianern.

O-Ton 16 Aber ich gehöre hierher. Ich will nirgendwo anders hin. Musik

Mod. Leben im Niemandsland - das macht den Alltag mühsam. Ohne Lösung für den serbisch dominierten Norden des Kosovo wird sich auch das ganz große Problem nicht lösen lassen: offiziell beharrt die serbische Regierung darauf, den Anspruch auf ganz Kosovo nie aufzugeben. Möglicherweise Taktik, die auf eine Teilung des Kosovo hinauslaufen soll, wenn es nach Belgrad geht. Mitrovica wäre dann eine endgültig geteilte Stadt, aber das würde wiederrum Probleme aufwerfen. Eines davon wäre besonders gravierend.Im Norden leben zwar vorwiegend, aber nicht ausschließlich Serben. Trotz der serbischen Vorherrschaft wohnen etwa 2-Tausend-200 Albaner in Nord-Mitrovica - außerdem um die 1-Tausend-300 Bosniaken. Atmo Bus Die allermeisten bleiben unter sich, haben keinen Kontakt zur serbischen Bevölkerung: Nusha Haradini sitzt mit 15 anderen Albanern in einem Bus, der dafür sorgt, dass sie einigermaßen sicher in den Süden der Stadt und zurück kommt: Reportage- 3 Die Albanerin Nusha Haradini lebt (auc h) unter Serben

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Autor

Erschöpft lässt sich Nusha Haradini auf einen der freien Sitze fallen.

Dann setzt sich der alte Bus in Bewegung.

Atmo

Die Fenster sind mit dichten Vorhängen zugezogen, und dabei

bleibt es, auch während der ganzen Fahrt durch den serbischen

Norden von Mitrovica - bis zur Siedlung "Mikronaselje", die von den

Albanern "Kodra e minatorëve” genannt wird.

Atmo: Aussteigen

Dort angekommen, ist man plötzlich in einer anderen Welt. Es ist

ländlich, kleine Einfamilienhäuser mit Gärten prägen das Bild. Hier

ist Nusha aufgewachsen.

Atmo

Bis zum Krieg war das hier eine gemischte Siedlung, erzählt sie.

Dann musste auch von hier die albanische Bevölkerung fliehen.

Anders als im Rest der Stadt, kehren sie seit einiger Zeit wieder

zurück.

O-Ton 17 alb. Als ich zurückkehrte, war noch alles zerstört. Über 70 albanische Häuser sind hier niedergebrannt worden. Ich war sehr traurig, als ich das alles gesehen habe.

Autor

14 neue Häuser stehen schon, vier weitere werden gerade gebaut.

Nusha war unter den ersten, die wiederkamen:

Atmo: Tür, Flur Autor

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Auch ihr Haus war bis auf die Grundmauern zerstört. Das neue

steht jetzt wieder genau auf dem selben Grundstück. Vor einem

Jahr hat sie es bezogen - über 10 Jahre nachdem sie mit ihrer

Familie von hier vertrieben worden war.

O-Ton 18 Die Serben waren maskiert und sie sagten, ihr habt 5 Minuten. Wir haben Taschen gepackt und uns dann in der Nähe der Brücke versammelt. Die serbische Polizei hat dann gesagt, dass wir zur Busstation gehen sollten. Sie haben uns unsere Dokumente abgenommen und auch das Geld, das wir besaßen. Wenn man sich weigerte, wurde man geschlagen. Autor

Sieben Busse fuhren an diesem Tag nach Gjakova, im Westen

Kosovos gelegen. Von dort aus sollte es weiter nach Albanien

gehen.

O-Ton 19 Auf dem Weg haben wir schreckliche Dinge gesehen, darunter etwas, das ich niemals vergessen kann: Traktoren wurden bombardiert, und ich sah ein Babybett, es war zerstört - und das Baby lag darauf. Neben der Straße lagen Leichen, Tote, einfach nur mit Zeitungen bedeckt. Als wir ankamen, sagte der Busfahrer wir sollten geradeaus gehen, nicht nach links, nicht nach rechts. Wegen der Minen. Er war ein Serbe, und ich bin ihm sehr dankbar für seine Hilfe. Atmo Autor

Nusha setzt türkischen Kaffee auf. Drei Monate blieben sie in

Albanien, von da aus ging es dann mit dem Schiff nach Italien und

schließlich nach Österreich.

Während dieser Zeit ist ihr Mann gestorben, ihre Kinder haben

geheiratet, die Familie bekam in Österreich ein Aufenthaltsrecht,

und die ersten Enkel kamen zur Welt. Alles war gut - eigentlich.

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Aber irgendwann, da sagte sie mit fester Stimme: Ich gehe zurück!

Zurück nach Nord-Mitrovica.

O-Ton Zuhause ist eben Zuhause, sagt sie und lacht. Die Kinder

jedoch waren entsetzt. Zurück nach Nord-Mitrovica? Zu den

Serben? Kaufe oder miete ein Haus im Süden, flehten sie ihre

Mutter an. Es war vergeblich.

O-Ton 20 Als ich dann zurückkam, hatte ich tatsächlich große Angst. In Österreich habe ich immer davon geträumt, wie es ist, zurückzukommen. Ich träumte, ich komme zurück und verlaufe mich. In meinem Traum habe ich dann mein Gesicht verdeckt, damit die Serben nicht sehen, wie ich zurückkehre. Regie: Orig. kurz hochziehen Aber dann sah ich meine serbischen Nachbarn, die an der Straße auf mich warteten: Nusha, wie geht es Dir? Kommst Du zurück für immer? Wir werden dieselben Nachbarn sein, wie wir es früher waren, hab keine Angst! Atmo Autor

Draußen muss der Hund gefüttert werden. Und wie bestellt kommt

Zoran Rakic vorbei, ein Mann um die 50.

O-Ton 21 Er war der erste, der mich willkommen hieß und mir zur Rückkehr gratuliert. Und ich bin froh, dass ich einen solchen Nachbarn habe. Autor

Zoran Rakic stammt aus einer der ältesten Familie Mitrovicas. Und

für sie sei das Zusammenleben von Serben und Albanern doch

schon immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, betont er.

O-Ton 22 Sprecher! Wir hatte eine Big Band und mit der hatten wir großen Erfolg. In ganz Jugoslawien haben wir bei internationalen Festivals gespielt. Bis zum Krieg funktionierte alles reibungslos. Albaner, Türken, Montenegriner, Serben - alle spielten wir zusammen.

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Autor

Nusha nickt.

O-Ton 23 Wir habe uns besucht. Und wir haben uns gegenseitig zum muslimischen Bajram und zum orthodoxen Slava-Fest gratuliert. Autor

Auf dem Weg zurück zum Haus trifft Nusha einen weiteren

Nachbarn.

Atmo

"Komm mal wieder vorbei", ruft sie ihm zu. Drinnen wird die nächste

Tasse Kaffee aufgesetzt. Aber natürlich, sagt sie dabei, das Leben

hier sei auch nicht einfach, vor allem jetzt nicht, da die politische

Situation wieder angespannt ist. Zum Einkaufen geht sie meistens

in den albanischen Süden von Mitrovica. Manchmal aber auch in

den Norden. Vor kurzem zum Beispiel, da musste sie eine

Rechnung bezahlen. Sie wusste nicht, dass die Serben wieder

einmal protestieren und geriet in eine Menschenmenge.

O-Ton 24 Sprecherin Ich habe dort Kollegen getroffen, mit denen ich 35 Jahre lang zusammengearbeitet hatte: Nusha, wo gehst Du hin? Na, auf die Barrikade (Lachen) Und die Kollegen sagten, Du bist nicht normal (Lachen)

Autor

Aber Nusha weiß: Die Zukunft wird nicht nur von ihr und ihrer

kleinen Welt in der Siedlung bestimmt, sondern letztlich, wie so oft

im Kosovo, von der großen Politik. Mit Sorge verfolgt sie, dass

einige serbische Politiker selbst die endgültige Teilung des Kosovo

in Kauf nehmen wollen, womit sie dann plötzlich doch auf der

falschen Seite wäre.

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O-Ton 25 Sprecherin Damit würde sich alles ändern. Ich wollte dann nicht mehr hier leben. Wir haben vorher zusammen gelebt, warum nicht jetzt? Wir sollten die Grenzen nicht mehr ändern. Musik Zitat-2: "Titova Mitrovica wird erstmals um die Mitte des 15. Jahrhunderts erwähnt. Die Stadt entwickelte sich um die Sankt Demetrioskirche, ihr ursprünglicher Name war Dimitrovica. Bei Titova Mitrovica steht ein Denkmal in Form eines Förderwagens zu Ehren des Bergmanntrupps, der am 30. Juli 1941 die Seilbahn in Trepca in die Luft sprengte und sich sodann der gefeierten 1. Proletarischen Brigade anschloss. Trepca, eine bedeutende Bergbausiedlung wird erstmals 1303 erwähnt. In Trepca befinden sich die Ruinen der Sankt Peterskirche, Saska crkva genannt, in Stari Trg eine der reichsten Mineral- und Kristallsammlungen der Welt." Mod. Mitrovica war zu jugoslawischen Zeiten aus denen dieser Text stammt, keineswegs ein "schwarzes Loch", Titova Mitrovica war eine wichtige Industriestadt. Die so oft beschworene "goldene Vergangenheit" der Region ist mit dem Namen Trepca verbunden. Dieses Industriekombinat bestand aus mehreren Bergwerken, Schmelzen und Betrieben, die die Metalle weiter verarbeiteten, unter anderem zu Munition. In Titos Jugoslawien gehörte Trepca mit 26-Tausend Arbeitern zu den ganz großen Unternehmen und brachte reichlich Devisen ein. Fast alle Familien in Mitrovica konnten direkt oder indirekt von Trepca leben. Atmo Warten auf Aufzug Mod. Wegen der Vorkommen an Blei und Zink werden die Minen immer noch als "Kronjuwel" des Kosovo bezeichnet. Schon Anfang der 80er Jahre war es hier zu Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben gekommen. Dabei ging es auch um die Vorherrschaft im Unternehmen und die vermeintliche Diskriminierung der Albaner. Trotzdem hoffen jetzt viele, dass Trepca wieder zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung werden könnte. Trepca ist geteilt. Im serbischen Norden liegt vor allem ein Schmelzwerk, im albanischen Süden liegt, einige Kilometer von der Stadt entfernt, die größte Mine, Stari Trg. Reportage-4 Im albanischen Bergwerk Atmo: Sirene, Aufzug nach unten Autor

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Ein kurzes Signal, dann rauscht der der Förderkorb fast lautlos in

die Tiefe. Fünf Arbeiter fahren ein. Keiner ist jünger als 50, sie

tragen Gummistiefel, blaue Arbeitshosen, und weiße Schutzhelme

auf dem Kopf..

Atmo: Scheppern

Die zehnte Ebene ist das Ziel - 800 Meter unter der Erdoberfläche.

Atmo Autor

Unten wartet bereits Halil Qela, einer der leitenden Manager von

Trepca. Seit einem Vierteljahrhundert arbeitet er hier, wie zuvor

schon sein Vater und sein Großvater.

O-Ton Mit Trepca verbunden zu sein ist ein Stolz für uns. Autor

Und deshalb war er sofort nach Kriegsende aus Deutschland

zurückgekehrt. Als er nach Mitrovica kam, stand Trepca schon unter

der UN-Verwaltung des Kosovo - und wurde erst einmal stillgelegt.

O-Ton Erstes mal durften wir normal arbeiten 2006. Autor

Was auch an den Schäden lag, die die serbische Belegschaft

hinterlassen hatte.

O-Ton Immer noch heute haben wir Minen, Bergwerke, die sind unter Wasser. Die ganze Metallurgie ist kaputt gegangen. Viele Sachen sind auch geklaut. Autor

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Halil Qela geht voran, durch einen zunächst noch gut ausgebauten

Tunnel. Die ersten 100 Meter sind immer beleuchtet, danach sorgen

nur noch die Helm-Lampen für Licht. Wasser rieselt von den

Wänden in kleinen Rinnsalen herab, auf dem Boden fließt es zu

einem ansehnlichen Strom zusammen. Qela deutet auf einen

Eingang zu einer Höhle, die mit Zement abgedichtet ist.

O-Ton Normalerweise System ist, in Englisch nennt man das "cut and fill": Nimmt man das Erz und füllt das mit dem anderen Material, dass nicht die Mine kaputt geht. Autor

Normalerweise! In den 90er Jahren hatten die serbischen Manager

alle albanischen Arbeiter entlassen, und die Mine stand unter ihrer

Kontrolle.

O-Ton nur das gute Erz genommen, aber nichts für die Mine gedacht. Mit damalige serbische Gesetze auch war verboten. Aber Milosevic hat ganz andere Ziele gehabt. Der hat seine eigene Gesetz gehabt. Autor

Spiralförmig windet sich der Gang weiter zur nächster Ebene. Die

Luft ist warm, etwa 27 Grad, und durch das viele Wasser herrscht

an manchen Stellen geradezu ein tropisches Klima. Dann plötzlich

Licht: Eine natürliche Höhle von gewaltigen Ausmaßen. 15, 20

Arbeiter hauen mit schwerem Gerät mächtige Erzbrocken aus dem

Fels.

Atmo

Mit der Hand werden die Brocken dann zerkleinert und durch ein

Gitter in einen Schacht gestoßen. Seit 2006 hat sich daran nichts

geändert:

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Atmo

O-Ton Damals haben wir mit 22.000 Tonnen angefangen. Und heute haben wir geschafft 140.000 Tonnen. Ist immer noch zu wenig für Trepca, aber trotzdem wir haben das viel geschafft. Atmo Autor

Auch eine Art Büro gibt es hier unten, direkt neben der

Grubenbahn, die das Erz zum Hauptschacht transportiert. Der

Raum dient als Besprechungszimmer für die Ingenieure. Als

Manager ist Qela nicht mehr oft hier unten. Die Geschicke der Mine

leitet er jetzt von oben. Und deshalb weiß er, ohne einen Investor

wird sich Trepca kaum weiterentwickeln können. Um einen Investor

zu finden, müsste jedoch zunächst eine politische Lösung gefunden

werden, um die Trennung von Nord und Süd zu überwinden.

O-Ton Süd ohne Nord, auch Nord ohne Süd, das hat keine Zukunft. Bin ich 100 Prozent sicher, dass gleiche Meinung haben alle Experten von Albaner und alle Experten von Serben. Autor

Und deshalb gibt es für Halil Qela nur einen Weg: Nord und Süd,

Serben und Albaner müssen wieder zusammenarbeiten.

O-Ton Trepca war eine und es wird eine. So wie ist jetzt, das gefällt nur Kriminellen und Leute, die sind gegen Trepca, gegen Zukunft von Bürgern von Mitrovica, egal welche Nationalität sind. Autor

Denn "Nord" und "Süd" -

O-Ton

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Diese Begriff dürfte es nicht mehr existieren. Müsste es sagen, mit eine gute Ingenieur, mit eine gute Arbeiter - aber nicht mit eine Nord- und Südmensch. Mit solcher Mentalität kommt keine Investor hier. Atmo Autor

Die erste Schicht endet um 3 Uhr Nachmittags. Mit den anderen

Bergleuten fährt auch Halil jetzt wieder nach oben.

Atmo

Kontakte zwischen serbischen und albanischen Ingenieuren gibt es

selten, aber wenn, dann verstehen sie sich eigentlich ganz gut.

O-Ton Wenn man schafft, mit denen direkt zu sprechen. Die haben keine andere Chance zu denken wie ich, weil wir sind Bürger von diese Stadt hier.

Autor

Vor kurzem zum Beispiel, da kam es zu einem Treffen. Die

kosovarische Polizei hatte einige Lastwagen von Trepca Nord

beschlagnahmt, und die Serben kamen in den Süden, um ihre

albanischen Kollegen um Hilfe zu bitten.

O-Ton Ich war persönlich auch da und hab gesehen, ganz normales Kontakt mit denen, sehr gute Leute. Wenn hätte nicht die Politik Druck gemacht, gibt es Bereitschaft von beide Seiten, was Gutes zu tun.

Autor

Das es irgendwann so kommen wird, davon ist Halil Qela

überzeugt:

O-Ton

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Wenn man die Politik, die Hände wegnimmt von Trepca. Nicht nur von Trepca, auch von manche andere Sachen, dann Trepca wird wieder diese Hauptsäule von Entwicklung. Genauso wie Albaner, Serben, wie auch alle anderen werden stolz sein, dass Trepca ist da. Atmo: Aufzug nach oben

Musik Turbo Folk! Mod. In der Zeit des jugoslawischen Zerfalls eroberte von Belgrad aus eine Musikrichtung Serbien, die Turbo-Folk genannt wurde. Diese Mischung aus traditioneller Volksmusik, aus Schlager, Pop und auch Techno galt bald als musikalischer Ausdruck der Politik von Slobodan Milosevic. Die Sängerin Zeza wurde zur Turbo-Folk-Ikone. Sie heiratete den so genannten "Freischärler" Arkan, der mit seiner Freiwilligen-Truppe ungezählte Kriegsverbrechen beging. Gemischt ethnische Bands fielen mit den Kriegen in allen jugoslawischen Republiken und auch in der Provinz Kosovo auseinander, Mitrovica machte keine Ausnahme. Dabei war gerade diese Stadt berühmt für ihre Musikszene. Internationale Jazz- und Blues- Festivals fanden hier statt, vor allem aber galt Mitrovica als Stadt des Rock. Viele der Rockmusiker waren in ganz Jugoslawien bekannt. Atmo /Musik Traditionen, an die sich anknüpfen lässt. Ein großer Teil der albanischen Musiker ist zwar nach Pristina gegangen. Trotz der vielen Schwierigkeiten lebt die Musikszene im Norden von Mitrovica wieder auf und sie entwickelt sich: Reportage 5 Generation Mitrovica - Musikszene im No rden Atmo Autor

Es ist früher Nachmittag, aber im Jugendzentrum ist die Luft jetzt

schon rauchgeschwängert. Es gibt eine kleine Bibliothek, eine Bar

und eine Bühne für Konzerte. Für diesen Abend ist eine Band aus

Belgrad angekündigt. Ljubisa Bascarevic sitzt in einem Sessel und

ist zufrieden: Der nationalistische Turbofolk sei auch hier wieder auf

dem Rückzug, meint er. Und ein bisschen betrachtet er das auch

als sein Werk. Ljubisa gehört zum Urgestein der lokalen Rockszene

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- mit seinen 40 Jahren ist er nicht mehr selbst aktiv, aber den

jungen Rockbands hier hilft er so gut er kann.

O-Ton 26 Sprecher 1 Wir haben in den 90er Jahren wirklich eine dunkle Zeit erlebt - für alles, was gut und progressiv war. Lange Haare galten plötzlich als völlig inakzeptabel. Sämtliche Werte änderten sich. Selbst die besten Bands konnten nicht mehr arbeiten, die Musiker mussten andere Jobs finden. Dennoch hat die Rockmusik überlebt - entscheidend war die Begeisterung der Menschen, die wirklich dafür gekämpft haben, sie für künftige Generation zu bewahren. Autor

Und dabei guckt Ljubisa zu Filip Radenkovic herüber, Gitarrist der

Punkrockband "Hosenfefer". Auch er ist schon etwas in die Jahre

gekommen, aber mit seinen langen Haaren, Lederkutte und

dunklem 3-Tagebaart nimmt man ihm den Rocker immer noch ab,

ohne dass es peinlich wirkt. Für seine Band schreibt Filip auch die

Texte.

O-Ton 27 Sprecher 2 Es gibt hier viele Themen. Als ich noch Schüler war, gab es zum Beispiel diese große Inflation, das hieß kein Geld. Wir tranken viel, weil wir sonst nichts zu tun hatten - und das kannst du in unseren Songs hören. Nach dem Krieg kamen die internationalen KFOR-Soldaten, und das war auch nicht das, was wir uns erwartet hatten. Das kannst Du in den Songs hören, besonders in dem einem, über diese Stadt: KM - Kosovska Mitrovica. Autor

Filip klappt seinen Laptop auf und spielt das dazugehörige Video

ab: 4 Jungs in einem schummrigen Kellergewölbe, alle mit langen

Haaren, schwarzem T-Shirt und dunkler Sonnenbrille.

Atmo

"Zu viele Diebe ... zu viele Junkies, fremde Bastards, die die Stadt

zerstören ... diese ganze Scheiße in diesem kleinen Ort ... Und

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dann der Refrain: Das ist nicht der Ort, wo ich leben sollte. Nicht die

Luft, die ich atmen will. ... Nimm mich mit an einen Ort, wo ich leben

kann."

O-Ton: We can't live here normal. Autor

Wir können hier nicht normal normal leben, sagt Filip. Aber dann

hält er kurz inne. Weggehen könnte - zumindest er - aber auch

nicht.

O-Ton : I'm connected somehow to this town, i don't know. Autor

Irgendwie gebe es da diese Verbindung zu dieser Stadt, meint er

nachdenklich. Und davon handelt auch das Lied, an dem die

Musiker gerade arbeiten: Alles eigentlich unerträglich zu finden,

aber dennoch nicht weggehen zu können.

Atmo Autor

Hinten, in den Proberäumen, übt eine Band ein neues Lied ein.

Ljubisa schaut oft hier vorbei, spricht mit den Jugendlichen und

versucht, ihnen Auftrittsmöglichkeiten in den Bars der Stadt zu

vermitteln.

O-Ton 28 Sprecher-1 Sie sind sehr gut ausgestattet. Wir dagegen hatten noch in nassen und kalten Kellern geprobt. Andererseits sind sie mit diesen schlimmen Bildern von Gewalt groß geworden - und das ist irgendwie in ihrem Unterbewusstsein. Es gibt hier viele Punk- und Ska-Bands, die recht rebellisch sind gegenüber der politischen Wirklichkeit . Aber es gibt auch viele, die mit der Musik vor der Realität fliehen.

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Autor

Es ist Abend geworden. Die Band ist eingetroffen, ein wenig später

als geplant. - Soundcheck.

Atmo

Fast alle Musiker der Stadt sind da. Das Konzert einer auswärtigen

Band gilt als Pflichttermin. Auch an diesem Abend wird deutlich:

Belgrad ist zwar fünf Autostunden entfernt, doch die serbische

Hauptstadt ist immer noch näher als der Südteil der eigenen Stadt.

O-Ton 29 Sprecher-1 Wir haben keine Bands von Süd-Mitrovica, die hierher kommen und spielen. Die ganze Situation ist Immer noch sehr fragil. Und dasselbe gilt für die Bands von hier, die auch nicht auf der andere Seite spielen. Wir brauchen vielleicht noch einige Zeit, um die Beziehungen wieder aufzubauen. Musik ist ja eigentlich etwas, was Leute verbindet. Musik sollte über der Politik stehen. Autor

Dann geht es los. Der Raum ist voll, die Luft ist zum Schneiden. Atmo: Lied "Get up, stand up. Stand up for your rights ..." Das Lied bleibt die einzige politische Botschaft an diesem Abend.

Ljubisa steht an eine Säule gelehnt, zusammen mit seinen

Freunden, und lässt seinen Blick über das Publikum schweifen.

O-Ton 30 Sprecher-1 Politisch ist wirklich jeder Aspekt des Lebens hier. Und es tut mir sehr leid für die jungen Leute - irgendwie fühle ich mich dafür verantwortlich, dass wir ihnen nicht etwas Anderes überlassen haben als diese Unsicherheit und diese politischen Tumulte. Atmo: Konzert O-Ton 31 Sprecher-1 Ich wäre wirklich froh, wenn einige junge Bands von hier Erfolg hätten, dass sie Alben aufnehmen könnten, die Chance hätten in Europa zu spielen. Dann wäre auch unsere ältere Generation

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zufriedener. Sie sind unsere Zukunft. Wenn sie eine gute Zukunft haben, dann haben auch wir etwas gut gemacht. Musik Zitat-3: "Viele tausend Jahre lang hat der Mensch auf dem jugoslawischen Boden Spuren hinterlassen. Etliche sind verschwunden im Nebel der Zeit, auf Kriegszügen von Heeren und Horden und auf grossen Wanderungen. Eine Menge aber sind erhalten gebleiben, verstreut über ganz Jugoslawien, in Städten, Dörfern und abseits der großen Straßen, in der Weglosigkeit." Musik hoch Das waren Gesichter Europas: Politisches Niemandsland - Leben im Norden des Kosovo. Dirk Auer war der Autor der Reportagen, Babette Michel suchte die Musik aus und führte Regie. Sprecher der Literaturauszüge war Matthias Lühn. Für Ihr Interesse dankt, auch im Namen von Ton und Technik, Gerwald Herter. Wir wünschen Ihnen noch einen schönenTag! Musik