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113 1 Lukas Haselböck, Gérard Grisey. Unhörbares hörbar machen, Freiburg: Rombach 2009. Gérard Grisey: »Unhörbares hörbar machen« Jan Sebastian Nimczik W as wir beim Hören eines Musik- stücks wahrnehmen, ist gewiss keine lineare Funktion der im Notentext festgehaltenen Informationen. Graduelle Unterschiede in Tonhöhen und -dauern, in Instrumentation und Klangfarbe, in Textur und Dichte eines Satzes resultie- ren in über- oder unterproportionalen Veränderungen unserer Wahrnehmung des musikalischen Geschehens. Ebenso ist die Beziehung zwischen Notentext und Klangergebnis keine stetige – vielmehr bringt die Beschaffenheit des mensch- lichen Ohrs und Gehirns bei zunehmen- der Komplexität des Gehörten Sprünge und Diskontinuitäten zwischen den phy- sikalischen Vorgang und seine Perzep- tion. Auf die Spitze getrieben führt dies hin zu einer Schwelle, an der wir viel- schichtige Gebilde nicht mehr in ihren einzelnen Bestandteilen wahrnehmen können, sondern mit einem scheinbar statischen Feld konfrontiert sind. Bekannt ist dieses Phänomen beispielsweise aus den Klangflächenkompositionen György Ligetis oder auch seiner berühmten Ana- lyse der seriellen Kompositionstechnik, deren zunehmende Radikalität zur Nivel- lierung von Intervallphysiognomien und Gestaltcharakteren führen kann. Das Phä- nomen mag der physikalischen Begrenzt- heit der Präzision im Gehör, Grenzen der Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns, aber auch oberflächlichen Gegebenheiten wie momentaner Gemütslage und äußerer Ablenkung geschuldet sein. Ähnliche Diskontinuitäten ergeben sich – spätestens seit Bergson und Stock- hausen wichtiger Bestandteil der musika- lischen Debatte – in der Wahrnehmung von Zeit. Messbare Zeit und Erlebniszeit als unterschiedliche Ebenen und Qualitä- ten der Zeitwahrnehmung rücken ins Zentrum kompositorischer Bestrebun- gen des 20. Jahrhunderts. Der französi- sche Komponist Gérard Grisey (1946- 1998), der in diesem Jahr seinen 65. Ge- burtstag gefeiert hätte, begriff diese Mul- tidimensionalität von Zeit als »Skelett« und »Fleisch« der Zeit. Zudem treten die erwähnten oberflächlichen Störungen als »Haut der Zeit« ins Bild. Zeitmonismus versus Zeitdualismus, Figuration versus Abstraktion, Strukturelle Organisation versus Wucherndes Werden – wie lässt sich die Position der Musik Griseys in den zentralen musikschöpferischen Kon- flikten der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts verorten? In einer faszinierenden Abhandlung stellt der Wiener Musikwissenschaftler Lukas Haselböck 1 die kompositorischen Gedanken Griseys in einen breiten Kon- text der philosophischen und musikali- schen Strömungen jener Zeit. Dabei geht er von einem Verständnis der Postmo- derne aus, das Post-Moderne nicht als Anti-Moderne begreift, sondern als eine Art »Anamnese«, ein Hinterfragen des Selbst der Moderne. Das gilt parallel auch für den Strukturalismus im französi- schen Kulturraum. Die kohärenten Sys- teme des Strukturalismus werden im Poststrukturalismus durch Radikalisie- rung und Durcharbeitung einer Anam- nese unterzogen, die in die zugespitzte Aussage mündet, alles sei Struktur, ohne Zentrum und ohne Grenze. Bezahlt von Ludwig Holtmeier ([email protected]) © Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

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Page 1: Gérard Grisey: »Unhörbares hörbar machen« · Gérard Grisey: »Unhörbares hörbar machen« Jan Sebastian Nimczik 115 2 Peter Niklas Wilson, Unterwegs zu einer »Ökologie der

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1 Lukas Haselböck, Gérard Grisey. Unhörbares hörbar machen, Freiburg: Rombach 2009.

Gérard Grisey: »Unhörbares hörbar machen«Jan Sebastian Nimczik

Was wir beim Hören eines Musik-stücks wahrnehmen, ist gewiss

keine lineare Funktion der im Notentextfestgehaltenen Informationen. GraduelleUnterschiede in Tonhöhen und -dauern,in Instrumentation und Klangfarbe, inTextur und Dichte eines Satzes resultie-ren in über- oder unterproportionalenVeränderungen unserer Wahrnehmungdes musikalischen Geschehens. Ebensoist die Beziehung zwischen Notentext undKlangergebnis keine stetige – vielmehrbringt die Beschaffenheit des mensch-lichen Ohrs und Gehirns bei zunehmen-der Komplexität des Gehörten Sprüngeund Diskontinuitäten zwischen den phy-sikalischen Vorgang und seine Perzep-tion. Auf die Spitze getrieben führt dieshin zu einer Schwelle, an der wir viel-schichtige Gebilde nicht mehr in ihreneinzelnen Bestandteilen wahrnehmenkönnen, sondern mit einem scheinbarstatischen Feld konfrontiert sind. Bekanntist dieses Phänomen beispielsweise ausden Klangflächenkompositionen GyörgyLigetis oder auch seiner berühmten Ana-lyse der seriellen Kompositionstechnik,deren zunehmende Radikalität zur Nivel-lierung von Intervallphysiognomien undGestaltcharakteren führen kann. Das Phä-nomen mag der physikalischen Begrenzt-heit der Präzision im Gehör, Grenzen derVerarbeitungsfähigkeit des Gehirns, aberauch oberflächlichen Gegebenheiten wiemomentaner Gemütslage und äußererAblenkung geschuldet sein.

Ähnliche Diskontinuitäten ergebensich – spätestens seit Bergson und Stock-hausen wichtiger Bestandteil der musika-

lischen Debatte – in der Wahrnehmungvon Zeit. Messbare Zeit und Erlebniszeitals unterschiedliche Ebenen und Qualitä-ten der Zeitwahrnehmung rücken insZentrum kompositorischer Bestrebun-gen des 20. Jahrhunderts. Der französi-sche Komponist Gérard Grisey (1946-1998), der in diesem Jahr seinen 65. Ge-burtstag gefeiert hätte, begriff diese Mul-tidimensionalität von Zeit als »Skelett«und »Fleisch« der Zeit. Zudem treten dieerwähnten oberflächlichen Störungen als»Haut der Zeit« ins Bild. Zeitmonismusversus Zeitdualismus, Figuration versusAbstraktion, Strukturelle Organisationversus Wucherndes Werden – wie lässtsich die Position der Musik Griseys inden zentralen musikschöpferischen Kon-flikten der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts verorten?

In einer faszinierenden Abhandlungstellt der Wiener MusikwissenschaftlerLukas Haselböck1 die kompositorischenGedanken Griseys in einen breiten Kon-text der philosophischen und musikali-schen Strömungen jener Zeit. Dabei gehter von einem Verständnis der Postmo-derne aus, das Post-Moderne nicht alsAnti-Moderne begreift, sondern als eineArt »Anamnese«, ein Hinterfragen desSelbst der Moderne. Das gilt parallel auchfür den Strukturalismus im französi-schen Kulturraum. Die kohärenten Sys-teme des Strukturalismus werden imPoststrukturalismus durch Radikalisie-rung und Durcharbeitung einer Anam-nese unterzogen, die in die zugespitzteAussage mündet, alles sei Struktur, ohneZentrum und ohne Grenze.

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Vor diesem Hintergrund entwickeltHaselböck eine Beschreibung des Kon-flikts, mit dem der Analytiker von GriseysWerk konfrontiert wird. Auf der einenSeite steht das zentrale Anliegen desKomponisten, das sich in der Forderungäußert, »alle Struktur [müsse], so kom-plex sie auch sein mag, bei der Wahr-nehmbarkeit der Aussage haltmachen. . .« Als paradigmatisch für einen an die-sem Ziel ausgerichteten Kompositions-stil kann der Prologue, der erste Teildes abendfüllenden Zyklus Les EspacesAcoustiques, aus dem Jahr 1976 gesehenwerden. Flexible, aber voraushörbareStrukturen zeitigen hier eine Entwick-lung, die der Hörer gleichsam »hörendmitkomponieren« kann. Auf der anderenSeite finden sich in Griseys Œuvre höchstkomplexe, strukturalistische Elemente,beispielsweise im äußerst dichten20-stimmigen Permutationskanon ausModulations (1978) oder der an den Pro-portionen der ungeraden Teiltöne einesPosaunentones orientierten großforma-len Anlage von Les Espaces Acoustiques.Durch unheimliche Verdichtung, aberauch Beschleunigung oder Verlangsa-mung wird die Schwelle der Wahrnehm-barkeit überschritten. Der Hörer erlebtein »Schwindelgefühl reiner Dauer«. DasÜberschreiten der Wahrnehmungsgren-zen führt zum »Gegenpol des Hörbaren:das ›Unerhörte‹. Der Hörer wird mit ei-nem Paradoxon konfrontiert. Er hört Mu-sik, die er – auf Grund ihrer Langsamkeitoder Schnelligkeit – ›nicht hören kann‹.«(181)

In kursorischen Werkbeschreibungen,Hörprotokollen und Analysen einigerAusschnitte zentraler Werke Griseysspitzt Haselböck diese Widersprüche zu.Dabei nimmt er immer wieder Bezugauf Werke der für Griseys Werdegangmaßgeblichen Komponisten: OlivierMessiaen, Karlheinz Stockhausen undGyörgy Ligeti. Gemeinsamkeiten in den

grundlegenden Fragestellungen desKomponierens hinsichtlich Figürlich-keit, Form und Struktur sowie Zeitgestal-tung, aber auch Unterschiede im Findenvon Lösungen werden so deutlich. DieBrüche in der Wahrnehmung einerseitsund die Unschärfen durch Überkomple-xität andererseits nehmen eine Selbstbe-fragung strukturalistischer Tendenzengleichsam von zwei verschiedenen Seitenvor. Eine Auflösung des entstehenden Pa-radoxons verlangt nach neuen Mittelnder Analyse.

In einem erhellenden Rückgriff auf dieDenkansätze von Gilles Deleuze undJean-François Lyotard bietet HaselböckMöglichkeiten zum Verständnis der»Aporie zwischen Hör- und Denkbarem«an. Immer wieder vorsichtig darauf be-dacht, philosophische Denkweisen nichtvorschnell mit musikalischen Gestal-tungsweisen gleichzusetzen, sieht erdoch Übereinstimmungen in der Suchenach einer Kunst, »die den Hörer vomHörbaren ins Unhörbare (oder umge-kehrt) geleite und das Unhörbare hörbarmache«. (208) Es ist die Suche nach einer»Präsenz des Nicht-Darstellbaren« (Lyo-tard), einer Zwischenwelt zwischen Sub-jekt und Objekt, die den »Taumel desSubjekts« riskiert und dadurch eine Er-fahrung der Anwesenheit von Abwesen-dem im Hier und Jetzt ermöglicht, greif-bar im französischen Begriff »sensation«(Deleuze).

Im Wandel zwischen diesen Welten, soHaselböck, stellt die Musik Griseys »einmehrdimensionales Gebilde dar, dessenPerspektivenreichtum sich aus unter-schiedlichen Blick- und Hörwinkeln voneiner Sprachanalogie bis hin zu einem›Schwindelgefühl reiner Dauer‹ erschlie-ßen kann.« (239) Haselböcks spannendeErörterung von Gérard Griseys Schaffenist ein Glücksfall für die deutschspra-chige Musikwissenschaft, ist sie doch –weit über die maßgeblichen, aber auf ein-

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2 Peter Niklas Wilson, Unterwegs zu einer »Ökologie der Klänge«: Gérard Griseys »Partiels« und die Ästhetik derGroupe de l’Itenéraire, in: Melos 2, 1988, S. 33-55.

3 Pietro Cavallotti, Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel vonHelmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, Schliengen 2006.

zelne Werkbetrachtungen beschränktenBeiträge von Peter Niklas Wilson2 undPietro Cavallotti 3 hinausreichend – dieerste umfassende Untersuchung, diesich fundiert mit diesem Komponistenauseinandersetzt.

Der Leser sollte keine Einführung indie Kompositionstechniken der Spektra-listen (wie z. B. die Ringmodulation) er-warten. Griseys Werke einfach mit demLabel »musique spectrale« abzustem-peln, machte bei der Vielfältigkeit seinerGestaltungsweisen jedoch auch genausowenig Sinn wie Adornos Aussage, etwasklinge »wie Zwölftonmusik«. Vielmehrbietet der Autor eine vielschichtige, sehrtiefgehend informierte und ungeheuermaterialreiche Diskussion der Zusam-menhänge des philosophischen Diskur-ses sowie der musikalischen Gestal-tungsweisen Griseys und seiner Zeitge-nossen. Haselböck weist den Weg zu ei-ner Analysetechnik solcher Klang- undSchwellenwerke, die eng auf die mensch-liche Wahrnehmung ausgerichtet ist.Mancherorts wünscht man sich ein nochkonsequenteres Beschreiten dieses We-ges, das konkret an den kompositori-schen Techniken und ihrer Wirkung ori-entiert ist. Am Ende seines Buches bieteter eine solche, auf einem äußerst sorg-fältigen Quellenstudium der Skizzen inder Paul Sacher Siftung beruhende, De-tailanalyse des Gesangszyklus Quatrechants pour franchir le seuil (1996-1998) –

bezeichnenderweise »Vier Gesänge zumÜberschreiten der Schwelle« getauft. Da-bei wird noch einmal exemplarisch deut-lich, wie Grisey in einer Art Anamnese-verfahren der Moderne durch das Wan-deln zwischen den Dimensionen, durch»die Simultaneität progressiver Techni-ken der recherche musicale und vonRückblenden zur Tradition der musika-lischen Retorik und Semantik ein unauf-lösliches Ineinander radikaler Alteritätdes Klanglichen und unmittelbarer Fass-lichkeit der Aussage« erreicht. Er schafftso »Strukturen, die nicht an einen ein-zigen Typ der Wahrnehmung gebundensind«. ( 337)

Dass eine solche Analyse angesichtsder komplexen Skizzen und Materialiendes Komponisten teilweise in einer etwasunübersichtlichen Zahlenschlacht resul-tiert, schmälert die Leistung und den he-rausragenden Verdienst des Autors kei-neswegs. Positiv hervorzuheben ist eben-falls der umfangreiche Anhang mit aus-führlichem Verzeichnis auch unveröf-fentlichter Werke, Aufnahmen und schierunerschöpflichen Literaturangaben. Ha-selböck ebnet mit seinem Buch hoffent-lich den Weg zu einem tiefergehenden In-teresse der deutschsprachigen Musikwis-senschaft an Gérard Griseys Schaffen.Sein Buch gerät dabei auf jeden Fall zurPflichtlektüre all derer, die sich mit demspannenden Werk des französischenKomponisten beschäftigen möchten.

Bezahlt von Ludwig Holtmeier ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart