fünf gründe (thesen) für die auseinandersetzung mit der ... · fünf gründe (thesen) für die...

23
Fünf Gründe (Thesen) für die Auseinandersetzung mit der Methodologie der Geographie Der Mensch denkt über das Was, Wie und Warum seines Handelns nach. In der Wissenschaft: Reflexion derselben bzw. ihrer Methodologie auf einer Meta-Ebene. Geographie hat daran besonderen Bedarf, da sie keine reine Natur-, Geistes- oder Gesellschaftswissenschaft ist. = Vielfalt methodologischer Konzepte Es gibt verschiedene Auffassungen darüber, was Geographie ist bzw. sein sollte („Schulen“). Ziel der Einführung: Überblick geben; anregen, über die Alternativen wissenschaftlichen Arbeitens nachzudenken; Ermutigung zu kritischer Reflexion des Gehörten und Gelesenen. Grundprinzip von Wissenschaft: bedingungslose Kritik, prinzipieller Zweifel an jeder Aussage bzw. Behauptung.

Upload: vanphuc

Post on 14-Aug-2019

227 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Fünf Gründe (Thesen) für die Auseinandersetzung mit der Methodologie der Geographie

• Der Mensch denkt über das Was, Wie und Warum seines Handelns nach. In der Wissenschaft: Reflexion derselben bzw. ihrer Methodologie auf einer Meta-Ebene.

• Geographie hat daran besonderen Bedarf, da sie keine reine Natur-, Geistes- oder Gesellschaftswissenschaft ist.= Vielfalt methodologischer Konzepte

• Es gibt verschiedene Auffassungen darüber, was Geographie ist bzw. sein sollte („Schulen“).

• Ziel der Einführung: Überblick geben; anregen, über die Alternativen wissenschaftlichen Arbeitens nachzudenken; Ermutigung zu kritischer Reflexion des Gehörten und Gelesenen.

• Grundprinzip von Wissenschaft: bedingungslose Kritik, prinzipieller Zweifel an jeder Aussage bzw. Behauptung.

1. Vormoderne Wissenschaftskonzepte

• Strukturloser Empirismus(Beschreibung und Klassifizierung der Realität)

• Naive Hermeneutik(Individuelle Wesensschau)

• Reine Induktion(„naiver Positivismus“)

Zu a): Strukturloser Empirismus

• Aufgabe der Wissenschaft ist das Sammeln und Beschreiben von Beobachtungen und Fakten. Sie werden geordnet, klassifiziert, generalisiert und (in Schrifttum) dargestellt.Ziel: Vermehrung des Wissens über die Welt.

• Ansatz ist seit dem 19. Jahrhundert überholt.

• Kritik:• 1. Unzureichende erkenntnistheoretische Grundlage. Fakten

sprechen nicht „für sich selbst“, denn die Wahrnehmung der Realität setzt Sprache und besonders Begriffe voraus.

• 2. Wissenschaft ist mehr als Beschreibung der Welt. Sie muss z.B. erklären können oder technisches Wissen bieten, also zur Lösung von Problemen beitragen.

Zu b): Naive Hermeneutik

• Zusätzlich zu a) Erkunden, Erfassen und Darstellen des „Wesens“ von Gegenständen.

• Orte, Länder etc. sind einzig, sind individuelle Wesenheiten, die individuelle Charakterzüge aufweisen. Es gilt, diese zu erfassen.

• Untersuchung der Individualität von Räumen Hauptarbeit.Vergleich gestattet. Typenbildung möglich (nach Ähnlichkeit sortiert).

• = klassische Begründung der Länderkunde• Kritik:• 1. Idee der Einzigartigkeit von Räumen

- aus logischer Sicht problematisch- die Ergebnisse sind praktisch unfruchtbar

• 2. Unausgereifte Methodologie- unkritisch, nichtreflexiv, subjektiv, - benötigt Sinngehalt bei ihren Gegenständen- Begriffs- und Gegenstandsebene nicht exakt getrennt

Einschub: Typen wissenschaftlicher Begriffsdefinition

• 1. Realdefinition 2. Nominaldefinition 3. Legaldefinition

• Realdefinition:Bestimmung des „Wesens“ des zu definierenden Gegenstands.Philosophiegeschichtlich bedeutsam, in moderner Wissenschaft vermieden.

• Nominaldefinition:Bestimmung der sprachlichen Konvention über die Zuordnung des Bedeutungsgehalts zum Sprachsymbol. = Setzung. In der Wissenschaft das übliche Definitionsverständnis.

• Legaldefinition:Bestimmung der Zuordnung des Bedeutungsgehalts zu einem Sprachsymbol durch eine rechtliche Festlegung, z.B. Gesetz. Unterfall der Nominaldefinition.

Zu c): Reine Induktion

• Ziel der Wissenschaft: Beschreibung und Erklärung von Sachverhalten unter Zuhilfenahme von Gesetzen und Theorien.Grundlage: Beobachtung/Erfahrung, darauf aufbauend über Verallgemeinerungen zu Gesetzmäßigkeiten.

• Damit sollen „die Fakten selbst“ sprechen.

• Kritik:• Beobachtungen sind immer endlich, sie können nie alle

möglichen Fälle umfassen.• Von bestätigenden Beobachtungen und Experimenten kann

man nicht ohne weiteres auf die Gültigkeit von Gesetzen und Theorien schließen.

• Theorielose (= von theoretischen Voraussetzungen unabhängige) Beobachtungen sind unmöglich.

Zusammenfassung/ Bedeutung für Wissenschaft

• Unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit sind durch (umgangssprachliche) Begriffe immer schon vorstrukturiert.

• Notwendigkeit möglichst präziser Begriffsdefinitionen, die über den Alltagsgebrauch hinausgehen, teils durch Einführung neuer Begriffe.

• Jede Definition greift letztlich aber auf die vorhandene Sprache, die Umgangssprache zurück, d.h. auf die alltagsweltliche Vorstrukturierung der Wirklichkeit durch unsere Sprache (= zentrale Thematik der Sprachphilosophie).

Themen der heutigen Sitzung

• Positivismus/ Logischer Empirismus

• Hermeneutik/ Qualitatives Paradigma

• Kritischer Rationalismus

• Kritische Theorie

• Humanökologisches Paradigma

2. Positivismus/ Logischer Empirismus

• Aufgabe der Wissenschaft: Erfassung objektiv gegebener Tatsachen unter Ausschaltung aller subjektiven Einflüsse.

• Methodik ist gekennzeichnet durch fünf Merkmale:

• 1. Prinzip der Intersubjektivität und der Wertfreiheit• 2. Empirische Sachverhalte werden Gesetzen und Theorien

untergeordnet.• 3. Gegenseitige Abhängigkeit von Theorie und Empirie.• 4. Wiederholbarkeit der empirischen Befunde und Prüfungen.• 5. Fähigkeit zu Prognose

Kritische Argumente gegen den Positivismus

• „Wertfreiheit“ ist selbst eine wertende Forderung. Wissenschaft ist nie voraussetzungslos.

• Orientierung an Naturwissenschaften. In der Geistes- bzw. Kulturwissenschaft ist „Verstehen“ wichtiger als „Erklären“ (Frage nach dem Sinngehalt).

• Der Wissenschaftler ist nie unabhängig von seinem Gegenstand, seiner Theorie, seinen empirischen Erfahrungen.

• Prinzip der Wiederholbarkeit in den Humanwissenschaften nicht durchsetzbar.

• Prognosen sind oft nicht oder nur eingeschränkt möglich, auch in den Naturwissenschaften.

• Aber: Vieles gilt bis heute: Typologie wissenschaftlicher Begriffe, Aussagen; Modell eines Forschungsprozesses...

Grundmodell der empirisch-analytischen Forschung

• Theorie IDarstellung vom Stand des Wissens, der Fragestellung und den forschungsleitenden Hypothesen

• EmpirieVorstellung der Untersuchung und ihrer Ergebnisse

• Theorie IISchlußfolgerungen aus der Empirie, Überprüfung der Gültigkeit der Thesen von I, evtl. Modifikationen der Bezugstheorien

• = idealtypischer Aufbau von wissenschaftlichen Arbeiten(Referaten, Diplomarbeiten, Dissertationen usw.)

Modell eines empirisch-analytischen Forschungsprozesses

3. Hermeneutik/ Qualitatives Paradigma

• Hermeneutik: Kunst der Auslegung. Von Schleiermacher und Dilthey im 19. Jahrhundert zur wissenschaftlichen Methode entwickelt.

• Drei Typen von wissenschaftlicher Methodologie:– philologisch-historisch: Textinterpretation, Textverstehen– sozialwissenschaftlich: Handlungsverstehen– philosophisch: Reflexivität des menschlichen Bewusstseins

• Unterschied zum positivistischen „Beschreiben und Erklären“:

Hermeneutik will Sinngehalte und Sinnzusammenhänge erschließen und interpretieren, d.h. rekonstruieren.

Prinzipien der wissenschaftlichen Hermeneutik

• A) Methodische Kontrolle

- verlangt ständige Reflexion über das Vorgehen- bedingungslose Kritik der Annahmen und Voraussetzungen

• B) Sachwissen

1. Über den Kontext der Handlungen2. Theoriebestand für strukturelle Deutung

Kritik an der Hermeneutik

• Subjektivität des Sinnverstehens• Mangelnde Repräsentativität• Entstehungs- und Verwendungszusammenhang der

wissenschaftlichen Fragestellung bleibt unberücksichtigt• Führt zu Bildung von Spezialforschung: Mikro-Sozialgeographie

und historische Kulturgeographie• Für die handlungstheoretische Sozialgeographie: Gefahr des

Ausblendens von Handlungshintergründen oder Restriktionen.

4. Kritischer Rationalismus

• Entwickelt von Karl Popper (1902-1994) Anfang der 30er Jahre in der Auseinandersetzung mit Positivismus, Hermeneutik und Marxismus.

• Sechs grundlegende Thesen:• 1. In der Wissenschaft geht es immer um Vermutungen,

Hypothesen, nie um Wahrheiten.• 2. Grundprinzip jeder Wissenschaft ist Kritik.• 3. Entscheidendes Prüfkriterium ist die empirische Falsifikation.• 4. Die Ablösung einer Hypothese oder Theorie durch eine

bessere erfolgt durch rationale Entscheidungen.• 5. Alle Wissenschaften basieren auf derselben Logik des

Erkenntnisgewinns.• 6. Es gilt das Prinzip der methodischen Wertfreiheit.

Bedeutung des Kritischen Rationalismusfür die Geographie

• Er bildet den Common Sense für weite Teile der heutigen Natur-uns Gesellschaftswissenschaft. Mehrheitlich von Physiogeographen vertreten, hat aber auch in der Humangeographie viele Anhänger.

• These der epistemologischen (= erkenntnistheoretischen) Homogenität überwindet die Trennung von Physio- und Humangeographie bzw, relativiert diese.

• Unterscheidung in nomologische und historische Wissenschaft ist bedeutsam, besonders für die Regionale Geographie.Die benötigten Gesetze sind aus anderen Wissenschaften, primäres Interesse gilt den individuellen historischen Randbedingungen.

Kritik am Kritischen Rationalismus

• Tendenziell gleiche Gegenargumente wie beim Positivismus

• Betonung der logischen Struktur der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung klammert die gesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhänge systematisch aus.

• Analyse nur vom Begründungszusammenhang, nicht aber Entstehungs- und Verwendungszusammenhang von Wiss.

• Die Ablösung einer Theorie durch eine andere erfolgt nicht streng rational, sondern ist eher ein Wechsel der Glaubensüberzeugungen von Wissenschaftlern. Annahme von Rationalität ist idealistisch.

5. Kritische Theorie

• Ursprung im Marxismus, heute allerdings eher große Entfernung zum klassischen Marxismus.

• Dialektik grundlegende Methode der Erkenntnisgewinnung.= Argumentieren durch Gegenüberstellen sich

widersprechender Thesen

• deutsche Vertreter: „Frankfurter Schule“:Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas)

• Prinzip der Einheit von Gegenstand und Methode

Einwände gegen die Kritische Theorie

• Marxistisches Wahrheitspostulat ist unzulässige Wertung. Ohne Kritikmöglichkeit keine Wissenschaft, sondern Ideologie.

• Geschichte kennt keine historischen Notwendigkeiten. Vorraussage der klassenlosen Gesellschaft ist Prognose, nicht kausal begründet. Eher Glaubenslehre als Wissenschaft.

Typologie Wissenschaften

6. Humanökologisches Paradigma

• Neue evolutionäre Sicht. Mensch ist Teil der Natur, Natur wesentliche Produktivkraft der Ökonomie (Natur - Kultur kein Gegensatz mehr). Infragestellen des Fortschritt-Ideals.

• „Nachhaltigkeit“ reguliert das Zusammenwirken zwischen Natur, Gesellschaft und Ökonomie. (Sustainability)

• = dreifaches Prinzip:• 1. Physisches Prinzip (Ertragsnachhaltigkeit)• 2. Ethisches Prinzip (moralphilosophische Begründung)• 3. Integratives Lebensprinzip (für Natur, Gesellschaft, Ökonomie)• Wissenschaft: nicht neutral und wertfrei; Einheit von Gegenstand

und Methode; Trennung zwischen reiner und angewandter Wissenschaft hinfällig.

Wissenschaftliche Innovationsschübe in der Geographie

• Die quantitativ-theoretische Revolution (ca. 1965-1975)• Die verhaltenswissenschaftliche Orientierung in der

Sozialgeographie (ca. 1968-1978)• Die „Relevanz-Revolution“ mit der Forderung nach

gesellschaftlicher Relevanz der Geographie (ca. 1969-1980)• Die „hermeneutisch-qualitative Wende“ der Kultur- und

Sozialgeographie (ca. 1980-1990)• Die humanökologische Revolution (1990er Jahre)