führen lernen || angst

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22 Angst Wenn es schon bei einer (nur) gefühlten Bedrohung den Wenigsten möglich ist, die „Chan- cen der Krise“ wahrzunehmen und zu nutzen, wie muss es dann erst in einer Situation sein, die echte Bedrohungen enthält? Um die Herausforderungen solcher Krisen zu beste- hen, braucht es Wachsamkeit, verantwortungsvolle Risikobereitschaſt, Kreativität, Urteils- vermögen, Tatkraſt und Entschlossenheit. Ob diese Eigenschaſten zum Tragen kommen können oder nicht, hängt von einem Faktor ab: der Angst. Dabei geht es nicht um die Fra- ge, ob ich Angst empfinde oder nicht, sondern wie ich mit meiner Angst umgehe. Wirklich entscheidend ist, ob ich Angst habe, oder „ob die Angst mich hat“. Zunächst: Angst ist überlebensnotwendig. Ohne Angst würden wir mit größter Wahr- scheinlichkeit unsere früheste Kindheit nicht überleben. Das Kleinkind, dass es scha, aus dem Fenster seines Mittagsschlafzimmers aufs Dach zu klettern und sich im dritten Stock auf die Dachrinne setzt, hat keine Angst. Es weiß nichts von der Welt und ihren Gefahren, wie sollte es auch. Wenn ich am Berg auf einer ausgesetzten Route im Vorstieg klettere, dann habe ich immer Angst, mehr oder weniger. Wenn ich viel Angst spüre, dann ist das ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass ich das Gefühl habe, dieser Route jetzt nicht gewachsen zu sein. Dann ist es völlig egal, ob im Kletterführer diese Route als leicht oder schwer beschrieben ist. Wenn ich mich jetzt meiner Angst überlasse, geht nichts mehr. Dadurch wächst die Gefahr – ganz real –, und das steigert wiederum meine Angst. Was tun? Ad 1: Ich muss mich beruhigen. Es gibt viel weniger Zwänge als wir üblicherweise be- haupten, aber dies ist ganz sicher einer. Ad 2: Jetzt kann ich meine Angst befragen: Worauf willst Du mich hinweisen? Auf eine Erinnerung an ein Ereignis? Darauf, dass ich Höhenangst habe? Oder zum Beispiel darauf, dass hier irgendetwas nicht stimmt, das mir noch nicht bewusst ist – dass zum Beispiel ein Haken nicht richtig sitzt? Dass ich dem Berg, dem Wetter, meiner Form nicht traue? Was immer es ist: In irgendeiner Form wird es wichtig sein. Es zu übergehen, indem ich versuche, meine Angst zu verdrängen, ist keine gute Strategie. 185 P. Gräser, Führen lernen, DOI 10.1007/978-3-8349-7135-7_22, © Springer Gabler | Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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Page 1: Führen lernen || Angst

22Angst

Wenn es schon bei einer (nur) gefühlten Bedrohung denWenigstenmöglich ist, die „Chan-cen der Krise“ wahrzunehmen und zu nutzen, wie muss es dann erst in einer Situationsein, die echte Bedrohungen enthält? Um die Herausforderungen solcher Krisen zu beste-hen, braucht es Wachsamkeit, verantwortungsvolle Risikobereitschaft, Kreativität, Urteils-vermögen, Tatkraft und Entschlossenheit. Ob diese Eigenschaften zum Tragen kommenkönnen oder nicht, hängt von einem Faktor ab: der Angst. Dabei geht es nicht um die Fra-ge, ob ich Angst empfinde oder nicht, sondernwie ich mit meiner Angst umgehe. Wirklichentscheidend ist, ob ich Angst habe, oder „ob die Angst mich hat“.

Zunächst: Angst ist überlebensnotwendig. Ohne Angst würden wir mit größter Wahr-scheinlichkeit unsere früheste Kindheit nicht überleben. Das Kleinkind, dass es schafft, ausdem Fenster seines Mittagsschlafzimmers aufs Dach zu klettern und sich im dritten Stockauf die Dachrinne setzt, hat keine Angst. Es weiß nichts von der Welt und ihren Gefahren,wie sollte es auch.

Wenn ich am Berg auf einer ausgesetzten Route im Vorstieg klettere, dann habe ichimmer Angst, mehr oder weniger. Wenn ich viel Angst spüre, dann ist das ein ziemlichsicheres Zeichen dafür, dass ich dasGefühl habe, dieser Route jetzt nicht gewachsen zu sein.Dann ist es völlig egal, ob im Kletterführer diese Route als leicht oder schwer beschriebenist. Wenn ich mich jetzt meiner Angst überlasse, geht nichts mehr. Dadurch wächst dieGefahr – ganz real –, und das steigert wiederum meine Angst. Was tun?

Ad 1: Ich muss mich beruhigen. Es gibt viel weniger Zwänge als wir üblicherweise be-haupten, aber dies ist ganz sicher einer.

Ad 2: Jetzt kann ich meine Angst befragen: Worauf willst Du mich hinweisen? Auf eineErinnerung an ein Ereignis? Darauf, dass ich Höhenangst habe? Oder zum Beispiel darauf,dass hier irgendetwas nicht stimmt, das mir noch nicht bewusst ist – dass zum Beispielein Haken nicht richtig sitzt? Dass ich dem Berg, dem Wetter, meiner Form nicht traue?Was immer es ist: In irgendeiner Form wird es wichtig sein. Es zu übergehen, indem ichversuche, meine Angst zu verdrängen, ist keine gute Strategie.

185P. Gräser, Führen lernen, DOI 10.1007/978-3-8349-7135-7_22,© Springer Gabler | Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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186 22 Angst

Erst wenn ich so weit gekommen bin, dass ichmich vonmeiner eigenen Angst innerlichdistanzieren kann, um sie als Informationsressource zu erschließen, kann ich eine bevor-stehende Krise vermeiden, entschärfen oder bestehen: nutzen – je nachdem, was möglichist. Dann habe ich die Angst – und nicht sie mich.Wenn ich sie jedoch verleugne, kann siemir nicht geben, was ich mit ziemlicher Sicherheit brauche: eine entscheidende Informa-tion. „Nein, der verdammte Haken sitzt nicht. Ich weiß es, ich habe es gehört, als ich ihneingeschlagen habe. Wenn ich an dieser Schlüsselstelle abrutsche, knalle ich direkt auf dieFelszacken. Ich setze noch einen Haken. Das Muskelzittern hört auf. Jetzt kann ich weitersteigen.“

Wenn ich meine Angst in Situationen dieser Art nicht spüren darf, weil mein Selbstbildes mir verbietet, würde ich meine Handlungs- und dadurch meine Überlebensfähigkeitverlieren.

Es gibt verschiedene mögliche Varianten dieser Geschichte. Zum Beispiel, dass ich kei-nen Haken mehr habe, nicht mehr abklettern kann, um den letzten Haken neu einzu-schlagen, mir auch meine Kreativität nichts nützt, weil ich kein Material habe, um einezusätzliche Sicherung herzustellen – kurz: mir nur eineMöglichkeit bleibt: durchzusteigenim vollen Bewusstsein der Gefahr und der Hoffnung, dass es gut gehen wird.

Dann – so geht es zumindest mir – bekomme ich erst recht Angst. Die Situation istwirklich stark suboptimal. Aber solange ich die Angst habe und nicht umgekehrt, schärftsie meine Sinne, mein Gefühl für meinen Körper und den Stein, das Adrenalin lässt michSchmerzen nicht spüren und sorgt für die Freigabe von zusätzlichen Energiereserven. Kurzund gut: das richtige Maß von Angst und Selbstbeherrschung hilft mir, auch diese Heraus-forderung erfolgreich zu bestehen.

Das ist dies genau das, was wir Mut nennen: Mit der Angst in uns so umzugehen, dasssie zur Ressource wird und nicht zu einer überwältigenden Kraft, die uns paralysiert.

Unsere Angst sagt uns nicht nur etwas über die Situation und die äußeren Bedingungen,denen wir ausgesetzt sind. Sie sagt uns auch sehr viel über uns selbst. Sie zeigt uns, wo wirauf demWeg unserer Entwicklung stehen, und wohin wir auf diesemWeg noch alles gehenkönnen. Sie öffnet nicht nur unseren inneren Horizont, sondern sie ist auch ein Kompassauf unserer Lebenslandkarte.