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Dr. Povilas Reklaitis und sein Litauen-Archiv Peter Wörster Die Lebensstationen Povilas Reklaitis wurde am 20. Mai 1922 in Aleksotas, damals noch ein Vorort von Kaunas, also auf dem linken Ufer der Memel, des Nemunas oder Njemens, geboren. 1 Gelegentlich fügte er nicht ohne Amüsement hinzu, dass sein Geburtsort nach der dritten Teilung Po- lens für rund zehn Jahre zum Kgr. Preußen gehört habe. 1930 zog die Familie von Aleksotas ins Zentrum von Kaunas. Sein Vater war Viktoras Reklaitis, Sohn eines Landrats aus Mariampolė, selbst In- genieur und kaiserlich-russischer Offizier, in den dreißiger Jahren Direktor des Litauisch-Baltischen Lloyd. 2 Seine Mutter Betty, geb. Wallner, war Tochter eines Kantors und Lehrers aus lutherischer litauendeutscher Familie, die, von den Salzburgern abstammend, nach Ostpreußen gekommen und später nach Litauen weitergewan- dert war. Sein Elternhaus könnte man also zurecht als eine litauisch- deutsche Familie bezeichnen, und doch spielte das Deutsche zu- nächst eine eher untergeordnete Rolle, fast keine in der Entwicklung der Identität der Kinder aus dieser Familie. Die Bedeutung des deut- schen Erbes bei Povilas Reklaitis, sein Verhältnis zu Deutschland und zu den Deutschen sollten an anderer Stelle ausführlicher be- leuchtet werden, ließe sich daraus doch viel allgemeine Erkenntnis über die Lebenswirklichkeit des 20. Jahrhunderts gewinnen. Kaum etwas war da selbstverständlich, kaum etwas konnte sich allmählich und ruhig entwickeln. Die politischen Umbrüche, das unerbittliche Alle Abbildungen aus der Dokumente Sammlung des Herder-Instituts Marburg/Lahn (abgekürzt: DSHI). 1 Vgl. zu Povilas Reklaitis: Lietuvių enciklopedija, Bd. 25 (Boston 1962), S. 98 f.; Enciclopedia Lituanica, Bd. 4 (Boston 1975), S. 465 (beide Enzyklopädien zeigen das gleiche Porträtphoto); Nachhruf von OLGRED AULE und JONAS NORKAITIS in: Mitteilungen aus baltischem Leben, 45. Jg. (1999), Nr. 4, S. 12 f.; VIDMANTAS JANKAUSKAS: Povilas Reklaitis ir jo darbai [P.R. und sein Werk]. In: Povilas Reklaitis, Prarastosios Lietuvos pėdsakų beieškant. Straipsniai iš Lietuvos dailės ir kultūros istorijos, rašyti 1954-1990 m. Vokietijoje. Vilnius 1999, S. 5-11; an dieser Stelle (S. 482-490) befindet sich auch eine Liste der Veröffentlichungen von Reklaitis aus den Jahren 1954 bis 1992. 211 2 Vgl. zu Viktoras Reklaitis: Lietuvių enciklopedija, Bd. 25 (Boston 1962), S. 99.

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Dr. Povilas Reklaitis und sein Litauen-Archiv

Peter Wörster Die Lebensstationen Povilas Reklaitis wurde am 20. Mai 1922 in Aleksotas, damals noch ein Vorort von Kaunas, also auf dem linken Ufer der Memel, des Nemunas oder Njemens, geboren.1 Gelegentlich fügte er nicht ohne Amüsement hinzu, dass sein Geburtsort nach der dritten Teilung Po-lens für rund zehn Jahre zum Kgr. Preußen gehört habe. 1930 zog die Familie von Aleksotas ins Zentrum von Kaunas. Sein Vater war Viktoras Reklaitis, Sohn eines Landrats aus Mariampolė, selbst In-genieur und kaiserlich-russischer Offizier, in den dreißiger Jahren Direktor des Litauisch-Baltischen Lloyd.2 Seine Mutter Betty, geb. Wallner, war Tochter eines Kantors und Lehrers aus lutherischer litauendeutscher Familie, die, von den Salzburgern abstammend, nach Ostpreußen gekommen und später nach Litauen weitergewan-dert war. Sein Elternhaus könnte man also zurecht als eine litauisch-deutsche Familie bezeichnen, und doch spielte das Deutsche zu-nächst eine eher untergeordnete Rolle, fast keine in der Entwicklung der Identität der Kinder aus dieser Familie. Die Bedeutung des deut-schen Erbes bei Povilas Reklaitis, sein Verhältnis zu Deutschland und zu den Deutschen sollten an anderer Stelle ausführlicher be-leuchtet werden, ließe sich daraus doch viel allgemeine Erkenntnis über die Lebenswirklichkeit des 20. Jahrhunderts gewinnen. Kaum etwas war da selbstverständlich, kaum etwas konnte sich allmählich und ruhig entwickeln. Die politischen Umbrüche, das unerbittliche Alle Abbildungen aus der Dokumente Sammlung des Herder-Instituts Marburg/Lahn (abgekürzt: DSHI). 1 Vgl. zu Povilas Reklaitis: Lietuvių enciklopedija, Bd. 25 (Boston 1962), S. 98 f.; Enciclopedia Lituanica, Bd. 4 (Boston 1975), S. 465 (beide Enzyklopädien zeigen das gleiche Porträtphoto); Nachhruf von OLGRED AULE und JONAS NORKAITIS in: Mitteilungen aus baltischem Leben, 45. Jg. (1999), Nr. 4, S. 12 f.; VIDMANTAS JANKAUSKAS: Povilas Reklaitis ir jo darbai [P.R. und sein Werk]. In: Povilas Reklaitis, Prarastosios Lietuvos pėdsakų beieškant. Straipsniai iš Lietuvos dailės ir kultūros istorijos, rašyti 1954-1990 m. Vokietijoje. Vilnius 1999, S. 5-11; an dieser Stelle (S. 482-490) befindet sich auch eine Liste der Veröffentlichungen von Reklaitis aus den Jahren 1954 bis 1992.

2112 Vgl. zu Viktoras Reklaitis: Lietuvių enciklopedija, Bd. 25 (Boston 1962), S. 99.

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Porträt von Dr. Povilas Reklaitis (Mitte 1990er Jahre)

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Schicksal des 20. Jahrhunderts zwangen immer wieder dazu, neu über sich selbst nachzudenken und über „Zugehörigkeit“ bewusst zu entscheiden. Diese Problematik dauerte für Povilas Reklaitis bis in die letzten Lebensjahre hinein, da er die Wiedererlangung der Selb-ständigkeit seines Heimatlandes erleben und wieder viele Kontakte dorthin knüpfen konnte. Das bedeutete Erfüllung all seiner Hoffnun-gen in über vierzigjähriger Arbeit für Litauen. Und doch verlief die-ser Prozess für ihn nicht ohne neuerliche tiefe Enttäuschungen, die ihn zu der letztwilligen Verfügung veranlassten, dass „Paul“, die deutsche Form seines Vornamens, auf dem Grabstein stehen solle. Wie es gerade für Litauen in jener Zeit charakteristisch war, wuchs Reklaitis mit Polnisch (dies in der Kindheit vor allem), dann mit Li-tauisch, mit Russisch und mit Deutsch auf, trotz der deutschen Mut-ter am wenigsten mit Deutsch. Zu diesen Sprachen „von Hause aus“ kamen dann in der Schule auch noch Latein, Französisch und Eng-lisch hinzu – die klassischen Bildungssprachen. In Kaunas ging er zur Schule, wo er auch das Abitur ablegte. In seiner Vaterstadt stu-dierte er Philosophie, Kunstgeschichte und Bibliothekswissenschaft. Nach Eingliederung des Wilna-Gebietes in die Republik Litauen setzte er seine Studien an der lituanisierten Universität Wilna fort. Reklaitis und seine Familie erlebten 1940 den Einmarsch der Roten Armee und die sowjetische Annexion Litauens; vor allem erlebten sie das Dreivierteljahr stalinistischen Terrors vom Sommer 1940 bis Frühjahr 1941. Die völlige Aussichtslosigkeit, dass sich etwas zum Besseren wenden könne und das instinktive Gefühl, selbst in hohem Maße gefährdet zu sein, veranlasste die Familie, gestützt auf die ein-deutig deutsche Herkunft der Mutter, an der Umsiedlung der Litau-endeutschen im Frühjahr 1941 teilzunehmen, eine Entscheidung, die ohne die unmittelbar vorangehenden Monate sicher nie in Betracht gekommen wäre.

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Während des Zweiten Weltkriegs studierte Reklaitis kurz in Posen (unter anderem bei Prof. Dagobert Frei), bis ihn eine schwere Er-krankung zu längerer Unterbrechung zwang, die ihn aber auch vor dem Kriegseinsatz bewahrte, während sein Bruder zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurde und bei der sowjetischen Belagerung

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Pillaus im April 1945 umgekommen ist. Tief bewegt wusste Povilas Reklaitis vom Inhalt der letzten Briefe seines Bruders aus dem Sam-land zu erzählen, die die Familie noch erreicht hatten. Nach dem Krieg studierte Povilas Reklaitis in Bamberg und Tübingen Kunstge-schichte, Philosophie und Bibliothekswissenschaft. In Tübingen wurde er 1950 zum Dr. phil. in Kunstgeschichte mit einer Arbeit über „Die Passionsszenen Giottos und ihre Beziehungen zur iko-nographischen Tradition des Ostens wie des abendländischen Mittel-alters“ promoviert. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war Reklaitis in verschiedenen litauischen und baltischen Organisationen tätig, vor allem erarbeitete er für die Baltische Gesellschaft in Deutschland zahlreiche Ausstellungen. Dabei musste er sich mit verschiedenen, zeitlich befristeten Projektstellen begnügen, um seinen Lebensunter-halt zu verdienen. 1954 ergab sich eine solche Stelle beim Baltischen Forschungsinstitut in Bonn. Schon 1955 ergab sich ein erster Kontakt zum Marburger Herder-Institut. Als Stipendiat des Instituts war Re-klaitis bis etwa 1960 mit Forschungen zur Kunstgeschichte Litauens beschäftigt. Der bedeutendste Ertrag seiner damaligen Studien ist die Monographie „Einführung in die Kunstgeschichtsforschung des Großfürstentums Litauen“ (Marburg/Lahn 1962). Zu erwähnen ist auch seine Mitwirkung am „Kunstatlas östliches Mitteleuropa“, der damals am Herder-Institut vorbereitet wurde, aber nie soweit abge-schlossen wurde, dass er hätte veröffentlicht werden können. Reklai-tis beschäftigte sich hier natürlich mit dem Großfürstentum Litauen als Kunstlandschaft. Jedenfalls mündeten die intensiven For-schungsmöglichkeiten jener Jahre in zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher und litauischer Sprache. Besonders zu erwähnen ist die große Zahl der Artikel, die er für die in Boston erscheinende (exil-)litauische Enzyklopädie zwischen 1953 und 1969 verfasste.

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Eine feste berufliche Stellung erhielt Povilas Reklaitis erst 1967 als Mitarbeiter der Osteuropa-Abteilung der Preußischen Staatsbiblio-thek, als diese sich noch nach kriegsbedingter Auslagerung aus Ber-lin unter dem Namen Westdeutsche Bibliothek in Marburg befand. Sehr wichtig wurde für ihn der über das Dienstliche hinausgehende Kontakt zum damaligen Chef der Osteuropa-Abteilung, zu Dr. Wil-

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helm Witte (1903-1997), der ihm ein bemerkenswertes Zeugnis aus-stellte, das hier als Abbildung beigegeben ist. Wilhelm Witte konnte neben einer Vielzahl anderer Sprachen auch selbst Litauisch und hatte in der Zwischenkriegszeit Kontakt zu Vydūnas3 in Tilsit aufge-nommen. Das war für Reklaitis und seine lituanistischen Studien von großer Bedeutung. Er hat über den Kontakt Wittes zu Vydūnas einen eigenen Artikel verfasst.4 Als die Bestände der Staatsbibliothek seit 1970 schrittweise (bis 1978) nach Berlin zurückkehrten, blieb Reklaitis in Marburg und arbeitete zunächst in der Universitätsbibliothek, bis er dann in die Bibliothek des Herder-Instituts wechseln konnte, wo er mit all seinen vor allem auch sprachlichen Voraussetzungen und eigenen wissen-schaftlichen Interessen die ihm eher zusagende Stellung fand. Re-klaitis war von 1973 bis 1982 in der Bibliothek des Herder-Instituts vor allem für die baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland verantwortlich. Er saß damit gleichsam an der Quelle aller ihn auch ganz persönlich interessierenden Neuerscheinungen, was ihm bei den eigenen Themen sehr zugute kam, was ihm aber auch ermöglichte, die Litauische Bibliographie für die Jahre 1970-1990 zu bearbeiten, die jährlich in der Zeitschrift für Ostforschung des Herder-Instituts erschien. Zweifelsfrei war er einer der besten Kenner der Kunst- und Kultur-geschichte des Großfürstentums Litauen und des modernen Staates Litauen im Deutschland der Nachkriegszeit. Immer wieder wurde er von vielen Institutionen und Forscherkollegen gebeten, lituanistische Themen zu bearbeiten. Povilas Reklaitis ist einer jener wenigen For-scher in Deutschland vor der Wende 1990/1991, die dazu beigetra-gen haben, dass Litauen, seine Geschichte und Kultur auf hohem wissenschaftlichem Niveau berücksichtigt wurden. Davon zeugt nicht zuletzt die lange Liste seiner Veröffentlichungen.

3 Vgl. WILHELM WITTE: Dėl pavardės „Vydūnas“ [...]. In: Aidai (Brooklyn), Jg. 1978, Nr. 9

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4 Vgl. Dokumente Sammlung Herder-Institut: DSHI 150 Reklaitis 584 u. DSHI 150 Storost/Vydunas 5.

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Anerkennung fand seine wissenschaftliche Arbeit 1964 durch die Wahl zum ordentlichen Mitglied des Instituts für Litauische Studien in den USA, 1965 durch Berufung zum Korrespondierenden Mit-glied des Baltischen Forschungsinstituts in Bonn (Prof. Ivinskis) und 1970 durch Berufung zum ordentlichen Mitglied der Litauischen Katholischen Akademie der Wissenschaften. Povilas Reklaitis starb am 4. Januar 1999 in Niederwalgern bei Mar-burg, nachdem seine Lebenskräfte schon über einen längeren Zeit-raum immer schwächer geworden waren. Auf dem neuen Friedhof des kleinen hessischen Dorfes ist seine Grabstätte, während seine Mutter 1984 noch auf dem alten Friedhof beigesetzt wurde. Die letzte Ruhestätte seines Vaters befindet sich in Posen, wo dieser 1942, nur ein Jahr nach der Umsiedlung, gestorben war. Das Litauen-Archiv-Reklaitis (LAR) Reklaitis beschäftigte sich nicht nur in zahlreichen wissenschaftli-chen Veröffentlichungen mit seinem Heimatland und dessen Ge-schichte, sondern sammelte in reichem Maße auch selbst auf Litauen bezogenes Material. Er verband in geradezu glücklicher Weise die Neigungen eines Sammlers mit den Interessen eines Forschers. Das „Litauen-Archiv-Reklaitis“ ist sein Werk, er hat es gegründet und in Jahrzehnten leidenschaftlichen Sammlerfleißes unterhalten und ausgebaut. Reklaitis ist als eifriger, gewissenhafter Sammler auf Litauen bezogener Materialien zu würdigen. Es ist ohne Zweifel die bedeutendste, weil thematisch vielfältigste Litauen-Sammlung in Deutschland. Dieses wissenschaftlich sehr bedeutende Material konnte das Herder-Institut im Frühjahr 2001 von der Witwe ankau-fen und damit seine eigenen Bestände zu den baltischen Ländern zielgerichtet ergänzen. Eine großzügige Zuwendung von Seiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft ermöglichten dem Institut den Ankauf dieser Sammlung, womit der Bestand geschlossen unter einem Dach an zentraler Stelle der Forschungen über das östliche Mitteleuropa der wissenschaftlichen Nutzung zur Verfügung steht.

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Die Sammlung enthält Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, darunter viele Raritäten; die sicher größte Sammlung von Altkarten zum Großfürstentum Litauen außerhalb Litauens sowie weitere Landkar-ten; Bildmaterial (historische Stadtansichten, Photos), zwei Graphik-sammlungen (alte Graphik 16.-19. Jh.; moderne Graphik 20. Jh.), Akten und anderes Schriftgut, darunter einige bemerkenswerte Ori-ginalhandschriften vom 17. bis 19. Jahrhundert5, ausführliche Korrespondenzen mit zahlreichen bekannten, meist litauischen und deutschen Persönlichkeiten, vor allem Wissenschaftlern, Künstlern und Publizisten und einigen persönlichen Freunden. Wichtig sind u. a. die Briefwechsel mit dem Historiker Zenonas Ivinskis, dem Kir-chenhistoriker Paulius Rabikauskas, dem Kunsthistoriker Günther Grundmann und dem litauischen Künstler und guten Freund Žimbu-tas Mikšys. Hervorzuheben ist, dass Reklaitis zahlreiche größere und kleinere Nachlässe und Sammlungen anderer übernehmen und so der wissen-schaftlichen Forschung erreichbar machen konnte (u. a. des Theolo-gen und Politikers Prof. Dr. Wilhelm Gaigalat [Vilius Gaigalaitis], des Altphilologen Prof. Antanas Rukša, der Juristin und Historikerin Dr. Jonė Deveikė). Die wissenschaftliche Bedeutung der vorgenannten Materialien für die Erforschung der Geschichte des Großfürstentums Litauen, des litauischen Volkes, Ostpreußens und der deutsch-litauischen Bezie-hungen in Kunst- und Kulturgeschichte steht außer Frage. Diese Ein-schätzung bezieht sich einmal auf die im Litauen-Archiv enthaltenen Originalbestände ebenso wie auf die von Povilas Reklaitis in Jahr-zehnten gesammelten umfangreichen wissenschaftlichen Stoff-sammlungen zu seinen eigenen Forschungsthemen, die insbesondere die Kunst- und Kulturgeschichte betreffen und die so sicher nicht

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5 Von großem Wert für die historische Forschung über das Großfürstentum Litauen sind die Handschriften (DSHI 150 Handschriften 1-10), von denen folgende erwähnt seien: Journal des Reichstags von Grodno 1692 aus dem Besitz der Familie von Nostiz (1 Bd.); Inwentarz.... Maramowski 1721; eine Handschrift von Samuel Niesłuchowski 1843; eine von Josef Frank, Prof. an der Univ. Wilna, 1819; Handschrift einer der ersten Monographien über das Mineralwasser von Druškininkai, 1841.

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noch einmal zusammengetragen werden könnten; sie bieten Ansätze und Ausgangsmaterialien für zahlreiche wissenschaftliche Themen. Die hohe Wertschätzung der in dem o. g. Bestand enthaltenen Mate-rialien bezieht sich aber auch auf die Teile, die die Person Povilas Reklaitis und die Familiengeschichte Reklaitis/Wallner betreffen. In ihnen spiegeln sich die bemerkenswerten familiären Verbindungen von Polen, Litauern und Deutschen in dieser Region Europas und die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts in Litauen umfassend wider, so in Fragestellungen wie: die Entstehung des selbständigen Staates Litauen 1918, politische, wirtschaftliche und Minderheiten-probleme, Wilna- und Memelfrage, Besetzung durch die Rote Armee 1940, Umsiedlung der Litauendeutschen 1941, Ansiedlung im War-thegau, Zeit der deutschen Besetzung Litauens 1941-1944, Flucht aus dem Warthegau, Schicksale der Displaced Persons und der deut-schen Vertriebenen, schwieriger Neuanfang in den westlichen Besat-zungszonen, Integration in die Nachkriegsgesellschaft; wissenschaft-liche, kulturelle und politische Arbeit in der Emigration. Die Materialien des „Litauen-Archivs-Reklaitis“ sind auf die ver-schiedenen Abteilungen und Sammlungen des Herder-Instituts ver-teilt worden: Bücher und Zeitschriften in die Bibliothek,6 Bildmate-rial und historische Stadtansichten ins Bildarchiv,7 historische Karten in die Kartensammlung,8 das Schriftgut in die Dokumente Sammlung

6 Insgesamt sind etwa 3000 bibliographische Einheiten übernommen worden, unter diesen zahlreiche Rara – sowohl alte Drucke des 17. und 18. Jahrhunderts als auch heute äußerst seltene „kleine Schriften“ und „graue Literatur“ aus jüngeren Zeiten. 7 Es handelt sich dabei um über 4500 Einzelobjekte wie Veduten, alte und neue Graphik, Zeichnungen verschiedener Art, Photos, Alben, Postkarten, Filmnegative u. a..

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8 Die kartographischen Materialien des Litauen-Archivs umfassen 254 Titel, zu denen thematische Einzelkarten, Atlanten und kartographische Literatur sowie topographische Kartenwerken gehören. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus eine Spezialsammlung von etwa 100 Altkarten des 16. bis 18. Jahrhunderts, die in dieser Form wohl einen einmaligen Fundus an Cartographica Lithuaniae außerhalb Litauens darstellen. Sie dokumentieren das Gebiet des seit der Union von 1386 mit dem Königreich Polen verbundenen Großfürstentums Litauen bis zu den Teilungen des Doppelreichs am Ende des 18. Jahrhunderts (diese Angaben verdanke ich der freundlichen Mitteilung des Kurators der Kartensammlung Wolfgang Kreft).

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(also in das klassische Archiv).9 Die Einarbeitung in die Kataloge und Findmittel ist in einigen Bereichen schon abgeschlossen, in an-deren steht der Abschluss bevor. So sehr sich alle an Litauen und den deutsch-litauischen Beziehun-gen Interessierten über das hier kurz vorgestellte Litauen-Archiv im Herder-Institut Marburg freuen können, so sehr soll niemals verges-sen werden, unter welch großen persönlichen Opfern an Zeit und Geld Povilas Reklaitis sein LAR jahrzehntelang aufgebaut hat. Dabei ist ganz allgemein an die schwierigen Zeiten zu erinnern, vor allem aber an die für ihn nicht zuletzt wirtschaftlich schwierigen Um-stände. Darauf weist er selbst durch die Benennung seiner Jahresbe-richte hin: „Die Jahresernte eines armen exillitauischen Sammlers“ (vgl. beigegebenes Faksimile des Berichts aus dem Jahre 1964). Es gibt Forscher, die zentrale wissenschaftliche Fragestellungen im Blick haben und sich für diese dann Materialien suchen, Reklaitis hatte „nur" ein großes Thema: Litauen und die Litauer.10 Seine For-schungsbeiträge entstanden meist auf der Grundlage der Bestände seines eigenen Archivs, aus ihnen schöpfte er in schier unendlicher Fülle Themen aus der Kunst- und Kulturgeschichte Litauens. Es hat sicher wortgewandtere Persönlichkeiten gegeben, die in ihrer Zeit tonangebend waren, ja auch solche, die sich in den Vordergrund drängten. Povilas Reklaitis war keiner von diesen. Dagegen „gehörte [er] zu den Menschen, die unauffällig große Werke verrichteten“;11 so lebt er in seinen publizierten Arbeiten und vor allem in seinem Hauptwerk, dem Litauen-Archiv-Reklaitis, weiter.

9 Das Schriftgut umfasst in der Dokumente Sammlung (DSHI) 2177 Archivalieneinheiten und nimmt 17 laufende Regalmeter im Archivmagazin ein. Des großen Umfangs und der thematischen Vielfalt wegen bildet LAR eine eigene Bestandsgruppe innerhalb der Archivtektonik der Dokumente Sammlung (Signatur: DSHI 150 LAR-Litauen-Archiv-Reklaitis). 10 Im einzelnen bearbeitete er Architektur- und Kunstgeschichte, die Bibliotheks- und Verlagsgeschichte Litauens, die Ikonographie (Ansichten Litauens und litauischer Persönlichkeiten), Kartographie und Vedutologie.

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11 So Olgred Aule und Jonas Norkaitis sehr treffend in ihrem Nachruf (wie Anm. 1), S. 13.

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Doktordiplom für Povilas Reklaitis 1950 (DSHI 150 Reklaitis 1)

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Titelblatt des LAR-Jahresberichts 1964 mit charakteristischer Selbsteinschätzung (DSHI 150 Arbeit LAR 1)

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Zeugnis für Dr. Reklaitis von Dr. Wilhelm Witte (Preußische Staatsbibliothek) (DSHI 150 Reklaitis 1)

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Titelblatt der Monographie über Mineralwasser von Druskininkai (polnisch) mit russischem Zensurstempel von 1841

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Grabstein auf dem Friedhof von Weimar-Niederwalgern

(Aufn. Wolfgang Schekanski 2004)

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Eröffnung der Ausstellung

Fenster zum Anderen

Liudvikas Natalevičius, Bilder aus Litauen

Ulrich Schoenborn

Nach langen Jahren der Isolation kehrt Litauen in den europäischen Horizont zurück. Die Frankfurter Buchmesse1 vor zwei Jahren hat kurzfristig die Aufmerksamkeit auf das Land an der Ostsee gelenkt. Mittlerweile ist das Interesse wieder verebbt, wie aus Verlagskreisen zu hören ist.

I.

Was verbindet uns mit Litauen? Was wissen wir von den Menschen, von ihrer Geschichte, ihrer Sprache, dem kulturellen Erbe, ihrem Glauben, ihrem Leben? - Das größte der drei baltischen Länder scheint weiter entfernt zu sein als sonst ein Land, wenn wir auf das Interesse schauen, das sich in den Medien niederschlägt. Mit der aus-sterbenden Erinnerung an Ostpreußen, das Memelgebiet2, an die geistig-literarische Landschaft3 rückt dieser geographische Raum noch weiter weg. Publikationen, Filme, Reisen werden vom Verges-sen schnell überholt. Litauen scheint ein Feld für „insider“ zu wer-den.

Dabei liegt das Land im Herzen Europas. Das ist zunächst eine geographische Feststellung. Hat man Europa vom Atlantik bis zum Ural und von Sizilien bis zum Nordkap im Blick, dann befindet sich sein geographischer Mittelpunkt in Litauen, exakt auf 54o 54‘ nördli-cher Breite und auf 25o 19‘ östlicher Länge – genauer, bei dem 26 km nördlich von Vilnius gelegenen Dorf Pumuškės am See Girios.

1 Vgl. DIE ZEIT. Literaturbeilage, Oktober 2002; s. u. Anm. 10. 2 Die Schriftstellerin Ulla Lachauer bemüht sich in ihren Büchern, die Erinnerung

vor dem Vergessen zu bewahren. Vgl. Die Brücke von Tilsit (1994); Paradiesstrasse (1996); Ostpreußische Lebensläufe (1998).

3 Vgl. Claudia Sinnig (Hg.), Litauen. Ein literarischer Reisebegleiter, Frankfurt/M. 2002.

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Rein geographisch also ist Litauen ein Teil Mitteleuropas und nicht Osteuropas. Und zu erweitern gibt es da gar nichts. In der häufig zu hörenden Rede von der Osterweiterung Europas wird die Sachlage verzerrt. Einmal verbirgt sich hier eine typisch westeuropäische Sicht, bei der wirtschaftliche und militärpolitische Kriterien im Vor-dergrund stehen. Dann kommt in dieser Rede ein kulturelles Miss-verständnis4.

Wenn man verstehen will, welche Empfindungen die Menschen be-wegen – besonders seitdem das Land seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erkämpft hatte -, muss man einen Blick zurück in die Geschichte werfen, auch wenn der Betrachter sich, erschrocken über Grausamkeit, Unmenschlichkeit und Schuld eher abwenden möchte. Neben dem, was schnell verdrängt wird, steht aber auch Unbekann-tes, das nicht dem Vergessen überlassen werden sollte, weil es Kost-bares in den europäischen Horizont eingebracht hat. Dass Vilnius einst als das Jerusalem des Nordens galt, spricht für sich. Dass der Geiger Jascha Heifetz, der Philosoph Emmanuel Levinas, der Lin-guist Algirdas Greimas, der Bildhauer Jaques Lipschitz aus Litauen stammen, übersieht man leicht. Es gibt genug, was ermutigt, genauer hinzuschauen und wahrzunehmen, was ist, was war und was dazu gehört. „Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung ..., die meinem Volk zu Buche steht“, schreibt J. Bobrowski (1961. „Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch ...“5

4 Darauf verweist Jens Reich (in: Publik Forum Nr. 16, 1999, 6f).

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5 Zu Johannes Bobrowski vgl.G.Wolf, Beschreibung eines Zimmers. Fünfzehn Kapitel über Johannes Bobrowski, Berlin 1993; A.Hermann, Johannes Bobrowski und Litauen; K.Brazaitis, Bobrowskis Litauen; beide in: Annaberger Annalen. Jahrbuch über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen, Nr. 6/ 1996, 147ff und 161ff; E.Hauffe, Einleitung zu J.Bobrowski, Die Gedichte, GW I, Stuttgart 1998, VIIff;

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II. Die folgenden Anmerkungen zur Kunstgeschichte und zur Literatur skizzieren Aspekte der geistigen Situation in Litauen, also das Um-feld, in dem diese Ausstellung gesehen werden muss.

(a) Dias künstlerische Schaffen in Litauen hat immer in Verbin-

dung mit dem übrigen Europa gestanden. Alle Ereignisse, Strömun-gen, Entwicklungen usw. haben sich in irgendeiner Weise niederge-schlagen. Rezeption und Auseinandersetzung erfolgten allerdings auf unterschiedlichen Wegen und nicht immer gleichzeitig. Daher kam manches „mit Verspätung“.

Vor dem 2. Weltkrieg kennzeichnet das Schaffen litauischer Maler u. a. eine „relative Stabilität der künstlerischen Sprache“, „eine Ver-pflichtung gegenüber Werten und Normen der nationalen Kultur“, das Fehlen von populären Strömungen (performance o. ä.). Starke Impulse gingen von der Neo-Romantik, der Folklore und dem Sym-bolismus6 aus. Eine freie Entwicklung und Entfaltung wurde aber durch die politischen Ereignisse unterbrochen und die ideologische Indienstnahme der Kunst bis in die jüngste Zeit verhindert.

Obwohl der Stalinismus den stilistischen Pluralismus destruiert hatte, setzte schon in den 60er Jahren eine Suche nach Alternativen ein. Weil der Kontakt mit dem Westen unterbunden war, griff man auf das Repertoire der Volkskunst, der Klassik oder der Naiven zurück. Trotz Bürokratie konnte die „Individualität des Schöpferischen“ im Verborgenen wirken. Allerdings um den Preis, dass der Aufbruch in die Moderne mit Verzögerung erfolgte. „Die in der Illegalität des sozialistischen Realismus geborene Kunst hat Erfahrung genug, nicht mit Vergesslichkeit zu kokettieren oder gar naivem Leichtsinn zu verfallen“7.

6 Zu nennen wäre hier der Maler und Komponist Mikalojus Konstantinas Čiurlionis

(1875-1911). Vgl. Rainer Budde (Hg.), Die Welt als große Sinfonie, Köln 1998.

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7 Darius Kuolys, in: Apokalypse und Glaube. Zeitgenössische Kunst in Litauen. Ausstellungskatalog Marburg 1990, 7.

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Bereits zu Zeiten der gelenkten Kunst setzten die Künstler sich mit den widersprüchlichen Seiten der dargestellten Verhältnisse ausein-ander. Hand in Hand vollzog sich ein Rück-Gang, ein Ausweichen in die Welt der Gefühle oder der Träume, weil der offiziellen Welt nur mit Zweifel und Misstrauen begegnet werden konnte. Während an-derwärts Bildsprache, Form, Farbe, Material u. a. dem Experiment unterworfen waren, fokussierten die litauischen Künstler mit Hilfe der Externa die Widersprüchlichkeit des Menschen, das Dämonische, die Aggression, das gesellschaftliche Chaos. Die logischen Bildbe-züge wurden aufgelöst; einzelne Bildmotive erhielten einen neuen Sinn; an die Stelle der traditionellen Bildstruktur traten drastische oder aufrührerische Veränderungen. Eine andere Sicht der Wirklich-keit meldete sich an, in der Widersinniges, Groteskes, Fiktives prä-sentiert wurde. In diesem Prozess übernahm das Ich des Künstlers eine tragende Rolle. Was dabei sichtbar wurde, kann als Reaktion des von Ängsten beunruhigten Bewusstseins verstanden werden. Das „Weltbild des Künstlers ist in vielfältige Sinngegensätze zerfallen, und sein Werk erlaubt dementsprechend vielfältige Möglichkeiten der Interpretation“8. Die Bilder aus dieser Zeit provozieren den Be-trachter, sie appellieren, sie beschwören.

(b) Einem alten Vorurteil zufolge ist der Litauer ein Mensch, der

beschaulich am Meeresufer steht und sich den Sonnenuntergang an-schaut. Nicht nur der Blick in die Geschichte erweist das idyllische Bild als unzutreffend. Die gegenwärtige Literatur zeigt sehr deutlich, wie, eingekeilt zwischen zwei Anachronismen, der zerstörten Idylle und der verspäteten Moderne, intensiv nach einer Synthese gesucht wird. Jenseits der Tradition gibt es (noch) keine Innovation, nur In-novationszwang, hat jemand formuliert. Unverhofft aus langer Ein-gebundenheit in das Sowjetsystem befreit, stehe man vor der Auf-gabe, innerhalb kürzester Zeit neue kulturelle Plausibilitäten zu schaffen. In die Leer-Räume, die nicht gleich definiert wurden, si-ckern nationalistische Mythen, historische Verklärung oder auch re-ligiöser Obskurantismus ein. Künstler und Schriftsteller beklagen, dass die eigene historische Verantwortung nur sehr zögerlich über-

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8 Viktoras Liutkus, in: D.Kuolys, a.a.O., 13.

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nommen werde. Man fühlt sich isoliert, seit der Osten als Referenz weggefallen und der Westen als Partner noch nicht erschlossen sei. Auch der größten geistigen Strömung im Lande, dem Katholizis-mus9, stehe man distanziert gegenüber, weil dieser eine rückwärts-gewandte Politik betreibe und den Menschen vor allzuviel Selbster-kenntnis schützen wolle. Deswegen müsse auch er in Frage gestellt werden. Aus solcher allgemeinen Irritation folgt entweder ein magi-scher Surrealismus (Renata Šerelytė) oder ein Existentialismus, der eine „Ästhetik des Widerwärtigen“ (Sigitas Parulskis) kreiert. Als Grundierung bleibt in der Literatur eine vertraute Gestimmtheit: ein-sam, karg, dunkel, mehrdeutig10.

III. Auf den Maler Liudvikas Natalevičius bin ich 1996 aufmerksam ge-worden, als ich einige Wochen in der Theologischen Fakultät der Universität Klaipėda, dem früheren Memel, tätig war. Aus einer zu-fälligen Begegnung mit einem seiner Bilder erwuchs ein freund-schaftlicher Kontakt mit Besuchen im Atelier und vielen Gesprä-chen. - Wer ist Liudvikas Natalevičius? Was bringen seine Bilder zur Sprache?11

Subversive Sozialisation 1954 in Vilnius geboren, studierte L. Natalevičius wie sein älterer Bruder Henrikas von 1975-1981 Malerei an der Staatlichen Kunst-hochschule. Nach dem Diplom entschied er sich für die Küstenstadt Klaipėda als Arbeitsort, wo er noch heute lebt.

9 Vgl. Hans-Friedrich Fischer, Bewährung in Freiheit. Die katholische Kirche

Litauens sucht ihren Weg, in: Herder Korrespondenz 57, 2003, 143-146. 10 Vgl. J.Sprindytė/ K.Berthel (Hgg.), Von diesen Träumen ganz verschiedene.

Zehn litauische Gegenwartsautoren und ihre literarische Prosa, Oberhausen 2002;V.Sventickas (Hg.), Vierzehn litauische Poeten. Eine Anthologie, Oberhausen/Vilnius 2002; Akzente, Heft 5/ Oktober 2002: Litauische Poesie der Gegenwart; A.A-Jonynas, Laiko inkliūzai/ Inclusions in Time, Vilnius 2002.

11 Im Folgenden greife ich meinen Beitrag aus Kunst und Kirche Nr. 1, 2003, 57f auf.

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L. Natalevičius gibt seinen Bildern keine kommentierenden Informa-tionen bzw. Titel mit. Es finden sich allenfalls Hinweise zur Mal-technik und abstrakte Zahlenangaben. Auf die Frage, ob in solchen Verschlüsselungen eine Nachwirkung der Sowjetzeit zum Ausdruck komme, antwortet der Maler: „Wir hatten zwei Ateliers, eins für die Öffentlichkeit, in dem die Auftragsarbeiten entstanden, das andere für unsere eigenen Projekte. Während der Ausbildung an der Aka-demie waren West-Kontakte verboten. Erlaubt war dagegen das Stu-dium der Klassiker: Giotto, Goya, Carravagio, Grünewald, Rem-brandt u. a. Die Begrenzung durch die Politik haben wir unterlaufen durch intensive Beschäftigung mit der Tradition“. Einzelne Lehrer haben, am offiziellen Curriculum vorbei, die professionelle Kompe-tenz und die ästhetische Individualität gefördert. So hat sich im Un-tergrund ein Reservoir an Motiven, Kreativität und Ausdrucksmög-lichkeit angesammelt, das seit der Wende (1991) frei an die Öffent-lichkeit treten kann und den Austausch mit dem übrigen Europa sucht.

Umgang mit der Tradition Ein Überblick über die Arbeiten von L. Natalevičius zeigt, dass sie sich zwischen Abstraktion und Figürlichkeit bewegen und einige wenige Motive favorisieren. Grosse Farbflächen strukturieren den Bildraum, in dem Farbkontraste dramatische Akzente setzen.

Wer den Bildern von L. Natalevičius gegenübersteht, merkt bald, wie ein Entzifferungs-Mechanismus des Gedächtnisses in Gang kommt. Die Gebilde bzw. schemenhaften Umrisse wecken Assoziationen und lassen an (geschichtliche) Ereignisse denken, die aus dem narrativen Fond unseres kulturellen Horizontes bekannt sind, z.B. die Erzählun-gen der Evangelien oder der mittelalterlichen Heiligenviten. Bei sol-cher Annäherung läuft die Wahrnehmung des Betrachters auf der Basis eines wieder Erkennens ab. Gleiches erkennt sich in Gleichem.

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Die Art und Weise, wie L. Natalevičius mit den Vorbildern umgeht, scheint dem Vorschub zu leisten. Allerdings ohne, dass er bewusst Anknüp-fung sucht und Konti-nuität pflegt. Vielmehr zeigt er Mut zum subjek-tiven Zugriff. Hier wird nicht ironisch oder de-struktiv mit der Tradition verfahren. Vielmehr wird die künstlerische Präfigu-ration in eine Art psychi-sches Drama überführt. Man nimmt auf den Bil-dern Formen wahr, die an Bekanntes erinnern. In-nere Bilder steigen auf und versinken dann wie-

der. Eine prozesshafte Plastizität, die sich inhaltlicher, thematischer Festlegung entzieht, entsteht. Es bleibt also die wieder Erkennbarkeit des Bildaufbaus der alten Meister, während die figurativen Farb-ströme ganz auf vom Innenleben geformte Gesten gerichtet sind. Die an Munch u. a. erinnernde Farbigkeit tendiert ins Melancholische, aber auch Mystische. Was die Konturen eines menschlichen Antlit-zes ahnen lässt, ruft ähnlich wie bei F. Léger oder O. Schlemmer zur Ergänzung der leeren Innenflächen. Unversehens beginnt in der ers-ten Begegnung mit diesen Bildern schon Kommunikation.

In diesen Vorgang mischt sich ein zweiter Blick ein, in dessen Voll-zug das anfängliche Verständnis zerfließt. Alles ist noch einmal an-ders als zuerst gedeutet. „Die Erkenntnis des Gleichen im Gleichen wird ... von der Wahrnehmung des Fremden im Gleichen durch-

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kreuzt, unterbrochen, infragegestellt“12. Das Betrachten, das Sehen wird in einen Lernprozess verwickelt und angeregt, das Angeschaute in neue Worte zu fassen.

Grundmotive Durch die verschiedenen Schaffensphasen von L. Natalevičius zie-hen einige wenige Grundmotive: die Kreuzigungsszene oder eine Figuren-Konstellation, die an die Pieta bzw. an die Krippe von

Bethlehem denken lässt. Zu-mal in den Vorarbeiten, Blei-stiftskizzen, Kreidezeichnun-gen, Aquarellen, Aus-schnittsstudien und perspek-tivischen Variationen. Immer wieder Golgatha, der Ge-kreuzigte, die trauernden Frauen, Gesten der Ver-zweiflung und des Schmer-zes, Hinweise auf Vergäng-lichkeit. Oder Signale des Schützens, des Einhüllens; Momente sich auflösender Nähe, wachsender Distanz. „Ich bin in einer atheisti-schen Umwelt aufgewach-sen. Doch die Religion konnte nicht aus dem Be-wusstsein des litauischen

Volkes verbannt werden. Informationen über das Christentum habe ich durch die Werke der Klassiker bekommen“. L. Natalevičius ver-steht sich nicht als religiöser Maler, der fromme Andachtsbilder pro-

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12 S.Bergmann, So fremd das Gleiche. Wie eine interkulturelle Theologie der Befreiung mit dem Fremden über die Alterität hinaus denken kann, in: S.Fritsch-Oppermann (Hg.), Das Antlitz des „Anderen“. Emmanuel Lévinas‘ Philosophie und Hermeneutik als Anfrage an Ethik, Theologie und interreligiösen Dialog, Rehburg-Loccum 2000, 57-97; 60.

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duziert. Seine Bilder sind autonom. Religion gehöre aber zu den ele-mentaren, wenn auch ambivalenten Daten der Wirklichkeit. Aus die-sem Sektor kommen permanent Impulse und treffen auf die Stim-mungslast, die sich aus dem Selbstverständnis des Künstlers, den Hoffnungen in der Gesellschaft und vielen anderen Interventionen bildet. Dem Betrachter bleibe es unbenommen, eine religiöse Di-mension zu entdecken.

Das Bild, das „spricht“ In seinen Bildern „spielt“ L. Natalevičius mit zwei Linien, die sich in immer neuen Variationen gegenüberstehen, sich durchkreuzen oder sich ergänzen: eine vertikale und eine gekrümmte Linie. Material, Maltechnik, alles Handwerkliche unterstreicht dieses Grundmuster. Die Krümmung sperrt sich gegen eine eindeutige Lesart. Sie kann auf das Symbolische des Eis und des Kerns, des Keims, der aus ei-nem Mittelpunkt heraustritt (Gebär-Motiv), zielen. Was sich als ge-krümmte Form präsentiert, lässt aber auch an etwas denken, das ge-waltsam in diese uneigentliche Gestalt gebracht worden ist. Dagegen könnte die Vertikale von dem Versuch sprechen, den Kräften des Uneigentlichen Widerstand zu leisten. Was wäre aber, wenn auch die Vertikale nicht frei von Gewalteinwirkung ist? Es stellt sich so eine Beziehung zwischen Krümmung und Geraden her, „Linien einer in gewisser Weise universellen Geometrie“13. -Immanuel Kant hat, wenn er vom Menschen sprach, oft die Metapher „krummes Holz“14 benutzt. Ein Material also, das meist deformiert begegnet, das aber dennoch eine Bestimmung zum aufrechten Gang in sich trägt.

Da ist noch ein weiteres Moment in den Bildern von L. Natalevičius, das Beachtung verlangt und die Reflexion beschäftigen soll. Ich meine das Wechselspiel von Perspektive und Farbe.

13 Marc le Bot, Der Kunsteffekt, in: D.Kamper/ Chr.Wulf (Hg.), Der Schein des

Schönen, Göttingen 1989,17-32; 29. 14 Vgl. H.Gollwitzer,

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Dem Betrachter bleibt nicht verborgen, dass der Maler mit der Per-spektive bzw. einer perspektivischen Ordnung anders umgeht als etwa die Künstler der Renaissance. Dort hatte der Perspektivcode die

Aufgabe übernommen, die Hierarchie der Figu-ren oder die Beziehung zwischen Bildmitte und Peripherie zu definieren. In der Messbarkeit der Welt, verobjektiviert im Bild, äußerte sich die Machtstellung des Men-schen. M.a.W., in der Renaissance bringt das Bild Herrschaftsdenken zum Ausdruck und le-gitimiert es durch Refe-renzen zur Transzen-denz.. Auf den Bildern von L. Natalevičius suchen wir diesen anthropozentri- schen Akzent vergeb-lich. Die Perspektive scheint zu fehlen, trotz

eines angedeuteten Rahmens auf vielen Bildern. Dafür blicken wir auf statische Farbflächen. In den 90er Jahren dominieren Grün-Töne, neuerdings erscheinen verstärkt Rot und Gelb.

Aus einem dunklen Hintergrund treten leuchtende Farbfelder hervor. Der Farb-Gegensatz löst das Flächige in Bewegung auf. Denn aus dem Vordergrund wird der Blick wieder zurück in die Tiefe des Bil-des geführt und lässt das dunkel gehaltene Umfeld transparent wer-den. Es ist ja keineswegs schwarze Farbe, die hier aufgetragen wurde. Was so dunkel erscheint, spiegelt einen langen Prozess wie-der. Denn es braucht Zeit, bis durch Mischen der Komponenten und Experimentieren der adäquate Ton entsteht. Bei entsprechenden

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Lichtverhältnissen kann das Resultat ähnlich überraschen15 wie bei einem ikonenhaften Glasfenster aus alter Zeit. Die Farbräume dienen nicht der Exaltation der menschlichen Figur. Viel eher halten sie das Paradox von Sinn mitten in Nicht-Sinn bzw. Un-Sinn fest und un-terlaufen den eben erwähnten Anthropozentrismus.

Die Reflexion erreicht hier eine Grenze des Begrifflichen. Es ist der Augenblick, in dem die Symmetrie zwischen Wort und beschriebe-nem Gegenstand zerbricht, weil sich von diesem her eine neue Ebene auftut. M.a.W., im Dialog zwischen Betrachter und Bild kommt es zu einer Umkehrung der Positionen. Aus dem Subjekt wird das Ob-jekt und umgekehrt. Vom Bild geht eine Initiative aus, die sich in die Existenz des Betrachters einmischt. Ihm wird, wenn er es zulässt, ein Durchblick in jenseitige Bereiche zugespielt, ein Fenster zum Ande-ren. Kunstbegegnung führt in die Erfahrung von Alterität, von An-dersheit.

Oblitération Im Titel der Ausstellung „Fenster zum Anderen“ wird eine Verbin-dung zu Emmanuel Levinas (1906 in Kaunas/Litauen geboren – 1995 in Frankreich verstorben) gesucht, dessen philosophische und theolo-gische Reflexionen um die Chiffre „der Andere“ kreisen. Seine Kunstkritik hat Levinas in wenigen kurzen Beiträgen16 angedeutet,

15 Vgl. Marc le Bot, a.a.O., 30: „Indem die Malerei durch die Linien und Farbspiele

nur auf sich selbst verweist, errichtet sie einen Nicht-Kode: In ihm verteilen sich regelgeleitet insignifikante Elemente, ohne dass diese Regel eine nutzorientierte Beherrschung der Wirklichkeit anstrebte.“

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16 E.Levinas, La réalité et son ombre, in: Les Temps Modernes 4, 1 (1948/49) 769-789; Vom Sein zum Anderen – Paul Celan, in: E.Levinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, München/Wien 1988, 56-66 (= frz. 1976); E.Levinas, De l’oblitération. Entretien avec Francoise Armengaud à propos de l’oeuvre de Sosno, Paris 1990. Ferner: M.Wimmer, Die Epiphanie des Anderen, in: D.Kamper/Chr.Wulf (Hgg.) Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, 505-519; J.Wohlmuth, Bild- und Kunstkritik bei E.Levinas und die theologische Bilderfrage, in: W. Lesch (Hg.), Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Religion und Kunst, Darmstadt 1994, 25-47; R.Esterbauer, Das Bild als Antlitz? Zur Gottesfrage in der Kunst beim späten Levinas, in: J.Wohlmuth (Hg.), Emmanuel Levinas – eine

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die darum so anregend sind, weil sie das Alteritätsdenken am kon-kreten Beispiel „Kunst“ vorführen. Im Folgenden skizziere ich einige Hauptgedanken ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit.

Levinas steht der herkömmlichen Ansicht, Kunst sei expressiv und basiere auf Erkenntnis, reserviert gegenüber. Im Kunstwerk werden keine allgemeinen Wahrheiten geoffenbart. „L’objet représenté par le simple fait de devenir image, se convertit en non-objet“17. Kunst-werke zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich dem Zugriff des be-trachtenden Ich entziehen. Ein Bild lässt sich nicht als Abbild veror-ten, es ist nicht mit der Realität synchronisierbar. Levinas spricht vielmehr vom „Schatten“ der Wirklichkeit und nennt Bildwerdung einen Vorgang der „désincarnation“18. Das ästhetische Bild bringt einen Riss, einen Bruch im Sein zur Erscheinung. Dadurch wird der Subjekt-Charakter eines Kunstwerkes keineswegs geschwächt. Im Gegenteil, das Bild gerät in eine Machtposition, indem „es ergreift und ergriffen macht“19. Der Betrachter wird „verunsichert“ bzw. „verzaubert“. Vom Bild (image) geht etwas aus, was in der Nähe von Magie (magie) angesiedelt ist.

Das Eigentümliche dieser Überlegungen liegt nun darin, dass Levi-nas die Autonomie des Kunstwerkes auf ähnliche Weise wie die des „Antlitzes“ des Anderen begründet. Im Artefakt begegnet dem Bet-rachter der Fremde im Fremden. Damit begegnet aber auch er sich selbst. M.a.W., Kunstrezeption gerät zu einem Modell der ethischen Wahrnehmung.

Ein Bild ist darum nicht einfach Abbild oder zeichenhafte Teilhabe an der Idee des Schönen, sondern der Weg zum Anderen des Seins. Das signalisiert die spezifische Wirkung auf den Betrachter. Levinas

Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn usw. 1989, 13-23.; S.Bergmann, a.a.O., 57ff (s. Anm. 12).

17 Levinas 1948/49, 777. 18 Levinas 1948/49, 779. Vgl. Wohlmuth (1994) 31: Das Gemälde ist nicht

Transzendenzbewegung, sondern Abstieg. Rückfall in ein Vorstadium des Seins, „Symbolisierung gegen den Strich“ (symbole à rebours)“.

19 Wohlmuth (1994) 35. 236

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interessiert sich besonders für den Vorgang, in dem dieser aus seiner Passivität (Verunsicherung, Verzauberung) herausgeholt wird. In einem Interview20 von 1990 verwendet er den Begriff “oblitération“ bei der Interpretation moderner Kunstwerke. Er meint damit das Un-kenntlich-Machen, das Verwischen des Dargestellten durch be-fremdliche oder Schrecken erregende Materialität. Im Kunstwerk werden absichtlich die Bezüge zur Realität verwischt, so dass „bles-sures/ Verletzungen“ übrig bleiben. Derartige Makel oder Störungen der Form konfrontieren mit Leid, Wunden, Deformationen usw. Da-mit eröffnet sich eine Dimension jenseits der Idolatrie des Schönen.

Oblitération schafft eine fiktive Gesprächssituation, indem sie den Betrachter unmittelbar anspricht und einen Umschwung vom Besitz-ergreifen zum Empfangen einer Unterweisung („enseignement“) und zur Stellungnahme herbeiführt. In Analogie zu zwischen-menschlichen Begegnungen schreibt Levinas dem Kunstwerk das Gepräge des Antlitzes zu und reflektiert dessen Appellcharakter. Fern jeglicher „Aura der Erhabenheit“ wird „das Antlitz als die Weise (verstanden), in der der Andere sich mir so gegenwärtig macht und hält, dass er alles durch mich an ihn Herangetragene, ihn Ein-kreisende, verstellend Aufgestellte – Bild, Vorstellung, Begriff, Vorwissen, Vorurteil – unablässig überbietet, perforiert, suspen-diert“21. Von hieraus ist nur ein kleiner Schritt zu der Frage, ob das Kunstwerk als Antlitz der Dinge auch der Ort sein könne, an dem Gott begegnet. Ob das Bild die „relation à autrui“ ermögliche? Pro-voziert durch das Kunstwerk resp. durch das Antlitz des Anderen reagiert der Betrachter. Er beantwortet den „Anruf“ mit seiner gan-zen Existenz. In der Antwort wird nach Levinas der Anruf versteh-bar, denn „die von Gott ausgehende ‚Provokation‘ (liegt) in meiner Invokation“. Oder: „Die Transzendenz der Offenbarung rührt daher,

20 S. Anm. 15.

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21 S.Sandherr, Das Antlitz des Anderen als Anfrage und Aufgabe. Verantwortung und Subjektivität in der Philosophie Emmanuel Levinas‘, in: S.Fritsch-Oppermann (Hg.), Das Antlitz des „Anderen“, Rehburg-Loccum 200, 33-56; 35.

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dass die ‚Epiphanie‘ im Sagen desjenigen auftritt, der sie emp-fängt“22.

Die Radikalität, mit der Levinas die Annäherung an ein Kunstwerk auf ein ethisches Geschehen zurückführt und das Ästhetische aus-klammert, weckt natürlich Fragen23, die bei einer Vernissage nicht behandelt werden können. Ich bin aber überzeugt, dass jedes Kunst-werk einen Überschuss über die Gegenwart („une excédence sur le présent“) hinaus enthält, der ungeachtet aller Reflexion aufschlie-ßende, neue Bildbegegnung ermöglicht.

22 E.Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/ München

1992, 327f.

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23 In „Jenseits des Seins, 329 Anm. 21“ geht Levinas selbst zu fragenden Erörterungen über: Dass moderne Kunst den Dienst der Schönheit als idolatrieverdächtig entlarvt, sei nachvollziehbar. Dass sie zu einer vor-bewussten Realität zurück will, könne registriert werden. Gelingt ihr aber die Darstellung des Dia-Chronen? Bleibe sie nicht zwangsläufig an der Schwelle zum Ungleichzeitigen, Unvergleichlichen stehen? – Einen Stillstand der Dialektik zwischen Erkennendem und Erkanntem vermutet J.Derrida (Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas´, in ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1992,121ff). Und S.Bergmann (s.o. Anm. 12 ) fordert eine reziprok-kommunikative Erweiterung der ästhetischen Theorie.