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IAMInstitut für Angewandte Medienwissenschaft

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„Also, machen wir eine Geschichte.“Narration in den SRG-Redaktionen Tagesschau,

10vor10 und Journal

Aleksandra GnachZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

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Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG

• Grösstes Unternehmen

für elektronische Medien in der Schweiz

• Angebot umfasst 8 Fernseh- und 18 Radioprogramme

in den vier Landessprachen

• Gebührenfinanzierung / Service public

• Art. 3 Programmauftrag der Konzession SRG:

gleichwertige Programme allen Amtssprachen, die das gegenseitige

Verständnis, den Zusammenhalt und den Austausch zwischen den

Landesteilen, Sprachgemeinschaften und den Kulturen fördern

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Idée suisse: Sprachpolitik, Sprachnorm und Sprachpraxis am Beispiel der SRG (NFP 56)

Das Projekt „Idée suisse“ untersuchte, ob und wie die SRG SSR die an sie gestellten sprachpolitischen Anforderungen erfüllen soll, erfüllen kann und tatsächlich erfüllt.

Projektpartner:

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Universität Bern,

Universität Lausanne

Daniel Perrin, Marcel Burger, Aleksandra Gnach, Mathias Fürer, Michael Schanne,

Vinzenz Wyss

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Module Projekt Idée Suisse (NFP 56)

A Explizite und implizite externe sprachpolitische Anforderungen

Leitfadeninterviews, Dokumentenanalyse

B Deutungen, Ressourcen, Regeln der Geschäftsleitung

Leitfadeninterviews, Dokumentenanalyse

C Textproduktionspraxis in drei Nachrichtenredaktionen (D, F)

Analyse Schreibprozesse

D Anschlusskommunikation zur redaktionellen Qualitätssicherung

Analyse Redaktionssitzungen

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Untersuchte Redaktionen

• 10vor10

• Tagesschau

• Journal

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Textproduktionsprozesse

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Gespräche am Schnittplatz

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Gespräche an Redaktionssitzungen

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Produktgerichte Forschung:Unterschiede zwischen den Sprachregionen

• SRG-Nachrichten berichten selten über die gleichen Themen und Ereignisse

• SRG-Nachrichten berichten selten über die anderen Landesteile

• die anderssprachigen Landesteile werden vielfach negativ und stereotyp dargestellt

• Unterschiedliche Darstellungsformate

• Unterschiedlicher Auftritt am Markt

(Allemann et al. 2010, Beck & Schwotzer 2006, Corboud Fumagalli 1996, Wuerth 1999)

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0027 19 heures 30 ça avait un peu une connotation très alémanique et

0028 très tageschau en définitive

0029 alors ça tenait un peu à la nature des infos données

0030 ça tenait aussi au fait que par exemple sur l’dossier fiscal

0031 qu’était plutôt bien ficelé d’ailleurs dans un premier temps

0032 on a interviewé que berset parmi les politiques romands

0033 on aurait pu aller chercher d’autres romands

0034 j’trouve que ce serait sympa

0045 j’trouvais que c’était un peu grossier pt’être

0046 j’les avais jamais vus comme ça moi

0047 on sortait un peu du cadre de la politique

0048 c’était pas très raffiné

0049 c’était didactique

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Wie kommt es zu diesen Unterschieden?

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Annahmen

• Nachrichtenproduktion ist Bedeutungskonstruktion

• Medienschaffende agieren im Rahmen engerer und weiterer sozialer Kontexte wie Redaktion, Unternehmen, Berufsfeld oder Gesellschaft. Diese Kontexte wirken sich auf die Nachrichtenproduktion aus, und damit auch auf die Produkte journalistischer Berichterstattung.

• Redaktionen sind Communities of Practice (Eckert & McConnell-Ginet

1998, McConnell-Ginet 2010), d.h. soziale Gemeinschaften, deren Normen und Werte sich auf die Inhalte und Gestaltung von Medienprodukten auswirken.

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• Medienschaffende interpretieren die soziale Welt über die sie berichten

• Die Berichterstattung bildet das journalistische Verständnis von Realität ab

• Das Realitätsverständnis der Medienschaffenden wird in sozialen Interaktionen innerhalb der Community of Practice verfestigt

• Die sozialen Interaktionen in Redaktionen verlaufen weitgehend sprachlich

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Deutungsmusteranalyse

• Soziale Deutungsmuster: “die mehr oder weniger zeitstabilen und in

gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von

Mitgliedern einer sozialen Gruppe [...], die diese zu ihren alltäglichen

Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben“

(Arnold 1983: 894)

• Deutungsmuster werden in Derivationen greifbar, in kommunizierten

Konkretisierungen oder Adaptionen von Deutungsmustern mit dem Zweck,

das eigene Handeln gegenüber Interaktionsteilnehmern zu erklären und zu

begründen

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• Von einem Deutungsmuster ist auszugehen, sobald dabei „typische, d.h.

mehrfach vorzufindende und konsistente (sinnhafte) Begründungen und

Situationsdefinitionen erkennbar sind“ (Ullrich 1999: 443)

• Deutungsmuster werden durch Erklären oder Begründen angewendet,

reproduziert und verändert

• Damit Begründungen plausibel erscheinen, müssen sie sich auf

Deutungsmuster beziehen, die von Mitgliedern einer sozialen Gruppe

weitestgehend geteilt werden

• Durch die „erfolgreiche“ Verwendung von Deutungsmustern in Interaktionen

werden Akteure in der Richtigkeit ihrer Interpretationen und Handlungen

bestätigt

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Unterschiedliche Bilder der Schweiz

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Verständnis von Nachrichtenjournalismus

• 10vor10 orientiert sich an Konzepten des Meinungsjournalismus und des Nutzwertjournalismus und geht Themen teilweise auch investigativ an

• Tagesschau-RedakteurInnen verstehen sich als reine InformationsvermittlerInnen

• Journal bearbeitet Themen mit einem selbst gewählten Fokus und betreibt damit ebenfalls eine Form des Meinungsjournalismus, der sich am französischen Nachrichtenjournalismus orientiert (Reportagen, Nähe zur Literatur)

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Deutungsmuster zum journalistischen Selbstverständnis 10vor10

• Journalismus bedeutet richtig und vollständig informieren

• Journalismus bedeutet Emotionen ansprechen

• Journalismus bedeutet komplexe Sachverhalte erklären

• Journalismus bedeutet Kritik üben

• Journalismus bedeutet ethische Grundsätze respektieren

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Deutungsmuster zum journalistischen Selbstverständnis Tagesschau

• Journalismus bedeutet möglichst neutral und sachgerecht informieren

• Journalismus bedeutet verständlich informieren

• Journalismus ist Handwerk

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Deutungsmuster zum journalistischen Selbstverständnis Journal

• Journalismus bedeutet aus einer bestimmten Perspektive berichten

• Journalismus bedeutet kontroverse Standpunkte transportieren

• Journalismus bedeutet komplexe Zusammenhänge erklären

• Journalismus bedeutet sich nicht instrumentalisieren zu lassen

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Wie wirkt sich das journalistische Selbstverständnis auf die Gestaltung von Nachrichtenbeiträgen aus?

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Storytelling

Gestaltung und Deutung eines Kommunikationsangebots als Story, um Sinn zu erzeugen, um also etwa Aufmerksamkeit zu erzeugen, Erinnerungen, Bilder und Emotionen zu wecken und Verstehen zu lenken.

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Narration beim Journal

quand je lis des dépêches, des articles etc., ça m’arrive d’aller boire un café à la cafétéria et

de m’isoler, puis en lisant je griffonne deux ou trois phrases qui seront peut-être la base des

idées du texte que je vais ensuite rédiger, oui. […] oui voilà … que je peux griffonner sur les

dépêches, ou un paragraphe en évidence avec une flèche, ah tiens ça pourrait être un début

de phrase ou une chose comme ça (tsr_tj_070212_RG_frame, Zeilen 666–682)

c’est difficile d’évaluer exactement le cheminement, ça vient des lectures qu’on a eues, des

voyages qu’on a faits, ça vient des images. Je trouve d’ailleurs assez passionnant cette

mosaïque et puis tout d’un coup ça prend forme. (tsr_tj_070212_RG_frame, Zeilen 703–710)

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Sendekritik: il faut qu’il y ait un angle

1201 R: l’intention est intéressante

1202 mais il faut qu’il y ait un angle

1203 sinon je veux dire c’est le c’est le ba-ba

1204 parce qu’on demande aux journalistes d’avoir un angle

1205 nan mais c’est sérieux j’veux pas dire

1206 l’agriculture genevoise est intéressante

1207 y a cinquante mille paysans

1208 il faut en parler

1209 c’est oui il faut

1210 mais quel est le quel est le titre

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Produktionsprozesse und Strukturen

• Hoher Stellenwert Text: Mit ausgereiften Textentwürfen an den Schnittplatz

• Organisation der Redaktion nach Ressorts: Spezialiserung, orginelle Zugänge zu Themen, nuancierte Vermittlung von Aktualität

• Beruflicher Hintergrund der Beforschten: 3 von 5 haben Erfahrung bei Printmedien, wo sie lange und komplexe Texte verfasst haben. Einer sagt von sich, dass er „keine Ahnung vom Filmen“ habe.

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Narration bei 10vor10

dann geht es um eine fernsehgerechte umsetzung, da geht es vielleicht darum, bei einem gewissen thema

gute bilder dort zu haben, ein gutes storytelling entwickeln können, das hat dann stark mit der recherche zu

tun, was für personen müssen dort vorkommen, welche personen sind tragend für einen beitrag, welche

personen sind zwingend für eine geschichte, welche bilder sind es (sf_zvz_061122_MP_frame, Zeilen

242-252)

und das ist wahrscheinlich auch spannend jetzt, am fernsehjournalismus, dass wir eben mit sprache mit

bildern, mit emotionen auch, viel mehr arbeiten können, als vielleicht dann im print, wo man vielleicht auch

eindimensionaler ist, und alles auch mit der sprache stehen lassen muss oder (sf_zvz_061122_MP_frame,

Zeilen 256-264)

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es muss ein klares konzept auf dem tisch liegen, worum geht es überhaupt, und dann muss es so umgesetzt

sein, dass man es versteht, und dass es dramaturgisch so gemacht ist, dass man es gerne schaut

(sf_zvz_061122_MP_frame, Zeilen 331-336)

Sie (die Redaktion) ist aber gleichwohl nicht so stark an die news gebunden, wie das vielleicht eine

tagesschau ist, wir haben ein bisschen mehr freiheiten, wir können den fokus ein bisschen mehr auftun, wir

können eine geschichte erzählen, es hat einen höheren gestaltungswillen, denke ich, als dass eine

tagesschau per se schon hat (sf_zvz_061211_CB_frame, Zeilen 222-231)

du hast einfach mehr- mehr zeit zur verfügung, um ein bild mehr wirken zu lassen, als du das vielleicht in

anderen sendungen hast (sf_zvz_061211_CB_frame, Zeilen 282-285)

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Sendekritik: Stil

0986 X5: und das ist mir ist das aufgefallen

0987 das das jetzt auch kürzlich

0988 in einem anderen zusammenhang mal

0989 mich persönlich stört das

0990 ist das jetzt gang und gäbe

0991 das man jetzt wirklich so prangermässig sagt

0992 und der ist es

0993 so close up auf die augen

0994 ich finde das heavy

0995 und ich wollte fragen

0996 ob das jetzt quasi unser stil ist

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0997 R: nein ich habe das gefühl gehabt

0998 der mann sei bekannt oder und und und

0999 P: ja der mann ist bekannt

1000 X5: nein hier rede ich von bildern

1001 also so quasi ganz nah auf die augen

1002 von dem bösen natürlich

1003 R: das ist natürlich ein stilmittel

1004 X5: ja aber aber ist

1005 R: das in das in BBC filmen ganz gängig ist und so

1006 X5: ich finde das noch ein happiges stilmittel

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Sendekritik: Emotionalität

1612 nein der auftritt ist sicher stark gewesen

1613 emotional

1614 aber inhaltlich bin ich (xxx)

1615 P: also ich finde einfach dort hätte man die em-

1616 die emotionalen sachen

1617 die hätte ich mir fruher im beitrag gewunscht

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Produktionsprozesse und Strukturen

• Hoher Stellenwert Bild: Beitragsproduktion am Schnittplatz

• Späte Sendezeit: Abgrenzung von den anderen Informationssendungen des SF durch Storytelling und Darstellungsstile

• Beruflicher Hintergrund der Beforschten: 3 von 5 haben beim Privatfernsehen als VJ gearbeitet, die beiden anderen haben Fernseherfahrung

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Narration bei der Tagesschau

meistens habe ich die bilder schon gesehen, dass ich schon relativ genau weiss, was an bildern vorhanden ist, und äh überlege mir dann, ja wie wie wie kann man das, was man zu diesem thema sagen muss und so, sozusagen mit diesen bildern abdecken, oder was kann man mit diesen bildern machen, je nachdem spielt das eine oder das andere eine grössere rolle

sf_ts_061016_0900_strub_frame, Zeilen 1248-1259

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Sendekritik: Journalismus ist Handwerk

0300 UBS ist gut gewesen

0301 auch diese grafik

0302 handwerklich war es gut gemacht

0303 schön alles angetextet

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0325 dann ist lutzenberg gekommen

0326 dort ist es einfach etwas handwerkliches

0327 man fängt nie eine kurzmitteilung mit der schlagzeile an

0328 sondern mit einem ganzen satz

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Produktionsprozesse und Strukturen

• Auswahl und Bearbeitung von Themen hierarchisch gesteuert

• Hoher Stellenwert Verständlichkeit

• Beruflicher Hintergrund der Beforschten: 2 von 5 haben Agenturerfahrung (während diese bei den anderen beiden Redaktionen gänzlich fehlt)

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Fazit

• Strukturelle Bedingungen und das journalistische Selbstverständnis von Redaktionen wirken sich auf die Darstellung von Nachrichteninhalten aus

• Das journalistische Selbstverständnis wird in sprachlichen Interaktionen reproduziert und / oder verändert

• Ethnographische Zugänge und Analysen des Sprachgebrauchs von Medienschaffenden ermöglichen Rückschlüsse darauf, wie der Kontext der Medienberichterstattung und die Darstellung von Themen zusammenhängen

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