Transcript

Leben mit ME/CFSMyalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome

© Foto: Frank Röth, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Informationen zu ME/CFS w

Die Lage der ME/CFS-Patienten in Deutschland w

Berichte von Betroffenen und Angehörigen w

Eine Broschüre für Angehörige

2 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Liebe Angehörige und Freunde von ME/CFS-Patienten,

ImpressumLeben mit ME/CFSEine Broschüre für AngehörigeJanuar 2012

Bildnachweise:Titelfoto: ©Frank Röth, FAZ im Text: Regina Clos, Heinrich Schuld, NN

v.i.S.d.P., Layout und Redaktion:Regina Clos (www.cfs-aktuell.de) für dasBündnis ME/CFS www.buendnis-mecfs.de

Diese Broschüre wurde über die Finanzierung durchdie kassenartenübergreifende Gemeinschaftsförderungnach §20c SGB V der örtlichen/reginalen Selbsthilfe-gruppen zugunsten des Netzwerks CFS Hannoverermöglicht.

mit dieser Broschüre möchten wir Ihnen Informationen über die neuro-immunologische Erkrankung ME/CFSgeben. Es ist unser Anliegen, das Wissen um diese Erkrankung zu verbessern und zu verbreiten, um so diePatienten und ihre Familien in ihrer schwierigen Situation zu unterstützen.

Diese Broschüre bietet Ihnen einen kurzen Überblick über dieErkrankung (Seite 3), erklärt die medizinischen Grundlagen (Seite 8und 9) und beantwortet häufig gestellte Fragen (Seite 5 bis 7). Sieerfahren, warum die meisten Patienten durch alle sozialen Netze fal-len und warum die Situation für die Erkrankten und ihr Familienextrem schwierig ist (Seite 10 und 11). Betroffene – eine Patientinund die Mutter einer erkrankten Tochter – kommen selbst zu Wortund berichten über ihr Leben und ihren Umgang mit ME/CFS(Seite 4 und 5, Seite 12 und 13).

Wir möchten Ihnen mit dieser Broschüre helfen, eine Vorstellung von der Krankheit zu bekommen, sowohlvon der wissenschaftlichen Seite, als auch vom Erleben der Betroffenen. Vielen sieht man die Schwere ihrerErkrankung nicht an, und so fällt es Außenstehenden oft schwer, die extrem geringe Energiespanne nachzuvoll-ziehen, die diese Menschen zur Verfügung haben. Die Broschüre gibt Anregungen, wie Sie Ihren Angehörigenmit ME/CFS unterstützen können.

Außerdem erhalten Sie einige wesentliche Informationen zu den wissenschaftlichen und medizinischenGrundlagen dieser schweren neuro-immunologischen Erkrankung. Immer noch wird vielfach behauptet, dieseKrankheit sei „ungeklärt“, es gäbe keine diagnostischen Marker und man könne „nichts finden“. Dass dieME/CFS-Forschung in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat und man mittlerweile über ein brei-tes Basiswissen über die biologischen Grundlagen der Erkrankung verfügt, können Sie dem kurzen Überblickvon Prof. Malcom Hooper entnehmen.

Das Bündnis ME/CFS ist ein Aktionsbündnis von Vertretern verschiedener Patientenvereinigungen, die sichbemühen, dieser vergessenen, oft diskriminierten Patientengruppe eine Stimme zu geben. Die Situation für dieErkrankten ist äußerst schwierig und sie benötigen jede Unterstützung, vor allem aber die Unterstützung ihrerFamilien und Freunde. Wir hoffen, dass wir Ihnen in dieser Broschüre einige für Sie hilfreiche Informationengeben können. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir die schwierige Situation der Patienten und ihrer Familienverbessern und bitten Sie herzlich darum, sich für Ihren erkrankten Angehörigen einzusetzen.

Ihr Bündnis ME/CFS

Inhalt

Editorial 2Was ist ME/CFS? 3Auf einmal ist das Leben vorbei 4Häufig gestellte Fragen 5ME/CFS kurz gefasst 7Fakten und Anomalien bei ME/CFS 8Die Lage der ME/CFS-Patienten in Deutschland 10„Wir geben ME/CFS ein Gesicht” 11Meine Tochter ist an ME/CFS erkrankt 12Vom Umgang mit starken Emotionen 14Angehörige in Großbritannien engagieren sich 15

Was ist ME/CFS?Myalgische Enzephalomyelitis / ChronicFatigue Syndrome (ME/CFS) ist eine neuro-immunologische Erkrankung. Die Welt-gesundheitsorganisation (WHO) listetME/CFS in der Internationalen Klassifikationder Krankheiten (ICD-10) unter G93.3 auf.

w Große epidemiologische Studien in den USA undGroßbritannien legen nahe, dass wir allein inDeutschland von 300.000 Betroffenen ausgehenmüssen, weltweit von ca. 17 Millionen.

w Zentrales Merkmal ist eine überwältigendeSchwäche, verbunden mit schwerem Krankheits-gefühl und zahlreichen weiteren Symptomen wieSchmerzen, neurologischen, endokrinen undimmunologischen Manifestationen.

w Auslöser sind häufig akute virale und/oder bakteri-elle Infektionen, von denen sich die Patienten nichtmehr erholen. Man vermutet, dass es infolge sol-cher Infektionen und/oder anderer Stressoren wieetwa Toxinen (Giftstoffen) zu einer Entgleisungzahlreicher biochemischer Regulationsprozessekommt.

w Die Mehrzahl der Erkrankten ist dadurch arbeits-unfähig, viele sind zu Pflegefällen geworden, weilsie einfachste Alltagsverrichtungen nicht mehrbewältigen können.

w Schon geringe körperliche und geistige Belastungenführen zu massiver Zustandsverschlechterung, d.h.einer Verstärkung aller Symptome.

w Viele Patienten sind über Monate oder sogar Jahrenicht in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen.Besonders schwer Erkrankte sind dauerhaft ans

Bett gebunden und müssen von ihren Angehörigenrund um die Uhr gepflegt werden.

w ME/CFS bedeutet für die Patienten in der Regelden Verlust des Berufes und der finanziellenSicherheit, den Verlust der körperlichen und geisti-gen Kräfte, den Verlust der Selbstständigkeit undSelbstbestimmung.

w In Deutschland ist das Wissen um diese Krankheitnoch wenig verbreitet oder entspricht nicht demStand der wissenschaftlichen Forschung. Nochimmer wird ME/CFS als eine psychische odersomatoforme Erkrankung angesehen bzw. mit sol-chen Krankheitsbildern verwechselt und dement-sprechend mit Verhaltenstherapie und Aufbau-training (Graded Exercise) „behandelt“.

w Aktivierung jenseits der sehr engen Grenzen dieserPatienten macht diese krank, führt oft zu schwerenRückfällen und verschlechtert die langfristigePrognose erheblich.

w Diesen Patienten mangelt es nicht an Willen oderAntrieb – im Gegenteil. Ihr Leidensdruck ist sostark, dass sie alles tun, um wieder gesund zu wer-den – leider manchmal auch Dinge, die ihnen scha-den, weil sie Unwissenden in die Hände fallen.

w Mittlerweile belegen mehr als 4.000 Forschungs-arbeiten weltweit typische biologisch-organischeAnomalien bei ME/CFS-Patienten, die sich vonKrankheitsbildern mit auf den ersten Blick ähnli-cher Symptomatik unterscheiden.

w In fast allen Fällen werden die Kosten fürMedikamente, die das Leiden auf der symptomati-schen Ebene lindern können, von den Kranken-kassen nicht erstattet.

w Es gibt für die Betroffenen keinerlei Versorgungs-struktur, sodass sie sowohl auf der sozialen wie aufder medizinischen Ebene durch alle Netze fallen. n

Hauptsymptome des ME/CFS w Zustandsverschlechterung nach körperlicher

oder geistiger Belastung, häufig zeitverzögert 24bis 48 Stunden nach Aktivität

w Anhaltende, massive Erschöpfung über längerenZeitraum > 6 Monate

w Plötzlich aufflackernde Erkältungssymptomeund häufige Infekte, oft subklinisch

w Muskel-, Gelenk- und schwere Kopfschmerzenw Muskelschwäche, Lähmungenw orthostatische Intoleranz (Unfähigkeit, über

einen längeren Zeitraum aufrecht zu bleiben)w schmerzhafte/vergrößerte Lymphknoten

w Schlafstörungen, nicht erholsamer Schlafw Massiv eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis w Starke Benommenheitw Schwindel w Licht- und Geräuschempfindlichkeit w Sprachproblemew Sehstörungenw Erhöhte Temperaturw Herzrasen/Herzklopfen/Arrhythmien·w Magen-Darm-Beschwerden w Hautausschläge w Starkes Unwohlsein

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 3

4 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Im Herbst 2004 hatte ich im Alter von 24 Jahren einenHörsturz. Nachdem mir Tabletten nicht halfen,bekam ich Infusionen. Es waren fünf geplant, aller-dings wurde ich schon nach der ersten sehr krank undsomit wurde das Ganze vorzeitig abgebrochen. Nachdrei Wochen ging es mir etwas besser und ich konntewieder zur Arbeit gehen, doch ansonsten verbrachteich meine Freizeit gezwungenermaßen fast ausschließ-lich auf dem Sofa. Verabredungen, ins Kino gehen,einkaufen gehen, das alles war nicht mehr möglich.Zum Glück wohnte ich noch bei meinen Eltern, dennarbeiten gehen und einen eigenen Haushalt hätte ichnicht mehr bewältigen können.

Im Frühling/Sommer 2005 ging es dann richtig los,ich schwitzte innerhalb von zwei Stunden meineKleidung komplett durch, hatte häufig Fieber, meineLymphknoten unter den Armen schwollen so starkan, dass richtige Beulen zu sehen waren, mir warschlecht, ich übergab mich und vor allem hatte ichkaum noch Kraft. Jede Kleinigkeit war anstrengendund jeder Knochen in meinem Körper schmerzte. Ichfehlte immer öfter bei der Arbeit, ging teilweise mitFieber und Schmerztabletten arbeiten.

Irgendwann brach ich völlig zusammen, und seit-dem bin ich arbeitsunfähig geblieben.

Seit etwa einem Jahr bin ich nun komplett bettläge-rig. Mittlerweile benötige ich Hilfe beim Waschen,Anziehen usw. Auf die meisten Medikamente,Nahrungsergänzungsmittel und auch auf einigeLebensmittel reagiere ich überempfindlich, was sich

durch zusätzlichen körperlichen Kraftverlust, Läh-mungen der Sprachfähigkeit bis hin zu Bewusst-losigkeit äußert. Auf der Suche nach einem neuenHausarzt wurde ich von mehreren Ärzten abgewiesen.Eine wirkliche ärztliche Versorgung habe ich bis heutenicht.

Oft macht es mir zu schaffen, dass mein Vaterarbeiten geht und ich nicht. Davon abgesehen mussich damit klarkommen, dass ich mir ein Leben mitMann und Kindern gewünscht hatte und nicht alskranker, erwerbsunfähiger und schwerbehinderterMensch, der auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Ichfühle mich oft nicht nur nutzlos, sondern auch alszusätzliche Belastung für meine Eltern. Auch vonVerwandten kam keinerlei Unterstützung oder Hilfeim Notfall, stattdessen Bemerkungen wie „Du hast esgut, du musst nicht arbeiten gehen.“, „Ich bin auchkrank und gehe trotzdem arbeiten. Aber ich bin haltstark, du bist schwach.“, „Ihr fahrt ja nicht gerne inUrlaub oder geht mal weg. Ihr bleibt lieber zu Hause.“„Geh mal spazieren, beweg dich, dann geht es dirauch besser“ , die mir sehr weh taten.

Hinzu kam, dass ich nach und nach meine besten„Freunde“ verlor, da ich mit ihnen nicht mehr mithal-ten konnte und nicht mehr in der Lage war, dieFreundschaften so wie früher zu pflegen. Gerade indieser schweren Zeit hätte ich mir sehr dieUnterstützung, den Zuspruch und Trost aus demFamilienkreis gewünscht. Es hätte gut getan, dasGefühl vermittelt zu bekommen, dass man als Menschgemocht und anderen wichtig ist.

Auf einmal ist das Leben vorbeiMelanie S. berichtet

Melanie war eine zufriedene jungeFrau, die im Büro eines großenUnternehmens arbeitete. Der Jobmachte ihr viel Spaß, in ihrerFreizeit traf sie sich mit Freunden,ging gerne auf Konzerte, mochteFußball sowie kochen und backen.Als sie 24 Jahre alt war, verändertesich alles: Sie erkrankte anME/CFS. Melanie beschreibt, wasdas für ihr Leben bedeutet und wieihr Umfeld darauf reagierte:

Die einzige Unterstützung erhalte ich von meinenEltern, denen ich so dankbar dafür bin für alles, wassie getan haben (und auch heute noch tun), dass ich esnicht in Worte fassen kann. Mittlerweile habe ich zumGlück neue Freunde gefunden (wenn auch leider nurüber das Internet), gesunde wie auch krankeMenschen, die mir das Gefühl geben, als Menschwichtig und liebenswert zu sein, egal ob krank odergesund. All diesen Menschen bin ich sehr dankbar,denn sie machen für mich meine Existenz lebenswert,sie bereichern mein Leben, und ich habe sie genausoin mein Herz geschlossen.

Ich weiß nicht, was wäre, wenn ich meine Elternnicht hätte und wie es weitergeht, wenn meine Elternauch nicht mehr können oder irgendwann nicht mehrda sind. Früher hatte ich, wie die meisten Menschen,Angst davor zu sterben. Heute habe ich Angst davorso wie jetzt noch 20, 30 Jahre weiterleben zu müssen.

Trotz allem versuche ich, den Kopf nicht hängenzu lassen, auch wenn es manchmal alles andere als ein-

fach ist. Es gibt immer Menschen, denen es schlech-ter geht als einem selbst. Ich persönlich denke, dieeigene Einstellung zum Leben und zur Umwelt ist einganz großer Faktor, der ein Leben, trotz Krankheit,lebenswert machen kann und einen, trotz allerUmstände, trotzdem mit Glück erfüllen kann. Wennich beispielsweise einen guten Tag habe, inInternetforen unterwegs bin und lese, dass es einemanderen Menschen gerade schlecht geht, dann schrei-be ich dieser Person ein paar nette Worte, weil ichweiß, wie viel es einem in einem traurigen Momentbedeuten kann, wenn man weiß, jemand denkt aneinen. Mich macht es glücklich, wenn ich weiß, ichhabe jemandem eine Freude gemacht. Es ist nicht viel,was ich geben kann, aber es kommt von Herzen.

Ich hoffe und wünsche mir für alle Erkrankten,dass die Menschen in ihrem Umfeld ihnen mitVerständnis begegnen, und sie mit dieser schlimmenErkrankung nicht allein lassen. n

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 5

Häufig gestellte Fragen

Ja, ME/CFS kommt in sehr unterschiedlichenSchweregraden vor. Manche Patienten können nochhalbtags arbeiten, leiden aber unter Symptomen wiepermanentem Krankheitsgefühl, haben Schmerzenund können keine zusätzlichen Belastungen aushal-ten. Andere dagegen sind arbeitsunfähig, können aber– unterbrochen von Regenerationsphasen – immer-hin noch stundenweise häuslichen Tätigkeiten nach-gehen, selbst essen und sich versorgen und hin undwieder selbständig das Haus verlassen. In schwerenFällen – etwa 10% der Erkrankten – sind diePatienten dauerhaft bettlägerig und auf permanentePflege und Versorgung angewiesen, da sie sich selbstnicht mehr versorgen und ihre Körperpflege nichtmehr wahrnehmen können. Besonders schwerErkrankte können Geräusche und Licht nicht tolerie-ren und müssen – oft jahrelang – in abgedunkeltenZimmern in völliger Stille liegen. Sie können wedersprechen noch essen und müssen künstlich ernährtwerden.

Nein. Allen Patienten gemein ist die Beeinträchtigungder körperlichen wie der geistigen Leistungsfähigkeit,der Schwerpunkt der Beeinträchtigung kann jedochunterschiedlich sein. Manche Patienten sind körper-lich so geschwächt, dass sie rund um die Uhr bettlä-gerig sind. Manche von ihnen sind vielleicht noch inder Lage, E-Mails zu schreiben oder mit anderenMenschen kurze Gespräche zu führen. Andere wie-derum leiden stärker unter kognitiven Ein-schränkungen; sie können sich noch selbst versorgenund häusliche Tätigkeiten ausüben, haben aber erheb-liche Konzentrationsstörungen und sind zu längerenGesprächen oder Telefonaten nicht mehr fähig.

Ja. Häufig erleben die Patienten im Tagesverlauferhebliche Schwankungen ihrer Leistungsfähigkeit.Es kann beispielsweise vorkommen, dass ein Patientden Tag über bis zum Nachmittag mit starken

Gibt es unterschiedliche Schweregrade vonME/CFS?

Sind bei allen Patienten die Symptome gleichermaßen ausgeprägt?

Gibt es Schwankungen im Befinden?

Schmerzen im Bett verbringen muss; am spätenNachmittag verbessert sich sein Befinden, so dass erdann einige Stunden aktiv sein und z.T. sogar fürBesuche oder Einkäufe das Haus verlassen kann.Auch von Tag zu Tag und Woche zu Woche könnendie Symptome und die daraus resultierendenBeeinträchtigungen schwanken. In den schwerstenStadien schwankt das Befinden oft weniger stark undist gleichbleibend schwer.

In aller Regel erleben andere Menschen, sofern sienicht die nächsten Angehörigen sind, ME/CFS-Patienten nur in solchen Phasen relativen„Wohlbefindens“. Die vorhergehende Ruhephase, umdie notwendige Kraft zu schöpfen, sowie die zwangs-läufig auf die Aktivitätsphase folgende Phase starkerErschöpfung und starken Krankheitsempfindens ver-bringen die Patienten wieder zurückgezogen undallein. Sie werden dann von ihrer Umwelt nicht wahr-genommen, die Kranken sind „unsichtbar“.Außerdem gehen die meisten Menschen davon aus,dass Patienten eine Aktivität, die sie einmal ausführenkönnen, beliebig oft und jeden Tag wiederholen kön-nen. Dem ist aber nicht so. Dies führt meistens zueiner völligen Fehleinschätzung dessen, was diePatienten noch zu leisten in der Lage sind.

Körperliche oder geistige Belastung führt immer zueiner Verschlechterung des Zustands. Für ME/CFS-Patienten ist jede Tätigkeit eine Anstrengung undBelastung, für die der Körper – oft erst am nächstenTag – seinen Tribut fordert und den Patienten zu län-geren Ruhephasen zwingt. Für jeden Tag steht alsonur ein sehr geringes, individuelles Energiebudget zurVerfügung. Wird dieses überschritten, zahlt derPatient danach dafür „Zinsen“. Je nach Schweregradist es auch sehr individuell, worin diese Überschrei-tung besteht. Für manche besteht sie in einem zu lan-gem Spaziergang, für schwer Betroffene auch nur indem Versuch, sich im Bett aufzurichten. Ist die Über-schreitung des Energiebudgets sehr hoch, kann es zueiner länger anhaltenden Verschlechterung führen.

Es gibt bisher keine Standardtherapie, die allenBetroffenen gleichermaßen helfen würde. EinMedikament, das bei einem Patienten zu einerVerbesserung des Zustands führt, kann bei anderenwirkungslos oder sogar schädlich sein. Wichtig ist einegute individuelle Betreuung und Behandlung beieinem Arzt, der mit den unterschiedlichen Aus-prägungen von ME/CFS vertraut ist und der vorallem die aktuellen Forschungen zu ME/CFS mitver-folgt und in die Behandlung einbezieht.

Fragen Sie den Patienten, was für ihn machbar ist,oder worauf Sie besonders achten oder Rücksichtnehmen sollten. Vom Verzicht auf Parfüms, über lei-ses Sprechen bis hin zu praktischen Hilfestellungenjeglicher Art (siehe auch Broschüre „Informationenfür Pflegekräfte“ des Bündnis ME/CFS) hat jederBetroffene unterschiedliche Bedürfnisse. Bieten SieSitz- oder Liegemöglichkeiten an. Ganz wichtig:Ermutigen Sie den Betroffenen von sich aus,Pausen einzulegen, zum Beispiel in Gesprächen.Betroffene gehen erfahrungsgemäß viel zu oft überihre Grenzen, teils aus (falscher) Scham, teils weil sieihre Grenzen noch nicht genau kennen oder weil siesich noch nicht mit ihrem deutlich vermindertenLeistungsvermögen abfinden können. Selbst wennder Betroffene (ungewöhnlich) lebhaft erscheint, ist ermöglicherweise nur durch einen Adrenalinschub füreinen gewissen Zeitraum in der Lage, über seinegewohnten Grenzen hinauszugehen. Gerade dannfällt es Betroffenen schwer, Ruhe zu finden. Tun siedies nicht, ist mit einem Einbruch oder anhaltenderVerschlechterung zu rechnen.

In jedem Fall muss eine Überbelastung des Patientenüber seine individuellen Grenzen hinaus vermiedenwerden. Die Patienten kennen ihre Grenzen in derRegel am besten. Es ist wichtig, dass Angehörige dasrespektieren und sie nicht auffordern, über ihreGrenzen zu gehen. Verhaltens- und Bewegungsthera-pien mit dem Ziel, die Patienten zur Wiedererlangungihrer Leistungsfähigkeit einer schrittweise ansteigen-

6 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Wie nehmen andere Menschen dieseSchwankungen wahr?

Wie wirken sich Belastungen auf denZustand aus?

Gibt es gesicherte und zuverlässigeTherapien?

Wie können Angehörige den an ME/CFSErkrankten unterstützen?

Was sollte vermieden werden?

den Belastung auszusetzen, führen nachweislich zueiner erheblichen Verschlechterung des Zustands – imschlimmsten Fall zum Tod.Auch sollten Patienten sich fernhalten von Personenmit viralen oder bakteriellen Infektionen, da ihrImmunsystem solche Erreger nur sehr schwerbekämpfen kann. Jeder zusätzliche Infekt kann zueiner weiteren Schwächung führen.

ME/CFS ist keine Erkrankung, die zwingend tödlichendet. Dennoch sind einige Fälle bekannt, in denenMenschen an ME/CFS gestorben sind. Bei einigenPatienten kommt es im Laufe der Jahre zu Organ-schäden oder Folgeerkrankungen wie z.B. Krebs, dietödlich verlaufen können. Es ist davon auszugehen,dass ME/CFS-Patienten eine verkürzte Lebens-erwartung haben.

Leider sind keine Prognosen über den Verlauf vonME/CFS möglich. Manche Patienten erleiden einedauerhafte Verschlechterung des Zustands bis hin zurBettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit. Bei anderenstagniert die Krankheit auf einem bestimmtenNiveau. Es können sich auch einzelne Symptome ver-bessern, so dass die Lebensqualität wieder etwasansteigt. Manche erlangen einen Teil ihrer Leistungs-fähigkeit wieder. Die Heilungsrate beträgt lediglich 0-6%. Der überwiegende Teil der Erkrankten bleibtJahre und Jahrzehnte lang erkrankt; eine schnelleHeilung ist – auch beim derzeitigen Stand derForschung – nicht zu erwarten. n

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 7

Ist eine Prognose über den Krankheitsverlaufmöglich?

Ist ME/CFS tödlich?

ME/CFS kurz gefasst:ME/CFS ist eine sehr komplexe Erkrankung, von der nicht ein einzelnes Organ betroffen ist, sondern beider mehrere Systeme des Körpers beeinträchtigt sind: das Immunsystem, das Nerven- und Hormonsystem.Es ist eine Multisystemerkrankung – daher die Vielfalt der Symptome und daher die Schwierigkeit, eineneinzelnen verursachenden Faktor zu finden.

w Es scheint, als ob das Immunsystem nach einer Infektion auf einem erhöhten Aktivitätslevel „hängen-geblieben“ ist und permanent arbeitet – was viel Energie verbraucht. Außerdem befinden sich die einzel-nen Zelltypen des Immunsystems in einem Ungleichgewicht, sodass eindringende Erreger nur schwerbekämpft werden können. Infolgedessen findet man bei ME/CFS-Patienten oft eine ganze Reihe chroni-scher Infektionen, ausgelöst durch Viren, Bakterien und/oder Pilze.

w Auch der Stoffwechsel ist auf vielfältige Weise beeinträchtigt. So sind zum Beispiel die Mitochondrien,die „Kraftwerke“ der Zellen, die die Energie für alle lebensnotwendigen Vorgänge im Körper produzie-ren, in ihrer Funktion beeinträchtigt. Bei ME/CFS-Patienten stellen die Mitochondrien sehr viel wenigerEnergie bereit als bei gesunden Menschen.

w Im Gehirn konnten ebenfalls Auffälligkeiten nachgewiesen werden wie eine regionale Minderdurch-blutung des Gehirns, eine Verminderung der Hirnsubstanz, eine verminderte Glukoseaufnahme in Teilendes Gehirns und Entzündungsprozesse, die sich anhand von Anomalien in der Gehirn-Rückenmarks-flüssigkeit zeigen.

Die Ursache der Erkrankung ist noch unklar. Manche Forscher vermuten, dass ME/CFS durch Umweltgifteausgelöst wird, andere sind davon überzeugt, dass Viren der Auslöser sind. Auch eine Kombination beiderTheorien könnte richtig sein. Zurzeit wird ein bestimmtes Retrovirus, XMRV/HGRV, als möglicher Auslöservon ME/CFS diskutiert, da es bei einigen Patienten nachgewiesen werden konnte. Es könnte auch sein, dassnicht ein einzelnes Virus zu einer ME/CFS-Erkrankung führt, sondern nur mehrere Viren bzw. andereFaktoren wie unterschiedliche genetische Ausstattungen in Kombination. Kürzlich hat man mit einem Mittelgegen Krebs, das bestimmte, antikörperproduzierende Zellen des Immunsystems abtötet, bei zwei Drittelnder damit behandelten ME/CFS-Patienten eine signifikante Besserung erzielt, so dass man auch Auto-immunprozesse als ursächlichen Faktor vermutet.

Weitere Forschung ist dringend nötig, um den Patienten in Zukunft helfen zu können.

8 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Fakten und Anomalien bei ME/CFSDie biomedizinische Literatur zwischen 1955 und 2006Von Malcom HooperMalcom Hooper ist Biochemiker und emeritierter Professorfür Medizinische Chemie der Universität Sunderland,Großbritannien und engagiert sich seit vielen Jahren für die

Belange der ME/CFS-Patienten.

Die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) wurde seit1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO inder International Classification of Diseases ICDunter dem Punkt G 93.3 aufgelistet. Die Umbenen-nung der ME in Chronic Fatigue Syndrom (CFS) imJahr 1988, mit der eine unangebrachte Betonung auf„Fatigue“ („Erschöpfung“) gelegt wurde, verharmlostdie beträchtliche Behinderung, die von dieserKrankheit ausgeht (1) und die soweit gehen kann, dassdie Betroffenen im Rollstuhl sitzen oder bettlägerigsind und 24 Stunden am Tag betreut werden müssen.

ME/CFS ist durch neurologische, immunologische,gastrointestinale, kardiovaskuläre und Skelettmuskel-Anomalien gekennzeichnet. Schwere Formen derErkrankung können zu Lähmungen, Anfällen, hart-näckigen, schweren Kopfschmerzen und lebensbe-drohlichen Komplikationen führen.

Chaotische Krankheitsdefinitionen und diagnosti-sche Symptomkriterien haben die Studienkohortenverdorben und Forschungsdaten unbrauchbargemacht (2,10). Deshalb haben die Forscher undKliniker, die im Jahr 2005 an dem ME/CFS-

Forschungsforum in Adelaide teilgenommen haben,einstimmig für die Übernahme der allseits gelobtenKanadischen Klinischen Kriterien von 2003gestimmt.

ME/CFS kann sich durch klinische Syndromeäußern, die mit infektiösen Erregern und einer Gift-stoffexposition im Zusammenhang stehen (11-15). Da-zu gehören das Epstein-Barr-Virus, Ciguatoxin (13),Organophosphat- und Organochlorpestizide (12,14).

Die Prävalenz wird auf 235-700 Betroffene pro100.000 Menschen geschätzt. Hierbei sind alle sozioö-konomischen und ethnischen Gruppen und Männerund Frauen aller Altersgruppen betroffen (16-21).Damit tritt ME/CFS häufiger auf als AIDS, Lungen-oder Brustkrebs (19).

Die Beeinträchtigung durch die Krankheit (22-26)

entspricht in vielen Fällen der Lebensqualität einesMenschen im Endstadium von AIDS (17,27),Menschen mit chronisch obstruktiver Lungen-erkrankung (25, 28) oder Herzerkrankungen oder demEndstadium von Nierenversagen (29).

Einige wenige Menschen erholen sich (durch-schnittlich nach sieben Jahren [17]), manche erholensich partiell und ein beträchtlicher Anteil von 25% (20)

ist auf Dauer schwer behindert (17-20, 2-23).

Graded Exercise und kognitive Verhaltenstherapie: ungeeignete und überholteAnsätze, die auch in Deutschland noch immer den Umgang mit ME/CFS bestimmen!Eine der Hypothesen, die dem Einsatz von kognitiver Verhaltenstherapie (Cognitive Behaviour Therapy –CBT) bei ME/CFS zugrunde liegt, beruht auf der Prämisse, dass die Behinderungen des Patienten erlerntund die Folge von falschem Denken sind. Diese Hypothese „betrachtet die Pathophysiologie des CFS als vollständigreversibel und lediglich aufrechterhalten durch die Wechselwirkungen von Wahrnehmung, Verhalten und emotionalen Prozessen.Der Patient muss nur sein Denken verändern, und schon werden die Symptome verschwinden. Nach diesem Modell sollte CBTnicht nur die Lebensqualität des Patienten verbessern, sondern könnte möglicherweise sogar zur Heilung führen.“ DieBefürworter dieser Hypothesen schlagen vor, dass „im Idealfall der Hausarzt das CFS diagnostizieren und diePatienten, wie bei anderen funktionellen somatischen Syndromen auch, direkt und ohne den Umweg über Fachärzte zuVerhaltenstherapeuten überweisen sollte“.Die Befürworter dieses Ansatzes ignorieren die nachweislich dokumentierte Pathophysiologie des ME/CFS,missachten die Realität der Symptome des Patienten, erklären die Patienten für selbst schuld an ihrerErkrankung und enthalten ihnen die medizinische Behandlung vor. (...) Dr. A. Komaroff, Professor an derHarvard Universität, stellte fest, dass die Belege über biologische Prozesse bei dieser Erkrankung „nicht mit derHypothese vereinbar sind, dass (dieses Syndrom) aus Symptomen besteht, die nur eingebildet sind oder durch zugrundeliegendepsychiatrische Leiden verstärkt werden. Es ist an der Zeit, diese Hypothese zu begraben.“ Quelle: Kanadisches Konsensdokument, S. 12

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 9

Biomedizinische Anomalien:

Immunsystem, beispielsweise:w Chronische Aktivierung und Dysfunktion des Immunsystems (24,30-32), Hinweise auf persistierende virale

Infektionen (33) (enterovirale [34-41], EBV [42-47] und HHV-6/7 [43,45-50]), Aktivierung des 2-5A-antivira-len Pfades (47, 51-56), niedrige Zahl und Zytotoxizität der Natürlichen Killerzellen (33, 47, 54, 57-63),Anomalien der T-Zellen (59, 61-62, 64-66), erhöhte Zelltod-Rate (73-74) sowie Allergien (54, 75-77)

w Anomalien der Genexpression im Bereich der Immunfunktionen (61, 66, 78-81)

Gehirn/Zentrales Nervensystem, beispielsweise:w Objektive Messergebnisse verschiedener Dysfunktionen (54,82-86) – Defizite beim Arbeitsgedächtnis, bei

der Konzentration, der Informationsverarbeitung (87-95) und den autonomen Funktionen einschließlichneural vermitteltem niedrigen Blutdruck und orthostatischer Intoleranz (96-98).

w Anomalien – regionale Minderdurchblutung des Gehirns, zu sehen im SPECT (99-106), Anomalien in derweißen und grauen Gehirnsubstanz, festzustellen durch MRT (106-112), Entzündungsprozesse (66, 106-107,

113-114), Hypomyelinisierung (83, 113-114), Dysfunktionen der Neurotransmitter (115-116, 119) und metaboli-sche Dysfunktionen (117-121), zu sehen im MRT/PET sowie Anomalien der Proteine in derRückenmarksflüssigkeit (122-123)

w Anomalien in der Genexpression im neurologischen Bereich (115)

Endokrines System: Hypothalamus - Beeinträchtigung in der Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse (HPA-Achse) (124-131) und Anomalien der Genexpression im neuroendokrinenBereich (78)

Herz-Kreislauf-System: Minderdurchblutung (54, 83, 99-106, 132-136), Beeinträchtigung der Gefäßspannung(27, 134-137), einschließlich einer abnormalen Reaktion auf Acetylcholin, geringes Blutvolumen (134-135),Vaskulitis (136-137), d.h. entzündliche Erkrankungen der Blutgefäße, einschließlich erhöhtem oxidativenStress, Entzündungen und arterielle Gefäßsteifigkeit (138-139) sowie Funktionsstörungen des Herzens(132, 135, 140-141)

Muskuläre Störungen: strukturelle und biochemische Anomalien (38, 68, 89, 142-148) einschließlich einergestörten Erholung der Muskeln nach körperlicher Belastung (149-154), wobei die Genexpression in derReaktion auf Belastung abnormal ist und es zu einer Zustandsverschlechterung nach Belastung kommt (155).

Weitere Störungen: Gastrointestinale Störungen (156-158) einschließlich Nahrungsmittelunverträglichkeiten(159-160) und Reizdarmsyndrom IBS (156, 161), Dysfunktion der Mitochondrien (38, 82, 125, 162-163) einschließ-lich Anomalien der Genexpression im Bereich der Mitochondrien (164) und des Ionentransports undFunktionsstörungen der Ionenkanäle (155, 165-166) Literaturangaben auf www.cfs-aktuell.de/hooper.htm n

Weitere Informationen finden Sie hier:w Auf der Website des Bündnis ME/CFS finden Sie u.a. Informationen über aktuelle Aktionen sowie die

Informationsbroschüren für Ärzte, für Pflegeberufe und für Angehörige: www.buendnis-mecfs.de .w Jeweils aktuelle, neue Informationen über Forschung und Politik auf dem Gebiet des ME/CFS, insbeson-

dere auch Berichte über die Forschung im Ausland, finden Sie auf www.cfs-aktuell.de .w Die Lost Voices Stiftung bietet unter www.lost-voices-stiftung.org ebenfalls wichtige Informationen

über das Krankheitsbild und ihre Arbeit an.w Beim Fatigatio, dem Bundesverband CFS/CFIDS/ME, können Sie sich beraten lassen, wenn es um die

Suche nach Ärzten oder Probleme mit Krankenkassen und Rentenversicherern geht. Der Fatigatio orga-nisiert in mehreren Städten regionale Treffen. Weitere Infos unter www.fatigatio.de .

w Eine schwer an ME/CFS erkrankte junge Frau unterhält einen Blog, auf dem sie sowohl über ihre eigeneErkrankung als auch über neue Forschungsergebnisse und andere Entwicklungen im Gesundheitsbereichberichtet: http://verlorene-zeit.blogspot.com

w Wenn Sie mit anderen Betroffenen in Kontakt treten wollen, empfehlen wir www.cfs-treffpunkt.de .

Die WHO klassifiziert ME/CFS im ICD-10 Codeunter G93.3 als neurologische Erkrankung. Die deut-schen Ärztekammern jedoch halten sich nicht an diesevon der WHO vorgesehene Einordnung. In denPapieren der Ärzteverbände wird ME/CFS als relativharmlose psychische Erkrankung angesehen. Alsmögliche Behandlung werden körperliches Training,Verhaltenstherapie und Antidepressiva angegeben.Wie kann es zu diesen von der WHO abweichendenAussagen kommen?

Die meisten dieser Papiere wurden seit Jahren odergar Jahrzehnten nicht mehr überarbeitet. Neuere wis-senschaftliche Erkenntnisse werden deswegen daringar nicht berücksichtigt. Gerade aber in den vergange-nen 10 Jahren hat die ME/CFS-Forschung großeFortschritte gemacht. In anderen Ländern führendiese Forschungsergebnisse zu Verbesserungen in derVersorgung der Patienten. So entstand beispielsweisein Oslo im Jahre 2008 eine eigene Klinik fürME/CFS-Patienten, die auch auf die VersorgungSchwersterkrankter eingerichtet ist. In den USA exi-stieren bereits mehrere spezialisierte Kliniken.

In Deutschland dagegen werden die Ergebnisse derinternationalen Forschung kaum zur Kenntnisgenommen und fließen auch nicht in die ärztlichenFortbildungen ein. Die in Deutschland geltendenRichtlinien und Dokumente entsprechen nichtmehr dem neuesten Stand der Wissenschaft.

Ärzte, die sich in den Papieren der jeweiligenFachgesellschaften über ME/CFS informieren möch-ten, erhalten diese veralteten und falschen Informa-tionen – und keinerlei Hilfen für eine Behandlungihrer Patienten. Therapeutische Möglichkeiten sinddeswegen vielen Ärzten unbekannt.

Nur wenige Ärzte in Deutschland sind mit derErkrankung so vertraut, dass sie ME/CFS zuverlässigdiagnostizieren können. Für die Betroffenen bedeutetdas häufig, dass sie eine weite Wegstrecke bewältigen

müssen, um überhaupt einen Arzt zu finden, der siebehandeln kann. Für Schwerbetroffene ist dies garnicht mehr möglich.

Dauerhaft bettlägerige Patienten stehen außerdemvor dem Problem, einen Hausarzt zu finden, derHausbesuche anbietet, da sie selbst nicht mehr in derLage sind, eine Arztpraxis aufzusuchen.

In Deutschland gibt es kein einziges Spezial-zentrum, das auf die Versorgung von ME/CFS-Patienten ausgerichtet ist. Besonders schwer Betrof-fene sind zu krank, um in einem Allgemeinkranken-haus aufgenommen zu werden, da Licht und Geräu-sche ihren Zustand weiter verschlechtern würden.Pflegedienste, die mit der Betreuung schwerkrankerME/CFS-Patienten vertraut sind, gibt es nicht.

Dies führt dazu, dass viele bettlägerige Patientenkeinen Arzt haben, der sie betreut, und ihreAngehörigen mit der Pflege allein gelassen werden.

Da sich die Krankenkassen an den Vorgaben der Ärz-tekammern orientieren, werden immunologischeBluttests oder die Messung der Mitochondrien-funktion, die Hinweise für einen möglichen therapeu-tischen Ansatz geben könnten, nicht bezahlt. So para-dox das klingen mag, es entspricht der bitterenRealität: ME/CFS wird als psychische Erkrankungangesehen, und Laboruntersuchungen, die das wider-legen und eine Immunstörung aufzeigen würden,werden den Patienten vorenthalten. Viele Ärzte ord-nen sie erst gar nicht an, da von den Ärztekammernsolche Bluttests als unnötig angesehen werden. Findetder Patient einen Arzt, der die Tests auf seinenWunsch hin durchführt, muss er die Kosten dafürmeist selbst übernehmen. Dies stellt für einen chro-nisch kranken Menschen ohne Einkommen eine hohefinanzielle Belastung dar.

Ebenso wird die Erstattung von Kosten für Medi-kamente, die Symptome lindern oder das Immun-

10 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Die Lage der ME/CFS-Patienten in DeutschlandDie Lage von ME/CFS-Patienten in Deutschland ist momentan katastrophal. Die meisten Patienten erhalten keineangemessene medizinische Versorgung. Viele von ihnen sind in ihrer Existenz bedroht, da sie fälschlicherweise für vollarbeitsfähig erklärt wurden und ihnen Sozialleistungen vorenthalten werden. Vielleicht fragen Sie sich als Angehöriger,wie es sein kann, dass ein schwerkranker Mensch in einem Land wie Deutschland keine angemessene medizinischeVersorgung erhält und finden es unbegreiflich, dass einem kranken, arbeitsunfähigen Menschen die Sozialhilfe verweigertwird. Im Folgenden versuchen wir, die Situation verständlicher zu machen.

Ärzte wissen oft nichts über die Krankheit

Passende Medikamente und Untersuchungenwerden meist nicht bezahlt

system stabilisieren können, von den Krankenkassenhäufig verweigert. Es wird darauf verwiesen, dass dieWirksamkeit der Medikamente nicht in Studien belegtsei. Tatsächlich gibt es kaum klinische Studien zurWirksamkeit bestimmter Medikamente bei ME/CFS– eine fatale Situation für alle Erkrankten, die Medika-mente, die sich bereits bei vielen Patienten in derPraxis bewährt haben, zu deren Wirksamkeit aberkeine Studien durchgeführt wurden, selbst bezahlenmüssen. Tatsächlich hat es in Deutschland noch keineStudie über medikamentöse Behandlung bei ME/CFSgegeben – etwas, das man sich bei anderen schwerwie-genden Krankheiten wie z.B. Krebs kaum vorstellenkann.

Auch Gutachter von Renten- und Kranken-versicherungen oder Versorgungsämtern sind oft nurunzureichend über ME/CFS aufgeklärt. Viele Patien-ten werden fälschlicherweise für arbeitsfähig erklärt,da man den Patienten die Schwere ihrer Erkrankungnicht ansieht. Häufig werden ihnen Sozialleistungenvorenthalten oder ihnen nur dann zuerkannt, wenn siesich bereit erklären, sich in einer psychosomatischenKlinik behandeln zu lassen.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf„Studien“ hingewiesen, die belegen würden, dassPsychotherapie und körperliches Training beiME/CFS helfen würden. Die Patienten, die für solche

Studien ausgewählt werden, erfüllen jedoch nicht dieDiagnosekriterien für ME/CFS, sondern leiden untereinem allgemeinen Erschöpfungszustand oder einemBurn-Out-Syndrom. Patienten mit richtig diagnosti-ziertem ME/CFS sind aufgrund ihrer körperlichenSchwäche gar nicht in der Lage, an Studien, in denenkörperliches Training verlangt wird, teilzunehmen.Leider bilden aber genau diese „Studien“ mit Patien-ten, die nicht an ME/CFS leiden, die Grundlage fürdie Empfehlungen vieler Gutachter.

Schwerkranke Menschen werden hier unterAndrohung des Entzugs der Existenzgrundlagegezwungen, sich einer für sie nachweislich schädlichenBehandlung zu unterziehen.

Diesen Irrsinn, der in Deutschland passiert, könnenwir nur gemeinsam beenden. Wir möchten Sie bitten,sich für Ihren Angehörigen einzusetzen und ihm zurSeite zu stehen. Er oder sie leidet an einer schwerenneuro-immunologischen Krankheit, und nicht aneiner leichten Befindlichkeitsstörung. Der Kampf mitden Behörden ist zermürbend und kräftezehrend. DiePatienten sind auf die Unterstützung ihrer Familienangewiesen. Bitte engagieren Sie sich in denPatientenorganisationen und setzen auch Sie sich füreine bessere Versorgung der Erkrankten ein. Nurgemeinsam können wir erreichen, dass ME/CFS-Kranke in Zukunft besser behandelt werden als heute.

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 11

„Wir geben ME/CFS ein Gesicht” – das Bündnis ME/CFSDas Bündnis ME/CFS wurde im Dezember 2009 von Patienten undPatientenvertretern gegründet. Ziel des Bündnisses ist es, über dieKrankheit ME/CFS aufzuklären und dadurch die bisherigenZustände zu verbessern. Das Bündnis setzt sich dafür ein, dassME/CFS in Deutschland endlich als schwere neuroimmunologischeErkrankung bekannt und anerkannt wird.

Stände des Bündnis ME/CFS beimHauptstadtkongress Medizin undGesundheit 2011 in Berlin (oben)und beim Deutschen Ärztetag inDresden 2010 (rechts).

Falsche Diagnosen von Gutachtern führenoft zur Verweigerung von Sozialleistungen

Patienten und ihre Angehörigen müssenselbst für ihre Rechte kämpfen

Meine Tochter erkrankte mit 20 Jahren anME/CFS. Heute, sieben Jahre später, ist noch immernichts mehr so, wie es vor ihrer Erkrankung war. Beimeiner Tochter wechseln sich Phasen derVerzweiflung mit Phasen der Hoffnung ab, Zeiten, indenen sie ihre Verluste betrauert, wechseln mit Zeiten,in denen sie sich mit ihren großen Einschränkungenarrangiert und versucht, das Beste daraus zu machen.Auch mir geht es ähnlich.

Zu Beginn stand die Situation, in der meine Tochterhäufig krank war. Sie suchte, auch teilweise mit unsEltern, Ärzte auf, die jedoch nicht weiterhelfen konn-ten. Ihr Zustand wurde schlechter bis zum totalenZusammenbruch. Meine erwachsene Tochter war soschwer krank, dass sie sich kaum noch selbst versor-gen konnte, und wir als Eltern hatten keine Hilfe.

Wir erhielten bisweilen wohlgemeinte Ratschläge,die jedoch nicht weiterhalfen und uns zum Teil nochhilfloser zurückließen.

Ich war ratlos, verzweifelt und voller Angst undSorge. In meinem Umfeld erfuhr und erfahre ich oftUnverständnis, weil man davon ausgeht, dass sichKrankheiten heilen bzw. lindern lassen, wenn siebehandelt werden, und dass sie irgendwann vorbeige-hen. Andere, die die Krankheit nicht nah erleben,können die Situation häufig nicht verstehen und nichtertragen.

Ein Jahr nach Krankheitsbeginn fand meineTochter einen Arzt, der die Diagnose ME/CFS stellteund einen Therapieplan machte. Ich weiß, dass vielePatienten ihre Diagnose erst nach mehreren Jahrenerhalten und fühle mit ihnen und ihren Angehörigen,da ich die Ungewissheit und Angst, die dasAusbleiben einer Diagnose bei gleichzeitigem schlech-ten Gesundheitszustand mit sich bringt, sehrschmerzlich erlebt habe. Ich hatte nach der Diagnose-stellung Hoffnung, sah einen Lichtblick und hoffteauf ein „In-den-Griff-Bekommen“ der Krankheit.

Die Therapie brachte eine Erstverschlechterung.Wieder machten sich Verzweiflung und Ratlosigkeitbreit. Auch Wut und Empörung, sogar Zweifel am„Gesund-werden-Wollen“ meiner Tochter mischtensich mit großer Sorge und Angst.

Die erhoffte schnelle Besserung trat nicht ein. Nursehr langsam besserten sich wenige Symptome.

Allmählich gewann ich die Erkenntnis, dass dieseKrankheit nicht so schnell wieder aufhört, sondernbleibt.

So wie meine Tochter lange Zeit die Hoffnunghatte, ihr Studium fortsetzen und abschließen zu kön-nen, so hatte auch ich die Hoffnung, dass sich ihrZustand langsam, aber stetig verbessern würde. Wir –unsere Tochter und wir als Eltern – brauchten mehre-re Jahre bis wir begriffen hatten, dass diese Krankheitviele unserer Pläne dauerhaft zerstört hatte.

Ich fühlte mich allein gelassen und der Situationhilflos ausgeliefert. Ich hatte nicht mehr das Gefühlzu leben, sondern „gelebt zu werden“ und stellte mirdie Frage, ob es jemals wieder etwas Schönes mit derKrankheit geben kann.

Lange haderte ich mit dem Schicksal und fragtemich „warum wir?“, „warum unsere Tochter?“

Schließlich versuchte ich, mich in die Situation zufügen. Es kostet Kraft, die Lage so anzunehmen undauszuhalten wie sie ist. Dagegen anzukämpfen kostetauch viel Kraft, die jedoch zu nichts führt.

Manche Angehörige fallen vielleicht in eineDepression, ziehen sich zurück aus den Bereichen, indenen der Erkrankte vor der Krankheit sein Lebengeführt hat.

Andere verfallen in blinden Aktionismus.Wieder andere regeln alles Notwendige: zu

Arztbesuchen begleiten, Medikamente besorgen,Umgang mit Krankenkassen, Anwälten...

Es gibt jedoch auch Angehörige und Freunde, diedieser schweren Situation nicht gewachsen sind. Dannkann es sein, dass sie sich vom Erkrankten zurückzie-

12 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Meine Tochter ist an ME/CFS erkranktHannas Mutter berichtet

Hanna mit ihrer Mutter Anne bei einem Benefizkonzertdes Speyerer Domorganisten für die Lost Voices Stiftung.

hen, distanzieren. Sie können es nicht aushalten, esnicht mehr ertragen.

Wieder andere identifizieren sich zu sehr mit demErkrankten und sehen nur noch „Krankheit“ undbleiben dabei selbst auf der Strecke, weil sie sich nichtmehr um sich selbst kümmern und sorgen, um beiKräften zu bleiben.

Im günstigeren Fall ist es möglich, aus der Opfer-rolle herauszugehen und sich beispielsweise einerSelbsthilfegruppe anzuschließen. Man lernt andereKranke bzw. Angehörige kennen. Dadurch entstehenKontakte, man fühlt sich nicht mehr ganz alleine undverlassen. Mir hilft der regelmäßige Besuch einerSelbsthilfegruppe.

Dennoch bleiben große Existenzängste, da meineTochter ihr Studium abbrechen musste und keineabgeschlossene Berufsausbildung hat. Kein sozialesNetz fängt sie auf. Die Angehörigen müssen alleProbleme selbst bewältigen, angefangen bei finanziel-ler und mentaler/sozialer Unterstützung bis hin zuArzt- und Medikamentenkosten.

Das Aushalten der Krankheit ist das Schwierigste.Die Situation ist so schlimm wie sie ist. Es gibt keinEntkommen. Das, was man sich für den krankenAngehörigen erhofft oder erträumt hat, ist nicht mehrmöglich. Auch Angehörige müssen sich von denZukunftswünschen und Plänen verabschieden.

Das Leben mit der Krankheit geht dennoch weiter.Um den Erkrankten zu unterstützen ist es notwen-

dig, in kleinen Schritten und kurzen Zeitspannen zudenken und zu planen. Es ist sinnvoll, alles Nötige zutun und sich selbst dabei nicht aus den Augen zu ver-lieren. „Eine Hand für den Skipper und eine Hand fürdas Boot“, so eine Regel für Segler.

Das einfache Da-Sein und zu dem Kranken stehenist für den Kranken sehr hilfreich.

Außerdem besteht der Kranke nicht nur ausKrankheit, sondern er ist immer noch der Mensch mitall seinen Interessen und Begabungen, der er vorherwar. Es kann viel zu einem entspannten Umgang mit-einander beitragen, wenn wir Angehörigen denKranken nicht auf seine Krankheit reduzieren, son-dern als ganzen Menschen wahrnehmen.

Um ein gutes Leben mit der schweren Erkrankungführen zu können, erscheint es mir wichtig, dieKrankheit so wahrzunehmen und anzunehmen wiesie ist und dennoch das noch andere verbleibendeLeben nicht außer Acht zu lassen. Ich erlebe, dass esdurchaus wieder schöne Erlebnisse geben kann.Meine Tochter lernte trotz der schweren Erkrankungeinen Mann kennen. Die Hochzeit der beiden feiertenwir dieses Jahr mit einem wunderschönen Fest. Trotzder Krankheit hat sie weiterhin ihren ungebrochenenWillen, der sie antreibt, etwas zu tun für andereKranke, die es selbst nicht mehr können. Mit ihrenKräften engagiert sie sich in zwei Patienten-organisationen. Dies ist weit mehr als ein „Sich-Arrangieren“ mit der Krankheit. Außerdem tut es gutzu erleben, dass es Menschen gibt, die in dieserSituation zu ihr und uns stehen und uns unterstützen.

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 13

Hanna ruht sich auf der Orgelbank aus, um danach Kraftfür ein kurzes Spiel nach dem Benefizkonzert zu haben.

Frühstück im Bett - kein Zeichen für besonderen Luxus,sondern für ME/CFS-Kranke oft ein notwendiges Übel

Verzweiflung, Wut und Ohnmacht sind starkeEmotionen, mit denen nicht nur Menschen mitME/CFS fertig werden müssen, sondern vielleichtauch Sie als Angehöriger oder Freund. Nicht nur derBetroffene leidet unter der nicht enden wollendenQual der Krankheit. Auch Sie als Angehörige undFreunde können darunter leiden.

Möglicherweise bringt das hilflose Zusehen-Müssenund Es-einfach-nicht-ändern-Können Sie alsAngehörigen noch mehr in die Spirale vonVerzweiflung, Wut, Schuldgefühlen und Ohmachthinein als den Betroffenen selbst. Ohnmacht ist fürden Menschen eines der schlimmsten Gefühle, die esgibt. So werden vielleicht Ihre Emotionen das, was Sieam meisten belastet – gar nicht mal die finanzielle Notoder die alltägliche Pflege des Kranken.

Nicht nur der Betroffene leidet unter derVerständnislosigkeit und Diskriminierung von Ärztenund Umwelt. Auch Sie werden möglicherweise diskri-miniert oder gar noch für schuldig an der KrankheitIhres Angehörigen erklärt. Gerade Eltern sind immerwieder Opfer der Anschuldigung, das Leiden durchbewusst oder unbewusst gesteuerte Taten herbeizu-führen und mit dem „Krankmachen“ ihresAngehörigen eigene (kranke) psychische Bedürfnissezu befriedigen. Wie hält man eine solche Situation aus,auf der einen Seite den Angehörigen pflegen und aufder anderen Seite Schuldzuweisungen abwehren zumüssen?

Das ist eine Situation, in der Sie jedes Recht haben,zu verzweifeln, zu weinen, Wut zu verspüren und zudenken: Ich kann nicht mehr. Die Krankheit IhresAngehörigen zehrt auch an Ihnen, auch Sie kommenan den Rand Ihrer Kräfte.

Wie können Sie dafür sorgen, dass auch IhreSituation von der Umwelt wahrgenommen wird undSie Unterstützung und Hilfe erfahren?

Eine schwierige, aber sicher überlebenswichtigeStrategie in einer solchen Situation ist es, die Balancezwischen Anteilnahme und Fürsorge auf der einenSeite und Abgrenzung und Selbstschutz auf der ande-ren Seite aufrechtzuerhalten.

Die Krankheit Ihres Angehörigen hat auch vieleIhrer Wünsche und Ziele verändert. Es ist hilfreich,sich kleine, erreichbare Ziele vorzunehmen und sichauf die machbaren Dinge zu konzentrieren. ScheuenSie sich dabei nicht, Hilfsmittel in Anspruch zu neh-

men, die Ihnen und dem kranken Angehörigen dieBewältigung des Alltags erleichtern können. So kannbeispielsweise ein Rollstuhl dem Erkrankten und sei-ner Familie ein großes Stück Lebensqualität zurückge-ben, da er Unternehmungen außer Haus möglichmacht, ohne dass der Kranke danach tagelang entkräf-tet im Bett liegen muss. Es ist sinnvoll, sich solcheHilfsmittel zuzugestehen, auch wenn es anfänglichungewohnt ist. Die dadurch erlangte Steigerung derLebensqualität kann helfen, in der schwierigenSituation nicht den Mut zu verlieren.

Um selbst Kräfte sammeln zu können, ist es fürAngehörige von kranken Menschen notwendig, gutfür sich selbst zu sorgen und sich kleine Auszeiten zunehmen, Zeiten, in denen sie nicht mit der Krankheitkonfrontiert sind, sondern ihren eigenen Interessennachgehen.

Vielleicht ist die hilfreichste Strategie zum Krank-heitsmanagement für ME/CFS-Patienten, das soge-nannte Pacing, auch für Sie als Angehörige eineMöglichkeit. Grundlegendes Prinzip ist, sich immernur innerhalb der Grenzen der vorhandenen Energie-reserven zu bewegen, ja bewusst aufzuhören, bevorman diese Grenze erreicht hat, um sich auszuruhen.So wie viele ME/CFS-Patienten mit dieser Strategielangsam die Grenzen ihres Aktionsradius ausdehnenoder zumindest eine Verschlimmerung vermeidenkönnen, ist das vielleicht auch für Sie eine Strategie,sich vor Überforderung zu schützen.

Die Situation ist nicht aussichtslos. Es gibt einigeForschungsgruppen, die sich intensiv mit ME/CFSbeschäftigen. Das Wissen um diese Erkrankungwächst, was Hoffnung auf Therapiemethoden auf-kommen lässt. n

14 INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS

Vom Umgang mit starken Emotionen

Auszeiten zu nehmen ist wichtig

INFORMATIONEN FÜR ANGEHÖRIGE - BÜNDNIS ME/CFS 15

Invest in ME ist mit Abstand die effektivste GruppeGroßbritanniens auf dem Gebiet der Forschungs-förderung, der Informationsverbreitung, der Schaf-fung eines öffentlichen Bewusstseins, der Initiierungvon Behandlungseinrichtungen und der internationa-len Netzwerkarbeit für Forscher, Patienten undAngehörige gleichermaßen. Die Organisatoren sindunabhängig und nur geleitet von dem Wunsch, dieschlimme Lage ihrer Kinder zu verbessern – und siezeigen, was man tun kann, um sich für seine Angehö-rigen einzusetzen.

Bei den seit 2006 jährlich stattfindenden Konferen-zen in Westminster (Bild unten) stellen internationaleSpitzenforscher ihre neuesten Ergebnisse vor. Auchdeutsche Ärzte nehmen inzwischen an den Konferen-zen teil und die dort gebotenen Informationen auf. Soist bereits an mehreren Stellen eine Zusammenarbeitdeutscher Ärzte mit Forschern aus den USA,Norwegen und anderen Ländern entstanden.

Die Gruppe hat die Entstehung eines Forschungs-und Behandlungszentrums im Norwich ResearchPark im Osten Englands angeregt, und interessierteForscher beginnen bereits mit der Realisierung. DieNachbarschaft einer führenden Universität (der East

Anglia) mit Spitzenlabors und einer modernenUniversitätsklinik wird den unmittelbaren Austauschzwischen Forschern und Ärzten am Krankenbett –die sogenannte translationale Medizin – ermöglichen.

Außerdem ging von Invest in ME die Initiative zurGründung einer europäischen Vereinigung vonPatientengruppen, der European ME Alliance(EMEA) aus, in der mittlerweile neun europäischeLänder vertreten sind. (Bild unten: Treffen der EMEAim Mai 2010 in London)

Ein Mitglied des Bündnis ME/CFS, Regina Clos,steht in engem Kontakt zu Invest in ME und derEMEA. Die internationale Einbindung undVernetzung stärkt uns und bringt das Wissen überentscheidende Fortschritte in Forschung undBehandlung auch nach Deutschland.

Auch wenn die Lage in Großbritannien alles andereals rosig ist – die Patienten leiden trotz allem nochimmer unter den gleichen Missständen wie hierzulan-de –, so ist doch das öffentliche Bewusstsein sehr vielausgeprägter. Das ist das Ergebnis jahrzehntelangerbeeindruckender Arbeit von Patientenorganisationen.Bis wir so weit sind wie die Briten haben wir nocheiniges zu tun – deshalb: Treten Sie öffentlich undvehement für die Interessen Ihrer Angehörigen ein!

Invest in ME fördert Forschung und BehandlungAngehörige in Großbritannien engagieren sich

Im Jahr 2005 gründeten Eltern erkrankter Kinder und Jugendlicher in Großbritanniendie Organisation mit dem programmatischen Namen „Invest in ME“. Sie unterhälteine äußerst informative Website mit stets aktuellen Meldungen, einen kostenlosen E-Mail-Newsletter und organsiert jährlich eine große internationale wissenschaftlicheKonferenz im Zentrum Londons. Invest in ME ist eine kleine Organisation, die vonnur wenigen aktiven Mitgliedern getragen wird, aber diese haben sich einer großen Sacheangenommen: die Forschung zu fördern, solide Informationen für Ärzte, Öffentlichkeitund Politik bereitzustellen, die sich stets auf dem neuesten Stand bewegt, und eine ange-messene Behandlung der Betroffenen voranzutreiben.

Lost Voices Stiftung i.G. & Netzwerk -CFS Hannover Nicole Krüger/Hanna Seidel Groß-Buchholzer Str. 36B 30655 Hannover Tel. 0511/2706751 [email protected] [email protected]

CFS -aktuell.de Regina Clos Eberleinstraße 1 65195 Wie sbaden Tel. 0611-9590685 [email protected]

immunselbsthilfe.de Roland Graf Basselet de la Rosée in [email protected] Aktion ME/CFS auf Facebook [email protected] SHG Umweltkrankheiten /MCS+CFS Marc Plüschau [email protected]

www.buendnis-mecfs.de

Weitere Informationen

Deutschland:w www.lost-voices-stiftung.orgw www.cfs-aktuell.dew www.cfs-portal.de

International:w www.investinme.org (organisiert jährliche internationale Kongresse in London)w www.meresearch.org.uk (u.a. umfangreiche Literaturdatenbank zu ME/CFS)w www.iacfsme.org (internationale Ärzteorganisation für ME/CFS)

w www.immunselbsthilfe.dew www.netzwerk-cfs.dew http://verlorene-zeit.blogspot.com


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