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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

72. Jahrgang 4/09IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Evolution des Bewusstseins?Ken Wilbers „Integraler Ansatz“

Abschied vom Sühnopfer?

Samael Aun Weor und die „gnostische Anthropologie“

Einstellungen zu Evolution und WissenschaftEin Tagungsbericht

Stichwort: Perfektionismus

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Michael UtschEvolution des Bewusstseins?Unterschiede zwischen evolutionärer und kontemplativer Bewusstseinsentwicklung 123

Michael NüchternAbschied vom Sühnopfer?Wider die fahrlässige Preisgabe einer Deutungskategorie für den Tod Jesu 133

Franz WinterAuf der Suche nach der „gnostischen Anthropologie“Der kolumbianische Esoteriker Samael Aun Weorund auf ihn zurückgehende Gruppierungen 138

Hansjörg HemmingerEinstellungen zu Evolution und Wissenschaft in EuropaEin Tagungsbericht 146

Darwin als VorbildNaturkundemuseen und Botanische Gärten für wissenschaftliche Authentizität, gegen Wissenschaftsfeindlichkeit 149

PfingstbewegungAbgrenzung und BrückenschlagVor 100 Jahren entstand die „Berliner Erklärung zur Pfingstbewegung“ 151

FreimaurerBundespräsident empfängt deutsche Freimaurer 153

INHALT MATERIALDIENST 4/2009

INFORMATIONENBERICHTE

DOKUMENTATION

INFORMATIONENINFORMATIONEN

ZEITGESCHEHENIM BLICKPUNKT

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INFORMATIONENSTICHWORT

IslamDokumentarfilm „Der Imam und der Pastor“ 154

EsoterikSuche nach einem „integralen Weltbild“„Stiftung Weltkulturerbe der Weisheitslehren“ erwirbt Kloster 154

Perfektionismus 157

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Michael Utsch

Evolution des Bewusstseins?Unterschiede zwischen evolutionärer und kontemplativerBewusstseinsentwicklung

In verschiedenen weltanschaulichen Mi-lieus breitet sich seit geraumer Zeit dieIdee einer fortschreitenden, evolutivenBewusstseinsentwicklung aus. Dabei wirdbesonders der so genannte „Integrale An-satz“ von Ken Wilber aufgegriffen, mitden eigenen weltanschaulichen Grundan-nahmen verknüpft und dadurch weiter-entwickelt. Dies gilt besonders für die mo-derne Anthroposophie und einige spiritu-elle Lehrer in der Satsang-Tradition.1 Inte-gral meint bei Wilber vor allem die Ver-bindung von Theorie und Praxis, aberauch Interdisziplinarität und den interreli-giösen Dialog. In einem umfassendenSinne beabsichtigt Wilber mit seinem kos-mologischen Ansatz, Natur- und Geistes-wissenschaften und darüber hinaus Wis-senschaft und Spiritualität miteinander zuversöhnen und auf ein gemeinsames, evo-lutionäres Prinzip zurückzuführen.2Mit verständlichen Motiven versuchen imDarwin-Jahr zahlreiche Initiativen undOrganisationen, das populäre Konzeptder Evolution in ihrem Ansatz herauszu-stellen. So heißt es in dem aktuellen Einla-dungsflyer zum Kongress der AkademieHeiligenfeld über „Psychotherapie undMedizin mit Geist und Seele“, der im Mai2009 stattfindet: „In der Evolution desmenschlichen Bewusstseins ist ein Sta-dium erreicht, ‚Geist’ und ‚Seele’ in mo-derner und ganzheitlicher Weise in dasDenken und Handeln von Medizin undPsychotherapie zu integrieren.“ Was ist

mit „Evolution des Bewusstseins“ ge-meint, und gibt es dafür belegbare Indi-zien? Stimmt es, dass sich ein Menschdurch den Wechsel in einen integralenBewusstseinszustand – vielleicht unterZuhilfenahme von „integraler Psychothe-rapie“ – spirituell weiterentwickeln kann?3

Wie ist aus biblisch-theologischer Sichtdie Vorstellung der Bewusstseinsevolutioneinzuschätzen?

Aktuelle Tendenzen

Obwohl der Kontext der amerikanischenLebenskultur in Wilbers Ansatz unüber-sehbar ist (und zunehmend deutlicherwird4), entstand schon 1998 in Deutsch-land der „Arbeitskreis Ken Wilber“, derseine Gedanken intensiv diskutierte undKongresse und Tagungen durchführte, wo-durch der Integrale Ansatz sich weiterausbreitete.5 2006 wurde der Arbeitskreisin „Integrales Forum“ umbenannt, um dieBereitschaft zum Austausch mit ähnlichDenkenden aus anderen weltanschau-lichen Milieus zu signalisieren. Knapp 20deutschsprachige Regionalgruppen treffensich seitdem regelmäßig zum Gedanken-austausch in sog. „Integralen Salons“.6 ImSeptember 2008 wurde in Zusammenar-beit mit dem „Integralen Forum“ in Frank-furt „Die Integrale Akademie“ gegründet,um Modelle integraler Theorie und Praxisauszutauschen, zu vernetzen und weiter-zuentwickeln.7 Unterstützung finden die-

IM BLICKPUNKT

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se Initiativen durch die Online-Plattformwww.integrale-bibliothek.info. Die dreideutschen Herausgeber fühlen sich derPhilosophie und dem Werk Ken Wilbersverpflichtet und wollen die IntegraleTheorie und Wissenschaft im deutschspra-chigen Raum anwenden und fortführen.Dazu geben sie einen Newsletter heraus,veröffentlichen ein Online-Journal undstellen wissenschaftliche Arbeiten überCoaching, Philosophie, Pädagogik, Psy-chotherapie, Organisationsentwicklung,Kunst, Politik, Spiritualität bereit – allesnatürlich aus integraler Perspektive.Wichtige Impulse gehen seit 2006 auchvon einer jährlich stattfindenden Herbstta-gung aus, die eine Plattform für den Ge-dankenaustausch von Wilbers IntegralemAnsatz geworden ist.8 Die Referentenlisteder Frankfurter Herbsttagung 2008 doku-mentiert deutlich die weiter gewachseneVielfalt der weltanschaulichen Hinter-gründe: Annette Kaiser (Sufi-Lehrerin),Jens Heisterkamp (Herausgeber des an-throposophischen Magazins „info3“), Tho-mas Steininger (Schüler von Andrew Co-hen und Herausgeber der deutschen Aus-gabe von „EnlightenNext“), ChristophQuarch (Schüler von Willigis Jäger) u. a.Der Schwerpunkt dieser dritten Frankfur-ter Herbstakademie lag auf dem Brücken-schlag von evolutionärer Spiritualität undihrer jüdisch-christlichen Tradition. DiesesErbe habe mehr zu bieten als ein „konser-vativ-mythisches Gottesbild“, so hieß esin der Einladung.9 Authentisch gelebtespirituelle Erfahrung sei auch auf diesemHintergrund zu finden.10

Die christliche Spiritualität erlebt aber inder integralen Perspektive eine markanteUmdeutung. Zutreffend führt etwa Chris-toph Quarch in seinem Beitrag aus, dassdie christliche Heilsgeschichte keinenPlatz für evolutionäres Denken biete, weilGott Ursprung und Ziel des Menschen sei.Dennoch versucht er das evolutionäre

Konzept für sein Verständnis von Christen-tum zu retten, indem er den Einfluss dergriechischen Philosophie als Inspirationund Weiterentwicklung für den christli-chen Glauben darstellt. Hier ist philosophi-sche Hermeneutik an den Platz biblisch-theologischer Schriftauslegung getreten.11

Eine weitere Ausdehnung des weltan-schaulichen Spektrums ist jetzt schon ab-zusehen: Als ein Hauptreferent für die An-fang Mai 2009 in Bremen stattfindendeJahrestagung des „Integralen Forums“ istder Satsang-Lehrer Thomas Hübl an-gekündigt. Er ist hierzulande einer der wenigen spirituellen Lehrer, die in ihrerArbeit ausdrücklich auf die integralenKonzepte Wilbers zurückgreifen. AlsHauptredner des in der Nähe von Bremenstattfindenden „Celebrate Life Festivals“lockt er jährlich etwa 800 Besucher an.12

Vor kurzem hat er eine „Academy of InnerScience“ gegründet, die unter anderemden dreijährigen Ausbildungsgang „Time-less Wisdom Training“ anbietet. Vom 23.-25. Mai 2009 lädt diese Akademie zu ei-ner Tagung in die esoterische Findhorn-Gemeinschaft ein, bei der Thomas Hüblmit seinen Gästen Andrew Cohen undKen Wilber (per Telefon-Konferenzschal-tung) die Tagungsteilnehmer auf eineReise „zu den Grenzen des Bewusstseins“führen will.13

Was will Wilber?

Der heute sechzigjährige Wilber hat einebeeindruckende Zahl an Publikationenvorgelegt – von seinen Fans wird er als ei-ner der am meisten gelesenen und über-setzten akademischen Autoren in denUSA gefeiert.14 1977 veröffentlichte ersein erstes Buch „Spektrum des Bewusst-seins“ (dt. 1983), nachdem er zuvor seinPromotionsvorhaben in Biochemie aufge-geben hatte. Es handelte sich dabei umden ambitionierten Versuch, die westliche

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Psychologie mit der östlichen Erfahrungaußergewöhnlicher Bewusstseinszuständein eine systematische Gesamtschau zubringen. Im Jahr 1995 (dt. 1996, Ta-schenbuchausgabe 2005) legte Wilberden ersten Teil einer Trilogie vor. In „Eros,Kosmos, Logos – eine Jahrtausend-Vision“beschrieb er die evolutionäre Entwicklungvon der Materie zum Leben, zum Geistund darüber hinaus. Im Jahr 2000 (dt.2001) erschien „Integrale Psychologie:Geist, Bewusstsein, Psychologie, Thera-pie“. In diesem Buch stellte Wilber auf derGrundlage seines integralen Paradigmaseine neue Psychologie als umfassendeSeelenkunde vor. In seinem aktuellenHauptwerk „Integrale Spiritualität (2006,dt. 2007) wendete er den Integralen An-satz auf die Spiritualität an. Damit will erein weiteres Mal belegen, wie die in öst-lichen Religionen verwendeten Praktikenzur Kultivierung höherer Bewusstseinszu-stände gut mit den modernen westlichenWissenschaften kombiniert werden kön-nen, insbesondere der Psychologie. Der Integrale Ansatz Wilbers ist komplexund hat sich stufenweise über Jahrzehnteweiterentwickelt. Wilber hat über 100verschiedene Modelle der Entwicklung insein System integriert und behauptet, da-mit alle Wissenschaftszweige abdeckenzu können. Sein AQAL-System, das er seitkurzem auch IBS – „Integrales Betriebs-system“ nennt, soll als präzise Landkartedas gesamte Wissen über die Bewusst-seinsentwicklung der Menschheit abbil-den können. AQAL ist eine Abkürzung für„alle Quadranten, alle Ebenen“, was wie-derum eine Abkürzung für „alle Quadran-ten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zu-stände, alle Typen“ sein soll. Mit einerumfassenden, fünfdimensionalen Matrix,die hier wegen ihrer Vielschichtigkeit undWidersprüchlichkeit nicht dargestellt wer-den kann, glaubt Wilber die Komplexitätdes Lebens erfassen zu können.15

Basis für dieses Modell ist der Gedankeevolutiver Entwicklung. Wilber geht da-von aus, dass die Zunahme von Komple-xität in den evolutionären Entwicklungs-stufen auch mehr Bewusstheit mit sichbringt und ein Grundgesetz der Evolutionsei. Ausdrücklich bezieht er in sein Ent-wicklungsmodell auch religiöse Weishei-ten mit ein. Er will das Relative wissen-schaftlicher Fakten mit dem Absolutenspiritueller Erkenntnisse verbinden undhat dafür die Bezeichnung „evolutionäreErleuchtung“ geprägt. Immerhin räumtWilber ein, dass menschliches Leben anRaum und Zeit gebunden ist. Das Endzielder Entwicklung sieht er in einem erleuch-teten Bewusstseinszustand, den er als um-fassende und höchste spirituelle Verwirk-lichung von Einssein auf der jeweiligenBewusstseinsstufe definiert.16 In Anleh-nung an die religiösen Weisheitslehrenunterscheidet Wilber die Bewusstseinszu-stände grobstofflich, subtil, formlos undnondual. Diese wechselhaften und vor-übergehenden Zustände sollen sich auflänger andauernden, unterscheidbarenEntwicklungsstufen einstellen können.Grundsätzlich unterscheidet Wilber dreiRänge, die er neuerdings an den Farbendes Regenbogens orientiert. Ein sehr brei-ter Rang eins von Infrarot bis Grün um-fasst alle Stufen vom primitiven, infantilenbis zum postmodernen, pluralistischenBewusstsein. Der zweite Rang von Petrolbis Türkis repräsentiert einen radikalenSprung in ganzheitliche, integrale Formendes Bewusstseins. Der dritte Rang von In-digo bis Violett reicht in noch höhereSphären des transpersonalen, kosmischenoder erleuchteten Bewusstseins.17

Integrale Spiritualität

Was ist der Anspruch des autodidakti-schen „Universalgelehrten“? Die IntegraleTheorie will ausdrücklich ein systemati-

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sches Modell für eine holistische Welter-klärung sein. Sie ist unter anderem auf derAnnahme aufgebaut, dass der Mensch ne-ben dem personalen Tagesbewusstseinauch über andere natürliche Bewusst-seinszustände verfügt. Als der wichtigstegegenwärtige Vertreter der IntegralenTheorie18 vertritt Wilber die Auffassung,dass auch mystische und spirituelle Erfah-rungen Wissen über die Natur vermittelnkönnen und deshalb in einem umfassen-den Weltmodell ebenso wie wissenschaft-liche Erkenntnisse berücksichtigt werdenmüssen. Mittels geeigneter Übungsmetho-den wie der Meditation sei es sogar mög-lich, diese intersubjektiv zu überprüfen.Wilber begründet dies mit der Ähnlichkeitspiritueller Erfahrungen quer durch alleKulturen und Epochen sowie ihrer prinzi-piellen Zugänglichkeit durch meditativePraxis.19

Deshalb ist es folgerichtig, dass er inneueren Veröffentlichungen stärker dieVorstellung von „Erleuchtung“ in seineÜberlegungen mit einbezieht. Wilber istdavon überzeugt, dass durch seinen Inte-gralen Ansatz, den er mit seinem Buch„Integrale Spiritualität“ auf den Bereichder Religionen und der Spiritualität ausge-dehnt hat, eine tatsächliche Transforma-tion der Menschheit möglich wird. Mitseinem Ansatz als umfassender „theory ofeverything“ verbindet er den Anspruch,ein überprüfbares wissenschaftliches Mo-dell und eine praktische Anleitung zur „ei-genen Erfahrung von Bewusstsein, Wachs-tum, Transformation und Erwachen“20 an-zubieten. Entgegen früherer Polemik wer-den hier die großen Religionen sowohl imOsten als auch im Westen als potentielleFörderer der menschlichen Entwicklunggesehen, wenn sie ihre bisherigen Glau-benssysteme durch eine integralere Sichterweitern. Nach einer ernsthaften Ausein-andersetzung mit dem Christentum suchtman aber in diesem Buch vergebens.

Zwar wird das Zweite Vatikanische Konzilals eine Abkehr von mythisch-dogmati-scher Spiritualität lobend erwähnt. Mitdem radikalen Konzept der christlichenLebensumkehr durch Buße, Bekehrung,Taufe und Nachfolge Jesu und ihren wirk-mächtigen Folgen hat sich Wilber aber of-fensichtlich noch nicht beschäftigt.

Integrale Lebenspraxis

Wilber geht davon aus, durch seine Über-legungen eine modellhafte Landkarte desmenschlichen Bewusstseins entwickelt zuhaben, die alle Bereiche der Wirklichkeitumfasst. Eine wachsende Zahl von Anhän-gern will das nicht nur theoretisch wissen,indem sie Wilbers Bücher kauft. Vieleschließen sich dem Übungsfeld einer Inte-gralen Lebenspraxis „ILP“ zur individuel-len Bewusstseinstransformation an. Aufder entsprechenden Internetseitewww.myilp.com wird zunächst Wilber zi-tiert: „Erleuchtung ist ein Zustand, in demwir wahrhaftig und gegenwärtig sind. DasILP-Kit bietet spirituelle Praktiken, die un-sere innere Präsenz öffnen. Das ist dereinfachste Weg, ins Jetzt aufzuwachen.“Hochprofessionell wird das ILP-Paket an-gepriesen, das aus fünf DVDs, zwei CDs,drei Büchern, einem Poster und ein-minütigen Übungsmodulen besteht. Be-geisterte Anwender wie Anthony Robbinsoder Bill Harris berichten vom persön-lichen Nutzen, die ihnen durch die An-wendung der Integralen Lebenspraxis zu-gewachsen sei. Im Moment bietet dieFirma einen 50-prozentigen Rabatt aufdas ILP-Paket an – es kostet 199 US-Dollarund schließt acht zusätzliche Geschenkeein. Versprochen wird nicht weniger als einerleuchtetes Bewusstsein: „Millionen ha-ben von Eckhart Tolles Geschichte einesspontanen Erwachens in einen überbe-wussten Zustand gehört – ein zeitloser,

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transzendentaler Zustand. Die Mystikersind überzeugt davon, dass dieses ‚Jetzt’die Tür zur Erlösung ist, und die Mystikerhaben recht ... Das ILP-Kit wird dir helfenzu verstehen, wie Du diesen Zustandschneller erreichst und ausdauernd bei-behälst, ... warum Du manchmal aus dem„Jetzt“ herausfällst ... und wie Du dieseVerwirklichung in dein alltägliches Lebenintegrierst.“21

Zur gesellschaftlichen Umsetzung undpraktischen Weiterführung der integralenVision gründete Ken Wilber in Boulder,Colorado, das „Integrale Institut“.22 Dazukonnte er bekannte Vertreter aus Wissen-schaft, Kultur und Religion als Mitarbeitergewinnen: Politiker wie Bill Clinton oderAl Gore befassen sich mit dem IntegralenModell, ebenso Künstler wie Anselm Kie-fer oder der Bestsellerautor John Gray unddie Wachowski-Brüder (Produzenten desFilms Matrix). Wilber ist ein erfolgreicher Vermarkter sei-ner eigenen Gedanken, die zunehmendauch in Deutschland umgesetzt werden.Auf den folgenden spezifischen Anwen-dungsfeldern ist man derzeit bemüht, denIntegralen Ansatz umzusetzen: IntegralesBusiness, Fachgruppe Frauen, IntegraleMedizin, Friedensarbeit sowie integralePolitik.23 Auch in vielen anderen Ländernsind in den letzten Jahren Institute ent-standen, die den Ansatz in ihrer Regionanbieten.

Bemerkenswert selbstbewusst, anregend– und voller Irrtümer

Wilber ist von der Richtigkeit seiner Inte-gralen Theorie so sehr überzeugt, dass erähnlich ausgerichtete Angebote unver-hohlen kritisiert: „Es ist enttäuschend zusehen, wie selbst die jüngsten Versuche,Ost und West zusammenzubringen (Mindand Life Institute, Shambhala Institute) esversäumen, alle Facetten mit einzubezie-

hen. Wie nützlich wäre hier ein AQAL-Ansatz.“24 Einerseits zeigt Wilber dieNetzwerkstruktur der Bewusstseinsevolu-tion für viele Bereiche auf. Allerdings willer der einzige sein, der die Koordinatenfestlegen und die Richtung bestimmendarf, weil nach seiner Überzeugung alleanderen Ansätze unterentwickelt sind:„Überall wird das verheißungsvolle Ver-sprechen von spiritueller Intelligenz ver-krüppelt, gekappt und gekreuzigt ... Esbleibt auf der mythischen Kindheitsebeneeingesperrt ... abgetrennt vom restlichenKosmos (der Quadranten, Ebenen, Linien,Zustände und Typen) ... Wann hört dasauf? Wann fängt die eigene, tiefste Zu-kunft an?“ Und Wilber beendet sein Buchmit einer poetischen Aufforderung: „Eineneue Zeit ist angebrochen, ein neuer Tagdämmert herauf, ein neuer Mann, eineneue Frau zeigen sich am Horizont. Wol-len Sie, Arm in Arm mit Eros selbst, aufdem höchsten Gipfel stehen, in neuesGelände Ihrer eigenen tiefsten und höchs-ten Möglichkeit vordringen und dabei dieWelt verändern, dann schließen Sie sichuns bitte unter www.integralinstitute.organ.“25

Es ist bemerkenswert, wie konsequentund zielstrebig Wilber seine Mission ver-folgt. Dabei rückt neben der theoretischenWeiterentwicklung des Ansatzes zuneh-mend die praktische Umsetzung ins Zen-trum. Wilbers Integrales Institut bietetzahlreiche Seminare und Workshops für„Integrale Lebenspraxis“ an. Wie könntees anders sein – auch die Übungspraxis iststreng systematisiert und beruht im We-sentlichen auf den vier Kernmodulen Kör-per (z. B. Aerobics), Verstand (z. B. studie-ren), Geist (z. B. Meditation), Schatten(z. B. Psychotherapie). Ganz richtig hat Wilber erkannt, dass Me-ditation auch zum Ausweichen vor inne-ren Konflikten missbraucht werden kann.Deshalb ist es zu begrüßen, dass der Ar-

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beit mit verdrängten Impulsen und demeigenen Unbewussten im Rahmen desKernmoduls „Schatten“ eine hohe Prio-rität eingeräumt wird. Allerdings wird hierPsychotherapie auf eine naive Pragmatikreduziert, die dem leidvollen Erleben neu-rotischer Fehlhaltungen in keiner Weisegerecht wird: „Der 3-2-1-Prozess ...wurde entwickelt, um zum eigenen per-sönlichen Schattenmaterial Zugang zu be-kommen und es zu integrieren, indem wirden Schatten von Symptomen der drittenPerson zur Präsenz der zweiten Personzum Bewusstsein der ersten Person um-wandeln.“26 Drei, zwei, eins, Schattenweg – wenn Psychotherapie so einfachwäre ...

Das Problem des Bewusstseins kann Wilber nicht auflösen

Das Geheimnis des menschlichen Selbst-bewusstseins haben vor Wilber viele bear-beitet. In der Religionsphilosophie, derPsychologie und der Neurobiologie wer-den heute sehr unterschiedliche Konzeptevon Bewusstsein diskutiert, die übrigensvon der Integralen Theorie Wilbers keineNotiz nehmen, weil sie nicht den akade-mischen Regeln entspricht. Besonders inder Hirnforschung und in der Philosophiedes Geistes sind in letzter Zeit Fortschritteerzielt worden27, jedoch ohne dass manzu einer allgemeingültigen Theorie desBewusstseins gelangt wäre. Durch die in-tensive Zusammenarbeit der beiden Dis-ziplinen entstanden Denkansätze einerNeurophilosophie und neue Lösungsver-suche für das alte Gehirn-Geist-Problem,in denen auch theologische EinsichtenBerücksichtigung finden.28 Fest steht je-doch: Das subjektive Erleben entzieht sichnach wie vor einer rein naturwissenschaft-lichen Erklärung. Wilbers zahlreiche spe-kulative Erläuterungen zu dieser Thematikführen nicht weiter, weil er einen grundle-

genden Kategorienfehler macht. Kontem-plative Einsicht und naturwissenschaftli-che Erkenntnis sind nicht in ein gemeinsa-mes System zu pferchen und miteinanderzu verrechnen. In der (post-)modernenWissenschaftstheorie hat man sich vondem Anspruch verabschiedet, ein allge-meingültiges Modell der Wirklichkeit er-stellen zu können.29 Wilbers Systemden-ken ist unzeitgemäß und speist sich imWesentlichen aus gnostisch-esoterischenQuellen, die aller naturwissenschaftlichenErkenntnis zumindest skeptisch gegen-überstehen.30

Psychologische Kritik an Wilbers Ansatzbezieht sich besonders darauf, dass erseine Behauptung, das Leib-Seele-Pro-blem zu enträtseln, nicht einlösen kann.31

Wilbers „transpersonale Systemspekula-tion“ wird mit Recht kritisiert. Manche se-hen das Hauptproblem in einer Verding-lichung des Transpersonalen und weisenauf die erkenntnistheoretische Sackgassehin, die letzten Wahrheiten desMenschseins in einem „Super-Szientis-mus“ erfassen zu wollen.32

Eine kontemplative Haltung anstelle evolutionärer Erleuchtung

Mit seinem scheinbar nicht zu bremsen-den Enthusiasmus stellt Wilber mit seinerIntegralen Theorie trotz vieler Denkfehleranregende Anfragen an den christlichenGlauben und die Theologie. Besondersder Fokus auf der praktischen Verwirk-lichung und die Betonung des gemein-schaftlichen Erlebens beeindrucken. Ge-nau das aber sind auch Elemente der um-gestaltenden Kraft des christlichen Glau-bens. Anders jedoch als in der IntegralenLebenspraxis, wo der Alltag sich durchden angeblichen Bewusstseinszustand derErleuchtung verändern soll, bleiben dieVeränderungen des „neuen Menschen inChristus“ (Kol 3,1-17) zeichenhaft und

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fragmentarisch und stehen in dem größe-ren Zusammenhang eines zukünftigenHeils. Immer aber ist der Einzelne emotio-nal, kognitiv und willentlich beteiligt.Nach christlichem Verständnis ist derMensch als eigenständiger Partner Gottesgedacht. Dabei geht es nicht um evolu-tionäre Erleuchtung in einen gottähn-lichen Status. Wenn ein Mensch sich vonGott wertgeschätzt und geliebt erfährt,wächst der Wunsch nach mehr Gemein-schaft mit seinem Schöpfer. Die verbor-gene Gegenwart Gottes eröffnet sich je-doch nicht durch veränderte Bewusst-seinszustände, sondern durch kontempla-tive Schriftbetrachtung und aufmerksamesGebet.Ein amerikanischer Religionsphilosophhat dem Integralen Ansatz aufgrund philo-sophischer Bedenken in grundsätzlichenPunkten widersprochen.33 Er fragt, aufwelcher Grundlage Wilber eine Erfahrungdes gesamten Kosmos interpretierenkönne, wenn doch auch die Möglichkeitbesteht, dass Gott außerhalb des geschaf-fenen Kosmos existiert. Ob es eine Wirk-lichkeit jenseits der materiellen und spiri-tuellen Welt gebe, könne weder bewiesennoch widerlegt werden. Wilber hingegensetze voraus, dass über den Bereich desnondualen Kosmos hinaus die Wirklich-keit aufhöre. Wilber werte theistisch-dua-listische Positionen ab, die von der Begeg-nung mit einem Wesen außerhalb desnondualen Kosmos überzeugt sind, mitanderen Worten von der Begegnung miteinem transzendenten Gott. Auf welchererkenntnistheoretischen Grundlage, sofragt Adams, sei eine solche spirituelle Er-fahrung in Wilbers Augen weniger wert-voll als eine Erfahrung der Nondualität? InWilbers Modell rangiere der Theismus auf„mythischem“ Niveau der Bewusstseins-entwicklung und befinde sich damit umeinige Stufen niedriger als der nondualeWahrnehmungsmodus im Spektrum des

Bewusstseins. Das ist eine willkürlicheSetzung, die einer persönlichen weltan-schaulichen Präferenz geschuldet ist,nicht aber plausiblen Gründen folgt. Darüber hinaus hat Wilber die Unhinter-gehbarkeit des sprachlichen Horizonteszu wenig reflektiert. Der Anspruch, dieWirklichkeit in einem stimmigen Systemabbilden zu können, ist schlicht vermes-sen. Nicht umsonst haben sich mystischeAutoren immer wieder des Stilmittels desParadoxons bedient, um ihre überraschen-den Erfahrungen zu beschreiben. Austheologischer Sicht sind Gottes Heiligkeitund Unaussprechlichkeit nicht an die Be-grenztheit menschlicher Erkenntnis undSprache gebunden. Wesen und Wirklich-keit Gottes können niemals verstanden,allenfalls indirekt erschlossen werden.Die Bibel weiß um das begrenzte Erken-nen des Menschen. Zwar weist die Schöp-fung eindringlich auf ihren Schöpfer hin.Paulus schreibt: „Sie hätten ja vor Augen,was von Gott erkannt werden kann; Gottselbst hat es ihnen vor Augen geführt.Denn was von ihm unsichtbar ist, seineunvergängliche Kraft und Gottheit, wirdseit der Erschaffung der Welt mit der Ver-nunft an seinen Werken wahrgenommen“(Röm 1,19–20). Und weiter: Obwohl sieGott erkannten, dankten sie ihm nicht,„ihr unverständiges Herz verfinsterte sich... sie tauschten die Herrlichkeit des un-vergänglichen Gottes gegen das Abbild eines vergänglichen Menschen ...“ Sie„dienten dem Geschöpf statt dem Schöp-fer ...“ (Röm 1,21.23.25). Gott greift zwarin die geistige Welt des Bewusstseins ein,er ist nach biblischem Zeugnis aber nichtTeil von ihr.34 Diese grundlegende Unter-scheidung des christlichen Weltbildesgerät gerade in gnostisch-esoterischen An-sätzen leicht aus dem Blick.Das christliche Leben ist von einer dialo-gischen Struktur geprägt. Der um sichselbst kreisende Mensch nimmt den Anruf

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Anmerkungen

1 Auf der Internetpräsenz der anthroposophischenZeitschrift „info3“ sind eigens die Artikel der letztenJahre zusammengestellt worden, die über den Inte-gralen Ansatz von Wilber veröffentlicht wurden(vgl. www.info3.de/ycms/projekt_32.shtml). Dortheißt es: „Als Vertreter der Impulse von Steiner,Wilber und Cohen arbeiten wir in gegenseitigemRespekt und voller Interesse für einander zusam-men, schreiben, organisieren gemeinsame Veran-staltungen und unterstützen uns gegenseitig im Auf-bau unserer vernetzten Strukturen – ein Prozess,von dem wir selbst noch nicht wissen, wohin er unsführen wird!“ Als spirituelle Lehrer in der Satsang-Tradition sind neben Andrew Cohen besondersThomas Hübl und Christian Meyer zu nennen, dieauf Wilber Bezug nehmen (vgl. Christian Meyer,Sieben Schritte zum Aufwachen, http://if.integrales-forum.org/index.php?id=242).

2 Der Entwurf einer integralen Weltsicht oder umfas-senden „Integralen Theorie“ ist keine Eingebungvon Wilber, sondern knüpft an den „IntegralenYoga“ von Sri Aurobindo (1872-1950) und das Stu-fenmodell von Jean Gebser (1905-1973) an. Gebserführte bereits 1953 in seinem Werk „Ursprung undGegenwart“ den Begriff des „Integralen“ ein undsah die nächste Stufe der kulturellen Entwicklunganbrechen. Gemeinsam ist diesen philosophisch-spirituellen Weltanschauungen, dass sie versuchen,eine umfassende Sicht des Menschen und der Weltzu entwickeln und dazu östliche und westlicheWeltsichten bzw. spirituelle Einsichten und wissen-schaftliches Denken integrieren wollen.

3 Zu Ansätzen einer transpersonalen oder „integra-len“ Psychotherapie vgl. Wulf Mirko Weinreich, In-tegrale Psychotherapie, Leipzig 2005; Ulrike Hundt,Die spirituelle Haltung in der Psychotherapie, in:Transpersonale Psychologie und Psychotherapie13/2007, 5-16; Edgar W. Harnack, TranspersonaleVerhaltenstherapie. Aktion aus Kontemplation, in:Wege zum Menschen 60/2008, 145-157. Eine Be-schreibung transpersonaler Entwicklungspsycholo-gie liefert ein im Internet zugänglicher Aufsatz vonSusanne Cook-Greuter, Gründungsmitglied vonKen Wilbers Integralem Institut in Denver/Colorado,die seit kurzem auch Präsidentin der IntegralenAkademie in Frankfurt ist: Selbst-Entwicklung –

neun Stufen des zunehmenden Erfassens, in: inte-gral-informiert 14/2008, 21-64 (vgl. www.rolflutterbeck.de/wilber/cg.pdf).

4 Damit spiele ich vor allem auf die Vermarktung vonWilbers Idee an. Wenn man – besonders in denUSA – tiefe spirituelle Erfahrungen verspricht,scheint das die Kundschaft anzulocken. Aus deut-scher Perspektive wirkt es beispielsweise peinlich,dass an zahlreichen Stellen in Wilbers aktuellemBuch (Integrale Spiritualität, München 2007) dieAngebote des eigenen Weiterbildungsinstituts ange-priesen werden und die Leserschaft mit der entspre-chenden Internetadresse direkt zur Buchung ent-sprechender Kurse aufgefordert wird.

5 Eine systematische Einführung bietet Michael Ha-becker, Ken Wilber – die integrale (R)Evolution,Frankfurt 2007.

6 Vgl. http://if.integralesforum.org.7 Die Akademie wurde als Kooperation vom „Integra-

len Forum“ mit der „Integralen Initiative Frankfurt“gegründet, vgl. www.ii-frankfurt.de.

8 Vgl. www.herbstakademie-frankfurt.de.9 Grundlagentexte, die auf dieser Tagung diskutiert

wurden, sind abzurufen unter www.herbstakademie-frankfurt.de.

10 Eine Zeitschrift, die dem Grundanliegen Wilbers ei-ner integralen Revolution schon lange Rechnungträgt, ist das Magazin „EnlightenNext“ (früher„What is Enlightenment?“). Über mehrere Jahrewurde eine Gesprächsfolge zwischen Andrew Co-hen und Ken Wilber abgedruckt. Anders als etwadas Magazin „Connection“ mit seiner dezidiert kir-chenfeindlichen Haltung kommen hier aber auchchristliche Stimmen zu Wort, die in die eigene Pro-grammlinie passen. Zum Beispiel wurde ein enga-giertes Entwicklungshilfeprojekt des bekanntenevangelikalen Pastors Rick Warren in Ruanda wohl-wollend vorgestellt (Die Vision des Friedens, in:What ist Enlightenment? 23/2007, 24-26).

11 Quarch erklärt das fehlende evolutionäre Denkenin der biblischen Heilsgeschichte folgendermaßen:„Denn es gibt darin in keiner Weise das Motiv einerEntfaltung – eines sich Entwickelns in Raum undZeit hin zu immer mehr Klarheit, Bewusstheit,Durchsichtigkeit.“ Dem ist entgegenzuhalten, dassdas Ziel der christlichen Persönlichkeitsentwicklung

Gottes wahr, der ihn zu einer persön-lichen, vertrauensvollen Beziehung zuseinem Schöpfer einlädt. Dabei ist jedochdas Einüben einer kontemplativen Hal-tung nötig, um die verborgene Wirklich-keit Gottes wahrnehmen zu können. DasWagnis des Glaubens ist kein berechen-barer Prozess evolutionären Fortschrei-

tens, sondern ein Zusammenspiel erwar-tungsvollen Vertrauens mit dem unverfüg-baren Wirken des Heiligen Geistes. Einchristliches Bewusstsein unterliegt keinerEvolution im Sinne Wilbers, sondern kannbesser poetisch mit Johannes vom Kreuzals „Angleichung an den Geliebten“ ver-glichen werden.35

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nach biblisch-theologischem Verständnis in derUmformung des inneren Menschen zu mehr Chris-tusförmigkeit besteht. Das ist wahrlich ein fort-schreitender, lebenslanger Veränderungsprozess,der durchaus zu mehr Klarheit, Bewusstheit undDurchsichtigkeit führt!

12 Interviews mit Thomas Hübl sind in Internet-Videosbei Jetzt-TV zu sehen: www.jetzt-tv.net/index.php?id=huebl.

13 Vgl. www.findhorn.org/awakenedculture. Zur Be-schreibung der weltanschaulichen Hintergründevgl. www.relinfo.ch/findhorn/info.html.

14 Vgl. Michael Utsch, Wie christlich ist die Transper-sonale Psychologie? In: MD 10/2006, 385-388;ders., Stichwort: Transpersonale Psychologie, in:MD 2/2009, 70-73. Obwohl Wilber erst vor kurzemein neues, umfangreiches Werk über „Integrale Spi-ritualität“ (München 2007) vorgelegt hat; scheintder Schreibstrom nicht zu erliegen. Für den30.3.2009 ist eine Kurzfassung als Einführung insein Modell in deutscher Übersetzung angekündigt(Integrale Vision, München 2009). Im September2009 wird ein frühes Werk aus dem Jahr 1981,„Halbzeit der Evolution: Eine interdisziplinäre Dar-stellung der Entwicklung des menschlichen Geis-tes“, mit neuem Vorwort als Taschentuch bei Fi-scher erscheinen.

15 Als Systemfanatiker hat Wilber seine Modelle im-mer wieder überarbeitet und weiterentwickelt. Deraktuelle Stand seiner Überlegungen findet sich inseiner aktuellen Publikation wieder: Integrale Spiri-tualität, München 2007.

16 Ebd., 329ff.17 Das anschauliche Farbspektrum lädt dazu ein, pla-

kativ nach der Bewusstseinsstufe einer Person zufragen. Weil besonders die amerikanischen „Inte-gralen“ nach Zeichen einer gesamtgesellschaft-lichen Transformation suchen, werden Leitpersonenin Kultur und Politik daraufhin untersucht. In der in-tegralen „Community“ wird das natürlicherweise indie Frage übersetzt: Ist Obama integral? Dazu Wil-ber: „Eine integrale Analyse seiner Antrittsrede of-fenbarte tatsächlich einen hohen Prozentsatz vonintegral-umfassender Sprache und Ideen. Tatsäch-lich scheint Obama irgendwann im Laufe der Kam-pagne von Ende Grün zum Anfang der petrol-farbe-nen Stufe gegangen zu sein“ (Quelle: Integral LifeWebseite, zit. nach integral informiert 16/2009, 7).

18 Neben Wilbers Integraler Theorie wird in diesemKreis gerne auf die Anthroposophie Rudolf Steinersund Andrew Cohens „Evolutionary Enlightenment“zurückgegriffen, vgl. andrewcohen.com. Einblickein die deutschsprachige Ausgabe seiner Zeitschrift„EnlightenNext“ sind zu finden unterwww.wie.org/de. Eine kritische Einschätzung zuAndrew Cohen und seiner Gemeinschaft stammtvon Angelika Koller (Die aktuelle Debatte um Andrew Cohen, in: MD 11/2005, 425-430).

19 Schon in seinem früheren Buch „Die drei Augen derErkenntnis“ (1983, dt. München 1988) unterschieder drei verschiedene Erkenntniswege (Epistemolo-

gien), von denen in den westlichen Naturwissen-schaften nur zwei etabliert seien. Mit empirischenMethoden könnten Dinge und Sinnesdaten erfasstwerden, mit psychologischer Beschreibung und Er-klärung seelische Prozesse verstanden werden. Alsdritten Erkenntnisweg würdigt er die meditativeKontemplation, die ein direktes Erfahrungswissenermögliche.

20 Ken Wilber, Integrale Spiritualität, München 2007,52.

21 So die Startseite von www.myilp.com am 28.2.2009. Das ILP-Kit umfasst ein Übungs-Modul zurKörperarbeit, ein spirituelles Modul mit spezifi-schen Meditationsübungen und ein Schatten-Mo-dul, um verborgene oder verdrängte Schattenseitendes Selbsts zu erkennen und zu integrieren.

22 Allgemeine Informationen zu Wilber sind zu findenunter www.kenwilber.com. Wilber hat ein Ausbil-dungsinstitut mit universitärer Anbindung ins Lebengerufen, das durch eine Spende in Millionenhöhegut ausgestattet werden konnte (www.integralinstitute.org). Verbreitung findet sein Ansatz auch durcheine modische, interaktive Internetseite, ein „multi-mediales Portal zum integralen Bewusstsein“(www.integralnaked.com). Zu kritischen Aspektenseiner Lehre vgl. Michael Utsch, Erforschung desÜbermenschlichen: Die transpersonale Psycholo-gie, in: R. Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama derneuen Religiosität, Gütersloh 22005, 189-194.

23 Einzelheiten unter http://if.integralesforum.org/index.php?id=397.

24 Ken Wilber, Integrale Spiritualität, München 2007,421.

25 Ebd., 369.26 Ebd., 281.27 Vgl. Christian Geyer, Hirnforschung und Willens-

freiheit, Frankfurt a. M. 2004; Carsten Könneker(Hg.), Wer erklärt den Menschen? Frankfurt a. M.2006, Colin McGinn, Wie kommt der Geist in dieMaterie? München 2001; Thomas Metzinger, Be-wusstsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie,Paderborn 52005, Thomas Metzinger, GrundkursPhilosophie des Geistes 1: Das phänomenale Be-wusstsein, Paderborn 2006, 2: Das Leib-Seele-Pro-blem, Paderborn 2007; Rüdiger Vaas / MichaelBlume, Gott, Gene und Gehirn, Stuttgart 2009. Be-merkenswert deutlich und differenziert ist der Be-richt des Ausschusses für Technikfolgenabschät-zung für den Deutschen Bundestag ausgefallen. ImProjekt Hirnforschung wird unterstrichen, dass„weitreichende Thesen zur Determination geistigerVorgänge durch neuronales Geschehen im Gehirnund zum illusionären Charakter der Willensfreiheitbisher empirisch nicht hinreichend gestützt sind.Sowohl Neurowissenschaftler als auch Vertreter derGeistes- und Kulturwissenschaften stehen vor demProblem der Übersetzung von Mentalem in Neuro-nales ... Bedeutungsinhalte des Bewusstseins sindgesellschaftlich konstruiert und über Sprache undSchrift oder andere Symbolsysteme objektiviert.Wie dies auf neuronaler Ebene realisiert wird, ist

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bisher unverstanden“ (Drucksache 16/7821 vom22.1.2008).

28 Hans Goller, Das Rätsel von Körper und Geist,Darmstadt 2003; Ulrich Lüke, Das Säugetier vonGottes Gnaden, Freiburg i. Br. 2006; MichaelPauen, Was ist der Mensch? Paderborn 2007.

29 Harald Walach, Psychologie: Wissenschaftstheorie,philosophische Grundlagen und Geschichte, Stutt-gart 2005. Eine kritische Würdigung Wilbers hat derAutor in einem Aufsatz dargelegt: TranspersonalePsychologie – Psychologie des Bewusstseins: Chan-cen und Probleme. Psychotherapie, Psychosomatik,in: Medizinische Psychologie 55/2005, 1-11.

30 Ausführlich lobt Wilber als Referenzen für seinneues Buch etwa Byron Katie (zur Kritik vgl. HeikeDierbach, Vorsicht Psychofalle: The Work, in:Stern, Gesund Leben 6/2006, 76-77) oder „Whatthe Bleep do we know?” (vgl. zur Kritik MatthiasPöhlmann, Quantenphysik, Gehirnforschung undRamtha-Esoterik, in: MD 11/2005, 430-432).

31 Christian de Quincey, The Promise of Integralism: ACritical Appreciation of Ken Wilber’s Integral Psy-chology, in J. Andresen / R. Forman (eds.), Cogni-tive Models and Spiritual Maps, Thorverton 2000,177-208.

32 Traugott Elsässer, Die „Wilberdebatte“ – Sparringoder Schattenboxen? In: Transpersonale Psycholo-gie und Psychotherapie 8/2 (2002), 95-99.

33 George Adams, A Theistic Perspective on Ken Wil-ber’s Transpersonal Psychology, in: Journal of Con-temporary Religion 17/2 (2002), 165-179. Die Ein-ladung der Herausgeber dieser renommierten religi-onswissenschaftlichen Zeitschrift, auf die KritikAdams’ zu reagieren, hat Wilber nicht beantwortet.

34 Vgl. dazu das Kapitel „Gott und die geistige Welt“,in: Dietrich Ritschl / Martin Hailer, GrundkursChristliche Theologie, Neukirchen-Vluyn 2008,382ff. Präzise unterscheidet auch Christoph Schwö-bel, Der Geist Gottes und die Spiritualität des Men-schen, in: ders., Christlicher Glaube im Pluralismus,Tübingen 2003, 323-359.

35 Reinhard Körner, Experte für die Spiritualität desKarmel, führt aus: „Johannes vom Kreuz lässt keinenZweifel daran, dass es eine ‚Gotteserfahrung’ imstrengen Sinne des Wortes in diesem Leben nichtgibt, sie bleibt der Ewigkeit vorbehalten. Der christ-liche Mystiker lebt in der Beziehung zu Gott – zumverborgenen Gott! –, nicht in der Erfahrung Gottes.In der Beziehung allerdings kann er ‚natürlichste’Erfahrungen des menschlichen Herzens als Wirkun-gen, als Ein-Wirkungen Gottes deuten und erken-nen ... Der Prozess der Umformung in Gott hineinwird so ein Prozess der ‚Angleichung an den Ge-liebten’ (Geistlicher Gesang)“ (R. Körner, Johannesvom Kreuz, in: Christian Möller [Hg.], Geschichteder Seelsorge, Bd. 2, Göttingen 1995, 168).

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Die Vorstellung, dass Jesus freiwillig undgern „sich von seinem Vater in Liebe er-morden lässt“ (Helga Kuhlmann), kannberechtigte Abwehr und Widerwillen aus-lösen. Die drastischen Blut- und Opferbil-der in vielen Gesangsbuchliedern nichtnur des 17. und 18. Jahrhunderts sind vie-len fremd geworden. Da mag es manchenwie eine Befreiung erscheinen, wennKlaus-Peter Jörns1 einen „notwendigenAbschied“ von diesen Vorstellungen be-fiehlt. Spätestens durch die Aufklärung und dentheologischen Feminismus ist umstritten,ob eine vielfach auch ethisch miss-brauchte Opferterminologie unumgäng-lich ist, um die Heilsbedeutung des TodesChristi zu fassen. Klaus-Peter Jörns fordertnicht aus ästhetischen, sondern vor allemaus ethischen Gründen einen radikalenAbschied von einer Sühnopfertheologieund -liturgie mit ihren blutigen Bildern(„Lamm Gottes“, „Leib“, „Blut vergossenfür uns“ u. a.): Blutige Gewalt dürfe nichtlänger als gut und lebensnotwendig ver-klärt werden. Jörns verabschiedet mit denWorten und Bildern auch ihnen zugrundeliegende Sachverhalte. Statt Christi Leibund Blut müssten im Abendmahl die „Le-bensgaben“ gefeiert werden: „Nehmt undesst das Brot des Lebens ... Nach demMahl nahm er den Kelch mit Wein, sprachdas Dankgebet, gab ihnen den und sietranken alle daraus“. So soll sich nach

Jörns die neue, gereinigte Liturgie an-hören, die die Menschen befreit und bes-ser macht. Die Frage bleibt, ob in der Op-fermetaphorik des Todes Jesu (z. B. Röm3,25a) etwas Grundlegendes zu seiner Be-deutung verwahrt wird, was ohne dieseBilder verloren geht.

Begriffliche Präzisierungen

„Alle Opfer inszenieren die Grundtatsa-che des Lebens, dass Leben auf Kosten an-deren Lebens lebt. Alle sagen in ihrerSymbolsprache: Das eine Leben muss ge-opfert werden, damit das andere davonLebensgewinn hat“ (Gerd Theißen2). Gabeund Gegengabe sind in der Opferlogiknötig, damit der Strom des Lebens fließt.3In die Bilder und in die Logik dieser Spra-che wird – wie in andere Sprachbilderauch – die Bedeutung des Todes Jesu ein-gezeichnet; sind es im Neuen Testamentmehr die Bilder, so ist es in der Theologie-geschichte (Anselm von Canterbury) auchdie Logik: Jesu Tod bringt Lebensgewinn.Jesus erleidet sozusagen den Vernich-tungszorn Gottes über Sünde und Bosheitder Menschen, die dadurch von diesemVernichtungszorn frei werden. Um den Sinn des Opfers Jesu zu verste-hen, ist es wichtig zu bedenken, dass wirim Deutschen das Wort „Opfer“ in einermindestens doppelten Bedeutung gebrau-chen. Opfer als Selbsthingabe und Ver-

Michael Nüchtern, Karlsruhe

Abschied vom Sühnopfer?Wider die fahrlässige Preisgabe einer Deutungskategorie für den Tod Jesu

BERICHTE

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gabe von Leben ist klar zu unterscheidenvom Opfer als Preisgabe eines andernzum eigenen Lebensgewinn.4 Das Eng-lische kennt dafür die beiden Begriffe„sacrifice“ und „victim“. Jesu Tod ist„sacrifice“, also Selbsthingabe. Zum „vic-tim“ wird er von Menschen gemacht,nicht von Gott, nicht um göttliche Rache-und Kompensationsbedürfnisse zu befrie-digen. Deshalb heißt es in der Liturgie desAbendmahls, dass der Tod des Herrn ver-kündigt wird. Er ist das Lamm Gottes,nicht im Sinne des Opfertieres für Gott,sondern er ist das Opfer, das Gott selbstgibt für die Sünde der Welt. Dass das„Lamm“ als „Herr“ angerufen wird undum Erbarmen und Frieden gebeten wird,transzendiert freilich bereits die Logik derOpfertiervorstellung. Die nötige Differenzierung zwischenFremdopfer und Selbstopfer aus Liebekann man noch weiter treiben. Ingolf Dal-ferth will den vermeidbaren Verlust des ei-genen Lebens um der anderen willennicht im Paradigma der Gewalt, sondernin dem der Liebe verstehen.5 „Als Maxi-milian Kolbe in Auschwitz-Birkenau frei-willig den Platz von Franciszek Gajownic-zek einnahm, hat er nicht sich selbst ge-opfert oder sein Leben final als Mittel zurRettung des anderen eingesetzt, sonderner hat aus Nächstenliebe so gehandelt,dass er konsekutiv den Tod in Kauf nahm,weil ihm die Rettung des eigenen Lebenskein höheres Ziel war als die Praxis unbe-dingter Nächstenliebe. Ihm ging es nichtum den eigenen Tod, sondern um das Le-ben des anderen.“ Der Tod aus Nächsten-liebe ist nach Dalferth kein Akt der Ge-walt gegen sich selbst, sondern das Erlei-den der Folgen ganz und gar uneigennüt-ziger Liebe am eigenen Leben. „Liebesop-fer sind keine Opfer, sondern Taten derLiebe.“6 Der Zürcher Theologe weist denBegriff „Opfer“ als unpassend zurück,nicht – wie Jörns – auch zugrunde lie-

gende Sachverhalte. Etwas kompliziert,aber theologisch sachgemäß heißt das:„Nicht Gott opfert Jesus am Kreuz, und Je-sus opfert sich auch nicht selbst, sonderner geht in der Liebe zu denen, denen erdas Anbrechen von Gottes guter Herr-schaft ansagt, bis zum Tod am Kreuz. Ebendieses unbedingte Leben der Liebe zu sei-nen Nächsten bis ans Kreuz aber erweistsich für diejenigen, denen mit der Aufer-weckung Jesu dafür durch den Geist dieAugen geöffnet wurden, als irreversiblesZeichen dafür, dass Gott selbst sich amKreuz Jesu als selbstlos uneigennützigeLiebe erweist, die ihren Geschöpfen bis inden Tod wohltuend und Neues schaffendnahe bleibt, auch wenn das nach unsererEinsicht diese nicht selbst, sondern nurandere erleben mögen.“7

Das Christusgeschehen definiert Opferund Sühne, nicht umgekehrt!

Auch bei der Opferbegrifflichkeit musseine der wichtigsten theologischen Grund-regeln beachtet werden: Nicht bestimmteBilder und Begriffe – wie Messias, Gottes-sohn – deuten das Christusgeschehen,sondern das Christusgeschehen selbst fülltund modifiziert diese Begriffe und Bilder.Die theologischen Begriffe der Sühne unddes Opfers werden also inhaltlich vondem das Leben, den Tod und die Auferste-hung Jesu Christi umfassenden Heilsge-schehen bestimmt. Nicht ein allgemeinerreligionsgeschichtlicher Opfer- und Süh-nebegriff erklärt das Heilsgeschehen, son-dern umgekehrt erläutert dieses Gesche-hen, was im theologisch-christlichenSinne „Sühne“ und „Opfer“ heißen undbedeuten können. Daraus ergibt sich v. a.:● In der im Abendmahl vollzogenen Erin-nerung und Deutung des Christusgesche-hens werden Elemente des Sühnopfersund des Gemeinschaftsopfers verbunden,was sonst nie geschieht. „Das Sühnopfer

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wird aus der Gemeinschaft ausgeschlos-sen. Es soll entfernen, was sie belastet ...Das Gemeinschaftsopfer aber soll die Mit-glieder der Gemeinschaft zusammen-führen. Das Opfertier wird gemeinschaft-lich verzehrt ... Die ersten Christen glaub-ten nicht, dass ihr Sühnopfer wirklich gestorben war, sondern dass mit ihm ge-schehen war, was bisher mit keinemSühnopfer geschehen war: Jesus war auf-erstanden. Die Auferstehung des Opfersgehört nicht zur antiken Opferlogik.“8 Siesprengt jede ungebrochene Interpretationdes Todes Jesu als „Opfer“. Sie nötigtdazu, das Verhältnis zu Christus als Teil-habe und Teilnahme an seinem Geschickzu deuten. Der Lebensgewinn durch sein„Opfer“ wird überlagert und übertroffendurch den Lebensgewinn in der Teilhabean seiner Auferstehung im Glauben.9Der mit Opferkategorien gedeutete Todund die Auferstehung Christi führen zumEnde blutiger und kultischer Opfer imChristentum. Mittels der Opfersprachewird die Opferlogik aufgehoben: DennGott „opfert“ sich selbst. Er identifiziertsich mit dem Hingerichteten und machtsich so selbst zum Opfer. Ausgeschlossenist von daher ein Verständnis der Sühne,„wonach Gott durch das Kreuz umge-stimmt und bewogen wird, Liebe stattZorn, Gnade statt Strafe das Verhältniszum Menschen bestimmen zu lassen ...Das Sühnegeschehen ist ... radikal einsei-tig: Gott gibt, die Menschen empfan-gen.“10 „In und durch den Sühnetod Jesu,dessen Lebensgestalt sich in Auferstehungund Rechtfertigung zeigt, vollzieht sichein einzigartiger Wechsel und Tausch, derdas kommunikabel macht, was für sichgenommen inkommunikabel ist ... Chris-tus gibt den ihm im Glauben Verbunde-nen das, was sein ist, Gnade, Leben, undHeil; diese geben Christus, was das ihreist, Sünde und Tod.“11 Damit wird imAbendmahl die bleibende Macht der

Sünde und des Bösen erkannt und be-kannt sowie die bleibende Angewiesen-heit auf das rettende Handeln Gottes.

Die Sinnhaftigkeit der zum Teil unpassenden Opfermetaphorik

Die Opfermetaphorik stellt eine Bildweltfür den christlichen Glauben bereit, diedieser gleichzeitig relativieren und um-zeichnen muss. Sie ist ein Gewand, dasdurch die Füllung passend gemacht wird.Sie ist aber kein völlig unpassendes, ge-schweige denn sinnlos gewähltes Ge-wand. Es ist z. T. möglich, die Bedeutungdes Kreuzes Christi ohne die Opfermeta-phorik auszusagen. Aber es ist v. a. aus re-ligionsgeschichtlichen, frömmigkeitsge-schichtlichen und sündentheologischenGründen nicht tunlich. Gibt man der Op-fermetaphorik den Abschied,● entkoppelt man sich dadurch von ei-nem breiten biblischen, theologischen In-terpretationsstrom, der das Kreuz Christiauch in einen Zusammenhang mit der Re-ligionsgeschichte und ihren Opfervorstel-lungen stellt. Die Opferbilder sind des-halb nicht zu eliminieren, sondern zu in-terpretieren. Sie sind eine Weise, mit inder Kultur vorgefundenen Sprachmusterndie Bedeutung Jesu Christi auszusagen.Verdächtig bei der Elimination der Opfer-metaphorik ist die Auflösung der Bezie-hung zur Welt der hebräischen Bibel, dieauch für Jörns kennzeichnend ist. (Religi-onsgeschichtliches Argument) ● beraubt man sich damit bestimmter(u. U. problematischer!) sinnlicher Bilder,die Leiblichkeit, existentielle Nähe undKraft der Christusbeziehung aussagen undzur Wirkung bringen können. Die Fröm-migkeitsgeschichte ist dafür voller Bei-spiele, z. B. bei Matthias Grünewald(Isenheimer Altar) und bei Paul Gerhardt.Opfer und Blut sind emphatischer undsinnlicher Ausdruck für die Gabe, die

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Christus uns gibt. Diese Metaphern sindGefäße, die versuchen, das Unfassbare zufassen. Wäre die Theologiegeschichtez. B. Dalferth von Anfang an gefolgt, hättedas Lied „O Haupt voll Blut und Wun-den“, das vielen Menschen Trost undChristusnähe vermittelt hat, nie gedichtetwerden können.12 (Frömmigkeitsge-schichtliches Argument)● wird die starke Berührtheit Gottes vonmenschlichem Bösem und menschlicherSchuld undeutlich. Im als „sacrifice“ ge-deuteten Tod Jesu drückt sich die tiefe,nicht distanzierte Betroffenheit Gottes vonmenschlicher Schuld und menschlichemLeid aus. Er gibt sich in der Passion als derLiebende und der dieses Böse nicht Wol-lende zu erkennen. Gott offenbart sich alsin seinem Wesen berührt vom Gewichtmenschlicher böser Taten, von der Grau-samkeit der Folterer, von den Schmerzender Opfer (victims) und von den Erfahrun-gen der Gottverlassenheit. Dies stellt sichim Kreuzestod Jesu dar: Gott ist am Ortdes Schreckens präsent, er erleidet ihnund macht ihn gleichzeitig als etwas of-fenbar, was nicht sein soll. Ein Vergebenmenschlicher Schuld ohne die Anschau-ung und Darstellung ihrer brutalen undgrausamen Wirkungen könnte als einnicht Ernstnehmen der Opfer (victims) er-fahren werden. Die Erinnerung der Pas-sion mit ihren Blut- und Opfervorstellun-gen korreliert mit der Größe und Brutalitätder Schuld, die vergeben wird; sie ist zu-gleich ein ästhetisches und theologischesGegengewicht zu vielfältigen Verharmlo-sungen des Bösen. Eine „Pädagogik derLiebe“ (vgl. C. Schneider-Harpprecht)wird dem Leben nicht gerecht. (Sünden-theologisches Argument)

Keine Reduktionshermeneutik!

Die Feier des Abendmahls ist der Vorgang,durch den Christus mit seiner Liebe be-

stimmend auf die Seinen wirkt. Um dieseBestimmung als Trost, Kraft und Ermächti-gung zu vergegenwärtigen und zur Wir-kung kommen zu lassen, wird es insze-niert und liturgisch gefeiert. Diese Bestim-mung schließt die Konfrontation mit deneigenen Schatten und mit der Dunkelheitder Welt ein. Dazu wird ein ganzes Arse-nal von Christuserinnerungen (Vaterunser,Friedensgruß, Kreuz usw.) und Verdeut-lichungen der Weise seiner Bestimmung(Lob Gottes, Einsicht in Schuld, Teilenusw.) aufgeboten und in einen spannungs-reichen Ablauf gebracht. Die Opfermeta-phorik ist ein bedeutungstragender Teildavon.Am Anfang des Abendmahls steht nichteine Lehre, sondern eine Feier mit Bildernund vielschichtigen Bedeutungen. Das hatdas Abendmahl mit der Taufe, mit ande-ren rituellen Inszenierungen, aber auchmit der Kunst gemeinsam. Das Abend-mahl ist nicht die Umsetzung einer Lehrein eine symbolische Form. Vielmehr kannumgekehrt das komplexe, mehrschichtige,nicht in einfache Sätze reduzierbare bild-hafte, dramatische Geschehen in be-stimmte Begriffe und Lehren übersetztwerden, die den Sinn des Abendmahlsnicht erschöpfen, sondern bewahren hel-fen. Das Abendmahl ist als performativerAkt zu begreifen. Es setzt keine Lehre oderIdee um, sondern es eröffnet im GegenteilSinnpotentiale und Bedeutungen. Es istgrundsätzlich falsch, den symbolischenReichtum der liturgischen Tradition derVergangenheit apodiktisch und autoritativvon der Gegenwart her zu entwerten undzu verwerfen. Selbstverständlichkeiten ge-genwärtigen Lebensgefühls können sowenig der Maßstab für die Überlieferungkultureller Güter sein wie für die Überlie-ferung theologischer Bilder. Letztere ent-halten Sinnpotentiale, die über Nützlich-keiten und Moden hinaus zu erhaltensind.

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Als einzelner Christ kann und darf ichnicht nur Schwierigkeiten mit einzelnenSymbolen – z. B. der Opfermetaphorik –haben, sondern auch gegebenenfalls inmeiner persönlichen Frömmigkeit daraufverzichten. Etwas ganz anderes ist dieFrage, ob die Kirche selbst als Bewahrerinder christlichen Traditionen und Bilderdiese Metaphorik ausscheiden darf. Es of-fenbart einen autoritären Geist, wennman die eigene Privatfrömmigkeit zumGesetz für die Überlieferung der Kirchemachen will.

Kontexte

1. Jörns begegnet der Sühnetodvorstel-lung, die er für falsch hält, mit der Darstel-lung einer Lehre, die er für richtig hält.Gemäß dieser Lehre schlägt er eine gerei-nigte Liturgie vor. Faktisch reduziert er dieSinnpotentiale des Rituals in Richtung aufeine Feier des Lebens – harmlos und kon-trapunktfrei. Dieses Programm ist keinHeilmittel – weder für die Gesellschaftnoch für das Christentum. Jörns verkenntdie Signaturen einer pluralistischen Mo-derne ebenso wie die der Seele. Die „Patchworkreligiösen“, die sich ihre Reli-gion selbst suchen, haben kein Bedürfnisnach einer einheitlichen Weltsicht, son-dern fühlen sich vom Fremden und ande-ren angezogen. Rationaler Alltag geht mitder Sehnsucht nach Geheimnis gut zu-sammen. Ein Abendmahl ohne mystischeFremdheit lockt die Kirchenfernen nicht.

Allenfalls einige kurzfristig verirrte treueProtestanten können sich von dem Jörns’-schen Sirenengesang angezogen fühlen.Nachhaltig können Strategien der Ver-harmlosung des Heiligen nie sein. 2. Seit einigen Jahren formuliert der Philo-soph Jürgen Habermas immer wieder fol-genden Gedanken: Die säkulare Gesell-schaft solle sich nicht von den Sinnpoten-tialen der Religion abschneiden. Religiösbegründete Argumente im Diskurs ent-hielten Ressourcen der Normativität, dieoffenbar anders als religiös nicht zur Ver-fügung stünden. Freilich müssten sie(auch) „übersetzt“ werden, um als einwillkommenes Heilmittel gegen die „ent-gleisende Modernisierung“ wirken zukönnen. Geht es Habermas um eine „ver-nunftgeleitete Aneignung“ religiöser Ge-halte, so lässt sich Jörns’ Konzept als eineReduzierung religiöser Gehalte auf etwasdeuten, was sich die säkulare Gesellschaftso und so sagen kann und sagt, was aberihr zugleich auch nicht genügt.3. Bei aller Fremdheit zeigt sich die säku-lare Moderne von der Opfer- und Blutme-taphorik des christlichen Rituals immerauch angezogen. Sie hat die Kraft der Op-fervorstellung gerade jenseits der Gewalt-verherrlichung z. B. in der Kunst13 und inder Kommunikation (Werbung) für sichgenutzt. Es wäre fahrlässig, durch den„Abschied vom Sühnopfer“ den religiösenBezugspunkt preiszugeben und dem Dia-log von Christentum und Kultur den Bo-den zu entziehen.

Anmerkungen

1 Klaus-Peter Jörns, Lebensgaben Gottes feiern. Ab-schied vom Sühnopfermahl, Gütersloh 2007.

2 Gerd Theißen, Erleben und Verhalten der erstenChristen, Gütersloh 2007, 373.

3 Der Begriff des Opfers weitet sich fast zu einerGrundbeschreibung nicht nur religiöser Handlungaus, sondern von Handeln schlechthin. Fraglichwird dann umso mehr, ob es einen allgemeinen Be-

griff des Opfers gibt, der kultisches Opfer und Opferirgendwelcher Gewalt, Dankopfer, Straßenver-kehrsopfer, Gemeinschaftsopfer, Sühnopfer usw.umgreift.

4 Vgl. Michael Welker, Was geht vor beim Abend-mahl? Stuttgart 1999; Sigrid Brandt, Opfer als Ge-dächtnis. Auf dem Weg zu einer befreienden Redevom Opfer, Münster 2001.

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5 Ingolf Dalferth, Selbstaufopferung, in: ThlZ 113,2008, 1157.

6 Ebd., 1160.7 Ebd., 1168.8 G. Theißen, a.a.O., 367f.9 Auch der Begriff des Glaubens in Röm 3,26 passt

nicht so recht in die Opferlogik.10 Ralf Stolina, Art. Sühne. III. Dogmatisch, in: RGG4,

Bd. 7, 1845.11 Ebd., 1847.

12 „The heart is commonly reached, not through rea-son, but through the imagination, by means of di-rect impressions, by the testimony of facts andevents, by history, by description. Persons influenceus ... looks subdue us, deeds inflame us ... no manwill be a martyr for a conclusion” (Henry Newman,An Essay in Aid of a Grammar of Assent, 1870, zit.nach K. G. Steck, Art. Apologetik II, TRE3).

13 Vgl. nur die Filme von Andrej Tarkowski, Opfer;Lars von Trier, Breaking the Waves u. a.

Franz Winter, Wien

Auf der Suche nach der „gnostischen Anthropologie“Der kolumbianische Esoteriker Samael Aun Weor und auf ihnzurückgehende Gruppierungen

Auch im deutschen Sprachraum gibt esVereinigungen, Kreise oder Zentren, diesich der Untersuchung der „gnostischenAnthropologie“ verschrieben haben.Diese Organisationen mit Bezeichnungenwie „Zentrum für Studien gnostischer An-thropologie“, „Kreis für die Untersuchungder gnostischen Anthropologie“ oder auch„Zentrum für Studien der Selbsterkennt-nis“1 stehen im Zusammenhang mit demWirken des kolumbianischen EsoterikersSamael Aun Weor (1917-1977). Interna-tional gibt es mehr als hundert verschie-dene, voneinander unabhängige Gruppie-rungen, die sich auf ihn berufen. Ziel die-ses Beitrags ist es, anhand der vorhande-nen Materialien zu Samael Aun Weor dasGrundgerüst der meisten dieser Vorstel-lungswelten darzustellen. Dazu kommt,dass Weors Entwurf in eine interessanteTraditionslinie eingeordnet werden kann,die ihn mit dem deutschen Sprachraumund den Aktivitäten bekannter Okkultistenund Rosenkreuzer verbindet. Es handelt

sich hier somit auch um ein Lehrbeispielfür die Verzweigung und die typische Mischung der Inhalte und Traditionen imKontext esoterischer Bewegungen. AmSchluss des Beitrags soll speziell auf diePräsenz im deutschsprachigen Raum ein-gegangen werden.

Samael Aun Weors Leben

Samael Aun Weor wurde 1917 in Kolum-bien als Víctor Manuel Gómez Rodríguezgeboren. Zu seinem Leben findet sich sehrwenig gesichertes Material. Von ihmselbst gibt es ausführliche autobiographi-sche Angaben in seinem 1972 erschiene-nen Buch Las tres montañas („Die dreiBerge“).2 Diese Schrift stellt sich als Mi-schung aus biographischen Passagen undausführlichen Darstellungen bestimmterKapitel seiner spirituellen Lehre dar. Sa-mael Aun Weor betont von Beginn an sei-nen Sonderstatus.3 So rühmt er sich eineralle Einzelheiten umfassenden Erinnerung

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an sein Leben bis hin zur eigenen Geburt.Von frühester Kindheit an praktizierte erbereits „Meditation“, beschäftigte sich mitseinen eigenen Vorinkarnationen und seivon „vielen Menschen aus alten Zeiten“besucht worden. Die im Zuge dieser Me-ditationen erlangten ekstatischen Erleb-nisse führten bald die Begrenztheit einerkörperlichen Existenz vor Augen: Dabeiist von einem richtiggehenden „Schmerz“die Rede, der ihn quälte und den es zuüberwinden galt.4Mit zwölf Jahren begann ein intensivesStudium „unzähliger metaphysischerWerke“, im Besonderen der Bücher des inLateinamerika sehr präsenten Allan Kar-dec (1804-1869) und dessen NachfolgersLéon Denis (1846-1927).5 Dies eröffnetesein Interesse am Spiritismus, dem erdann auch praktisch nachging. Mit 17 Jah-ren hielt er bereits Vorlesungen im Rah-men der Theosophischen Gesellschaft,woraufhin er das „diploma teosofista“ vonniemand Geringerem als dem damaligenPräsidenten der Theosophischen Gesell-schaft Adyar, Curuppumullage Jinaraja-dasa (1875-1953), erhalten haben soll.6Mit 18 wurde er Mitglied der „FraternitasRosicruciana Antiqua“, der von demDeutschen Arnoldo Krumm-Heller ge-gründeten lateinamerikanischen Rosen-kreuzervereinigung.7 Während dieser Zeitwill er die gesamte Rosenkreuzerbiblio-thek gelesen haben, dazu noch alleWerke Krumm-Hellers, Eliphas Levis,Franz Hartmanns, Rudolf Steiners undMax Heindels.8 Sein weiterer Weg führteihn nach eigenen Angaben mit 30 Jahrenin die „Ecclesia Gnostica Catholica“, einezum „Ordo Templi Orientis“ gehörige Or-ganisation, die für das Zelebrieren der sogenannten „Gnostischen Messe“ zustän-dig ist. Die Einweihung in die „EcclesiaGnostica Catholica“, die aber für Weornicht als gesichert angenommen werdenkann,9 wird von ihm selbst im 12. Kapitel

seiner Autobiographie detailreich be-schrieben.Nach diesen Mitgliedschaften, die ihn of-fensichtlich desillusionierten, widmete ersich im Eigenstudium esoterischen Auto-ren und ging auf ausgedehnte Wander-schaft. Viel ist darüber nicht bekannt undlässt sich auch aufgrund seiner romanhaf-ten Eigenbeschreibungen nicht wirklichrekonstruieren. Als wesentliche Erkenntnisdieser Zeit ist jedoch die Entdeckung der„Sexualmagie“ angegeben, die dann zueinem der wichtigsten Elemente seinerLehre wurde. Im Zuge von Meditationenerhielt er zudem weitere Einsicht in seinevorangegangenen Leben. So soll er u. a.ein ägyptischer Priester, Julius Caesar, Mit-glied eines tibetischen Ordens und dasÄquivalent Jesu auf dem Mond gewesensein.10

Ab 1948 begann Weor einen interessier-ten Kreis zu unterrichten, und es kam zurGründung einer ursprünglich als „Movi-miento Gnostico“ (Gnostische Bewegung)bzw. als „Universal Christian GnosticChurch“ bezeichneten Bewegung, derenSelbstbezeichnung jedoch immer wiedergeändert wurde. Diese Gründung kannals die „Urform“ der Gruppen angesehenwerden, die im Zusammenhang mit Weorzu nennen sind. 1950, ein Jahr nach demTod Arnoldo Krumm-Hellers, veröffent-lichte er sein Buch El Matrimonio Perfecto(„Die vollendete Ehe“), das schon unterdem Namen Samael Aun Weor erschien.Dies soll der Name seines „wahrenSelbst“ sein, wie er durch Meditation er-fahren haben will. Das Buch ist eine aus-führliche Auseinandersetzung mit der Sexualität vor dem Hintergrund der schonerwähnten sexualmagischen Theorie. DieVeröffentlichung dürfte auf jeden Fall zueiner Reihe von Angriffen auf seine Persongeführt haben, zumal die freizügige The-matisierung von Sexualität und ihrer Kraftzu dieser Zeit äußerst kontrovers war. Auf

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dieses erste Buch folgte eine Vielzahl wei-terer Publikationen. Insgesamt sollen esmehr als 80 Bücher und Hundertschaftenan Konferenzbeiträgen und Kurzmitteilun-gen sein. Sie beschäftigen sich mit be-kannten esoterischen Themen wie bei-spielsweise (hermetischer) Astrologie,UFOs oder Kabbalah. Im Internet sind imÜbrigen neben den Veröffentlichungenauch einige Videos von Konferenzbeiträ-gen und Interviews einzusehen.11

Zu den Lehren Samael Aun Weors

Grundsätzlich ließe sich das esoterischeLehrgebäude, das mit Weor verbunden ist,beschreiben als inspiriert von theosophi-schen Versatzstücken, den rosenkreuzeri-schen Ideen eines Arnoldo Krumm-Heller,Elementen der Lehren Aleister Crowleys,Georges Ivanovich Gurdjieffs u. a. Weorbezeichnete sich selbst als „Meister derSynthese“, der sämtliche modernen, aberauch die antiken esoterischen Traditionender Welt zusammengeführt habe.12 ImVorwort seiner ersten Publikation ist pro-grammatisch zu lesen: „Hier hast du, wer-ter Leser, die Synthese aller Religionen,Schulen und Sekten. Unsere Lehre ist dieLehre der Synthese.“13

Die drei Schlüsselthemen im DenkenWeors, die als die „drei Faktoren der Be-wusstseinsrevolution“ bezeichnet werden,sind – soweit dies aus dem umfangreichenWerk rekonstruierbar ist – Tod, Wiederge-burt und Opfer.14 Tod bedeutet dabei dieZerstörung sämtlicher negativer Bewusst-seinsfaktoren, die das Erwachen des Men-schen behindern. Es geht darum, die in-nere „Essenz“ des Menschen von ihrenVerkrustungen zu befreien, um zu einemwahren Wesen zu gelangen. Wiederge-burt bezieht sich auf die daraufhin mög-liche Geburt eines „höheren“ alchemi-schen Körpers, was man insbesonderedurch Techniken der Sexualmagie errei-

chen könne. Opfer bezieht sich darauf,dass der endgültig Initiierte alles tun muss,um das erlangte Wissen in seiner Vollstän-digkeit zu verbreiten. Diese drei Faktoren sollen im Rahmen derstufenweisen Hinführung durch die Leh-ren Weors erreichbar sein. Dabei gibt esinsgesamt sieben Einweihungsstufen, diein drei Teile gegliedert sind, die als „exo-terisch“, „mesoterisch“ und „esoterisch“bezeichnet werden. Von größter Bedeu-tung für den Aufstieg des Initianden ist dieSexualmagie, die die „Wiedergeburt“ desalchemischen Körpers ermögliche.Grundsätzlich nimmt Weor hier eine sehrstrikte Positionierung vor. Nur die so ge-nannte „karezza“-Technik, d. h. das Zu-rückhalten des Orgasmus zur Sublimie-rung der dabei freiwerdenden Energien,ist legitim. Andere Formen der Sexualma-gie, wie sie beispielsweise durch AleisterCrowley und seine Epigonen vorgegebenwurden, sind abzulehnen.15 Die hohe Be-deutung sexualmagischer Praktiken wirdvon Weor in so gut wie allen seinen Publi-kationen betont. Sie stellt für ihn den Gip-felpunkt, ja die Synthese sämtlicher esote-rischer Traditionen dar. „Jede Religion, je-der esoterische Kult hat als Synthese dieSexualmagie.“16 Das dabei erzielte Ergeb-nis bezeichnet Weor auch als Vorgang ei-ner „Christifikation“ des Menschen: „Wirwollen eines erreichen, ein Ziel, eine Ab-sicht: die Christifikation. Jeder Menschmuss sich christifizieren.“17 In Anlehnungan asiatische Traditionen wird häufig auchder Begriff „sahaja maithuna“ verwendet,um den höchsten Grad der Vereinigungvon Mann und Frau im Zuge der sexual-magischen Praktik zu beschreiben. DasPraktizieren dieser Sexualmagie soll es er-möglichen, einen weiteren Aspekt derLehren Weors zu realisieren, der ebenfallsin den Schriften einen großen Raum ein-nimmt: die Verwirklichung eines „Astral-körpers“ und „unkörperlicher Reisen“. Auf

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diesen „Astralreisen“ erlangt der Einge-weihte Erkenntnisse, die seine bislang ge-wonnenen übersteigen. Er wird so stufen-weise in höchste Wissenssphären einge-führt.

Viele Spaltungen nach Weors Tod

Samael Aun Weor starb 1977. Es kam inFolge relativ rasch zum Zerfall seiner Be-wegung in viele rivalisierende Einzelbe-wegungen. Die gemeinsame Klammer alldieser Gruppierungen ist die Verehrungder Person Weors als Lehrer und über-menschliche Figur, zumeist als MeisterKalki Avatar oder „Messiah“ des Wasser-mannzeitalters, Buddha Maitreya oder Lo-gos des Planeten Mars.18 Im Internet kur-siert auch ein eigener „Himno Avatara“,der diese Art der religiösen Verehrung be-sonders deutlich macht. Weor wird darinals Erlöserfigur besungen, als Licht; erhabe die Dunkelheit weggeschafft, seine„heilige Mission“ ausgeführt, sei als „Lichtder Befreiung“ anzusehen, was durch dieunterlegten Bildergalerien unterstrichenwird (von Bildern des ägyptischen GottesThot über den indischen Shiva bis hin zuChristus).19 Es ist äußerst schwierig, eineÜbersicht über die verschiedenen Grup-pierungen zu geben, zumal sich die Ten-denz zu Schismen und Abspaltungen alskonstanter Faktor der Weor-Gruppen er-weist. Diese Trennungen sind dabei oftschon auf Zerwürfnisse innerhalb der Fa-milie Weors zurückzuführen.Die wichtigste Vereinigung ist das „Gnos-tic Institute of Anthropology“ (www.gnostic-institute.org), das von der WitweWeors, Arnolda Garro Gómez (1920-1998, genannt „Maestra Litelantes“), biszu ihrem Tod geleitet wurde und sich alslegaler Hüter des Erbes Weors sieht (wasaber auch alle Übrigen für sich beanspru-chen). Das Institut stellt international ge-sehen die größte Vereinigung dar (ca.

18 000 aktive Mitglieder)20 und bemühtesich u. a. um eine historisch-kritische Edi-tion der Schriften Weors. Entstanden ist es1989 als Abspaltung der ursprünglichgrößten Weor-Vereinigung, der „Asocia-ción Gnóstica de Estudios de Antropolo-gía y Ciencia Asociación Civil“ (AGEA-CAC). Die Spaltung ist aufgrund von Dis-sensen in Bezug auf diverse Lehrmeinun-gen und insbesondere im Zusammenhangmit einem Streit um das Copyright derSchriften Weors entstanden. Die AGEA-CAC existiert weiterhin unter der Leitungder Tochter Weors, Hypatia Gómez, undvon Victor Manuel Chavez (www.agea-cac.org). Der Bruder Hypatias, Osiris Gó-mez, wiederum übernahm nach dem Todder Mutter die Leitung des „Gnostic Insti-tute of Anthropology“ (Hauptsitz in Me-xiko). Es sind noch andere Gruppen zu nennen,die im Zusammenhang mit Weor und sei-ner Wirkung stehen. Sie sind auf eigen-ständige Gründungen von Schülern Weorszurückzuführen: ● die „Asociación Gnóstica de EstudiosAntropológicos Culturales y Científicos”(AGEAC), die 1992 in Spanien von OscarUzcátegui Quintero gegründet wurde undals Abspaltung von der AGEACAC entstan-den ist. Quintero war einer der engstenSchüler Weors und beansprucht für sich,als legitimer Nachfolger bestimmt wordenzu sein.21 Der Hauptsitz ist in Granada(www.ageac.org). ● der „Centro de Estudios Gnosticos“(CEG), eine Splittergruppe des „GnosticInstitute of Anthropology“, die von Ernes-to Barón geleitet wird. Dieser war eineZeitlang Leiter einer Ausbildungsstätte inder Weor-Tradition in Guadalajara, über-warf sich jedoch mit Weors Frau, worauf-hin er sich 1984 mit einer Gruppe Gleich-gesinnter in Monserrat in Spanien nieder-ließ.22 Von dieser Gruppierung gibt es imeuropäischen Raum wiederum eine Ab-

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spaltung, die von der Frau Baróns, ClorisRojo Barón, nach der Trennung von ihremMann 2001 gegründet wurde. Zudem er-folgte bei diesen Gruppen um das Jahr2003 herum eine Umbenennung in Zen-tren für „Studien der Selbsterkenntnis“.● die „Gnostic Christian UniversalChurch“, gegründet von dem Kolumbia-ner Teofilo Bustos, der als „MasterLakshmi“ bezeichnet wird und aktuell sei-nen Hauptsitz in Venezuela hat(www.gnostico.com).● die „Gnostic Christian Universal Move-ment in the New Order“, gegründet 1960von dem Kolumbianer Joaquín EnriqueAmortegui Valbuena (1926-2000), der als„Master Rabolú“ bezeichnet wird. DieseGruppe hat eine unverkennbar apokalyp-tische Tendenz. So spricht Amortegui Val-buena in seinem letzten, auch aufDeutsch erschienenen Buch Hercolubusoder der rote Planet von einem sich derErde nähernden Planeten, der aktuellbeim Jupiter angelangt sei und in naherZukunft auf der Erde einschlagen werde.Die dabei zu erwartende Katastrophewürden nur diejenigen überleben, diesich mit den drei Faktoren des Bewusst-seins (im Sinne Weors) auseinandergesetzthätten.23

Alle genannten Gruppierungen habenihren Schwerpunkt im südamerikanischenRaum. In Europa ist von einer größerenPräsenz in Spanien auszugehen, insbe-sondere im Zusammenhang mit der vonOscar Uzcátegui Quintero gegründetenVereinigung. Einige Gruppierungenbemühen sich jedoch um eine Verbrei-tung auch im übrigen europäischenRaum. Die in dieser Hinsicht aktivsteGruppierung ist der „Centro de EstudiosGnosticos“; eine gewisse internationalePräsenz hat auch die mit Teofilo Bustos(Meister Lakshmi) verbundene Vereini-gung.24

Präsenz im deutschen Sprachraum

Grundsätzlich ist festzustellen, dass derdeutsche Sprachraum kein bevorzugtesVerbreitungsgebiet der Weor-Gruppierun-gen zu sein scheint. Dies muss auch vordem Hintergrund der sprachlichenSchwierigkeiten gesehen werden. DieÜbersetzung der Texte Weors aus demSpanischen kann aufgrund der vielen ter-minologischen Probleme, der anspie-lungsreichen Metaphorik und der bestän-digen Gedankensprünge und -brüche keinleichtes Unterfangen sein. Öffentlichwahrnehmbar ist v. a. die Vortragstätigkeitder Gruppierungen. In Österreich gab esbeispielsweise seit Mitte der 90er Jahre inWien, Graz und Linz immer wieder pla-katierte Vortragsankündigungen eines„Zentrums für Studien gnostischer Anthro-pologie“, das im Zusammenhang mit dem„Centro de Estudios Gnosticos“ des Ernes-to Barón steht.25 Insgesamt ergibt sich derEindruck, dass es einen (kleinen) Kanonfester Themen gibt, die im Rahmen dieserVorträge abgehandelt werden: z. B. „Dasheilige Ägypten“ („Ägypten – ein Ge-schenk des Nils“, „Die magische Kraft derägyptischen Bauten: Pyramiden, Sphinx,Tempel“, „Die Mythen von Isis, Osiris undHorus“)26; „Das Mysterium der gotischenKathedralen“ (Die „gotische Kunst als Ge-heimsprache“, „Die Bedeutung derschwarzen Madonna“, „Energieströmeunter den Kathedralen“)27; „TibetischePsychologie“28; „Atlantis oder die Suchenach dem Ursprung“29; „Der Jakobswegoder der Weg der großen Sehnsucht“30;„Die Kosmischen Wächter. IntelligentesLeben in der Weite des Universums“31.Eine große Schwierigkeit der Selbstprä-sentation dieser Gruppen stellt die schonerwähnte Tendenz zur Spaltung, Neufor-mierung oder Umbenennung dar. DasWiener „Zentrum für Studien gnosti-scher Anthropologie“ präsentiert sich z. B.

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seit einigen Jahren als „Zentrum für Stu-dien der Selbsterkenntnis“. Dies spiegeltdie Umwandlung des „Centro de EstudiosGnosticos“ des Ernesto Barón in den„Centro de Estudios del Autoconoci-miento“ (CEA) im Jahr 2003 wider.32

Deutlich ist bei diesem Beispiel auch eingewisser Wandel in der Lehre, der sich inder „Abkehr“ von der Gnosis im engerenSinne zeigt: So lässt sich in den aktuellenAngaben des CEA eine Tendenz zu einerallgemein psychologisierenden, nichtmehr so sehr direkt an Weor orientiertenSprache erkennen.33 Doch handelt es sichauch hier wohl nur um eine momentaneBestandsaufnahme, die in einigen Jahrenwieder erneuert werden müsste. Thema-tisch lässt sich bei der Vortragstätigkeitkeine größere Änderung feststellen. EinPlakat des „Zentrums für die Studien derSelbsterkenntnis“ aus dem Jahr 2007 kün-digt Vorträge zu „Griechischen Mythenund Selbsterkenntnis“ an mit Themen wie„Das Orakel von Delphi“, „Die Büchseder Pandora“, „Das Gesetz der Nemesis“.Neben der Barón-Gruppe ist im deut-schen Sprachraum eine in Berlin ansäs-sige Vereinigung mit der Bezeichnung„Die Gnostik (sic!) Kultur in Deutschland“präsent, die in der Tradition der Lehrendes Teofilo Bustos (Meister Lakshmi) steht.Sie betreibt eine Internetseite (http://gnostik-kultur.tripod.com), doch mehr als ei-nige Zitate aus Weors und Bustos Schrif-ten (oft in schlechter deutscher Überset-zung) und das Angebot „to receive gnosticclasses in English via email“ ist – nebenPhotos aus einem „Introduktionskurs zurGnosis“ – darauf nicht zu finden. Ein ähn-liches Bild ergibt sich im Zusammenhangmit einem „Institut für Gnostische Anthro-pologie e.V.“ (www.gnosis-meditation.de).Dort liegt ein Schwerpunkt auf dem Ange-bot einer „Meditation“, die Elemente desYoga und einer so genannten „Runen-Gymnastik“ bzw. eines „Runen-Yoga“

präsentiert. Letzteres ist im Grunde ge-nommen die Nachbildung von Runendurch Körperstellungen, die besonderekörperliche und spirituelle Wirkungen ha-ben sollen. Wirkungsgeschichtlich gehtdies auf das Werk des deutschen Okkul-tisten Friedrich Bernhard Marby (1882-1966) zurück.34 Es wird auch die Befähi-gung zu Astralreisen in Aussicht gestellt,die am Ende der umfangreichen „Medita-tion“ stehen könnten. Auf der Internetseiteist zu lesen:35 „Mit Hilfe gezielten Übun-gen können wir unser Astralkörper Be-wußt benutzen. Unser Astralkörper ist derKörper der Astrale Welt, die vierte Dimen-sion. Es ist der Körper, den wir in dieTräume sehen.“ Gerade dieses Zitat, dasunter Beibehaltung der zahlreichensprachlichen Fehler wiedergegeben wur-de, führt auch die offensichtlichenSchwierigkeiten der öffentlichen Präsenzvon Weor-Gruppen und ihrer Inhalte vorAugen. Es ist zu vermuten, dass die Betrei-ber der Seite keine muttersprachlichenDeutschen sind, ansonsten wäre diesemassive Fehlerhäufung nicht erklärlich.Die Internetpräsenz gibt überhaupt beredtAuskunft über die nicht wirklich vollzo-gene Durchdringung des deutschsprachi-gen Raums. Die deutschen Varianten derdiversen Internetseiten sind meist nur An-hänge umfangreicher lateinamerikani-scher Seiten; die Links enden bald im spa-nischen Text.Eine so große Tradition wie die der Weor-Gruppierungen rief im Laufe der Ausbrei-tung selbstredend auch Kritik hervor. Eine„Asociación de Ayuda a los Afectados porla Gnosis / The Association to Help PeopleAffected by Gnosis” mit Sitz in Paris botHilfe an. Deren Internetauftritt (www.sos-gnosis.org) wurde 2002 initiiert, ist jedochseit Sommer 2007 nicht mehr aktiv. Einerder Kritikpunkte, der über die allgemeinüblichen Vorwürfe an Gruppen dieser Arthinausgeht (verlogene Haltung, Manipu-

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Anmerkungen

1 Zu dieser neuerdings gebräuchlichen Bezeichnungeiner der Gruppierungen vgl. die Ausführungen imletzten Kapitel dieses Beitrags.

2 Ich zitiere im Folgenden die spanischen Büchernach den Kapitelangaben. Verwendung fanden dieim Internet frei erhältlichen Ausgaben; diese unddie folgenden Übersetzungen stammen vom Verfas-ser. Bibliographische Hinweise: Die Bücher Weorsstehen im Internet vielerorts zum freien Downloadzur Verfügung, da der Autor kurz vor seinem Toddas Copyright freigegeben hat, um die weitere Ver-breitung zu gewährleisten. Die umfangreichsteSammlung der Texte (mehrheitlich im spanischenOriginal, aber auch in den Übersetzungen, soweitderen Vervielfältigung freigegeben wurde) findetsich auf www.bibliotecagnostica.com. Dort ist essogar möglich, eine vollständige Sammlung allerTexte als E-Book herunterzuladen. Dabei ist explizitdie unentgeltliche Verbreitung der Texte Weors alsoberstes Prinzip angesprochen. Eine Sammlung derwichtigsten Texte in englischer Übersetzung findetsich auf www.gnosisonline.org/Biblioteca/english_books.php. Wer Weor in persona sehen will, kannauf eine umfangreiche Sammlung von Kurzvideoszurückgreifen (z. B. auf www.youtube.com). Ein ak-tueller Überblick über die Bewegung findet sich imLexikoneintrag von Massimo Introvigne / PierluigiZoccatelli, Gnostic Movement (Samael Aun Weor),in: Martin Baumann / J. Gordon Melton, Religionsof the World 2, 2002, 553f.

3 Die nachfolgenden Zitate stammen aus der mir zu-gänglichen spanischen Version des Buches.

4 Im ersten Kapitel des Buches „Las tres montañas, Miinfancia“ wird in einer ganzen Sequenz dieses „Lei-den“ an der Begrenztheit eindrucksvoll beschrie-ben.

5 Angaben aus dem dritten Kapitel des Buches „Lastres montañas, Espiritismo“.

6 Angaben aus dem vierten Kapitel des Buches „Lastres montañas, Teosofía“. Curuppumullage Jinaraja-dasa bereiste in der Tat zu dieser Zeit die USA undSüdamerika.

7 Vgl. dazu ausführlich Harald Lamprecht, Neue Ro-senkreuzer. Ein Handbuch, Göttingen 2004, 153-161.

8 Angaben aus dem fünften Kapitel des Buches „Lastres montañas, La Fraternidad Rosa-Cruz“.

9 Vgl. dazu aber die Ausführungen bei Massimo In-trovigne, Il ritorno dello gnosticismo, Carnago1993, 198, der diese Einweihung in die „EcclesiaGnostica Catholica“ bezweifelt.

10 Angaben nach der biographischen Skizze bei Pier-luigi Zoccatelli, Il paradigma esoterico e un mo-dello di applicazione. Note sul movimento gnosticodie Samael Aun Weor, in: La Critica Sociologica135, 2000, 33-49, zitiert in der Internetversion,www.cesnur.org/2001/plz_weor.htm.

11 Vgl. z. B. www.gnosisonline.org/tv-gnosis-gnose/gnose-samael-01.php. Viele Videos erhält manauch auf www.youtube.com, Stichwort „Weor“.

12 Vgl. P. Zoccatelli, Il paradigma esoterico, a.a.O.,zweites Kapitel.

13 Aus der Einleitung des Buches „El Matrimonio Per-fecto“.

14 Darstellung nach der Übersicht bei P. Zoccatelli, Ilparadigma esoterico, a.a.O.; eine Zusammenfas-sung darüber findet sich bei M. Introvigne / P. Zoc-catelli, Gnostic Movement, a.a.O., 553.

15 Vgl. M. Introvigne / P. Zoccatelli, Gnostic Move-ment, a.a.O.

16 Übersetzung eines Zitats aus der Einleitung des Bu-ches „El Matrimonio Perfecto“.

lation der Mitglieder, falsche Verwendungdes Begriffs Gnosis, Widersprüche in denSchriften, wirres Gedankenkonstrukt), istdie Problematik der angeblichen sexual-magischen Praktiken. Nicht klar ist je-doch, ob die Weor-Gruppen diese Tradi-tion, die bei ihrem Begründer eine sehrgroße Rolle spielte, auch heute noch zen-tral in ihrem Lehrgut enthalten, und wennja, in welcher Form. Den aktuelleren Ver-öffentlichungen und den Internetauftrittenist dahingehend nichts zu entnehmen.Eine große Schwierigkeit der Selbstdar-stellung der vielen kleinen Weor-Vereini-gungen ist die offensichtliche Tendenz zurständigen Spaltung, die sich bis in die

kleinsten Gruppenbildungen verfolgenlässt. Auf lateinamerikanischen Internet-seiten finden sich Hinweise auf Copy-right-Streitigkeiten und die Frage, welcheGruppe welchen Anspruch in Bezug aufWeor und seine Lehren hat. Eine Vielzahldieser Auseinandersetzungen scheint ge-richtsanhängig zu sein. Samael Aun Weorhatte bei all seiner spirituellen und esote-rischen Kreativität und der spürbaren Lustan der Synthese vieler esoterischer Tradi-tionen offensichtlich kein Auge für die Or-ganisation seiner Anhängerschaft und dieRegelung der Nachfolge. Eine beein-druckende Wirkungsgeschichte ist ihm al-lemal beschieden.

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17 Ebd.18 M. Introvigne / P. Zoccatelli, Gnostic Movement,

a.a.O., 553.19 Das Video ist im Internet weit verbreitet (z. B.

www.youtube.com).20 Angaben nach P. Zoccatelli, Il paradigma esoterico,

a.a.O., zweites Kapitel, Punkt 2.1.21 Ebd., Punkt 2.3.22 Ebd., Punkt 2.4.23 Vgl. dazu die Angaben zum Buch auf www.herco

lubus.com. Die Publikation ist auch auf Deutsch imC. Volkenborn Verlag erschienen. In der deutschenVersion der Internetankündigung (www.cvverlag.de) heißt es: „V. M. Rabolú, Indio aus Südamerika,beschreibt uns mit aller Klarheit das Herannahen ei-nes riesigen Planeten, der schon jetzt die Ereignisseder Erde spürbar beeinflusst.“

24 Es gibt bislang eine einzige tiefergehende Darstel-lung der Präsenz von Weor-Gruppen in Europa,und zwar in Form der hier schon öfter zitierten Stu-die von P. Zoccatelli zur Situation in Italien.

25 Ich bedanke mich bei Stefan Lorger-Rauwolf vomWiener Referat für Weltanschauungsfragen für denEinblick in das Archiv und das freundliche Zur-Ver-fügung-Stellen einiger der vorgestellten Plakate.

26 Aus einer Vortragsankündigung des „Zentrums fürStudien gnostischer Anthropologie“ in Wien, 2001.

27 Vortragsankündigung des „Zentrums für Studiengnostischer Anthropologie“ in Wien, 1999. In ähn-licher Weise kündigt ein Plakat aus dem Jahr 1996einen Vortrag über „Die Mysterien des AntikenÄgypten“ an.

28 Öfter plakatiert 1996. 29 Plakate aus den Jahren 1996 und 1998. 30 Plakate aus dem Jahr 1996. 31 Plakate aus den Jahren 1996 und 1998. In Bezug

auf die Außenpräsentation ergeben sich viele Paral-lelen zu der „Neuen Akropolis“, die jedoch un-gleich erfolgreicher in ihrer internationalen Ausbrei-tung zu sein scheint.

32 www.cea-internacional.com; vgl. die Angaben aufwww.cesnur.org/religioni_italia/g/gnosi_08.htm.

33 Vgl. die Angaben auf www.cea-internacional.com/de/index.html, wo der Name Weor überhauptnicht mehr vorkommt.

34 Vgl. dazu Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkultenWurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997, 142f;zu Epigonen Marbys vgl. Karlheinz Weißmann, Er-wachen im Untergrund. Neuheiden unter uns, in:MD 4/1991, 99-112, 108f, und Walter Schmidt,„Bund der Runenforscher Deutschlands“ wieder ak-tiv, in: MD 6/1992, 185-187.

35 www.gnosis-meditation.de/docs/gnosis/Astralreisen.htm.

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Am 20. Februar 2009, kurz nach dem200. Geburtstag Charles Darwins (geb.12. Februar 1809), beschäftigte sich eineinternational angelegte Tagung in Dort-mund mit dem Phänomen Kreationismus.Leiter und Moderator war Dittmar Graf(Fachgruppe Biologie und Biologiedidak-tik der TU Dortmund). Die Fachtagungwurde vom Bundesministerium für Bil-dung und Forschung unterstützt; Koopera-tionspartner waren neben dem Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie(Dortmund) das Departement für Evoluti-onsbiologie der Universität Wien(Günther Pass) und die Fachgruppe Biolo-giedidaktik der Hacettepe Universität An-kara (Haluk Soran). Letzteres ist bedeut-sam, da nach repräsentativen Umfragen inder Türkei mehr als die Hälfte der Bevöl-kerung die Evolutionstheorie ablehnt. Ver-treter des Kreationismus oder der Bewe-gung für ein „intelligentes Design“ warennicht beteiligt, auch keine Vertreter derbetroffenen Religionen oder der wissen-schaftlichen Theologie.Den Ausgangspunkt der Tagung bildetedie Resolution 1580 der Parlamentari-schen Versammlung des Europarats inStraßburg vom 4. Oktober 2007 mit demTitel „Die Gefahren des Kreationismus imErziehungswesen“. Berichterstatter warzuerst der französische Sozialist Guy Len-gage, dann Anne Brasseur, Mitglied desEuropäischen Parlaments aus Luxemburg,die die Resolution in Dortmund vorstellte.Ziel sei ein Appell an die europäische Bil-

dungspolitik gewesen, die Evolutionstheo-rie im naturwissenschaftlichen Unterrichtzur Geltung zu bringen. Die Resolutionrichte sich nicht gegen die Religionen.Nach Aussage des Tagungsleiters verfolgtedie Tagung einen ähnlichen Zweck, näm-lich Maßnahmen gegen die religiös moti-vierte Evolutionskritik zu diskutieren. De-ren Zunahme wurde anhand statistischerErhebungen belegt. Die Referenten griffendiesen Punkt immer wieder auf und prä-sentierten eine Fülle einschlägiger Umfra-gen in zahlreichen europäischen Staaten.Graf erwähnte die strittige taktische Frage,ob nicht kreationistisch eingestellte Religi-onsgemeinschaften in die Abwehr desKreationismus einzubeziehen seien. Prak-tisch beantwortete das Tagungsprogrammdiese Frage mit „nein“.Nach Grafs Einführung und dem Beitragvon Anne Brasseur diskutierte der Alt-meister der Wissenschaftstheorie GerhardVollmer (Braunschweig) die Wissenschaft-lichkeit des Evolutionsgedankens und derentsprechenden biologischen Theorien. Erführte aus, dass die Biologie meist mit de-ren hoher Erklärungskraft argumentiereund damit, dass ihre innere und äußereKonsistenz seit Darwin ständig gewachsensei. Beides treffe zu, aber die Evolutions-theorien seien darüber hinaus im strengenSinn prüfbar. Sie seien nämlich so formu-lierbar, dass sie empirisch widerlegt wer-den könnten. Dieser Sachverhalt würde inForschung und Lehre nicht hinreichendvermittelt.

Hansjörg Hemminger, Stuttgart

Einstellungen zu Evolution und Wissenschaft in EuropaEin Tagungsbericht

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Anschließend behandelte der Wissen-schaftshistoriker Thomas Junker (Tübin-gen) das Thema „Evolutionstheorie versusKreationismus“ und machte klar, dass ausseiner Sicht zwischen Evolutionstheorieund Religion ein prinzipieller Wider-spruch besteht. Darwins Leistung sei dieAusdehnung des naturwissenschaftlichenWeltbilds auf die Biologie gewesen. Folg-lich seien religiöse Menschen prinzipiellKreationisten – oder sie seien inkonse-quent in ihrem Denken und Reden. Damitsetzte Junker unausgesprochen voraus,dass sich aus der Naturwissenschaft ohneweitere Prämissen oder Annahmen eineindeutiges Weltbild ergibt und dass des-halb sämtliche im weitesten Sinn ontolo-gischen Aussagen, auch religiöse, von die-sem Weltbild her zu beurteilen sind. Ra-tionale Voraussetzungen des Denkens imPlural gibt es dann nicht, vielmehr ist Ra-tionalität mit Naturwissenschaft identisch.In der Konsequenz betrachtete Junkerkreationistische und nicht kreationistischeVarianten des Schöpfungsglaubens alsAusdruck religiöser Irrationalität.Im Beitrag des Politologen Werner Patzelt(Dresden) ging es um Wissenschafts- undEvolutionsfeindlichkeit als gesellschaft-liche Herausforderung. Er ersetzte die bisdahin vorherrschende Betroffenheitsrheto-rik durch die Analyse von Spannungenund Bruchstellen im gesellschaftlichenKonsens, die durch den Kreationismusund ähnliche antimoderne Bewegungenoffen gelegt würden. Die gesellschaftlicheHerausforderung bestehe in der bestmög-lichen Klärung von bisher Ungeklärtem,zum Beispiel bezüglich des Verhältnissesvon Wissenschaft und Religion bei derProduktion „öffentlicher Wahrheiten“. Erkritisierte implizit damit die Tendenz, Ge-genmaßnahmen gegen gesellschaftlicheRisiken zu formulieren, ohne diese Risi-ken im Detail darzustellen und empirischzu begründen. Damit blieb er allerdings

allein, von den übrigen Referenten wurdeeine wachsende Wissenschaftsfeindlich-keit der Religionen als selbstevident vor-ausgesetzt.Anschließend gab der Biologe Ralf Som-mer (Tübingen) einen interessanten Ein-blick in die Forschungsfelder der moder-nen Evolutionsbiologie, ohne sich speziellzum Umgang mit dem Kreationismus zuäußern. Die Biologiedidaktiker Günther Pass(Wien) und James D. Williams (Sussex)schilderten danach die Situation des Bio-logieunterrichts und den Einfluss desKreationismus in Österreich und Großbri-tannien. Williams stellte demoskopischeDaten vor, die belegten, dass in England,und besonders in Nordirland, auch in dennaturwissenschaftlichen Fächern teilweisekreationistische Inhalte gelehrt werden.Bedenkenswert war sein Hinweis, dassnaturwissenschaftliche Lehrkräfte häufignichts über Philosophie, Methode undGeschichte der Naturwissenschaft wüss-ten und deshalb Fragen hilflos gegenüber-ständen, die über Faktenwissen hinausgin-gen. Das lässt sich vermutlich aufDeutschland übertragen. Allerdings pro-vozierte Williams selbst philosophischeRückfragen, weil er den Unterschied vonNaturwissenschaft und Glauben folgen-dermaßen zusammenfasste: „Science isrational, and based on evidence; belief isirrational, and without evidence.“ In ei-nem solchen „wissenschaftlichen Welt-bild“ ist in der Tat alles ganz einfach – ge-nauso einfach wie im Kreationismus.Anita Wallin (Göteborg) kehrte zur empi-rischen Forschung zurück, indem sie eineUntersuchung an Oberstufenschülern vor-stellte, die darauf abzielte, die Schwierig-keiten beim Verständnis der Evolutions-theorie zu identifizieren und didaktischanzugehen. Sie unterstützte die Anregungvon Williams, dass dafür einerseits inhalt-liches Wissen, andererseits auch ein Ver-

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ständnis für die Methode der Naturwis-senschaft vermittelt werden muss.Schließlich ergänzte Haluk Soran (Ankara)die demoskopischen Daten durch Unter-suchungen über die Überzeugungen vonLehramtsstudierenden in der Türkei undgab einen Überblick über die bildungspo-litische Debatte vor Ort.Ein persönliches Fazit: Viele Naturwissen-schaftler stehen sowohl religiösen Sinnge-bungen als auch der kreationistischen Kri-tik an ihren Theorien gleichgültig gegen-über. Sie sind weder zu einem Dialognoch zu politischen Gegenmaßnahmenzu motivieren. Bei einer Veranstaltungvom Zuschnitt der Dortmunder Fachta-gung treffen sich diejenigen, die aus un-terschiedlichen Gründen am Verhältnisvon Wissenschaft und Religion ein beson-deres Interesse haben. In der Diskussionäußerten sich gegensätzliche Interessenla-gen: Die einen wollten zwischen weltan-schaulichen Sinndeutungen und naturwis-senschaftlichem Diskurs differenzieren,um den Kreationismus für religiöse Posi-tionen überflüssig zu machen. Aus dieserSicht ist der Kreationismus eine theologi-sche Position, die durch ihren falschenAnspruch entstellt wird, alternative Natur-wissenschaft zu sein. Daher sind genuineNaturwissenschaft und genuine Religionvor diesem Anspruch zu schützen. ZumBeispiel wurde dafür plädiert, die dem„intelligent design“ zugeneigte Schöp-

fungstheologie des Wiener KardinalsSchönborn vorrangig als innerkatholischePositionierung zu verstehen. Die Natur-wissenschaft habe dazu wenig zu sagen,vielmehr müssten sich – wenn sie dieswollten – Naturwissenschaftler als Perso-nen mit ihren eigenen Sinndeutungen zuWort melden. Andere hatten aber geradean einer solchen Differenzierung kein In-teresse. Aus ihrer Sicht schafft die Natur-wissenschaft fortschreitend mehr weltan-schauliche Eindeutigkeit und wird bald –so die Erwartung – die Geltung religiöserWelt- und Existenzdeutungen durch dieErklärung der biologischen Ursachen be-enden.Aus dieser Sicht ist der Kreationismus einSymptom einer allgemeinen religiösen Ir-rationalität. Das eigentliche Problem sinddann nicht die vergleichsweise wenigenerklärten Kreationisten, sondern die nochnicht kulturell entmachteten Religionen,die dem vereinheitlichten wissenschaftli-chen Weltbild im Weg stehen – und diesumso mehr, je differenzierter sie denkenund reden. Vermutlich entgegen der Inten-tion der Veranstalter bewegte sich die Aus-sprache immer wieder in diese religions-kritische Richtung. Formuliert und disku-tiert wurde die Frage nach dem Verhältnisvon Naturwissenschaft und Religion abernicht. Um auf den Beitrag von Werner Pat-zelt zurückzukommen: Es gibt nochKlärungsbedarf.

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Anlässlich des 200. Geburtstags von Char-les Darwin, der am 12.2.2009 gefeiertwird, verpflichten sich die großen Natur-kundemuseen und Botanischen Gärtenzur authentischen Vermittlung von Wis-senschaft und Forschung sowie zur klarenPositionierung gegen Wissenschaftsfeind-lichkeit. Sie wenden sich gegen pseudo-wissenschaftlichen Kreationismus, aberauch gegen unzulässige Grenzüberschrei-tungen der Naturwissenschaften. Ziel istes allen Bevölkerungsgruppen die Faszi-nation der Evolutionswissenschaften zuvermitteln und ihre Bedeutung für dienachhaltige Nutzung der Erde verständ-lich zu machen.Charles Darwin selbst dient den Museenund Botanischen Gärten hier als herausra-gendes Vorbild. So begründet sich seinepochales Werk „Über die Entstehung derArten“ auf seinen umfassenden, währendder Beagle-Reise gemachten Beobachtun-gen und Aufsammlungen und der darausabgeleiteten Entwicklung wissenschaft-licher Hypothesen. Diese untermauerteDarwin dann durch Materialauswertung,Zuchtversuche und weitere Beobachtun-gen. Er testete auch Theorien aus anderenWissensgebieten und fügte all diese Er-kenntnisse zu seiner umfassenden Ge-samttheorie der Evolution zusammen.

Auch die Veröffentlichung seines Werkesgeschah wohlüberlegt und hochprofessio-nell. So gab Darwin selbst Falsifizierungs-möglichkeiten an und sah mögliche ge-sellschaftliche Ablehnung voraus. Darwinblieb inhaltlich immer konsequent in sei-ner Wissenschaft, vermittelte seine Evolu-tionstheorie jedoch didaktisch sehr ge-konnt. Er selbst beteiligte sich auch nichtan den darauf folgenden weltanschauli-chen Zuspitzungen und unzulässigen so-zialdarwinistischen Verfremdungen seinerTheorie. Er erduldete die damit verbun-dene Häme und widmete sich den Restseines Lebens der weiteren Untermaue-rung seiner Evolutionstheorie, die Dankseines sorgfältigen Arbeitens bis heute inihren Grundprinzipien Bestand hat.Weltanschauliche Anfeindungen, Überin-terpretationen und Zweckentfremdungender Evolutionstheorie nehmen auch heutein Deutschland wieder zu. Die Naturkun-demuseen und Botanischen Gärten desKonsortiums „Deutsche naturwissenschaft-liche Forschungssammlungen“ (DNFS)und ihre Partner verpflichten sich deshalb,die Evolutionswissenschaften so authen-tisch und nachvollziehbar wie möglich zuvermitteln. Ihre Ausstellungen und For-schungen basieren insbesondere auf wis-senschaftlich jederzeit nachprüfbaren

Im Folgenden dokumentieren wir eine Pressemitteilung der „Deutschen Naturwissen-schaftlichen Forschungssammlungen e. V.“ (DNFS), einer Vereinigung von Naturkunde-museen und Botanischen Gärten. Die Veröffentlichung beinhaltet ein Positionspapier,das aus Anlass des Darwin-Jahres herausgegeben wurde.

Darwin als VorbildNaturkundemuseen und Botanische Gärten für wissenschaftlicheAuthentizität, gegen Wissenschaftsfeindlichkeit

DOKUMENTATION

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Originalobjekten. Insgesamt umfassen dieDNFS mehr als 100 Millionen naturkund-licher Objekte, welche die Evolution desKosmos, der Erde und des Lebens ein-drücklich untermauern.Die moderne biologische Evolutionstheo-rie ist die derzeit beste und einzige natur-wissenschaftliche Erklärung der Entwick-lung des Lebens. Unterschiedlichste wis-senschaftliche Methoden und Beobach-tungen sichern sie ab und entwickeln sieweiter. Naturwissenschaften beschränkensich jedoch naturgemäß auf das „wiefunktioniert die Natur, welche Prozessesind dafür relevant?“ Sinnfragen könnenvon ihnen nicht beantwortet werden. So-fern keine „Grenzüberschreitungen“ ge-macht werden, schließen sich Religionund naturwissenschaftliche Ergebnissedeshalb nicht aus, da sie auf unterschied-lichen Ebenen liegen. Religiöse Elementekönnen jedoch keinen Platz in einer na-turwissenschaftlichen Analyse der Erdeund des Lebens haben. Aus diesem Grundlehnt die DNFS kreationistische Ansätze,incl. der Variante des sog. „Intelligent De-signs“ kategorisch ab. Kreationismus istkeine Wissenschaft, da seine Postulateweder belegbar noch falsifizierbar sind.Kreationismus ist aber nicht nur wissen-schaftsfeindlich, sondern richtet sich auchgegen moderne theologische Auslegun-gen und versucht gesellschaftspolitischenEinfluss zu erreichen. Evolution ist eindauerhafter, auch heute noch anhaltenderProzess, sein Ergebnis ist die auch in Mu-seumssammlungen dokumentierte Vielfaltan fossilen und heutigen Arten. Die Rele-vanz der Evolutionstheorie für eine nach-haltige Nutzung der biologischen Res-sourcen sowie für das Wohl der Mensch-heit ist nicht hoch genug einzuschätzen.Die deutschen Naturkundemuseen undbotanischen Gärten unterstützen die Er-forschung von Evolution durch ihre natur-wissenschaftlichen Sammlungen und be-

teiligen sich umfassend selbst daran.Durch Ausstellungen und weitere öffent-liche Aktivitäten fördern sie aktiv die Dar-stellung und Vermittlung der Evolution inder Öffentlichkeit. Sie verpflichten sichdabei, zwischen wissenschaftlich abgesi-chertem Wissen und noch im Stadium derwissenschaftlichen Diskussion befindli-chen Aussagen zu unterscheiden, keineunzulässigen weltanschaulichen Schluss-folgerungen aus naturwissenschaftlichenErgebnissen zu ziehen und die For-schungsmethodik der Evolutionswissen-schaften nachvollziehbar und transparentdarzustellen.

Gez., Die DNFS-Mitglieder, 10.2.2009

Dieses Positionspapier der Deutschen Naturwis-senschaftlichen Forschungssammlungen istverknüpft mit einer Reihe ähnlicher Stellungnah-men, darunter der internationalen Buffon-Er-klärung von 93 großen naturkundlichen Einrich-tungen, der Erklärung des Internationalen Komi-tees für Naturkundliche Museen und Sammlun-gen (ICOM-NATHIST) oder des EU-Museums-netzwerks ECSITE.

Die Mitglieder der DNFS umfassen derzeit:Botanischer Garten Berlin-Dahlem; For-schungsinstitute und Museen Senckenberg-Ver-bund mit Sitzhaus Frankfurt/M. und weiterenMuseen und Sammlungen u. a. in Dresden, Gör-litz, Müncheberg; Museum für Naturkunde –Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiver-sitätsforschung an der Humboldt-Universität zuBerlin; Zoologische Sammlungen der Univer-sität Hamburg; Staatliche Naturwissen-schaftliche Sammlungen Bayerns (mit Botani-schem Garten München, Museum Mensch undNatur München sowie acht weiteren Museen);Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart;Staatliches Museum für Naturkunde Karlsruhe;Zoologisches Forschungsinstitut und MuseumAlexander Koenig in Bonn; Fachgruppe Natur-wissenschaftliche Museen im Deutschen Muse-umsbund (mit ca. 150 weiteren Museen).

Internetadresse der Pressemitteilung: http://idw-online.de/pages/de/news300232

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PFINGSTBEWEGUNG

Abgrenzung und Brückenschlag. Vor 100Jahren entstand die „Berliner Erklärungzur Pfingstbewegung“. (Letzter Bericht:3/2008, 110ff) Es war eine Zeit der Er-weckungen. In Wales kamen etwa 100 000 Menschen zum Glauben, undauch in Norwegen gab es einen geist-lichen Aufbruch, wie man ihn in Europabis dahin nicht erlebt hatte. Menschensprachen in Zungen, wirre Laute kamenaus ihren Mündern. Die Prediger zittertenam ganzen Körper, zuweilen fielen siewährend ihrer Predigt einfach um. In zeit-genössischen Berichten war von Dämo-nenaustreibungen, Krankenheilungen, wil-den Schreien und Visionen die Rede. Undimmer mehr Menschen ließen sich vonder neuen Glaubensströmung anstecken.In den ersten Jahren des 20. Jahrhundertsbreitete sich die Pfingstbewegung in Eu-ropa aus.Auch im Deutschen Reich blickte manaufmerksam nach Wales und Norwegen.Vor allem im Evangelischen GnadauerGemeinschaftsverband und in den damalsaufkommenden Freikirchen fanden sichMenschen, die sich von der neuen Glau-bensströmung begeistern ließen. HeinrichDallmeyer, Theodor Haarbeck und ErnstModersohn, die damals führenden Pietis-ten, begrüßten die Erweckung. Langeschon war man frustriert über den geist-lichen Zustand der Amtskirchen, langeschon hatte man für Erweckungen gebe-tet. Doch war die Pfingstbewegung das,was man ersehnt hatte? Hinter den Kulis-sen brodelte es. Unkoordinierte Gottes-dienste voll wilder Ekstase war niemandgewohnt. Heilungen und Zungenredenpassten nicht in das Schema herkömm-licher Frömmigkeit. Ähnliches geschah

auf zwei Versammlungen, die zwei Nor-wegerinnen im Juli 1907 in Kassel abhiel-ten. Sie zogen eine so große Men-schenmenge an, dass schließlich die Poli-zei bat, die Gottesdienste zu beenden. Be-geisterung schlug in Besorgnis um. OttoSchopf, einer der Väter der „Freien Evan-gelischen Gemeinden“, war einer der ers-ten, die vor der neuen Glaubensbewe-gung warnten. Ihm sollten viele anderefolgen. Während 1908 und 1909 in Hamburgund Mülheim drei Glaubenskonferenzenstattfanden, die als Keimzelle der Pfingst-bewegung in Deutschland gelten können,trafen sich am 15. September 1909 60Vertreter der Gemeinschaftsbewegung,aus Freikirchen und aus dem landeskirch-lichen Raum im Berliner Hospiz St. Mi-chael. Stundenlang berieten sie über dieneue Bewegung. Schließlich verabschie-deten sie ein Papier, das im Bereich evan-gelikaler Gruppen, etwa der „Bekenntnis-bewegung Kein anderes Evangelium“, bisheute nahezu Bekenntnisrang hat. Dochdie „Berliner Erklärung zur Pfingstbewe-gung“ ist in erster Linie ein Dokument derAbgrenzung. „Die sogenannte Pfingstbe-wegung ist nicht von oben, sondern vonunten“, lautet der wohl schärfste Satz. „Eswirken in ihr Dämonen, welche, vom Sa-tan mit List geleitet, Lüge und Wahrheitvermengen, um die Kinder Gottes zu ver-führen.“Konkret wandten sich die am Ende 56 Un-terzeichner vor allem gegen eine Aussageder Pfingstbewegung: die „Lehre vom rei-nen Herzen“, wonach die Sünde in einemgläubigen, mit dem Heiligen Geist getauf-ten Christen ausgerottet sei. „Wenn wirsagen, dass wir keine Sünde haben, soverführen wir uns selbst, und die Wahr-heit ist nicht in uns“, antworteten die Pietisten darauf mit dem 1. Brief des Johannes. „Traurige Erfahrungen in derGegenwart zeigen, dass da, wo man ei-

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nen Zustand von Sündlosigkeit erreicht zuhaben behauptet, der Gläubige dahinkommen kann, dass er nicht mehr fähigist, einen Irrtum zuzugeben, geschweigedenn zu bekennen“, heißt es in der Er-klärung. Und: „Eine weitere traurige Folgefalscher Heiligungslehre ist die mit ihrverbundene Herabsetzung des biblischen,gottgewollten ehelichen Lebens, indemman mancherorts den ehelichen Verkehrzwischen Frau und Mann als unvereinbarmit wahrer Heiligung hinstellt.“Kritisiert wurde auch die Art und Weise,in der die Pfingstbewegung Kreise zog. Sogenannte „Weissagungen“, also Prophe-tien geistlicher Leiter, die auch heute nochin manchen charismatischen Kreisen po-pulär sind, sah man als große Gefahr an.„Nicht nur haben sich in ihnen handgreif-liche Widersprüche herausgestellt, son-dern sie bringen da und dort Brüder undihre ganze Arbeit in sklavische Abhängig-keit von diesen Botschaften“, heißt es inder Erklärung. Man verglich die Prophe-tien mit dem Auftreten spiritistischer Me-dien und kritisierte auch, dass die Über-mittler meist Frauen seien. „Das hat anverschiedenen Punkten die Bewegung da-hin geführt, dass gegen die klaren Wei-sungen der Schrift Frauen, ja sogar jungeMädchen, leitend im Mittelpunkt“ stehen.100 Jahre später gibt es die Pfingstbewe-gung immer noch. Heilungsgottesdiensteund Zungenreden werden ebenso prakti-ziert wie lautstarke Lobpreismusik, zu derMenschen in Ekstase tanzen. Doch wäh-rend sich im Mainstream der Bewegungheute viele lebendige Gemeinden in derÖkumene engagieren und ihre ganzeKraft investieren, um Menschen für denGlauben zu gewinnen, nimmt die Öffent-lichkeit die Pfingstbewegung vor allemvon ihren Rändern her wahr. Denn dorttummeln sich falsche Propheten: Mehr-fach etwa sagte der amerikanische Fern-sehprediger Benny Hinn den Tod Fidel

Castros während der 1990er Jahre voraus– was definitiv nicht eingetreten ist. Dasphysische Auftreten von Jesus Christuswährend eines Gottesdienstes von BennyHinn in Nairobi, Kenia, hat ebenfallsnicht stattgefunden. Dafür kam es 2006im amerikanischen Lakeland zu einerneuen Erweckungsbewegung rund umden Fernsehprediger Todd Bentley, der so-gar behauptete, 20 Menschen von den To-ten auferweckt zu haben. Auch inDeutschland fallen radikale pfingstle-rische Gruppen wie die „Biblische Glau-bensgemeinde“ in Stuttgart, die „FreieChristliche Jugendgemeinschaft“ in Lü-denscheid oder auch die Berliner „Ge-meinde auf dem Weg“ immer wiederdurch umstrittene Sonderlehren auf.Der aus der Glaubenskonferenz von Mül-heim 1909 hervorgegangene „MülheimerVerband Freikirchlich-Evangelischer Ge-meinden“ steht dagegen schon längstnicht mehr an der Spitze der Pfingstbewe-gung. Im Gegenteil, aus dem „Forum Frei-kirchlicher Pfingstgemeinden“ (FFP), einerArt Dachverband der verschiedenenPfingstkirchen in Deutschland, trat man2002 aus. Man konzentrierte sich auf die„Vereinigung Evangelischer Freikirchen“(VEF), in der der Mülheimer Verband seit1991 Vollmitglied ist, und kooperiert dortmit den Mennoniten, den Methodistenund den Baptisten. In der „Arbeitsgemein-schaft Christlicher Kirchen“ (ACK) arbeitetman auch mit den Landeskirchen zusam-men. „Wir sehen uns als evangelikal-cha-rismatische Freikirche, aber nicht alsPfingstkirche“, sagt Präses Ekkehart Vetter,der dem bundesweit etwa 50 Gemeindenund rund 4000 Mitglieder zählenden Ver-band vorsteht. „Und am linken wie rech-ten Rand der evangelikalen Bewegunggibt es Gruppen und Personen, mit denenwir wohl echte Mühe hätten.“ Mit dem Gnadauer Gemeinschaftsver-band hat man das hingegen nicht mehr.

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„Viele der Gemeinden des MülheimerVerbandes unterscheiden sich nicht allzu-sehr von manchen lebendigen Landes-kirchlichen Gemeinschaften“, sagt dessenGeneralsekretär Theo Schneider. BeideVerbände verabschiedeten Anfang desJahres eine neue, gemeinsame Erklärung.In der Berliner Erklärung erkenne man ein„ernsthaftes geistliches Ringen, in kriti-scher Zeit Schaden von der GemeindeChristi abzuwenden“, heißt es dort. Fürdas gegenwärtige Miteinander von Gna-dauer und Mülheimer Verband hättenbeide Dokumente jedoch keine Bedeu-tung. „Wir wissen, dass in der jeweils an-deren Bewegung der Geist Jesu Christwirkt.“ Das bedeutet freilich nicht, dassder Gnadauer Verband damit die BerlinerErklärung außer Kraft gesetzt hat: „Dasgeht schon deswegen nicht, weil die Er-klärung eine Erklärung von Privatpersonenund kein offizielles Dokument des Gna-dauer Verbandes war“, sagt Schneider.„Und im Umgang mit manchen Formenpfingstlerischer Frömmigkeit, etwa denProphezeiungen von Benny Hinn, halteich die inhaltlichen Impulse der BerlinerErklärung auch nach wie vor für hilf-reich.“

Benjamin Lassiwe, Berlin

FREIMAURER

Bundespräsident empfängt deutsche Frei-maurer. (Letzter Bericht: 6/2007, 205ff)Am 15. Dezember 2008 hat Bundespräsi-dent Horst Köhler die sechs Großmeisterder deutschen Freimaurer auf Schloss Bellevue in Berlin empfangen. Dies be-richtet die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift„Humanität“ (1/2009). Der Empfang war –wie es heißt – „auf beharrliche Initiative“von Klaus-M. Kott, dem höchsten Reprä-sentanten der 14 100 Freimaurer inDeutschland, zustande gekommen. Wich-

tige Aspekte in dem Gespräch waren u. a.die Stellung der Bruderschaft in der Ge-sellschaft, die Ansprache der Jugend unddie internationalen Beziehungen der Ver-einigten Großlogen von Deutschland(VGLvD). Besonders interessiert zeigtesich das Staatsoberhaupt an der Frage, wiebei den Freimaurern „vor allem jungeMenschen für die individuellen undgesellschaftlichen Werte und Ziele derBruderschaft gewonnen werden“. Dabeiräumte der Großmeister der VGLvD,Klaus-M. Kott, ein, dass sich für den Bundmeist „gestandene Männer“ interessierten.Nach Beobachtung von Karl Hordenbach,dem Großmeister der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“, seies nicht leicht, „in unserer heutigen,durch Hedonismus geprägten Zeit“ jungeMenschen für die freimaurerischen Zielezu gewinnen, „die nicht nur Spaß, son-dern auch Pflichten mit sich bringen“. Beeindruckt zeigte sich der Bundespräsi-dent von der Preisverleihung der„Großloge der Alten Freien und Ange-nommenen Meister von Deutschland“ anden katholischen Theologen Hans Küng.Das Staatsoberhaupt fasste das Ergebnisdes fast einstündigen Gesprächs mit denWorten zusammen: „Die Freimaurerei hateinen festen Platz in unserer freiheitlichenGesellschaft.“ Rückblickend sieht VGLvD-Großmeister Kott in dem Gespräch dieFortsetzung „einer guten Tradition“. Be-reits in früheren Jahren hatten die Bundes-präsidenten Karl Carstens und RomanHerzog eine Freimaurer-Delegation emp-fangen.An dem Treffen mit BundespräsidentKöhler am 15. Dezember 2008 aufSchloss Bellevue nahmen teil: Klaus-M.Kott, Großmeister der Vereinigten Groß-logen von Deutschland; Jens Oberheide,Großmeister der Alten Freien und Ange-nommenen Maurer von Deutschland; Joa-chim Strassner, Großmeister der Großen

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ESOTERIK

Suche nach einem „integralen Weltbild“.„Stiftung Weltkulturerbe der Weisheits-lehren“ erwirbt Kloster. „Kloster wirdEsoterikclub“ – so titelte etwas reißerischdie „Neue Bildpost“ in ihrer Ausgabe vom27.11.2008. Was war geschehen? Nachdreijähriger Käufersuche hatte die Deut-sche Ordensprovinz der Missionare vonder Heiligen Familie (Sitz Mainz) ihr nichtmehr benötigtes Missionshaus St. Kilian inLebenhan, einem Ortsteil von Bad Neu-

Landesloge von Deutschland; Karl Hor-denbach, Großmeister der Großen Natio-nal-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“;Frederick T. Colbran, Goßmeister derGrand Lodge of British Freemasons inGermany; Grady M. Adams, Großmeisterder American Canadian Grand Lodge.

Matthias Pöhlmann

ISLAM

Dokumentarfilm „Der Imam und der Pas-tor“. Der mehrfach ausgezeichnete nige-rianisch-britische Dokumentarfilm „DerImam und der Pastor“ (2006, Regie: AlanChanner, 40 Min.) erzählt in eindrück-lichen Bildern und überzeugenden Dialo-gen den Weg der beiden ehemals verfein-deten Milizenführer Imam MuhammadAshafa und Pastor James M. Wuye, die ausMisstrauen, Hass und Verletzung zu einergemeinsamen Friedens- und Versöhnungs-arbeit zwischen Christen und Muslimenin Nordnigeria fanden. Die Region wirdseit Jahren von gewaltsamen Auseinander-setzungen zwischen Christen und Musli-men erschüttert. Die beiden Geistlichengeben auf sehr persönliche Weise Einblickin die inneren und äußeren Konflikte, indie ihre ethnischen, kulturellen und reli-giösen Herkünfte sie geführt haben. PastorWuye verlor eine Hand, als Muslime ihnumbringen wollten, Imam Ashafa musstedie Ermordung naher Angehöriger durchchristliche Milizen mit ansehen. Heuteleiten beide gemeinsam ein Mediations-zentrum, dessen Dienste überregional ge-fragt sind.Nach der deutschsprachigen Premiere derDokumentation in Berlin vor knapp ei-nem Jahr und dem Berlinbesuch der bei-den Mediatoren im Juni 2008 wird derFilm bei Dialogveranstaltungen, im Rah-men der Erwachsenenbildung und inSchulen gezeigt und diskutiert. Sicher ist

dabei zu beachten, dass die Situation vonChristen und Muslimen in Nigeria sichvon derjenigen hierzulande in vielem un-terscheidet. Doch die Auseinandersetzungmit den Fragen von Hass und Liebe, vonGewalt und Frieden aus dem Glaubenheraus, die persönliche Veränderung bei-der Protagonisten über Vergebung zurAussöhnung, der Rechtfertigungsdruckauch vor den eigenen Glaubensgemein-schaften, die Überzeugung von der Not-wendigkeit, Probleme friedlich und imRespekt für Differenzen lösen zu müssen– all dies bietet wichtige Anknüpfungs-punkte für neue Impulse. Der Film istohne Nigeria-Vorkenntnisse verständlichund eignet sich insbesondere für denSchulunterricht der Sekundarstufe II.Produziert wurde der Film von AlanChanner im Auftrag des Netzwerks „Initia-tives of Change“, das geschichtlich überdie „Moralische Aufrüstung“ der Nach-kriegszeit auf die „Oxford-Gruppe“ desAmerikaners Frank Buchman zurückgeht.Die deutsche Version des Films wurdevom Evangelischen Zentrum für entwick-lungsbezogene Filmarbeit in Stuttgart(EZEF) erarbeitet. (Links: www.gep.de/ezef/index_500.htm;www.evangelische-medienzentralen.de)

Friedmann Eißler

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stadt/Saale (Kreis Rhön-Grabfeld), an diegemeinnützige „Stiftung Weltkulturerbeder Weisheitslehren“ mit Sitz in Elzach(Breisgau) verkauft. Diese Stiftung, die2004 von 32 Personen gegründet wurde,bis dahin aber kaum öffentlich in Erschei-nung getreten war, wird das ehemaligeKloster künftig als Geschäftsstelle und Bil-dungsstätte nutzen. Die offizielle Über-gabe erfolgte am 1.12.2008, im Januar2009 ist die Geschäftsstelle der Stiftung indas erworbene Gebäude eingezogen, dasnun den klangvollen Namen „SchlossLöwenhain“ trägt, hergeleitet von denerstmals im 13. Jahrhundert urkundlich er-wähnten Herren von Lewenhayn. Dasheutige Schloss, 1750 von den Freiherrenvon Gebsattel erbaut, wurde 1919 vonden Missionaren der Heiligen Familieübernommen und bis 1978 als Missions-schule mit Internat genutzt, aus der vielePriester und Missionare hervorgingen.Vor diesem Hintergrund ist verständlich,dass die Bevölkerung von Lebenhan undUmgebung, die dem Kloster eng verbun-den war, den Verkauf skeptisch bearg-wöhnte und dass die Befürchtung umging,es könnte sich eine „Sekte“ in Lebenhaneinnisten. Bei einer Informationsveranstal-tung versuchten Ordensleitung und Stif-tungsvorstand gemeinsam diese Beden-ken zu zerstreuen: „Keine Sekte odersonst etwas, was dem Ort nicht gut tut“ –diese Bedingung habe zu den Verkaufs-modalitäten gehört, wurde der Bevölke-rung versichert. Was hat es also mit derStiftung auf sich?Sicherlich ist die Stiftung keine „sektenar-tige Gruppierung“ mit vereinnahmenderoder totalitärer Struktur, die Menschenmanipuliert oder gar finanziell ausbeutet.Dennoch scheinen einige Bemerkungenangebracht. „Zweck der Stiftung ist dieDurchführung und Förderung von inter-disziplinärer Forschung auf den Gebietender Philosophie, Psychologie, Theologie,

der Naturwissenschaften und der Medi-zin. Die Stiftung ... dient der Förderungvon Impulsen, die zur Entwicklung einesintegralen Weltbildes beitragen“(www.stiftungwdw.de). Angestrebt wirdeine große Zusammenschau der Weis-heitstraditionen der Menschheit mit denErkenntnissen moderner Naturwissen-schaft, also eine umfassende Wissen-schaft, die Geistes- und Naturwissen-schaften in sich vereint und in der die Ge-gensätze von Geist und Materie, vonwestlichem und östlichem Denken aufge-hoben sind. Diese integrale Wissenschaftsoll in Zukunft die Grundlage für alle an-deren Wissenschaften bilden. Ein hoherAnspruch! Ist diese moderne Variante deruralten Suche nach der „Weltformel“,nach dem, „was die Welt im Innersten zu-sammenhält“, überhaupt realistisch undrealisierbar? Wenn man einen Blick aufdie personellen Ressourcen der Stiftungwirft, scheinen Zweifel angebracht. Die32 Gründungsmitglieder und die aktuelleVorstandschaft (Dipl.-Ing. Raphael J. H.Schmid und Rev. Richard L. Hill DD)scheinen alle nicht als Wissenschaftler imakademisch-universitären Bereich tätig zusein, sondern eher einer bildungsbürger-lichen Elite anzugehören; vertreten sindu. a. Diplomingenieure, Lehrer an ver-schiedenen Schularten, Angestellte, Phy-siotherapeuten und Mediziner ohne aka-demische Titel. Kann ein Projekt von solchgewaltigen Ausmaßen durch eine Gruppevon Idealisten ohne die Möglichkeitenuniversitärer Forschung auch nur ansatz-weise Aussicht auf Erfolg haben? Gewaltigist der Anspruch allemal, soll doch nichtweniger als das weisheitliche Erbe der ge-samten Menschheit („Weltkulturerbe“) inBezug zur modernen naturwissenschaft-lichen Forschung gebracht werden. Einsolches Projekt würde ganze Generatio-nen von Wissenschaftlern und Forschernin Anspruch nehmen.

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Die Bedenken gehen aber noch weiterund tiefer. Zwei Zitate mögen dies ver-deutlichen: „In den Kosmologien derWeisheitslehren findet sich die Idee einesgottheitlichen Weltengeistes, des Logos,der mit seinen unsichtbaren Kräften dasganze All durchdringt.“ – „In der Traditionder Weisheitslehren wurde die verbor-gene Weisheit Gottes verstanden als dasWirken des gottheitlichen Weltengeistesoder Weltengrundes, der als unsichtbares,verborgenes, noumenales Prinzip dieWelt der Erscheinungen hervorbringt unddurchwirkt“ (www.stiftungwdw.de). Dashier zum Ausdruck gebrachte Weltbild er-innert stark an Konzeptionen aus dem Be-reich von New Age und Esoterik, z. B. anKen Wilbers „integrale Wissenschaft“ oderan das Gedankengut der TranspersonalenPsychologie und Psychotherapie. Dass dieStiftung Mitglied im „Club of Budapest“,einer Art Alternativgründung zum „Clubof Rome“, wurde, bestätigt diese Einschät-zung. In einer solchen Konzeption bleibt letzt-lich kein Raum für personale Sichtweisen;reale Unterschiede und Differenzen wer-den nivelliert und lediglich als Ausfor-mungen der allem zu Grunde liegendenletzten Wirklichkeit (Kosmos, Natur, Ur-energie, Göttliches o. ä.) betrachtet. Texteder Stiftung sprechen zwar mehrfach von„Schöpfung“, aber nicht im Sinne einerchristlichen oder monotheistischenSchöpfungsvorstellung, sondern im Sinnevon „Natur“, die am Ursprung von allemsteht und in die alle Vielfalt wiederzurückgeführt werden muss. Mit einemchristlichen Gottes-, Welt- und Men-schenbild ist eine solche Sicht letztlichnicht vereinbar. Die „Weisheit“ bildetquasi den Kern und steht über allen kon-kreten Religionen und Weltanschauun-gen. Die verschiedenen Religionen, auchdas Christentum, können damit nichtmehr in ihrem Eigenwert und mit ihrem

eigenen Anspruch zur Geltung kommen,sondern gelten lediglich als unterschied-liche Manifestationen und Spiegelungendes Urgrundes, in dem letztlich alles eins,ja sogar identisch ist. De facto wird damitdas „unterscheidend Christliche“ nivel-liert, auch wenn der christliche Glaubenicht ausdrücklich abgelehnt wird. JesusChristus kann in einer solchen Sicht ledig-lich als einer der großen Weisheitslehrerder Menschheit neben anderen erschei-nen.Zunächst wird man aber abwarten müs-sen, wie sich die „Stiftung Weltkulturerbeder Weisheitslehren“ an ihrem neuen Sitzweiter entwickeln und welche Aktivitätensie entfalten wird. Ein Flyer spricht von ei-ner Vielzahl geplanter Initiativen von Vor-denkern aus Wissenschaft, Politik undKunst, von der Durchführung von Sympo-sien, von der Einrichtung von Studiengän-gen, vom Dialog zwischen den Religio-nen und zwischen Weisheit und Wissen-schaft. Einmal im Jahr sollen diese Akti-vitäten in einem „glanzvollen Festival“ihren Höhepunkt finden. Nach den Vor-stellungen der Stifter soll Schloss Löwen-hain in den kommenden Jahren zu einer„weltbekannten Bildungsstätte“ und zu ei-nem Anziehungspunkt für die „Zukunfts-region Rhön“ werden. Konkret geplantsind in diesem Frühjahr ein Tag der offe-nen Tür für die Bevölkerung und im Sep-tember die offizielle Eröffnung mit demFestival „Renaissance der Weisheit“, miteiner Multimedia-Ausstellung „WahresGlück gründet in Weisheit“ und mit einerVortrags- und Dialogreihe mit Menschenaus Kultur, Religion, Wissenschaft, Wirt-schaft und Politik. Es bleibt abzuwarten,wie weit diese Pläne in die Tat umgesetztwerden. Nimmt die Stiftung die von ihr er-hoffte Entwicklung, wird eine vertiefteAuseinandersetzung mit ihren Ideen auschristlicher Sicht unabdingbar werden.

Alfred Singer, Würzburg

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Perfektionismus

Als Perfektionismus wird eine Frömmig-keitshaltung bezeichnet, für die das Stre-ben nach Vollkommenheit (lat. perfectio)und völliger Freiheit von der Sünde cha-rakteristisch ist und die davon ausgeht,dass dies ganz oder teilweise erreicht wer-den kann.

Geschichtliche Anknüpfungen

Die biblischen Aussagen zur Ganzheitund Vollkommenheit (5. Mo 6,5; v. a. Mt5,48; 19,21 u. a.) werden von perfektio-nistischen Gemeinschaften in spezifischerWeise aufgegriffen, interpretiert und zu-meist unter Bezugnahme auf kirchen- undtheologiegeschichtliche Vorbilder (Monta-nismus, asketische und monastische Be-wegungen etc.) aktualisiert. Vollkommen-heit wird behauptet, ersehnt, biblizistischgefordert. Die Reformatoren treten mit Be-zug auf die Rechtfertigung des Sünders al-lein durch Gottes Gnade einer Leistungs-frömmigkeit pointiert entgegen und be-streiten einen „Stand der Vollkommen-heit“, der das Angewiesensein auf diegöttliche Gnade hinter sich lassen kann.Perfektionistische Strömungen, wie sie vorallem im Protestantismus des 19. Jahrhun-derts wirksam wurden, greifen insbeson-dere Impulse der aus dem Methodismuskommenden Heiligungsbewegung auf.Charakteristisch für Lehre und Frömmig-keitsvollzug ist dabei das Verlangen nach„völliger Heiligung“ (entire sanctification)als zweitem, der Rechtfertigung bzw. Wie-dergeburt folgendem Werk göttlicherGnade, verbunden mit radikaler Hingabean Christus.Das Verständnis christlicher Vollkommen-heit kann sich sowohl auf die Glaubens-

existenz des Einzelnen beziehen als auchauf das Leben der christlichen Gemein-schaft. Ist ersteres im Blick, wird ein starkethisch orientiertes Verständnis der Heili-gung akzentuiert, das sich erfahrungsbe-zogen von der Rechtfertigung ablöst undinsofern einen „Schritt über die Rechtferti-gung hinaus“ (Kurt Hutten) darstellt. Wirdletzteres betont, so ist die Suche nach derreinen Gemeinde bestimmend bzw. derVersuch, das urchristliche Lebens- undGemeindeideal wiederherzustellen. Ab-gesehen von diesen gemeinsamen Grund-ausrichtungen der Frömmigkeit wird mitPerfektionismus eine Haltung bezeichnet,die für ein größeres Spektrum von Grup-pen und Strömungen bezeichnend ist, diesich in Lehre und Praxis durchaus unter-scheiden. Besondere Verbreitung fandperfektionistisches Gedankengut durchdiejenigen pentekostalen und charismati-schen Frömmigkeitsformen, die die Erfah-rung des reinen Herzens und Gewissheitder Sündlosigkeit als Weg zur Geisterfül-lung (Geistestaufe) hervorheben.

Beispiele

Beispiele für perfektionistische Strömun-gen sind u. a. Gemeinschaftsbildungen,für die die Suche nach der vollkommenenGemeinde bestimmend ist. Sie haben sichweit über den amerikanischen Wurzel-grund hinaus ausgebreitet. Ihre ekklesio-logischen Visionen sind an der „Wieder-herstellung neutestamentlicher Gemein-den“ orientiert. In der Außenperspektivekonnten sie ihre eigenen konfessionsge-schichtlichen Bedingtheiten jedoch nichtverleugnen. Einzelne Gemeinschaftsbil-dungen haben im Laufe der Jahre ihr per-fektionistisches Streben neu interpretiertund entradikalisiert, so etwa die „Ge-meinde Gottes“ (Anderson), die durch Da-niel S. Warner (1842-1895) entstand undsich heute in ein freikirchliches und evan-

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gelikales Spektrum einordnet. Ähnlichesgilt im Blick auf die aus der radikalen Hei-ligungsbewegung kommende „Kirche desNazareners“ (Church of the Nazarene;Nazarener), die 1908 durch Phineas F.Bresee (1838-1915) gegründet wurde. Siehat sich inzwischen weltweit (2009 inetwa 150 Ländern mit ca. 1,3 Mill. Mit-gliedern) ausgebreitet, wobei der perfek-tionistisch orientierte Heiligungsgedankezurückgenommen wurde. Die Kirche desNazareners ist Mitglied im „Weltrat Me-thodistischer Kirchen“. In Deutschlandgibt es 20 Gemeinden mit ca. 1300 Mit-gliedern und Besuchern. Die Kirche istMitglied in der „Vereinigung Evangeli-scher Freikirchen“ (VEF); zahlreiche ihrerMitglieder pflegen Beziehungen zur Evan-gelischen Allianz.Ein anderes Beispiel stellen die Smithianer(andere Bezeichnungen: Smiths Freunde,Norweger-Bewegung, Die Christliche Ge-meinde) dar, die um 1910 durch denzunächst der Pfingstbewegung naheste-henden Johan O. Smith (1871-1943) ent-standen und sich ebenfalls weltweit ver-breiteten. In Deutschland gibt es 22, inder Schweiz zwei, in Österreich sechs Ge-meinschaften. Der „Kampf gegen dieSünde“ hat hier die Gestalt neuer Gesetz-lichkeit und einen elitären Anspruch ge-wonnen, der ökumenische Kontakte ver-hindert, obgleich auch in der Norweger-Bewegung gesetzliche Lebensregulierun-gen teilweise zurückgenommen wurden. Die 1927 durch Mara Fraser (1889-1972)gegründete Spätregen-Mission ist vonpfingstlerischem und perfektionistischemGedankengut bestimmt und fordert vonihren Anhängern eine grundlegende Tren-nung von der Welt und ein radikales„Ausbekennen“ der Sünden. Die Gemein-schaft errichtete in Deutschland einzelneGlaubenshäuser (u. a. in Beilstein/Würt-temberg, bei Minden/Westfalen, bei Lüne-burg).

Perfektionistische Strömungen im weite-ren Sinn beeinflussen zahlreiche weitereGruppen, insbesondere diejenigen, dieein bestimmtes Ideal von Gemeinde undpersönlicher Frömmigkeit verabsolutieren.Dazu gehören neue christliche Gruppen-bildungen wie die „Internationalen Ge-meinden Christi“ (International Churchesof Christ, früher Boston-Bewegung), die1979 in Boston entstanden. Unter der Lei-tung von Kip McKean (geb. 1954) gewanndiese Bewegung durch Aufnahme der„Shepherding“-Methode (auch „dicipling“genannt) eine klare Organisationsstruktur,die beinhaltet, dass jeder Christ unter derAutorität eines Hirten steht und zum akti-ven Missionsdienst verpflichtet ist. Die In-ternationalen Gemeinden Christi tendie-ren zu einem ekklesiologischen Perfektio-nismus, der eine bestimmte Hierarchie imAufbau der Gemeinde zur Norm erhebtund christliches Leben in gehorsams-pflichtigen Abhängigkeitsverhältnissenversteht. Durch den Rückzug McKeansaus der Leitungsverantwortung sind dieaggressive Missionspraxis der Gruppe undihr exklusives Selbstverständnis hinterfragtworden.Perfektionistisches Gedankengut bestimmtteilweise auch Gemeinschaftsbildungen,die in der „Konferenz für Gemeindegrün-dung“ (KFG) zusammengeschlossen sind.Die Konferenz verfolgt das Ziel Gemein-den aufzubauen, die sich „konsequent ambiblischen Vorbild der christlichen Urge-meinde orientieren“. Kontakte werden zuzahlreichen freien Brüdergemeinden,freien Baptistengemeinden, Mennoniti-schen Brüdergemeinden und BiblischenMissionsgemeinden unterhalten, eineökumenische Offenheit wird angelehnt. Neben solchen Gruppen und netzwerkar-tigen Zusammenschlüssen von Einzelge-meinden gibt es Einzelgänger, die Grup-pen um sich scharen und in Schrifttumund Aktionen öffentlichkeitswirksam agie-

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ren. Hintergrund der Gemeinschaftsbil-dungen um Ivo Sasek (vgl. MD 4/2003,132-143) und Horst Schaffranek (vgl. MD3/1993, 81-85) sind Idealbilder individu-ellen und gemeinschaftlichen christlichenLebens. Bei Schaffranek verbindet sichdas Idealbild von Gemeinde mit der Ver-absolutierung eines bestimmten Verständ-nisses von Ortsgemeinde, das den Hinter-grund für seine aggressive Infragestellungaller christlichen Gemeinschaften und Kir-chen darstellt. Im Anschluss an WitnessLee und die so genannten „Ortsgemein-den“ wird die Auffassung vertreten, dassalle wahrhaft Wiedergeborenen eines Or-tes Teil der einen Ortsgemeinde sein müs-sen. Endzeitlich motivierte Kirchenkritikund eine strenge Heiligungspraxis charak-terisieren die Schaffranek-Gruppe und dieObadja-Gemeinschaften (OrganischeChristus-Generation) Ivo Saseks, aberauch weitere Einzelgruppen, deren Ein-fluss jedoch insgesamt gering bleibt.

Einschätzung

Perfektionistische Strömungen sind einPhänomen, das in verschiedenen Religio-nen und Weltanschauungen begegnet. Siebegleiten die Christenheit seit ihren An-fängen. Zu ihren Entstehungsbedingungengehört u. a. der Kontext eines angepasstenChristentums, dem sie in biblizistischerBerufung auf das Neue Testament die Ra-dikalität und Vollkommenheit urchrist-lichen Lebens entgegensetzen. Insofernperfektionistische Strömungen denWegcharakter (Phil 3,12; 1. Kor 13,9ff)christlicher Glaubensexistenz unterschät-zen, verlassen sie die Perspektive eines bibeltheologisch begründbaren Verständ-nisses von Heiligung, das angesichts derErwartung des kommenden Reiches Got-tes von der Vorläufigkeit und Gebrochen-heit aller individuellen und gemeinschaft-lichen Ausdrucksformen ausgeht.

Literatur

Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten,Stuttgart 1950 (121982), 262ff

Melton, John Gordon (Hg.), The Encyclopediaof American Religions, Detroit u. a. 51996

Melton, John Gordon, Biographical Dictionaryof American Cult and Sect Leaders, NewYork / London 1986

Ohlemacher, Jörg, Evangelikalismus und Heili-gungsbewegung im 19. Jahrhundert, in: U.Gäbler (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd.3, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000,371-391

Ruhbach, Gerhard, Artikel Perfektionismus, in:H. Gasper u. a. (Hg.), Lexikon der Sekten,Sondergruppen und Weltanschauungen, Frei-burg i.Br. / Basel / Wien 51994, 804-806

Voigt, Karl Heinz, Die Heiligungsbewegungzwischen Methodistischer Kirche und Lan-deskirchlicher Gemeinschaft, Wuppertal 1996

Reinhard Hempelmann

AUTORENDr. theol. Friedmann Eißler, geb. 1964, Pfarrer,EZW-Referent für Islam und andere nichtchristlicheReligionen, neue religiöse Bewegungen, östlicheSpiritualität, interreligiösen Dialog.Dr. rer. nat. habil. Hansjörg Hemminger, geb.1948, Weltanschauungsbeauftragter der Ev. Lan-deskirche in Württemberg, Stuttgart.Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb. 1953, Pfar-rer, Leiter der EZW, zuständig für Grundsatzfragen,Strömungen des säkularen und religiösen Zeit-geistes, pfingstlich-charismatisches Christentum.Benjamin Lassiwe M. A., geb. 1977, freier Journa-list, Berlin.OKR PD Dr. theol. Michael Nüchtern, geb. 1949,Pfarrer, Theologisches Mitglied des Oberkirchen-rats der Evangelischen Landeskirche in Baden, Karlsruhe.Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfarrer,EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus, Spiritis-mus, Satanismus.Alfred Singer, geb. 1944, lic. theol., Pfarrer, Refe-rent für Weltanschauungs-, Religions- und Sekten-fragen in der Diözese Würzburg.Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologeund Psychotherapeut, EZW-Referent für christlicheSondergemeinschaften, Psychoszene und Scien-tology.DDr. phil. Franz Winter, geb. 1971, Mitarbeiter derösterreichischen Bundesstelle für Sektenfragen,Wien.

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

72. Jahrgang 4/09

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Evolution des Bewusstseins?Ken Wilbers „Integraler Ansatz“

Abschied vom Sühnopfer?

Samael Aun Weor und die „gnostische Anthropologie“

Einstellungen zu Evolution und WissenschaftEin Tagungsbericht

Stichwort: Perfektionismus

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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