julian jaynes der ursprung des bewu tsein

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Julian Jaynes

Der Ursprung des Bewutsein

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Das Buch entwickelt eine regelrechte Urknall-Theorie des Bewutseins. Es entwirft eine vllig neue Sicht der geistigen Entwicklung. der Menschheit. Mit groem Wagemut und geistiger Kraft spricht Julian Jaynes fr eine neue, weitreichende Theorie. Das Weltbild, das er uns vorstellt, ist umfassend. Er bietet neue Erklrungen fr die Stimmen der Gtter, fr Jahwe, der aus dem brennenden Dornbusch zu Moses sprach. Es entwirft neue Sichtweisen von Homers Ilias und zu zahlreichen Ereignissen und Rtseln der Weltgeschichte. Hinzu kommen interessante Darlegungen ber Hypnose, Schizophrenie, Weissagung, Musik und das Wesen des Schpferischen .ISBN 3 499 19529 1 Originaltitel The Orig in of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind Deutsch von Kurt Neff Juni 1993 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH Umschlaggestaltung Barbara Hanke

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Zu diesem BuchDie These: Bewutsein ist in der Menschheitsgeschichte erst vor rund dreitausend Jahren aufgetreten. Autonomie, eine subjektive Identitt, Geschichte, berhaupt das Wissen des Menschen von sich selbst lauter historische Neuerwerbungen. Die Menschen der Frhzeit hingegen konnten in Grenzsituationen, unter Stre nicht selbstbewut entscheiden wie wir. Stattdessen vernahmen sie akustische Halluzinationen Stimmen von Gttern. Der Vorbewute Mensch gehorchte automatenhaft der Stimme Gottes, die von auen zu ihm zu sprechen schien. In Wirklichkeit, so Jaynes, kommunizierte damals das Sprachzentrum in der einen Hemisphre des in zwei Kammern geteilten Gehirns mit dem Hrzentrum in der anderen. Wie kam es um 1000 v. Chr. zum Zusammenbruch dieser bikameralen Organisation des menschlichen Denk apparates? Wie entstand das, was wir heute subjektives Bewutsein nennen und was ist das eigentlich?

AutorJulian Jaynes, 1923 in New Weston/Massachusetts geboren, lehrt seit 1964 Psychologie an der Princeton University. Seine Urknalltheorie des Bewutseins (Kirkus Review) hat weit ber den Kreis der Fachleute hinaus heftige Diskussionen ausgelst.

INHALTVORWORT ........................................................................ 6 EINFHRUNG................................................................... 7 ERSTES BUCH BEWUTSEIN, GEIST, GEHIRN UND SEELE................................................................................... 33 ERSTES KAPITEL Das Bewutsein des Bewutseins.... 34 ZWEITES KAPITEL Das Bewutsein............................. 70 DRITTES KAPITEL Die Psychologie der Ilias ......... 97 VIERTES KAPITEL Die bikamerale Psyche ................. 121 FNFTES KAPITEL Das Doppelhirn........................... 142 SECHSTES KAPITEL Der Ursprung der Kultur........... 178 ZWEITES BUCH DAS BEWEISMATERIAL DER GESCHICHTE.................................................................... 205 ERSTES KAPITEL Gtter, Grber und Idole ................ 206 ZWEITES KAPITEL Bikamerale Theokratien mit Schriftkultur .................................................................... 245 DRITTES KAPITEL Bedingungen fr Bewutsein....... 282 VIERTES KAPITEL Metanoia in Mesopotamien ......... 308 FNFTES KAPITEL Das intellektuelle Bewutsein der Griechen.......................................................................... 350 SECHSTES KAPITEL Das moralische Bewutsein der Habiru.............................................................................. 402 DRITTES BUCH GEGENWART: RELIKTE DER BIKAMERALEN PSYCHE IN DER MODERNEN WELT ............................................................................................. 431 ERSTES KAPITEL Das Streben nach Autorisierung .... 432

ZWEITES KAPITEL Von Propheten und Besessenheit 463 DRITTES KAPITEL Von Dichtung und Musik ............ 495 VIERTES KAPITEL Die Hypnose ................................ 521 FNFTES KAPITEL Die Schizophrenie ....................... 558 SECHSTES KAPITEL Die Augurien der Wissenschaft 598 QUELLENNACHWEIS ................................................. 619 BER DEN AUTOR...................................................... 620

VORWORTDIE KERNIDEEN des vorliegenden Buches habe ich im September 1969 auf einer Tagung der American Psychological Association in Washington vorgetragen. In all den Jahren seither habe ich meine Gedanken und Begrndungen immer wieder auf verschiedenen wissenschaftlichen Veranstaltungen zur Diskussion gestellt. So ergab sich eine stndige berprfung und kritische Auseinandersetzung, worin ich einen wertvollen Beitrag sehe. Im Ersten Buch fhre ich aus, wie ich auf die erwhnten Kernideen gestoen wurde. Im Zweiten Buch sichte ich das historische Be weismaterial fr meine Thesen im Einzelnen. Im Dritten Buch zeige ich, was meine Theorie bei der Erklrung einiger moderner Phnomene zu leisten vermag. Ursprnglich wollte ich in einem Vierten und Fnften Buch die Hauptresultate meines neuen Ansatzes darlegen. Daraus mute aber ein eigenes Buch werden, an dem ich noch schreibe. Arbeitstitel: The Consequences of Consciousness Die Folgen des Bewutseins. Julian Jaynes

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EINFHRUNGDas Problem des Bewutseins WAS FR EINE WELT des augenlosen Sehens und des hrbaren Schweigens, dieses immaterielle Land der Seele! Welche mit Worten nicht zu fassenden Wesenheiten, diese krperlosen Erinnerungen, diese niemandem vorzeigbaren Trumereien! Und wie intim das Ganze! Eine heimliche Bhne des sprachlosen Selbstgesprchs und Mitsichzu-Rate-Gehens, die unsichtbare Arena allen Fhlens, Phantasierens und Fragens, ein grenzenloser Sammelplatz von Enttuschungen und Entdeckungen. Ein ganzes Knigreich, wo jeder von uns als einsamer Alleinherrscher regiert, Zweifel bt, wenn er will, Macht bt, wenn er kann. Eine versteckte Klause, wo wir die bewegte Chronik unserer vergangenen und noch mglichen zuknftigen Taten ausarbeiten knnen. Ein inneres Universum, das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen kann. Dieses Bewutsein, das mein eigenstes, innerstes Selbst ist, das alles ist und doch ein reines Nichts was ist es? Und wie entstand es? Und warum? Nur wenige Fragen haben eine lngere und verwirrendere Geschichte als diese: das Problem des Bewutseins und seiner Stellung in der Natur. Jahrhunderte des Grbelns und Experimentierens, Jahrhunderte des Bemhens, sich den Zusammenhang zwischen zwei vermeintlich selbstndig existierenden Wesenheiten zu erklren, die man in dem einen Zeitalter Geist und Materie, in dem anderen Subjekt und Objekt, in wieder einem anderen Seele und Leib nannte; endlose Darlegungen ber Bewutseinsstrme, Bewutseinszustnde, Bewutseinsinhalte; przisierende Begriffsbildungen wie Anschauung, Sinnesdaten, Auenwelt, Organgefhle, - 7-

Wahrnehmung, Prsentationen und Reprsentationen, die Empfindungen, Vorstellungen und Affekte der strukturalistischen Introspektionstheorie, die Beobachtungsdaten der wissenschaftlichen Positivisten, die Felder der Phnomenologen, die Apparitionen eines Hobbes, die Phnomene eines Kant, die Erscheinungen der Idealisten, die Elemente eines Mach, die Phanera eines Peirce, die Kategorialirrtmer eines Ryle das alles hat das Problem des Bewutseins nicht aus der Welt schaffen knnen. Stets bleibt ein Rest und widersetzt sich einer Lsung. Was sich da so hartnckig sperrt und nicht verschwinden will, ist der Unterschied zwischen dem, was die anderen von mir sehen, und meinem eigenen inneren, von tiefem Gefhl getragenen Selbstempfinden. Es ist der Unterschied zwischen dem Ich- und-Du der gemeinsamen Verhaltenswelt und dem ortlosen Ort der Gedankendinge. Unsere Reflexionen und Trume, unsere imaginren Gesprche mit imaginren Partnern, in denen wir ach wie gut, da niemand wei alles ausplaudern, unsere Hoffnungen und unseren Kummer, unsere Zukunft und unsere Vergangenheit entschuldigen, rechtfertigen, behaupten: Dieses ganze dichte Phantasiegewebe unterscheidet sich himmelweit von der handfesten, standfesten, greifbaren, kneifbaren Wirklichkeit mit ihren Bumen, ihrem Gras, ihren Tischen, Ozeanen, Hnden, Sternen ja selbst ihren Gehirnen. Wie ist das mglich? Wie fgen sich diese flchtigen Gebilde meines einsamen Erlebens in den Bau der Natur, der diese stille Kammer des Sich-Wissens irgendwie in sich schliet? Das Bewutsein vom Problem des Bewutseins ist fast so alt wie das Bewutsein selbst. Und jede Epoche hat das Bewutsein in Begriffen gefat, die ihren eigenen vorherrschenden Themen und Interessen entsprachen. Im Goldene n Zeitalter Griechenlands, als man frei umherreiste, whrend Sklaven die Arbeit verrichteten, war das Bewutsein mit der gleichen Freiheit ausgestattet. So nannte Heraklit es einen unermelichen - 8-

Raum, dessen Grenzen du im Gehen nicht ausfindig machen kannst, und ob du jegliche Strae ab schrittest 1 . Ein Jahrtausend spter verwunderte sich Augustinus inmitten der hhlenreichen Hgellandschaft um Karthago ber Berg und Hgel meines Sinnens, die abgeschiedenen Rume meines Gedchtnisses, die vielen weitlufigen Hallen, auf wunderbare Weise gefllt mit unbersehbaren Vorrten. 2 Man beachte, wie die jeweils wahrgenommene Auenwelt zur Metapher fr die Innenwelt wird. Die erste Hlfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit der groen geologischen Entdeckungen: Man lernte, die Schichtung der Erdkruste als eine Aufzeichnung der Erdgeschichte zu entziffern. Und daraufhin verbreitete sich die Vorstellung vom Bewutsein als einer Schichtung, in der sich die Vergangenheit des Individuums abgelagert habe, mit immer tieferen und tieferen Schichten, die sich schlielich in unzugnglichem Dunkel verloren. Diese Betonung des Unbewuten gewann immer mehr an Boden, und um 1875 vertraten dann die meisten Psychologen die Ansicht, da das Seelenleben nur zu einem geringen Teil aus bewuten Prozessen, in der Hauptsache dagegen aus unbewuten Wahrnehmungen, unbewuten Vorstellungen und unbewuten Urteilen bestehe. 3 Es war die Chemie, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Geologie als Modewissenschaft ablste, und von James Mill bis hin zu Wundt und seinen Schlern (wie beispielsweise Titchener) verstand man das Bewutsein als komplexe Verbindung, die im Labor suberlich in ihre Elemente Elemente wie Sinnesempfindung oder Gefhl zerlegt werden konnte.1 2

Diels, Fr. 45. Bekenntnisse 9, 4; 10, 40. 3 Diese Feststellung trifft G. H. Lewes, The Physical Basis of Mind, London: Trbner 1877, S.365.

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Und als sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Dampflokomotiven zischend und schnaubend in das Erscheinungsbild des Alltags schoben, eroberten sie sich damit zugleich ihren Platz im Bewutsein vom Bewutsein: Das Unbewute wurde jetzt zu einem Kessel vo ll brodelnder Energien, die nach Abfuhr verlangten und, wenn sie unterdrckt (verdrngt) wurden, sich in neurotischem Verhalten oder in verstiegenen Trumen mit ihrem Taumel versteckter Wunscherfllungen gewaltsam ein Ventil schufen. ber solche Metaphern ist nicht viel zu sagen, man kann nur feststellen, da es eben Metaphern sind. Ursprnglich lief diese Suche nach dem Wesen des Bewutseins unter der Bezeichnung Leib-Seele-Problem und brachte eine erdrckende Menge philosophischen Tiefsinns hervor. Mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie begann sie sich jedoch zu einer wissenschaftsgemeren Problemstellung zu mausern. Heute ist daraus die Frage nach dem Ursprung des Geistes oder, spezifischer, des Bewutseins im Ganzen des Evolutionsprozesses geworden. Wo kann sich dieses subjektive Erleben, das mir in der Selbstbeobachtung zugnglich wird, dieser stndige Begleiter der Unmasse meiner Assoziationen, Hoffnungen, Befrchtungen, Affekte, Erkenntnisse, Farbeindrcke, Geruchsempfindungen, Zahnschmerzen, Schauder, Nervenkitzel, Lust- und Unlustgefhle und Begierden wo und wie knnte sich dieses wunderbar gewebte Innenleben im Lauf der Evolution entwickelt haben? Wie knnen wir von bloer Materie zu dieser Innerlichkeit gelangt sein? Und wenn dem so ist, wann? Dieses Problem nimmt eine Zentralstellung im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Und es lohnt sich, eine kurze Musterung der bisher vorgeschlagenen Lsungen vorzunehmen. Auf acht von ihnen, die ich fr die wichtigsten halte, werde ich im folgenden eingehen. Bewutsein als Eigenschaft der Materie - 10-

Die unter smtlichen in Frage kommenden Mglichkeiten umfassendste Lsung spricht vor allem den Physiker an. Ihr zufolge liegt hinter dem, was in der Selbstbeobachtung als Abfolge subjektiver Zustnde ersche int, eine kontinuierliche Entwicklungsreihe, die sich durch die gesamte Stammesgeschichte hindurch und weiter bis hin zu einer fundamentalen Eigenschaft der in Wechselwirkung stehenden Materie erstreckt. Das Verhltnis des Bewutseins zu seinem Gegenstand unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem Verhltnis eines Baumes zu dem Boden, in dem er wurzelt, und auch nicht von dem Gravitationsverhltnis zwischen zwei Himmelskrpern. Dies war im ersten Viertel unseres Jahrhunderts die vorherrschende Meinung. Was bei Alexander compresence (etwa Mit-Sein) und bei Whitehead prehension (nichtreflexives Erfassen) hie, wurde zur Ausgangsbasis einer monistischen Lehre, die sich in der sogenannten neorealistischen Schule zu voller Blte entfaltete. Lasse ich beispielsweise dieses Stck Kreide auf das Katheder vor mir fallen, dann unterscheidet sich die Wechselwirkung zwischen der Kreide und dem Katheder nur in ihrem Komplexittsgrad von den Wahrnehmungen und Erkenntnissen meines Seelenlebens. Kreide erkennt das Katheder, und ebenso erkennt das Katheder die Kreide. Eben deshalb endet der Weg der Kreide auf dem Katheder. Zwar ist dies gewissermaen nur die Karikatur einer sehr subtil ausgearbeiteten Lehrmeinung, nichtsdestoweniger zeigt sich darin bereits, da diese bemhte Theorie eine ganz falsche Frage beantwortet. Nicht die Wechselwirkung zwischen mir und meiner Umwelt, sondern die spezielle Erlebnisweise in der Selbstbeobachtung war und bleibt zu erklren. Die Suggestivkraft jener neorealistischen Lehre ist im Grunde nur aus ihrem historischen Kontext heraus zu begreifen, aus dem Zusammenhang einer Zeit, in welcher die aufsehenerregenden Fortschritte der Quantenphysik in aller Munde waren. Die - 11-

Undurchdringlichkeit der Materie lste sich auf in rein mathematische Verhltnisse im Raum, und dieser Sachverhalt schien vergleichbar mit jener unkrperlichen Beziehung zwischen einander wechselseitig bewuten Individuen. Bewutsein als Eigenschaft des Protoplasmas Bewutsein eignet nicht der Materie als solcher so die zweitumfassendste Lsung nach der vorigen , sondern ist vielmehr eine Grundeigenschaft aller lebenden Wesen. Zunchst ist es nichts weiter als die Reizempfnglichkeit der kleinsten Einzeller, die dann auf dem Weg ber die Hohltiere, die Protochordaten, die Fische, die Amphibien, die Reptilien, die Suger bis hin zum Menschen eine kontinuierliche, grandiose Entwicklung durchluft. Fr viele Naturwissenschaftler des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts unter ihnen Darwin und E. B. Titchener schien diese These ber jeden Zweifel erhaben, was dann im ersten Viertel unseres Jahrhunderts den Ansto fr eine Reihe ganz ausgezeichneter empirischer Untersuchungen an niederen Lebewesen gab. Die Jagd nach rudimentren Bewutseinsformen war erffnet. Bcher mit Titeln wie Die Tierseele oder Das Seelenleben der Mikroorganismen wurden ebenso eifrig geschrieben wie gelesen. 4 Und jeder, der schon einmal Amben bei der Nahrungssuche oder ihre Reaktion auf die unterschiedlichsten Reize oder Pantoffeltierchen beim Umgehe n von Hindernissen oder bei der Konjugation beobachtet hat, kennt jene nahezu leidenschaftliche Versuchung, derartige Verhaltensformen nach menschlichem Muster zu begreifen. Und das bringt uns zu einem sehr wichtigen Punkt des4

Margaret Floy Washburn (eine Titchener-Schlerin), The Animal Mind; Alfred Binet, The Psychic Life of Micro-Organisms. Der eigentliche Klassiker auf dem Gebiet der niederen Tiere ist H. S. Jennings, Behavior of Lower Organisms, New York: Macmillan 1906.

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Problems zu unserem Mit-Fhlen, unserer Identifikation mit fremden Lebewesen. Gleichgltig, wie wir den Sachverhalt letztendlich bewerten mgen: es gehrt jedenfalls zu unserem Bewutsein mit hinzu, da wir uns in ein fremdes Bewutsein hineinversetzen, uns mit Bekannten und Verwandten so weit identifizieren knnen, um eine Vorstellung davon zu haben, was sie gerade denken oder fhlen. Und wenn nun irgendein Lebewesen sich so verhlt, wie wir selbst in vergleichbarer Lage es auch tun wrden, dann gehrt schon ein besonderes Ma intellektueller Disziplin dazu, unsere gut eingespielte, aber in diesem Fall durch nichts gerechtfertigte Einfhlungs- und Identifikationsbereitschaft zu unterdrcken. Da wir Protozoen ein Bewutsein zuschreiben, liegt also einfach daran, da wir uns einer gewohnheitsmigen, aber unangebrachten Identifikation berlassen. Da Protozoen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, liegt einzig und allein in ihrer Krperchemie und nicht in irgendwelchen introspektivpsychischen Fhigkeiten begrndet. Selbst im Fall von Lebewesen, die mit einem synaptischen Nervensystem ausgestattet sind, grndet das Bewutsein, das wir in ihrem Verhalten gern erkennen mchten, in uns selbst und nicht in den beobachteten Tatsachen. Die meisten Menschen neigen dazu, Mitgefhl mit einem sich windenden Wurm zu haben. Aber jeder Junge, der schon einmal Kder fr seine Angel zubereitet hat, wei, da das Entzweigeschnittenwerden dem vorderen Ende des Wurms, in dem das primitive Gehirn sitzt, offenbar weniger ausmacht als dem hinteren, das sich in Schmerzen krmmt. 5 Wrde der Wurm jedoch Schmerzen

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Da ein Regenwurm sich beim Angefatwerden einfach aufgrund des Berhrungsreizes krmmt, fhrt man das Experiment (mit einer Rasierklinge) am besten an, einem Exemplar durch, das man ber harten Untergrund oder ein Brett kriechen lt. Zweifler oder Zartbesaitete knnen ihre Skrupel damit beschwichtigen, da sie den Wurmbestand (und damit den Bestand an

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empfinden wie wir, dann bestimmt in dem Teil, wo das Gehirn sitzt. Die Schmerzen des hinteren Endes sind unsere eigenen Schmerzen, nicht die des Wurms; das Sich-Krmmen ist ein mechanisches Entladungsphnomen: Die motorischen Nerven im hinteren Ende, durch den Schnitt von ihrer normalen Hemmung durch das Kopfganglion befreit, feuern jetzt Salven von Bewegungsimpulsen ab.

Bewutsein als Lernfhigkeit Wer meint, Bewutsein bereits auf der Ebene des Protoplasmas ansetzen zu drfen, wirft damit natrlich die Frage auf, nach welchen Kriterien berhaupt die Rede sein kann von Bewutsein. Diese Frage fhrt weiter zur dritten Lsung: Der Ursprung des Bewutseins liegt nicht in der Materie und nicht in den Anfngen des tierischen Lebens, sondern in einer spteren Etappe des Evolutionsprozesses. Fr beinahe jedermann, der praktische Forschung auf diesem Gebiet betrieb, galt es als ausgemacht, da die Frage, wann und wo im Rahmen der Evolution das Bewutsein entstanden sei, mit der Frage nach dem Auftauchen des assoziativen Gedchtnisses oder, mit anderen Worten, der Lernfhigkeit zusammenfllt. Wenn ein Lebewesen imstande ist, je nach Magabe seiner Erfahrungen sein Verhalten zu ndern, mu es Erfahrungen machen knnen, ergo Bewutsein besitzen. Um hinter die Evolution des Bewutseins zu kommen, braucht man sich also nur an die Evolution der Lernfhigkeit zu halten. In der Tat begann ich selbst meine Suche nach dem Ursprung des Bewutseins mit dieser Devise. Mein erstes Experiment bestand in dem jugendlich-optimistischen Versuch, einer besonders strapazierfhigen Mimose Signallernen (in andererRotkehlchen) vermehren helfen, da beide Enden des Wurms sich regenerieren.

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Ausdrucksweise: einen bedingten Reflex) beizubringen. Das Signal war ein Lichtblitz, der vorlufig unbedingte Reflex das Absenken eines Blattes, ausgelst durch einen stets sorgfltig bemessenen Berhrungsreiz am Blattansatz. Nachdem ich sie ber tausendmal simultan dem Licht und dem Berhrungsreiz ausgesetzt hatte, war meine geduldige Pflanze noch so dumm wie zuvor. Sie hatte kein Bewutsein. Nach diesem vorhersehbaren Fehlschlag wandte ich mich den Einzellern zu und lie im Rahmen einer sehr subtilen Versuchsanordnung Pantoffeltierchen jeweils einzeln ein TLabyrinth durchwandern, das auf einer wachsberzogenen schwarzen Bakelitplatte eingeritzt war; ein Tier, das die falsche Richtung einschlug, wurde mittels elektrischer Schlge bestraft und um seine Achse gedreht. Wenn Pantoffeltierchen lernfhig waren, dann muten sie meiner berzeugung nach Bewutsein besitzen. berdies war ich uerst gespannt zu beobachten, was mit dem erlernten Wissen (und dem Bewutsein) bei der Teilung der Zelle geschehen wrde. Zaghafte Andeutungen eines positiven Ergebnisses waren nach der Verdoppelung jedesmal wieder verschwunden. Nach weiteren Fehlschlgen meines Bemhens, auf den untersten Stufen des Tierreichs Lernfhigkeit zu entdecken, ging ich zu den Arten mit einem synaptischen Nervensystem zu Plattwrmern, Fischen und Reptilien ber (die sich in der Tat als lernfhig erwiesen): immer i der naiven Annahme, der grandiosen Evolution des n Bewutseins beizuwohnen. 6 Lcherlich! Zu meiner eigenen Beschmung mu ich gestehen, da es noch Jahre dauerte, bis mir klar wurde, da6

Die neueste Darstellung des wichtigen, aber mit schwierigen Methodenfragen verknpften Problems der Evolution des Lernens gibt E. M. Bitterman, The Comparative Analysis of Learning (Thorndyke Centenary Address), Science, Jg. 1975, Nr. 188, S. 699-709. Vgl. weiterhin R. A. Hinde, Animal Behavior, 2. Aufl., New York: McGraw-Hill 1970, insbes. S. 658663.

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diese Annahme einfach keinen Sinn ergibt. Der Gegenstand unserer Selbstbeobachtung ist nicht ein Bndel von Lernprozessen und schon gar nicht von Lernprozessen, wie sie sich durch Konditionierung oder in T-Labyrinthen ergeben. Aber warum haben dann so viele Leuchten der Wissenschaft Bewutsein mit Lernfhigkeit gleichgesetzt? Und warum war ich selbst so begriffsstutzig gewesen, in ihre Fustapfen zu treten? Der Grund bestand in der Einwirkung einer Art gewaltiger historischer Neurose, Solcher Neurosen gibt es in der Psychologie viele. Und mit ein Grund, warum die Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte dem Psychologen unentbehrlich ist, ist der, da sie den einzigen Weg aufzeigt, auf dem man aus einer derartigen Geistesverwirrung hinausgelangt und sie berwindet. Die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert unter dem Namen Assoziationismus bekannt gewordene psychologische Schule hat ihre Lehren so suggestiv darzustellen vermocht und zhlte so viele angesehene Koryphen zu ihren Vertretern, da der Grundirrtum dieser Schule sich unbemerkt ins allgemeine Denken und den allgemeinen Sprachgebrauch hat einschleichen knnen: ein Irrtum, der (bis auf den heutigen Tag) darin besteht, sich das Bewutsein als einen virtuellen Raum zu denken, bevlkert von Elementen, die Empfindungen oder Vorstellungen heien, und zugleich anzunehmen, das Lernen und berhaupt das ganze Seelenleben sei nichts weiter als die Assoziation dieser Elemente aufgrund ihrer hnlichkeit oder ihres auenweltbedingten gleichzeitigen Auftretens. Dabei werden Lernen und Bewutsein in einen Topf geworfen und vermengt mit dem verschwommensten aller verschwommenen Begriffe Erfahrung. Diese Begriffsverwirrung nicht weniger als die enorme Bedeutung, die man in der ersten Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts dem tierischen Lernen beima, lauerte unerkannt auch hinter meinen ersten Scharmtzeln mit dem Bewutseinsproblem. Mittlerweile hat sich absolut zweifelsfrei - 16-

erwiesen, da die Fragen, wo im Verlauf der Evolution der Ursprung der Lernfhigkeit und wo der Ursprung des Bewutseins anzusetzen sei, nicht das geringste miteinander zu tun haben. Diese Behauptung werde ich im folgenden Kapitel ausfhrlicher belegen. Bewutsein als Folge einer metaphysischen Intervention Alle bisher erwhnten Theorien gehen von der Annahme aus, das Bewutsein habe sich auf biologischem Wege, durch bloe natrliche Zuchtwahl, entwickelt. Es gibt jedoch auch die Gegenposition dazu, welche die Berechtigung einer solchen Annahme grundstzlich bestreitet. Und so wird dabei argumentiert: Lt sich das Bewutsein, wie wir es kennen, lt sich dieser gewaltige Einflu, den Ideen, Prinzipien, berzeugungen in unserem Leben und Handeln ausben, im Ernst bis zu tierischen Verhaltensformen zurckverfolgen? Unter allen natrlichen Arten sind wir Menschen die einzige die absolut einzige! , in der die Individuen sich um ein Verstndnis ihrer selbst und der Welt bemhen. Unsere Ideen machen uns zu Rebellen oder Patrioten oder Mrtyrern. Wir bauen Kathedralen und Computer, bringen Gedichte und Tensorgleichungen zu Papier, spielen Schach und Streichquartette, schicken Raumschiffe zu fremden Planeten und lauschen den Signalen aus fremden Galaxien was hat das alles mit Ratten in Labyrinthen oder den Drohgebrden von Pavianen zu tun? Die Darwinsche Kontinuittshypothese fr die Evolution des Geistes ist ein mehr als fragwrdiges Totem stammesgeschichtlicher Mythenbildung. Der Hunger nach Gewiheit, der den Wissenschaftler, und der Durst nach Schnheit, der den Knstler peinigt, der se Stachel der Gerechtigkeit, der den Rebellen dazu treibt, den Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen, oder die Begeisterung, mit der wir von echten Beispielen des Mutes und der Tapferkeit, heute durchaus nicht mehr selbstverstndlichen - 17-

Tugenden, vernehmen oder vom gelassenen Ertragen eines unheilbaren Leidens kann man diese Dinge im Ernst als Eigenschaften von Materie begreifen? Oder auch nur als kontinuierliche Fortsetzung der Stammesgeschichte tumber, sprachloser Affen? 7 Die Kluft, die sich hier zeigt, kann einem wirklich den Verstand verschlagen. Zwar gibt es zwischen dem Menschen und anderen Sugern in Bezug auf das Gefhlsleben staunenswerte bereinstimmungen. Doch wer sich ber Gebhr bei derlei hnlichkeiten aufhlt, vergit darber ganz und gar, da zugleich auch jene trennende Kluft existiert. Das menschliche Geistesleben Kultur, Geschichte, Religion, Wissenschaft unterscheidet sich von allem, was im uns bekannten Universum sonst noch vorkommt. Das ist eine unumstliche Tatsache. Es ist, als habe das Lebendige insgesamt eine Evolution bis zu einem gewissen Punkt hinter sich gebracht, um dann mit dem Menschen im rechten Winkel abzubiegen und mit explosionsartiger Wucht in eine neue Richtung zu expandieren. Angesichts des nicht wegzudiskutierenden Bruchs zwischen der Welt der Affen und der Welt des mit Sprache, Kultur, Sittlichkeit, Verstand begabten Menschen sahen viele Wissenschaftler keinen anderen Weg zur Lsung dieses Rtsels als die Rckkehr zur metaphysischen Spekulation. Vllig undenkbar, da sich die Innenwelt des Bewutseins auf irgendeine Weise aus bloen Molekl- und Zeltansammlungen htte bilden knnen. Bei der Evolution des Menschen mu mehr mitgespielt haben als lediglich Materie, Zufall und berleben. Man mu auf ein Etwas zurckgreifen, das auerhalb dieses geschlossenen Systems liegt, um eine Erklrung fr etwas so Andersartiges wie das Bewutsein zu finden.7

Den Nachweis dieser Kontinuitt wollte Darwin mit zweitwichtigsten Werk, der Abstammung des Menschen, erbringen.

seinem

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Diese Denkweise entstand in genauer zeitlicher Parallele zur modernen Evolutionstheorie und fand ihren Niederschlag vor allem in den Arbeiten von Alfred Russel Wallace, einem Mitbegrnder der Lehre von der natrlichen Zuchtwahl. Nachdem Darwin und Wallace in ein und demselben Jahr (1858) unabhngig voneinander jene Theorie verffentlicht hatten, verfing sich der eine wie der andere wie Laokoon beim Kampf mit den Seeschlangen in den Schlingungen und Windungen des Problems der menschlichen Evolution mit seiner erdrckenden Schwierigkeit, die Existenz des Bewutseins zu erklren. Doch whrend Darwin das Problem blauugig unter den Teppich fegte und schlielich in der gesamten Evolution nur kontinuierliche bergnge meinte erkennen zu drfen, vermochte Wallace sich dem nicht anzuschlieen. Fr ihn waren die Brche erschreckend und nicht wegzudiskutieren. Insbesondere die Bewutseinsabhngigen Fhigkeiten des Menschen konnten sich unmglich aufgrund derselben Gesetzmigkeiten herausgebildet haben, welche der fortschreitenden Entwicklung der organischen Welt im allgemeinen wie auch des menschlichen Organismus zugrunde liegen. 8 Nach Wallaces berzeugung lieen die beobachteten Fakten erkennen, da eine metaphysische Kraft an drei verschiedenen Punkten lenkend in den Gang der Evolution eingegriffen hatte: erstmals bei der Entstehung des Lebens, dann wieder bei der Entstehung des Bewutseins und zuletzt bei der Entstehung der Zivilisation. Beharrlich widmete Wallace seine letzten Lebensjahre dem vergeblichen Bemhen, als Teilnehmer an spiritistischen Sitzungen den endgltigen Beweis derartiger metaphysischer Eingriffe zu finden; dies ist mit ein Grund, warum sein Name im Zusammenhang mit der Entdeckung der Evolution durch natrliche Zuchtwahl niemals so bekannt wurde8

A. R. Wallace, Darwinism: An Exposition of the Theory of Natural Selection, London: Macmillan 1889, S. 475; vgl. ders., Contributions to the Theory of Natural Selection, Kap. 10.

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wie derjenige Darwins. Solche Sachen waren im offiziellen Wissenschaftsbetrieb verpnt. Wer das Bewutsein aus einer metaphysischen Intervention ableiten wollte, brach die Spielregeln der Naturwissenschaft. Und das Problem bestand ja in der Tat auch darin, das Bewutsein auf naturwissenschaftlicher und nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage zu erklren. Die Theorie vom hilflosen Zuschauer Im Gegenzug zu solchen metaphysischen Spekulationen kam noch in der Anfangsphase der Evolutionslehre eine verstrkt materialistische Betrachtungsweise auf, die besser mit dem strikt verstandenen Gedanken natrlicher Zuchtwahl harmonierte. Zu ihren Wesenszgen gehrte sogar jener gallige Pessimismus, der gelege ntlich in seltsamem Bndnis mit beinhartem Wissenschaftsdenken auftritt. Die Vertreter dieser Lehre versichern uns, da die Leistung des Bewutseins gleich Null sei und mit Fug und Recht auch gar nicht anders sein knne. Selbst heute noch sind viele hartgesottene Empiriker der Meinung Herbert Spencers, derzufolge diese Abwertung des Bewutseins die einzig logische Konsequenz aus der strikt verstandenen Evolutionstheorie ist. Die Lebewesen durchlaufen die Evolution die Nervensysteme und ihre mechanischen Reflexe werden immer komplexer , auf einer bestimmten Komplexittsstufe tritt das Bewutsein auf und beginnt seine nichtige Rolle als hilfloser Zeuge kosmischer Ereignisse zu spielen. Unsere Handlngen sind bis ins letzte durch das Leitungsschema in unserem Gehirn und dessen Reflexe auf Auenreize bestimmt. Das Bewutsein ist nichts weiter als die von den Leitungen abgestrahlte Hitze eine nebenschliche Begleiterscheinung (Epiphnomen). Bewutseinsvorgnge sind, nach einer Formulierung von Hodgson, blo der Farbauftrag auf einem Mosaik, dessen Zusammenhalt durch die - 20-

Steine und nicht durch die Bemalung gewhrleistet wird. 9 Oder, wie Huxley in einem berhmten Aufsatz behauptet: Wir sind Automaten mit Bewutsein. 10 Das Bewutsein vermag die Funktionsmechanismen des Krpers und dessen Verhalten ebensowenig zu beeinflussen, wie etwa das Signalhorn einer Lokomotive die Arbeit der Maschinen oder den Zuglauf zu beeinflussen vermag. Mag das Horn noch so sehr tuten die Schienenstrnge haben lngst entschieden, wohin die Reise gehen soll. Das Bewutsein ist die Melodie, die von der Harfe aufklingt, aber nicht selbst die Saiten zupfen kann; der Gischt, der von den aufgewhlten Wellen des Flusses stiebt, doch dessen Lauf nicht ndert; der Schatten, der den Fugnger treulich auf Schritt und Tritt begleitet, aber nicht den mindesten Einflu auf die Wegrichtung hat. Die einleuchtendste Kritik dieser Theorie vom Automaten mit Bewutsein lieferte William James. 11 Seine Argumentationsweise hnelt ein wenig dem Vorgehen Samuel Johnsons, der ja bekanntlich den philosophischen Idealismus damit abtat, da er einen Stein fortkickte und ausrief: So sieht meine Widerlegung aus! Es ist einfach unvorstellbar, da das Bewutsein mit einem Geschft, um das es sich so angelegentlich kmmert, gar nichts zu tun haben sollte. Wre das Bewutsein nur der kraftlose Schatten des Handelns, wieso ist es dann um so intensiver, je mehr das Handeln ruht? Wieso sind wir uns unserer Handlungen um so weniger bewut, je gewohnheitsmiger sie sind? Soviel steht jedenfalls fest: Fr diese Schaukelbeziehung zwischen dem Bewutsein und dem9

Shadworth Hodgson, The Theory of Practice, London: Longmans Green 1870, Bd. 1, S. 4 16. 10 Und unsere Willensakte sind lediglich Symbole fr Gehirnzustnde. Vgl. T. H. Huxley, Collected Essays, New York: Appleton 1896, Bd. 1, S. 244. 11 William James, Principles of Psychology, New York: Holt 1890, Bd. 1, Kap. 5; vgl. aber auch William McDougall, Body and Mind, London: Methuen 1911, Kap. 11 und 12.

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aktiven Handeln eine Erklrung zu bieten gehrt zu den unerllichen Aufgaben jedweder Bewutseinstheorie. Die emergente Evolution Die Lehre von der emergenten Evolution oder Evolution durch Emergenz wurde auf dem Verhandlungsforum deswegen so freudig begrt, weil sie wie gemacht dafr schien, das Bewutsein aus seiner milichen Lage als bloer hilfloser Zuschauer zu erlsen. Des weiteren schien sie die wissenschaftliche Erklrung fr jene faktischen Entwicklungssprnge zu enthalten, die das Hauptargument fr die Hypothese von der metaphysischen Intervention gewesen waren. Auch ich machte, als ich vor Jahren diese Lehre genauer studierte, die beglckende Erfahrung, wie sich mir in einem Blitz der Erleuchtung pltzlich ein taufrischer Zusammenhang enthllte, der fr all meine Fragen das Problem des Bewutseins samt allem, was damit zusammenhngt eine wunderbar genaue und sinnvolle Antwort bereitzuhalten schien. Der Hauptgedanke ist eine Metapher: So wie das Merkmal Nsse nicht vollstndig in den Merkmalen Wasserstoff und Sauerstoff aufgeht, so hat sich Bewutsein an einem bestimmten Punkt des Evolutionsprozesses als neues Merkmal gebildet, das sich nicht auf seine Strukturkomponenten reduzieren lt. Obzwar dieser einfache Gedanke bereits von John Stuart Mill und G. H. Lewes vorgetragen wurde, war es Lloyd Morgan, der mit seinem Buch Emergent Evolution (1923) die Lorbeeren dafr erntete. Das Buch zeichnet ein umfassendes Schema der Evolution durch Emergenz, die mit entschlossenem Zugriff bis in den physikalischen Bereich zurckverfolgt wird. Demnach sind smtliche Merkmale der Materie durch Neubildung (Emergenz) aus einem nicht nher zu bestimmenden Vorlufer entstanden. Die Merkmale der komplexen chemischen - 22-

Verbindungen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten einfacherer Komponenten entstanden. Die spezifischen Merkmale des Lebendigen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten jener komplexen Molekle entstanden. Und das Bewutsein ist eine Neubildung des Lebendigen. Neue Strukturen bilden neue Beziehungstypen, denen wiederum neugebildete Merkmale entsprechen. So ist zugleich in jedem auftretenden Fall ein Wirkungszusammenhang gegeben zwischen den Neubildungen und den Systemen, auf denen jene basieren. In der Tat verhlt es sich so, da der die neue, hhere Entwicklungsebene ausmachende Beziehungstyp die fr diese Ebene kennzeichnenden Geschehensablufe trgt und lenkt. Das Bewutsein taucht also in einem bestimmten Stadium der Evolution als echt Neubildung, auf. Ist es erst einmal da, lenkt es die Ablufe im Gehirn und wirkt kausal auf das Verhalten des Krpers ein. Diese antireduktionistische Theorie lste beim Groteil der namhafteren Verhaltensbiologen und vergleichenden Verhaltenswissenschaftler frustrierte Dualisten allzumal einen Freudentaumel aus, der mitunter recht peinliche Form annahm. Von manchen Biologen wurden sie als Unabhngigkeitserklrung gegenber Physik und Chemie gefeiert. Von nun an kann kein Biologe mehr gezwungen werden, bestimmte Befunde zu unterdrcken, nur weil ihre Besttigung durch Beobachtungen im nichtorganischen Bereich noch aussteht oder von daher gar nicht zu erwarten ist. Die Biologie ist jetzt auf dem Weg, eine Wissenschaft sui generis zu werden. Namhafte Neurologen waren sich einig, da wir uns knftig das Bewutsein nicht mehr so vorstellen mten, als fhre es einen eifrigen, aber wirkungslosen Schattentanz um die

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Gehirnprozesse herum auf. 12 Der Ursprung des Bewutseins schien auf eine Weise dingfest gemacht zu sein, die es erlaubte, das Bewutsein wieder in seine alten ihm zeitweilig aberkannten Thronrechte als Herr scher ber das Verhalten einzusetzen, und die darber hinaus fr die Zukunft weitere, nicht vorausberechenbare Neubildungen in Aussicht stellte. Aber war das wirklich so? Wenn das Bewutsein als Neubildung in der Evolution aufgetreten ist, dann stellt sich die Frage: Wann? Und in welcher Spezies? Welche Art von Nervensystem war dazu erforderlich? Nachdem die erste Freude ber den theoretischen Durchbruch abgeklungen war, wurde man gewahr, da sich in bezug auf das eigentliche Problem im Grunde nichts gendert hatte. Die erwhnten konkreten Fragen waren ohne Antwort geblieben aber gerade sie sind es, die beantwortet werden mten. Problematisch an der emergenten Evolution ist nicht so sehr die Lehre als solche, sondern ihr Rckfall in die alten, bequemen Denkweisen im Hinblick auf Bewutsein und Verhalten; problematisch ist, da sie einem Freibrief fr nichtssagende Allgemeinheiten gleichkommt. Aus historischer Sicht ist es interessant zu bemerken, da der ganze Freudentaumel, den die Biologen um die emergente Evolution auffhrten, zur selben Zeit stattfand, als in der Psychologie bereits eine grbere und sehr viel weniger soignierte Lehre, die sich auf streng empirische Grundstze berief, ihren Eroberungsfeldzug angetreten hatte. Eine Mglichkeit; das Problem des Bewutseins und seiner Stellung in der Natur zu lsen, besteht zweifellos darin, die Existenz eines Bewutseins berhaupt zu leugnen.12

Das wrtliche Zitat stammt von H. S. Jennings, das paraphrasierte von C. Judson Herrick. Beide sind zusammen mit weiteren Stellungnahmen zur emergenten Evolution zu finden in: F. Mason, Creation by Evolution, London: Duckworth 1928, und W. McDougall, Modern Materialism and Emergent Evolution, New York: Van Nostrand 1929.

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Der Behaviorismus Man setze sich einmal hin und versuche sich bewutzumachen, was es bedeutet zu sagen, da es gar kein Bewutsein gibt. Eine interessante bung. Die Geschichte berliefert uns nicht, ob die ersten Behavioristen sich an diesem Bravourstck versucht haben. Hingegen berliefert sie uns jede Menge Belege fr den enormen Einflu, den die Lehre, da kein Bewutsein existiert, auf die Psychologie unseres Jahrhunderts ausgebt hat. Diese Lehre ist der Behaviorismus. Seine Wurzeln reichen weit zurck in die verstaubte Ideengeschichte bis zu den sogenannten Epikureern des achtzehnten und frherer Jahrhunderte; zu den Versuchen, den pflanzlichen Tropfismus auf die Tierwelt und den Menschen zu extrapolieren; zu Geistesstrmungen wie dem Objektivismus und insbesondere dem Aktionismus. Denn in der Schule des Aktionisten Knight Dunlap war es, wo jener brillante, aber respektlose Tierpsychologe namens John B. Watson heranwuchs, der spter die Begriffsneuprgung Behaviorismus kreieren sollte.13 Anfangs hnelte diese Lehre noch stark der weiter oben bereits vorgestellten Theorie vom hilflosen Zuschauer: Bewutsein war zwar da, aber fr das Verhalten der Lebewesen belanglos. Aber nachdem er einen Weltkrieg mit angesehen hatte und aufgeputscht war durch ein paar Gegenstimmen, strmte der Behaviorismus angriffslustig in die Geistesarena mit der verchtlichen Behauptung, das Bewutsein sei rein gar nichts.13

Ein weniger persnlichkeitsfixiertes Bild von den Anfngen des Behaviorismus gibt John C. Burnham, On the Origins of Behaviorism, Journal of the History of the Behavioral Sciences 4/1968, S. 143-151. Eine ausgezeichnete kritische Wrdigung liefert Richard Herrnstein, Introduction to John B. Watson's Comparative Psychology, Historical Conceptions of Psychology, hg. von M. Henle, J. Jaynes und J. J. Sullivan, New York: Springer 1974, S. 98-115.

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Welch eine verblffende Lehre! Doch die eigentliche berraschung liegt darin, da sich aus dem, was anfangs wenig mehr als ein flchtiger Einfall war, eine Schulrichtung entwickelte, die ungefhr von 1920 bis 1960 in der Psychologie den Ton angab. Die ueren Ursachen fr den anhaltenden Triumph einer so eigenartigen Auffassung sind ebenso interessant wie vielschichtig. Die Psychologie suchte sich damals von der Philosophie abzukoppeln, um eine eigenstndige Position innerhalb der akademischen Fchereinteilung zu erlangen, und sah im Behaviorismus das geeignete Mittel zum Zweck. Der unmittelbare Gegenspieler des Behaviorismus, Titcheners Introspektionstheorie, auf einen irrefhrenden Vergleich zwischen Bewutseinsvorgngen und chemischen Reaktionen gegrndet, war ein blasser und kraftloser Gegner. Der Zusammenbruch des Idealismus im Gefolge des Ersten Weltkrieges schuf eine revolutionre Zeitstimmung, die nach neuen Denkweisen heischte. Die faszinierenden Errungenschaften auf dem Gebiet der Physik und der allgemeinen Technik erschlossen Ziele und Methoden, denen der Behaviorismus am ehesten zu gengen schien. Die Welt hatte die Nase voll von subjektiven Gedankengebuden; sie mitraute ihnen und lechzte nach objektiven Fakten. Und in den USA war objektive Fakten gleichbedeutend mit pragmatischen Fakten. Und die lieferte der Behaviorismus auf dem Gebiet der Psychologie. In ihm fand eine neue Generation die Berechtigung, all die fadenscheinigen Subtilitten des Bewutseinsproblems (einschlielich der Ursprungsfrage) mit einer einzigen ungeduldigen Handbewegung vom Tisch zu fegen: Wir ziehen einen Schlustrich. Wir fangen noch einmal ganz von vorn an. Und in einem Labor nach dem andern fhrte der neue Ansatz zum Erfolg. Der ausschlaggebende Faktor dafr war freilich nicht seine vermeintliche innere Richtigkeit, sondern sein Programm. Und was war das doch fr ein tatkrftig - 26-

zupackendes, mitreiendes Forschungsprogramm mit seiner hochglanzverchromten Verheiung, alles Verhalten lasse sich auf eine Handvoll Reflexe und die darauf aufgebauten bedingten Reaktionen zurckfhren. Und die Reflexbogenkategorien von Reiz und Reaktion und Verstrkung lieen sich ohne weiteres auf die Rtsel des zielgeleiteten Verhaltens bertragen, die damit gelst erschienen. Und man brauche nur Ratten kilometerweit durch Wunderwerke von Labyrinthen laufen zu lassen, um ganz von selbst das noch schnere Wunderwerk objektiv richtiger Theorieaussagen zu erhalten. Mit seinem (feierlich gelobten) Vorsatz, das Denken auf Muskelzuckungen und die Persnlichkeit auf die Leiden des Kleinen Albert14 zu reduzieren. Bei alldem war eine Begeisterung im Spiel, die man heute kaum noch versteht. Kompliziertheiten wrden einfachen Erklrungen Platz machen, das Dunkel wrde dem Licht weichen, und mit der Philosophie wre ein fr allemal Schlu. Fr den auenstehenden Beobachter mute es so aussehen, als ob diese Revolte gegen das Bewutsein die traditionellen Hochburgen des Denkens im Sturm eroberte, um ber einer Universitt nach der andern ihr siegreiches Banner flattern zu lassen. Doch ich als ehemaliges Mitglied ihres strksten Flgels gestehe, da diese Bewegung im Grunde nicht das war, was sie zu sein vorgab. Auerhalb des Bereichs von Druckerzeugnissen war der Behaviorismus nichts weiter als die bloe Weigerung, ber das Bewutsein berhaupt zu sprechen. Kein Mensch glaubte eigentlich wirklich, da er selbst kein Bewutsein habe. Und es war pure Heuchelei, wenn man wie geschehen jeden, der sich weiterhin fr Fragen des Bewutseins interessierte, aus dem Lehrbetrieb der psychologischen Fakultten hinausdrngte und in den Lehrbchern das leidige Problem vor den Studenten einfach totschwieg. Der Behaviorismus war im wesentlichen14

Die bedauernswerte Versuchsperson bei Watsons Experimenten zum Phnomen der bedingten Angst.

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eine Methode, keinesfalls die komplette Theorie, die zu sein er vorgab. Eine Methode zur Austreibung alter Gespenster. Er veranstaltete in der Psychologie einen groen Hausputz. Aber jetzt sind die Zimmer gefegt, die Schrnke ausgewischt und gelftet und wir sind so weit, da wir das Problem von neuem angehen knnen. Bewutsein als das retikulre Aktivierungssystem Doch bevor wir dies tun, hier noch ein letzter, total anderer Lsungsansatz, und zwar einer, der mich selbst in letzter Zeit sehr beschftigt hat: der Ansatz beim Nervensystem. Wie oft bei unserer vergeblichen Mhe, die Geheimnisse der Seele zu lften, besnftigen wir nicht unsere Fragen mit der Berufung auf tatschliche oder eingebildete anatomische Sachverhalte und stellen uns einen Gedanken als ein bestimmtes Neuron, eine Stimmung als einen bestimmten Neurontransmitter vor! Diese Versuchung entspringt dem Verdru ber die Unberprfbarkeit und Unbestimmheit smtlicher bisher genannten Lsungen. Fort mit diesen Wortklaubereien! Diese esoterischen Denkposen, ja selbst der Papiertiger Behaviorismus was sind sie anderes als Ausflchte, um gerade jene Sachverhalte, von denen wirklich die Rede sein mte, ignorieren zu knnen? Hier haben wir ein Lebewesen meinetwegen ein menschliches hier, direkt auf unserem Analysetisch. Wenn es Bewutsein hat, mu dieses Bewutsein hier drinstecken, direkt hier drin, in dem Gehirn vor uns, und nicht in den philosophischen Nebeln, wie sie irgendeiner ratlosen Vergangenheit vorschwebten. Und heute verfgen wir endlich ber die technischen Mittel, um das Nervensystem direkt von Gehirn zu Gehirn, erforschen zu knnen. Irgendwo in diesem dreieinhalb Pfund schweren Klumpen rtlichgrauer Materie mu die Antwort stecken. Wir brauchen nur herauszufinden, mit welchen Gehirnpartien das Bewutsein verknpft ist, die anatomische Entwicklung dieser Partien zurckzuverfolgen und schon haben wir die - 28-

Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bewutseins. Wenn wir dann noch das Verhalten heutiger Tierarten untersuchen, die die verschiedenen Entwicklungsstadien dieser neurologischen Strukturen reprsentieren, werden wir zu guter Letzt in der Lage sein, mit wissenschaftlicher, experimentell gesicherter Genauigkeit zu sagen, was denn das Bewutsein eigentlich ist. Das hrt sich in der Tat wie ein hervorragendes wissenschaftliches Arbeitsprogramm an. Seit Descartes die Zirbeldrse (Epiphyse) im Gehirn zum Sitz des Bewutseins erklrte und damit bei den Physiologen seiner Zeit auf einhellige Ablehnung stie, ist eine eifrige, wenngleich oftmals ein bichen oberflchliche Suche nach dem Ort im Gehirn im Gang, wo das Bewutsein beheimatet ist. 15 Und das ist auch heute noch so. Derzeit aussichtsreichster Kandidat fr die Rolle des neuralen Substrats des Bewutseins ist einer der wichtigsten neurologischen Funde unserer Epoche, nmlich die Formatio reticularis, ein Geflecht winzig kleiner multipolarer Nervenzellen, das lange unentdeckt im Gehirnstamm geruht hatte. Es zieht sich vom oberen Ende des Rckenmarks hinauf bis in den Thalamus und Hypothalamus und erhlt kollaterale Fasern und damit Informationen von allen zentrifugalen und zentripetalen Leitungsbahnen (d. h. Empfindungs- und Bewegungsnerven), etwa so, wie eine Abhranlage die vorbeilaufenden Nachrichtenleitungen anzapft. Aber das ist noch nicht alles. Die Formatio reticularis hat auch direkte Befehlsleitungen zu einem halben Dutzend wichtiger Bereiche der Grohirnrinde sowie vermutlich zu allen Kernen des Gehirnstamms, und sie schickt Fasern in das Rckenmark15

Davon handelt ausfhrlicher mein Aufsatz: The Problem of Animate Motion in the Seventeenth Century, Journal of the History of Ideas 31 (1970), S. 219-234.

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hinunter, wo sie die peripheren Empfindungs- und Bewegungssysteme beeinflut. Die Funktion der Formatio reticularis ist die eines unspezifischen Aktivierungssystems: Sie wirkt hemmend und erregend auf einzelne Nervenschaltkreise und steuert damit den Wachheitszustand des Individuums, was die Pioniere ihrer Erforschung veranlate, sie als Wachhirn zu bezeichnen. 16 Nach ihrer Funktion wird die Formatio reticularis auch retikulres Aktivierungssystem genannt. Sie ist die Stelle, wo eine Vollnarkose angreift, indem sie die Nervenzellen deaktiviert. Wird die Formatio reticularis zerstrt, hat das Bewutlosigkeit oder Koma zur Folge. Wird sie (im Tierversuch) bei einem schlafenden Individuum mittels einer eingepflanzten Elektrode stimuliert, so ist Erwachen das Ergebnis. berdies vermag sie die Aktivitt der meisten anderen Gehirnpartien zu regulieren, was nach Magabe ihrer eigenen innerlichen Erregbarkeit und ihres neurochemischen Titers erfolgt. Es gibt einige Unregelmigkeiten im Erscheinungsbild der Formatio reticularis die zu kompliziert sind, als da sie hier errtert werden knnten. Doch ist keine von ihnen geeignet, die faszinierende Vorstellung zu erschttern, dieser Filz von Kurzneuronen mit Verbindungsfasern zum ganzen Gehirn, dieses Zwischenstck zwischen den eigentlichen sensorischen und motorischen Systemen der klassischen Neurologie sei mglicherweise die seit langem gesuchte Lsung fr das ganze Problem. *** Betrachten wir jedoch die Evolutionsgeschichte der Formatio reticularis und fragen uns, ob und wie sie zur Evolution des16

Vgl. H. W. Magoun, The Waking Brain, Springfield, Illinois: Thomas 1958.

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Bewutseins in Parallele gesetzt werden kann, so erhalten wir von daher nicht die geringste Ermutigung. Denn dieses Gebilde erweist sich als einer der ltesten Teile des Nervensystems; ja, man knnte sogar mit guten Grnden die Auffassung vertreten, es sei der lteste Teil berhaupt, um den herum sich die differenzierteren, spezifischeren, hheren Systeme angelagert haben. Das wenige, was wir derzeit ber die Evolution der, Formatio reticularis wissen, scheint nick dafr zu sprechen, da das Problem des Bewutseins und seines Ursprungs durch weitere Forschungen in dieser Richtung gelst werden knnte. Auerdem gibt m sich mit derartigen berlegungen einer an Tuschung hin einer Tuschung, die in unserem Bestreben, psychische Erscheinungen in neuroanatomische und chemische Sachverhalte zu transponieren, nur allzuoft unerkannt mitspielt. Dem Nervensystem knnen wir Erkenntnisse nur ber dasjenige abgewinnen, was wir zuvor im Verhalten erkannt haben. Selbst wenn wir ber einen vollstndigen Leitungsplan des Nervensystems verfgten, wren wir damit immer noch nicht in der Lage, unsere Ausgangsfrage zu beantworten. Und wten wir auch bis in die kleinste Einzelheit Bescheid ber die Verdrahtung smtlicher Axone und Dendriten in smtlichen Spezies der Entwicklungsgeschichte, mitsamt allen Umwertungsstellen und ihren Varianten in den Milliarden von Synapsen jedes Gehirns, das jemals existiert hat, so knnten wir dennoch niemals niemals! allein anhand unseres Wissens ber ein Gehirn bestimmen, ob dieses Gehirn Bewutsein wie das unsere enthlt oder nicht. Wir mssen zunchst ganz oben beginnen, nmlich mit einem Begriff vom Bewutsein, einem Begriff von der Introspektion, der Selbstbeobachtung. Erst mssen wir hier einen sicheren Stand gewonnen haben, ehe wir zum Nervensystem und seinen Einzelheiten weitergehen knnen. Wir mssen also neu, das heit ganz von vorn anfangen, indem wir festzustellen suchen, was denn das eigentlich ist: - 31-

Bewutsein. Keine ganz leichte Aufgabe, wie wir bereits gesehen haben: Die bisherige Geschichte unseres Gegenstands steht im Zeichen einer unaufhrlichen Verwechslung von metaphorischen also indirekten, gleichnishaften Aussagen mit direkten Objektaussagen. In solcher Lage wenn sich etwas bereits gegen eine ansatzweise Klrung sperrt ist es immer das klgste, zunchst einmal zu bestimmen, was dieses Etwas nicht ist. Und das wollen wir im folgenden Kapitel tun.

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ERSTES BUCH BEWUTSEIN, GEIST, GEHIRN UND SEELE

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ERSTES KAPITEL Das Bewutsein des BewutseinsMIT DER FRAGE: Was ist das Bewutsein? werden wir uns des Bewutseins bewut. Und die meisten Menschen meinen, eben dies, dieses sich des Bewutseins Bewut-Sein, sei das Bewutsein. Das ist ein Irrtum. Sind wir uns unseres Bewutseins bewut, so erscheint uns dieses Bewutsein als die unmittelbar gewisseste Sache von der Welt. Wir erkennen in ihm das charakteristische Merkmal unseres gesamten Wachlebens, unserer Stimmungen und Affekte, Gedanken und Erinnerungen, der Aufmerksamkeitsfunktion und der Willensentscheidungen. Wir sind ganz sicher, da es die Grundvoraussetzung der Begriffsbildung und des Lernens, des Denkens, Urteilens und Schlufolgerns ist, und zwar deshalb, weil es unsere Erlebnisse, so wie sie sich zutragen, unmittelbar aufzeichnet und speichert und sie dadurch fr unsere Selbstbeobachtung und unser Erkennen beliebig verfgbar macht. Auerdem glauben wir ziemlich genau zu wissen, da dieses ganze wunderbare System von Funktionen und Materialien, das wir Bewutsein heien, irgendwo im Kopf sitzt. Bei kritischer berprfung erweisen sich alle diese Annahmen als falsch. Es sind Maskeraden, hinter denen das Bewutsein seit Jahrhunderten seine wahre Gestalt verbirgt. Es sind grundstzliche Miverstndnisse, die bis heute die Lsung des Problems vom Ursprung des Bewutseins verhindert haben. Ziel unseres langen, aber, wie ich hoffe, abenteuerreichen Weges in diesem ersten Kapitel wird es sein, die Irrigkeit jener Auffassungen nachzuweisen und zu zeigen, was das Bewutsein nicht ist.

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Die Dimension des Bewutseins Betrachten wir zunchst einmal verschiedene Verwendungsweisen des Wortes Bewutsein, die wir von vornherein als irrefhrend ausrangieren knnen. Da ist beispielsweise die Wendung das Bewutsein verlieren (nach einem Schlag auf den Kopf). Wollten wir das als zutreffende Beschreibung des gemeinten Sachverhalts gelten lassen, mten wir darauf verzichten, dieses sprachlich zu unterscheiden von jenen in der klinischen Literatur geschilderten Somnambulzustnden, in denen ein Patient zwar eindeutig bewutlos ist, jedoch noch so auf die Umwelt reagiert, wie es ein k.o. Geschlagener nicht mehr vermag. Deshalb mte man von jemandem, der eins auf den Schdel bekommt, eigentlich sagen, da er sowohl das Bewutsein als auch das Reaktionsvermgen verliert: und das sind zwei Paar Stiefel. Diese Unterscheidung ist auch fr das normale Alltagsleben von Belang. Wir reagieren stndig auf Dinge, ohne uns ihrer jeweils bewut zu sein. Wenn ich, den Rcken gegen einen Baum gelehnt, auf meinem Rasen sitze, reagiere ich zu jedem Zeitpunkt auf den Baum und den Boden und meine eigene Haltung, denn wenn ich mir die Beine vertreten mchte, werde ich mich zu diesem Zweck vollkommen unbewut vom Boden erheben. Ganz vertieft in die Gedankengnge dieses ersten Kapitels, bin ich mir nur in den seltensten Augenblicken meiner Umgebung bewut. Whrend ich schreibe, reagiere ich auf den Bleistift in meiner Hand, da ich ihn ja festhalte, und ich reagiere auf den Schreibblock, denn ich halte ihn auf den Knien, und auf seine Linien, denn ich schreibe auf ihnen doch bewut bin ich mir dessen, was ich sagen will, und der Frage, ob ich mich verstndlich ausdrcke oder nicht. Flattert aus dem Gebsch in meiner Nhe ein Vogel auf und fliegt zeternd davon, wende ich vielleicht den Kopf, verfolge ihn mit den Blicken, lausche ihm nach und wende mich dann wieder - 35-

dem Blatt vor mir zu, ohne mir des Vorgangs bewut geworden zu sein. Mit anderen Worten: Das Reaktionsvermgen erstreckt sich auf alle Reize, denen ich in meinem Verhalten auf irgendeine Weise Rechnung trage; ganz anders dagegen das Bewutsein, ein bei weitem weniger allgegenwrtiges Phnomen: der Dinge, auf die wir reagieren, sind wir uns nur zeitweilig bewut. Und whrend sich das Reaktionsvermgen vollstndig in neurologischen und Verhaltenskategorien beschreiben lt, ist dies auf dem gegenwrtigen Stand unseres Wissens in Bezug auf das Bewutsein nicht mglich. Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Stndig sind wir mit Reaktionsweisen beschftigt, fr die es berhaupt keine mgliche Bewutseinsreprsentanz gibt. Wenn wir einen Gegenstand anblicken, reagieren unsere Augen und infolgedessen die Bilder auf unserer Netzhaut mit zwanzig kleinen Rucken pro Sekunde, und dennoch erblicken wir einen unverrckt feststehenden Gegenstand, ohne irgendein Bewutsein zu haben von der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Informationseingaben und ihrer Verarbeitung zu einem einheitlichen Gegenstand. Das unnormal kleine Netzhautbild eines Gegenstands wird unter angemessenen Umstnden automatisch als entfernter Gegenstand gesehen; die Korrektur vollziehen wir unbewut. Farbkontrasteffekte, HellDunkel-Kontrasteffekte und andere W ahrnehmungskonstanzen bilden sich allesamt ununterbrochen whrend jeder Minute unseres Wachlebens, ja sogar unseres Traumlebens, ohne da wir uns dessen im mindesten bewut wren. Und diese Beispiele sind nur ein winziger Bruchteil jener Vielzahl von Vorg ngen, deren wir uns frheren Definitionen des Bewutseins zufolge eigentlich bewut sein mten was aber entschieden nicht zutrifft. Ich denke etwa an Titcheners Definition des Bewutseins als die Summe aller psychischen Vorgnge, die im gegenwrtigen Augenblick stattfinden. Von dieser - 36-

Auffassung sind wir heute meilenweit entfernt. Aber wir wollen noch einen Schritt weiter gehen. Das Bewutsein macht einen sehr viel geringeren Teil unseres Seelenlebens aus, als uns bewut ist weil wir kein Bewutsein davon haben, wovon wir kein Bewutsein haben. Leicht gesagt, aber schwer einzusehen! Es ist, als verlange man von einer Taschenlampe, da sie in einem dunklen Zimmer einen Gegenstand ausfindig macht, der im Dunkeln bleibt. Weil es berall hell ist, wohin die Lampe ihren Strahl richtet, mte sie daraus schlieen, da der ganze Raum erleuchtet ist. Genauso kann der Eindruck entstehen, als ob das Bewutsein das gesamte Seelenleben durchdringe, auch wenn dies nicht im entferntesten der Fall ist. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die zeitliche Dimension des Bewutseins. Sind wir uns, wenn wir wachen, in jedem Augenblick bewut? Wir glauben es. Wir sind sogar absolut berzeugt davon. Ich schliee die Augen und versuche an nichts zu denken, trotzdem fliet das Bewutsein weiter, ein mchtiger Strom von Inhalten in wechselnden Zustnden, die ich als Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, innere Dialoge, Kummergefhle, Wnsche oder Entschlsse zu bezeichnen gelernt habe und die innig verflochten sind mit den in unablssigem Wechsel vorberziehenden ueren Eindrcken, die mein Bewutsein selektiv aufnimmt. Nirgendwo ist da eine Unterbrechung. So stellt es sich fr uns jedenfalls dar. Bei allem, was wir tun, behalten wir das Empfinden, da unser ureigenstes Selbst, unser tiefstes Tiefen-Ich letztlich in diesem kontinuierlichen Flu besteht, der nur im traumlosen Schlaf unterbrochen ist, so lautet unsere Erfahrung. Und viele Denker hielten dieses Erlebniskontinuum fr die Ausgangsbasis aller Philosophie, die eigentliche Heimstatt unbezweifelbarer Gewiheit. Cogito, ergo sum. Aber wie hat man diese Kontinuitt zu deuten? Eine Minute ist unterteilbar in sechzigtausend Millisekunden: Haben wir - 37-

whrend jeder einzelnen Millisekunde Bewutsein? Sollten Sie in der Tat dieser Meinung sein, dann unterteilen Sie noch weiter, in immer kleinere Zeiteinheiten, wobei Sie bitte bedenken wollen, da die Impulsfrequenz der Neuronen begrenzt ist. Wir wissen zwar nicht das mindeste darber, wie das mit unserem Empfinden von der Kontinuitt des Bewutseins zusammenhngt, doch wird kaum jemand ernstlich behaupten wollen, das Bewutsein schwebe gleichsam wie ein therhauch durch das Nervensystem und ber dem Nervensystem, frei von aller irdischen Bedingtheit durch neutrale Refraktrperioden. Sehr viel wahrscheinlicher ist, da wir im Fall der augenscheinlichen Kontinuitt des Bewutseins der gleichen Tuschung erliegen wie bei den meisten anderen Metaphern vom Bewutsein. Um es in unserem Gleichnis von der Taschenlampe auszudrcken: Da sie brennt, wre der Lampe nur bewut, solange sie brennt. Auch wenn sie zwischendurch fr lngere Zeitspannen ausgeknipst war, mte es der Lampe selbst (unter sonst gleichen Umstnden) so vorkommen, als habe sie ununterbrochen gebrannt. Die zeitliche Erstreckung unseres Bewutseins ist also krzer, als wir meinen, weil wir uns nicht bewut sein knnen, wann wir uns nicht bewut sind. Und das Gefhl von einem reich und ununterbrochen dahinstrmenden Innenleben, einem Strom, der sich bald gemchlich durch trumerische Stimmungen windet, bald reiend in die Schluchten jher Einsichten hinabstrzt, ein andermal wieder gleichmig durch unsere hochgestimmten Tage rauscht dieses Gefhl ist nichts anderes als das, was es auf dieser Buchseite ist: eine Metapher dafr, wie das subjektive Bewutsein dem subjektiven Bewutsein erscheint. Das lt sich anders noch besser verdeutlichen. Wenn Sie Ihr linkes Auge schlieen und dann den Blick fest auf den linken Rand der Buchseite richten, sind Sie sich nicht im mindesten der groen Leerstelle in Ihrem Gesichtsfeld bewut, die dabei etwa zehn Zentimeter rechts vom Blickpunkt auftritt. Doch wenn Sie - 38-

jetzt noch immer nur das rechte Auge offen und auf den Rand geheftet den Zeigefinger lngs einer Zeile von links nach rechts ber die Seite fhren, werden Sie beobachten, wie die Fingerspitze in dieser Leerstelle verschwindet und auf der anderen Seite wieder auftaucht. Das Phnomen ist auf die im nasenseitigen Teil der Netzhaut gelegene Leerstelle von zwei Millimeter Durchmesser zurckzufhren, wo der Gesichtsnerv in das Augeninnere eintritt und die lichtempfindlichen Elemente fehlen. 1 Sie wird gewhnlich blinder Fleck genannt. Interessant an dieser Leerstelle ist aber fr uns, da es sich nicht so sehr um einen blinden als vielmehr um einen Nicht-Fleck handelt. Ein Blinder sieht das Dunkel, das ihn einhllt.2 Sie der Leser, dagegen sehen keinerlei Lcke in Ihrem Gesichtsfeld, geschweige denn, da Sie sich einer solchen im geringsten bewut wren. Und genauso, wie die Lcher in der Raumwahrnehmung, die der blinde Fleck hervorruft, gestopft werden, ohne da die kleinste Lcke hinterbleibt, schliet sich das Bewutsein ber seinen Zeitlchern und gibt sich den1

Noch besser lt sich der blinde Fleck mit Hilfe zweier quadratischer Stcke Papier vors etwa eindreiviertel Zentimeter Seitenlnge darstellen. Man hlt mit jeder Hand ein Papierstck ungefhr 45 Zentimeter weit vor sich, schliet ein Auge, fixiert mit dem offenen Auge eines der Papierstcke und bewegt das andere zur Seite des offenen Auges hin vom Blickpunkt weg, bis es verschwindet. 2 Mit Ausnahme der Flle, in denen die Ursache der Blindheit im Gehirn liegt. Beispielsweise sind sich Soldaten mit einer Lsion in einem der Hinterhauptfelder der Grohirnrinde, durch die ein groer Teil des Gesichtsfelds zerstrt wird, keiner Beeintrchtigung ihres Sehvermgens bewut. Geradeaus blickend haben sie die Illusion, alles Sichtbare ebenso vollstndig wahrzunehmen wie jedermann sonst. In hnlicher Form bediente sich W. B. Carpenter dieses Beispiels, um zu verdeutlichen, was er unter unbewuter Gehirnttigkeit verstand. Es war dies vermutlich die erste ernst zu nehmende Formulierung dieses Gedankens im 19. Jh. Sie findet sich erstmals in der 4. Aufl. von Carpenters Human Physiology (1852) und weiter ausgefhrt dann in seinen spteren Schriften, etwa in dem einflureichen Buch Principles of Mental Physiology, London: Kegan Paul 1874, Buch 2, Kap. 13.

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tuschenden Anschein eines Kontinuums. Die Beispiele dafr, wie gering der Anteil des Bewutseins an unserem Alltagsverhalten ist, lassen sich beliebig vermehren; man findet sie fast allenthalben. Greifen wir ein besonders schlagendes heraus: das Klavierspiel. Der Klavierspieler bewltigt die vielfltigsten, verschiedenartigsten Aufgaben alle zu gleicher Zeit, ohne ein nennenswertes Bewutsein davon zu haben: Zwei unterschiedliche Zeichenfolgen von nahezu hieroglyphischem Aussehen mssen entschlsselt und die eine davon der rechten, die andere der linken Hand zugeordnet werden. Jeder einzelne von zehn Fingern hat unterschiedliche Aufgaben und damit unterschiedliche motorische Probleme zu lsen, ohne da der Spieler dessen gewahr wrde, und ebensowenig wird er gewahr, wie er erhhte, erniedrigte und normale Noten in Anschlge der schwarzen und weien Tasten bersetzt, das Zeitma von ganzen oder Viertel- oder Sechzehntelnoten einhlt, Pausen oder Triller einlegt, die eine Hand womglich einen Dreiviertel- und die andere einen Viervierteltakt spielen lt, whrend er zugleich mit den Fen einzelne Tne dmpft, bindet oder hlt. Und whrend alledem befindet sich der Pianist mit dem bewuten Teil seines Selbst vielleicht im siebten Himmel vor Verzckung ber das knstlerische Ergebnis dieser staunenswerten Geschftigkeit; oder er gibt sich der Betrachtung des zarten Geschpfes hin, das ihm die Notenbltter umwendet und dem er zu Recht sein tiefstes Inneres zu offenbaren glaubt. Selbstverstndlich spielt das Bewutsein in der Regel eine gewisse Rolle beim Erlernen derart komplizierter Verrichtungen, hingegen nicht unbedingt auch bei ihrer Ausfhrung und nur das ist der Punkt, auf den es mir hier ankommt. Bewutsein ist hufig nicht nur berflssig es kann sogar strend wirken. Wrde unser Pianist mitten in einer rasend gespielten Folge von Arpeggios sich pltzlich seiner Finger bewut, mte er sein Spiel abbrechen. Nijinski hat einmal - 40-

gesagt, beim Tanzen habe er immer das Gefhl gehabt, als ob er im Orchestergraben sitze und sich selber zusehe. Er war sich also nicht jeder einzelnen seiner Bewegungen bewut, sondern des Bildes, das er fr die anderen abgab. Ein Sprinter ist sich vielleicht seiner Position im Feld bewut, mit Sicherheit jedoch ist ihm nicht bewut, wie er ein Bein vor das andere setzt, denn das knnte ihn unter Umstnden sogar zum Straucheln bringen. Und jedermann, der auch nur so laienhaft Tennis spielt wie ich, kennt den Ingrimm, der einen bermannt, wenn pltzlich der Aufschlag beim Teufel ist und man aus den Doppelfehlern nicht mehr herauskommt. Je mehr Doppelfehler, desto bewuter wird man sich seiner Haltung, seiner Bewegungen (und seiner Laune!), und desto schlimmer wird alles nur noch. 3 Erscheinungen wie die genannten, die im Zusammenhang mit Hochleistungen auftreten, kann man nicht mit dem Hinweis auf die krperliche Anspannung wegdiskutieren, denn die gleichen Erscheinungen in bezug auf das Bewutsein treten auch bei weniger anstrengenden Beschftigungen auf. In diesem konkreten Augenblick ist Ihnen nicht bewut, wie Sie dasitzen, wie Sie Ihre Hnde halten, wie schnell Sie lesen, wenngleich Sie dieser Dinge, im selben Moment, da ich sie erwhnte, gewahr wurden. Beim Lesen sind Sie sich weder der Buchstaben noch der Wrter, noch des Satzbaus oder der einzelnen Stze und der Zeichensetzung bewut, sondern nur der Bedeutung von alledem. Wenn Sie sich einen Vortrag anhren, verschwinden die artikulierten Laute hinter den Wrtern, die Wrter hinter den Stzen und die Stze hinter dem Gemeinten, der Bedeutung. Sich als Zuhrer der Elemente der Rede bewut zu werden heit3

Der Schreiber dieser Zeilen bt sich von Zeit zu Zeit in der Kunst des Improvisierens auf dem Klavier, und er leistet immer dann sein Bestes in der Erfindung neuer Themen und ihrer Ausfhrung, wenn er sich des Vorgangs nicht als einer geforderten Leistung bewut ist, sondern die Sache in schlafwandlerischer Manier betreibt: seines Spiels in einer Weise gewahr werdend, als handle es sich um das Spiel eines anderen Menschen.

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den Sinn der Rede zunichte machen. Das gleiche gilt fr den Sprecher. Versuchen Sie einmal, mit einem klaren Bewutsein Ihrer Artikulation zu sprechen. Sie werden einfach nicht mehr weitermachen knnen. Nicht anders beim Schreiben: Es ist, als ob der Bleistift oder der Fller oder die Schreibmaschine von sich aus die Wrter buchstabierte, Abstand zwischen ihnen liee, die Zeichensetzung whlte, auf die neue Zeile berwechselte, Wortwiederholungen vermiede und hier eine Frage, dort einen Ausruf einscha ltete, whrend wir selbst nichts anderes im Kopf haben als dies: was wir sagen wollen, und den Menschen, dem wir es sagen. Denn beim Sprechen und Schreiben sind wir uns unseres faktischen Tuns nicht wirklich bewut. Das Bewutsein bettigt sich in der Entscheidung darber, was wir sagen wollen und wie und wann es am besten zu sagen ist; aber was dann kommt: die geordnete und zweckentsprechende Aneinanderreihung von artikulierten Lauten oder geschriebenen Buchstaben, wird uns irgendwie abgenommen. Das Bewutsein ist kein Abbild unseres Erlebens Zwar kommt die Metapher von der Seele als einem leeren Informationsspeicher etwa nach Art einer unbeschriebenen Wachstafel schon in den Aristotelischen Schriften vor, aber erst seit John Locke im siebzehnten Jahrhundert seinerseits die Seele mit einer tabula rasa verglich, ist dieser Speicheraspekt des Bewutseins so weit in den Vordergrund gerckt, da wir es uns heute als ein bervolles Archiv oder eine Registratur von Erinnerungsbildern vorstellen, die in der Selbstbeobachtung wieder hervorgeholt werden knnen. Wre Locke ein Zeitgenosse unseres Jahrhunderts, htte er wohl zum Bild von der Kamera statt von der Wachstafel gegriffen. Die Leitvorstellung ist jedoch in beiden Fllen die gleiche. Und die - 42-

meisten Menschen wrden heute im Brustton der berzeugung vorbringen, die Hauptaufgabe des Bewutseins bestehe darin, Erlebniseindrcke zu speichern, sie abbildlich festzuhalten wie eine Kamera, damit sie fr sptere Betrachtung zur Verfgung stehen. So knnte man meinen. Aber beantworten Sie jetzt die folgenden Fragen: Schlgt die Tr des Zimmers, in dem Sie sich befinden, rechts oder links an? Welches ist Ihr zweitlngster Finger? Ist an der Verkehrsampel das rote oder das grne Licht oben? Wie viele Zhne sehen Sie beim Zhneputzen? Falls Sie Raucher sind: Welche Marken auer Ihrer eigenen befinden sich in dem Automaten, aus dem Sie gewhnlich Ihre Zigaretten ziehen, und in welcher Reihenfolge von links nach rechts sind sie in den Schchten plaziert? Und falls Sie sich augenblicklich in einem Zimmer befinden, das Ihnen vertraut ist: Schreiben Sie, ohne sich umzudrehen, alle Gegenstnde auf, die sich an der Wand hinter Ihrem Rcken befinden, und prfen Sie dann nach. Ich schtze, Sie werden staunen, wie wenig Sie sich von jenen vermeintlichen Bildern, die Sie aus soviel vorangegangenem aufmerksamem Erleben aufgespeichert haben, bewut vergegenwrtigen knnen. Wenn die vertraute Tr pltzlich links statt rechts anschlge, wenn einer Ihrer Finger ber Nacht lnger geworden wre, oder wenn Sie pltzlich einen Zahn mehr als frher im Gebi htten, wenn eine Zigarettenmarke im Automaten ausgetauscht oder die Lichter an der Ampel versetzt worden wren, oder wenn das Fenster in Ihrem Rcken einen neuen Griff bekommen htte, dann wrden Sie das auf Anhieb erkennen, womit bewiesen wre, da Sie auch den frheren Zustand kannten, wenngleich er Ihnen nicht bewut war. Dies ist der fr Psychologen altvertraute Unterschied zwischen Wiedererkennen und Erinnerung. Was Sie erinnern, das heit bewut ins Gedchtnis zurckrufen knnen, ist nur ein Fingerhut voll im Vergleich zu dem gewaltigen Ozean Ihres faktischen Wissens. - 43-

Experimente wie das vorige beweisen, da das bewute Gedchtnis nicht, wie manchmal angenommen, im Aufspeichern von Wahrnehmungsbildern besteht. Nur wenn Sie irgendwann zuvor einmal bewut auf die Lnge Ihrer Finger oder auf die Tr geachtet oder Ihre Zhne gezhlt haben, knnen Sie sich an diese Dinge erinnern, mgen Sie sie sonst auch noch so oft wahrgenommen haben. Falls Sie nicht irgendwann einmal auf die Gegenstnde an Ihrer Wand besonders geachtet oder nicht zufllig diese Wand vor kurzem geputzt oder frisch gestrichen haben, werden Sie staunen, was alles Sie bei Ihrer Aufzhlung ausgelassen haben. Und jetzt berprfen Sie das Ganze einmal im Licht Ihrer Selbstbeobachtung. Haben Sie sich nicht in jedem einzelnen Fall gefragt, was da sein mte? Waren es nicht vielmehr berlegungen und Schlufolgerungen und nicht so sehr irgendein Bild, wovon Sie sich dabei leiten lieen? Die bewute Rckschau besteht nicht im Wiederauffinden von Wahrnehmungsbildern, sondern im Wiederauffinden von Sachverhalten, deren wir uns zu einem frheren Zeitpunkt einmal bewut waren, 4 und in der Verarbeitung dieser Elemente zu einem rationalen oder plausiblen Zusammenhang. Das gleiche lt sich noch auf anderem Wege beweisen. Denken Sie bitte daran zurck, wie Sie das Zimmer betraten, in dem Sie jetzt sind, und dieses Buch zur Hand nahmen. Betrachten Sie den Vorgang in der Innenschau, und fragen Sie sich jetzt: Entsprechen die Wahrnehmungsvorstellungen, die Sie haben, Ihren tatschlichen Wahrnehmungsfeldern, whrend Sie eintraten, sich hinsetzten und zu lesen begannen? Sehen Sie sich in Ihrer Vorstellung nicht vielmehr in ganzer Person durch die Tr treten das Ganze vielleicht sogar aus der Vogelperspektive? Sehen Sie sich nicht und sei es auch nur verschwommen Platz nehmen und das Buch ergreifen? Dinge, die Sie niemals so erlebt haben, auer eben jetzt in Ihrer4

Vgl. hierzu Robert Woodworth, Psychological Issues, New York: Columbia University Press 1939, Kap. 7.

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Introspektion! Und knnen Sie sich die mit dem Vorgang verbundenen Geruschfelder vergegenwrtigen? Oder Ihre Hautempfindungen, whrend Sie sich niederlieen, das Gewicht von den Fen auf den Sitz verlagerten und das Buch aufschlugen? Selbstverstndlich wren Sie in der Lage, wenn Sie lange genug nachdenken, das rckblickend vorgestellte Geschehen so zu berarbeiten, da Sie in der Tat das sehen, was Sie genauso beim Betreten des Zimmers gesehen haben knnten; da Sie das Stuhlrcken und das Gerusch beim Aufschlagen des Buches hren und die Hautempfindungen spren. Ich behaupte jedoch, da dabei ein starkes Element von schpferischer Phantasie wir werden es unter der Bezeichnung Narrativierung in kurzem noch nher kennenlernen am Werk ist, Phantasie, die das Erleben nicht wiedergibt, wie es tatschlich war, sondern wie es htte gewesen sein knnen. Oder vergegenwrtigen Sie sich introspektiv das letzte Mal, da Sie beim Schwimmen waren: Ich vermute, Sie haben die Vorstellung von einem Strand oder einem See oder einem Schwimmbecken, die weitgehend ein Erinnerungsbild ist, doch wenn Sie jetzt zu Ihren Schwimmerlebnis kommen, holla! wie Nijinski sich selber tanzen sieht, sehen Sie sich schwimmen, etwas, das Sie nie im Leben direkt beobachtet haben! Da ist verschwindend wenig von Ihren tatschlichen Empfindungen whrend des Schwimmens vorhanden von der konkreten Wasserlinie ber Ihrem Gesicht, dem Gefhl des Wassers an der Haut oder davon, wie weit die Augen unter Wasser waren, wenn Sie den Kopf zum Atemholen drehten. 5 hnlich, wenn Sie sich an das letzte Mal erinnern, da Sie unter freiem Himmel bernachteten oder beim Eislaufen waren oder wenns gar nicht anders geht sich ffentlich blamiert haben: Sie werden die Dinge nicht mehr so sehen, hren, empfinden, wie Sie sie5

Das Beispiel ist einem streitbaren Aufsatz von Donald Hebb entnommen: The Mind's Eye, Psychology Today 2/1961.

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ursprnglich erlebt haben, sondern sich mehr oder weniger wie eine fremde Person in einer Szene auftreten sehen. Bei der erinnernden Rckschau ist also eine gehrige Portion Erfindung mit im Spiel: Man sieht sich so, wie andere einen sehen. Die Erinnerung ist das Medium des So mu es gewesen sein. Allerdings bezweifle ich nicht, da Sie in jedem der genannten Flle auch in der Lage wren, sich auf dem Wege der Schlufolgerung eine subjektive Sicht des Erlebnisses zu erfinden und dabei sogar berzeugt zu sein, es handle sich um ein wirklichkeitsgetreues Erinnerungsbild. Das Bewutsein ist nicht notwendig fr die Begriffsbildung Einen weiteren schweren Irrtum in Bezug auf das Bewutsein stellt die Meinung dar, es sei der primre und einzige Ort der Begriffsbildung. Es ist dies eine altehrwrdige Vorstellung: Wir machen im Bewutsein erst eine Reihe konkreter Erfahrungen, an denen wir dann Gleichfrmigkeiten beobachten, die wir zu einem Begriff verdichten. Von dieser Leitvorstellung ging sogar eine ganze Menge von Laborversuchen aus, mit denen manche Psychologen allen Ernstes den Vorgang der Begriffsbildung darzustellen meinten. In einer seiner faszinierenden Arbeiten fand Max Mller, ein Psychologe des vergangenen Jahrhunderts, fr das Problem eine pointierte Formulierung, indem er fragte, wer schon jemals einen Baum gesehen habe. Niemand hat jemals einen Baum gesehen, sondern immer nur diese oder jene Tanne oder Eiche, diesen oder jenen Apfelbaum ... Baum ist also ein Begriff und kann als solcher nie gesehen oder sonstwie mit den Sinnen wahrgenommen werden. 6 Drauen in der Landschaft gebe es6

Max Mller, The Science of Thought, London: Longmans Green 1887, S. 78 f. Einen hnlichen Einwand wie ich erhebt Eugenio Rignano: The Psychology of Reasoning, New York: Harcourt, Brace 1923, S. 108 f.

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nur das konkrete Einzelexemplar und nur im Bewutsein den Allgemeinbegriff des Baumes. Hier knnte jetzt eine lngere Abhandlung ber das Verhltnis zwischen Begriff und Bewutsein folgen. Doch gengt fr unsere Zwecke der einfache Nachweis, da zwischen beiden kein notwendiger Zusammenhang besteht. Wenn Mller meint, noch nie habe jemand einen Baum gesehen, dann verwechselt er sein Wissen ber den Gegenstand mit dem Gegenstand selbst. Jeder von einem kilometerweiten Marsch in der heien Sonne erschpfte Wanderer kann mhelos einen Baum erblicken. Desgleichen jede Katze, der ein Hund auf den Fersen ist. Die Biene hat einen Begriff von der Blume als solcher, der Adler einen Begriff von einer unzugnglichen Felsnase und die Drossel einen Begriff von einer hochgelegenen Astgabel im Schutz des grnen Laubes. Begriffe sind nichts weiter als Klassen von in bezug auf das Verhalten gleichwertigen Dinge. Wurzelformen der Begrifflichkeit gehen aller Erfahrung voraus als Fundamentaleigenschaften der aptischen Strukturen, welche manifestes Verhalten berhaupt erst mglich machen. 7 Mller htte besser sagen sollen, da niemand sich jemals eines Baumes als solchen bewut gewesen ist. Denn das Bewutsein ist in der Tat nicht nur nicht der Speicher der Begriffe, sondern es funktioniert in der Regel gnzlich ohne sie! Denken wir bewut an den Baum als solchen, dann sind wir uns in Wirklichkeit eines konkreten Einzelexemplars der Tanne, der Eiche oder der Ulme vor unserem Haus bewut und lassen es stellvertretend fr den7

Aptische Strukturen sind die neurologische Grundlage aller Fhigkeiten. Ihre Komponenten sind zum einen ein angeborenes, evolutionr bedingtes Paradigma und zum anderen der Niederschlag der Erfahrungen im Zuge der individuellen Entwicklung. Der Begriff der Befhigungsstruktur soll problematische Ausdrcke wie Instinkt u. . ersetzen. Befhigungsstrukturen sind teils angeborene, teils erworbene Organisationsschemata des Gehirns, die den Organismus dazu befhigen, sich unter bestimmten Bedingungen auf bestimmte Weise zu verhalten.

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Begriff stehen, so wie wir auch ein Wort fr einen Begriff stehen lassen knnen. Es ist ja eine der groen Leistungen der Sprache, da sie ein Wort an der Stelle eines Begriffes setzt, und genau das tun wir jedesmal, wenn wir ber Begriffsverhltnisse reden oder schreiben. Und wir knnen auch gar nicht anders, weil Begriffe im Bewutsein normalerweise berhaupt nicht vorkommen. Das Bewutsein ist nicht notwendig fr das Lernen Ein drittes gravierendes Miverstndnis sieht im Bewutsein die Grundlage des Lernens. Insbesondere fr die nicht gerade kleine Schar erlauchter Geister, die der fhrenden psychologischen Richtung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, dem Assoziationismus, huldigten, bestand das Lernen darin, da sich aufgrund von hnlichkeiten, rumlicher oder zeitlicher Nhe oder irgendeiner sonstigen Beziehung Zusammenhnge zwischen den Vorstellungen im Bewutsein herstellten. Ob Mensch oder Tier, spielte dabei keine Rolle: Alles Lernen war aus der Erfahrung gewonnen, war also die Verbindung von Vorstellungen im Bewutsein (wie in der Einfhrung bereits erwhnt). Von daher hat sich unserer Gegenwart, gleichsam als Teil ihres kulturellen Erbes, die fast allenthalben kritiklos hingenommene berzeugung eingeprgt, das Bewutsein sei eine notwendige Vorbedingung fr das Lernen. Der Sachverhalt, um den es hier geht, ist einigermaen verwickelt. Zudem wird er von den Psychologen unglcklicherweise verzerrt durch ein manchmal haarstrubendes Kauderwelsch, das im Grunde eine unzulssige Verallgemeinerung der Reflexbogenterminologie des neunzehnten Jahrhunderts darstellt. Doch fr unsere Zwecke drfen wir uns die Laboruntersuchungen des Lernens als im wesentlichen auf drei Haupttypen bezogen vorstellen: auf das Erlernen von Signalen, Geschicklichkeiten und - 48-

Problemlsungen. Diese drei Typen wollen wir jetzt der Reihe nach besprechen, um uns bei jedem von ihnen die Frage zu stellen, ob er notwendigerweise Bewutsein vo raussetzt. Signallernen (die klassische oder Pawlowsche Konditionierung) ist der einfachste Fall. Trifft ein Lichtsignal, unmittelbar gefolgt von einem Luftstrom aus einem Gummischlauch, ungefhr zehnmal auf das Auge einer Versuchsperson, beginnt das Augenlid, das vorher nur auf den Luftstrom hin geblinzelt hat, auf das Lichtsignal allein zu blinzeln, und dies mit wachsender Zahl der Versuche immer regelmiger:8 Versuchspersonen, die sich diesem bekannten Verfahren des Signallernens unterzogen haben, beric hten, da dabei keinerlei bewute Komponente im Spiel ist. In der Tat verhindert das Einschalten des Bewutseins in diesem Fall der Versuch, das Signallernen durch willentliches Augenzwinkern zu untersttzen den Lernerfolg. An alltglicheren Beispielen lt sich zeigen, da sich dieses einfache, assoziative Lernen vollzieht, ohne dem Betroffenen bewut zu werden. Wird ein charakteristisches Musikstck gespielt, whrend Sie eine besonders schmackhafte Mahlzeit zu sich nehmen, wird Ihnen dieses Musikstck, wenn Sie es das nchste Mal hren, ein bichen besser gefallen, und Sie werden sogar mit leicht verstrkter Speichelproduktion reagieren. Das Musikstck ist zu einem Signal fr Lust geworden, die in Ihr Urteil mit einfliet. Das gleiche Ergebnis lt sich mit Bildern erzielen. 9 Versuchspersonen, die sich solchen Tests im Labor unterzogen hatten, wuten keine Antwort auf die Frage, warum8

G. A. Kimble, Conditioning as a Fundion of the Time between Conditioned and Unconditioned Stimuli, Journal of Experimental Psychology 37/ 1947, S. 1-15. 9 Meine Darstellung sttzt sich hier auf Gregory Razran, Mind in Evolution, Boston: Houghton Mifflin 1971, S. 232. Dazu kritisch mit Rcksicht auf das ganze Problem des nichtintentionalen Lernens: T. A. Ryan, Intentional Behaviors, New York: Ronald Press 1970, S. 235 f.

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ihnen die Musik oder die Bilder nach dem Essen besser gefielen. Es war ihnen nicht bewut, da sie etwas gelernt hatten. Das wirklich Interessante an dir Sache ist jedoch, da der Lernproze nicht stattfindet, wenn man vorher Bescheid wei und sich des Zusammenhangs zwischen dem Essen und der Musik oder dem Gemlde bewut ist. Demnach ist es in diesem Bereich sogar so, da das Bewutsein die Lernfhigkeit vermindert, ganz zu schweigen davon, da es eine notwendige Voraussetzung wre. Was wir schon bei der Ausbung von Geschicklichkeiten feststellen konnten, ist auch beim Erlernen von Geschicklichkeiten der Fall: Das Bewutsein hnelt einem hilflosen Zuschauer, der bei der Sache nicht viel zu tun hat. Zum Beweis dafr ein einfaches Experiment: Sie nehmen in jede Hand eine Mnze, werfen die beiden Geldstcke ber Kreuz in die Luft und fangen sie jeweils mit der anderen Hand wieder auf. Wenn man das ein dutzendmal gebt hat; beherrscht man es. Und whrend Sie jetzt probieren, fragen Sie sich, ob Sie sich dessen, was Sie da tun, restlos bewut sind. Wird das Bewutsein dazu berhaupt gebraucht? Meiner Meinung nach werden Sie feststellen, da der Lernerfolg sich eher auf organischem als auf bewutem Weg einstellt. Bewutsein fhrt Sie an die Aufgabe heran und nennt Ihnen das Ziel. Alles Weitere jedoch von mglichen Selbstzweifeln neurotischer Natur abgesehen luft so, als wrde Ihnen das Lernen von irgendwoher abgenommen. Im neunzehnten Jahrhundert allerdings, als man sich die gesamte Verantwortung fr das Verhalten in der Hand des Bewutseins dachte, htte man den Vorgang so erklrt, da die guten und die schlechten Bewegungen bewut erkannt und da erstere aus freiem Entschlu wiederholt und letztere ausgeschieden werden! Mit dem Erlernen komplizierterer Geschicklichkeiten steht es in dieser Hinsicht durchaus nicht anders. So wurde beispielsweise das Schreibmaschineschreiben eingehend - 50-

untersucht, wobei man zu der allgemein akzeptierten Ansicht gelangte, da smtliche Verbesserungen und Vereinfachungen der Technik unbewut vorgenommen wurden, das heit, die Schler verfielen ganz unabsichtlich darauf. Irgendwann einmal bemerkten sie, da sie bestimmte Teile ihrer Arbeit auf neue und bessere Weise ausfhrten. 10 Bei dem Experiment mit den Mnzen haben Sie vielleicht sogar bemerkt, da eine Beteiligung des Bewutseins Ihren Lernerfolg nur behinderte. Diese Feststellung lt sich im Zusammenhang mit dem Erlernen von Geschicklichkeiten immer wieder machen, und wie wir weiter oben schon gesehen haben, ebenso auch bei ihrer Ausbung. Lassen Sie das Lernen geschehen, ohne sich seiner bermig bewut zu sein, dann verluft alles glatter und wirkungsvoller. Manchmal sogar zu wirkungsvoll. Denn bei komplizierten Geschicklichkeiten wie dem Schreibmaschineschreiben kann man sich beispielsweise angewhnen, stndig dei statt die zu tippen. Das Gegenmittel besteht darin, den Vorgang umzukehren, nmlich bewut den Fehler dei zu ben, woraufhin der im Widerspruch zu der gngigen Vorstellung von bung macht den Meister verschwindet (ein Phnomen, das man als negative bung bezeichnet). Bei der Leistungsmessung des allgemeinen Bewegungsgeschicks, wie sie beispielsweise mit pursuit rotor- oder mirror tracing-Tests vorgenommen wird, schneiden die Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, sich ihrer Bewegungen klar bewut zu bleiben, stets schlechter ab.11 Und im Zuge meiner Umfragen habe ich erfahren, da Sporttrainer unbewut laborgetestete Grundstze anwenden, indem sie ihre Schflein auffordern, nicht soviel mit dem Kopf10 11

W. E Book, The Psychology of Skill, New York: Gregg 1925. H. L. Waskom, An Experimental Analysis of Incentive and Forced Application and Their Effect upon Learning, Journal of Psychology 2/1936, S. 393-408.

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zu machen. Die Art und Weise, wie im Zen die Kunst des Bogenschieens erlernt wird, ist in dieser Hinsicht uerst aufschlureich: Dem Schtzen wird geraten, sich nicht als einen Menschen zu erleben, der die Sehne spannt und loslt, sondern das Bewutsein eigenen Tuns ganz aufzugeben, bis der Bogen sich von selbst spannt, die Sehne sich von selbst lst und der Pfeil von selbst sein Ziel sucht. Lsungslernen (instrumentales Lernen oder operante Konditionierung) ist ein komplexerer Typ. Im Normalfall spielt das Bewutsein eine betrchtliche Rolle bei der Suche nach einer Lsung fr ein Problem oder nach einem Weg zu einem Ziel, indem es das Problem auf eine bestimmte Weise aufbereitet. Doch keineswegs ist es unter allen Umstnden notwendig. Es lassen sich Flle anfhren, in denen die Versuchsperson nicht das mindeste Bewutsein davon hat, welches Ziel sie anstrebt, noch auf welchem Lsungsweg sie es zu erreichen sucht. Dazu ein weiteres einfaches Experiment: Bitten Sie jemanden, sich Ihnen gegenberzusetzen und nach Belieben Wrter aufzusagen, wie sie ihm einfallen, aber nach jedem Wort eine Pause von zwei oder drei Sekunden einzulegen, damit Sie es aufschreiben knnen. Wenn Sie nach jedem Pluralsubstantiv (oder Adjektiv oder abstraktem Begriff, oder was immer Sie wollen) gut oder richtig oder auch nur Mhm! murmeln, whrend Sie es niederschreiben, oder dabei lcheln oder das Pluralwort freundlich wiederholen, wird die Hufigkeit von Pluralsubstantiven (oder was immer) im weiteren Fortgang des Experiments erheblich zunehmen. Bemerkenswerterweise jedoch wird Ihre Versuchsperson gar nicht gewahr, da sie einen Lernproze durchluft. 12 Weder ist sie sich bewut, da sie noch12

J. Greenspoon, The Reinforcing Effect of Two Spoken Sounds an the Frequency of Two Responses, American Journal of Psychology 68/1955,S.409-416. Allerdings bestehen hier betrchtliche Meinungsverschiedenheiten, insbesondere (Fortsetzung nchste Seite)

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mehr ermutigende Bemerkungen aus Ihnen herauszulocken sucht, noch wie sie diese Aufgabe lst. Tag fr Tag, in jeder Unterhaltung, richten wir uns fortwhrend gegenseitig auf diese Weise ab, aber wir sind uns dessen nie bewut. Unbewutes Lernen ist keineswegs auf das Sprachverhalten beschrnkt. Die Hrer einer Psychologievorlesung wurden beauftragt, jedem Mdchen auf dem Universittsgelnde, das Rot trug, Komplimente zu machen. Binnen einer Woche war die Cafeteria ein Meer von Rot (und Freundlichkeit), und keine der Damen war sich bewut, da sie manipuliert worden war. Die Hrer einer anderen Vorlesung probierten eine Woche, nachdem sie mit dem unbewuten Lernen und Abrichten bekannt gemacht worden waren, ihr neues Wissen an ihrem Professor aus. Jedesmal, wenn er sich zur rechten Seite des Hrsaals bewegte, zollten sie ihm gespannteste Aufmerksamkeit und lachten schallend ber seine Witze. Es wird berichtet, da sie ihn fast zur Tr hinausdressiert htten, whrend ihm selbst nicht das geringste auffiel. 13 Der kritische Punkt bei den meisten dieser Experimente ist der, da die Versuchsperson nicht ahnen darf, worum es geht, weil sie sonst natrlich bewut auf derartige Verstrkungsverhltnisse achten wrde. Man umschifft diese Klippe, indem man sich auf solche Verhaltensreaktionen sttzt,hinsichtlich der Formulierung und der Reihenfolge der postexperimentellen Fragen. Es knnte sogar sein, da sich zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter eine stillschweigende bereinkunft herstellt (vgl: Robert Rosenthai, Experimental Effects in Behavioral Research, New York: Appleton-Century-Crohs 1966). Ich selbst teile vorderhand die Ansicht von Posturan, da der Lernerfolg eintritt, bevor die Versuchsperson sich der Verstrkungsbeziehung bewut wird, ja da es andernfalls gar nicht zu dieser Bewutwerdung kme (vgl. L. Posturan und L. Sassenrath, The Automatic Action of Verbal Rewards and Punishment, Journal of General Psy