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Friedrich Pfeiffer

Holk Cruse

Autonomes Laufen

Page 3: Autonomes Laufen

Friedrich Pfeiffer

Holk Cruse (Hrsg.)

Autonomes Laufen

Mit 103 Abbildungen und 9 Tabellen

Page 4: Autonomes Laufen

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 3-540-25044-1 Springer Berlin Heidelberg New York

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Satz: Digitale Druckvorlagen des AutorsUmschlaggestaltung: deblik, BerlinHerstellung: PTP-Berlin Protago-TEX-Production GmbHGedruckt auf säurefreiem Papier 89/3141/Yu – 5 4 3 2 1 0

Prof. Dr.-Ing. Friedrich PfeifferTechnische Universität MünchenInstitut für MechatronikLehrstuhl für Angewandte MechanikBoltzmannstr. 1585748 [email protected]

Prof. Dr. Holk Cruse Universität BielefeldFakultät für BiologieAbt. BiokybernetikP.O. Box 10 01 3133501 [email protected]

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Vorwort

1 Allgemeine Bemerkungen

Laufen ist eine der genialsten Erfindungen der Natur. Laufen in allen seinenErscheinungsformen ist in hervorragender Weise an die naturliche Umgebungangepasst, eine Umgebung, die in ihrer ursprunglichen Form eine unglaublicheVielfalt von Sand bis Eis, von weiten Ebenen bis zu steilen Bergen und vonGrasflachen bis zu Waldern beinhaltet. Laufen ermoglicht Fortbewegung inall diesen Situationen und hat so dafur gesorgt, dass Lebewesen aus den un-terschiedlichsten Tiergruppen die Erde bevolkern und erobern konnten. BeimLaufen wird eine Vielzahl unterschiedlicher Subsysteme genutzt, wie etwa gan-ze Beine, einzelne Muskeln und Gelenke, sowie eine große Zahl von Sensoren.Dazu gehoren nicht nur die Mechanosensoren, sondern auch Sehsysteme unddie entsprechende Motorik. Mit Hilfe neuronaler Datenverarbeitung mussendiese Teilsysteme auf verschiedenen Integrationsebenen koordiniert werden.Erst das optimierte Zusammenwirken dieser Komponenten befahigt das biolo-gische System zum Laufen und damit zur Fortbewegung. Viele Befunde deutendarauf hin, dass die Fahigkeit, komplexe Bewegungen kontrollieren zu konnen,auch die Basis fur unsere kognitiven Fahigkeiten und damit die Basis fur dasEntstehen intelligenter Strukturen darstellt. Definiert man Intelligenz als dieFahigkeit, neue unbekannte Situationen schnell zu erfassen und Losungen furdie gezielte Kontrolle von Bewegungen in realen, also durch Hindernisse cha-rakterisierten Umgebung zu finden, so ist Laufen vor dem Hintergrund derbiologischen Moglichkeiten eine faszinierende Entwicklung der Natur, in Be-zug auf Bewegung in ungeordneter Umgebung und in Bezug auf die dafurnotwendige Intelligenz. Nicht zuletzt deshalb stellt Laufen auch fur Neurobio-logen und Neurologen ein immer wichtiger werdendes Forschungsthema dar.

Laufen und Laufmaschinen wurden von den Ingenieuren vor etwa 20-30Jahren wieder entdeckt, obwohl es bereits in den Jahrhunderten davor immerwieder Bemuhungen gab, Laufmaschinen, zum Teil recht erfindungsreiche, zubauen. Aber erst in neuerer Zeit haben sich Technologien entwickelt, die denerfolgreichen Bau solcher Maschinen realistisch erscheinen lassen. Es geht da-

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VI Vorwort

bei ja nicht nur um Mechanik, sondern gerade auch um die Verwirklichung voneinigermaßen intelligenten Strukturen, die das Laufen erst ermoglichen. DieEntwicklung der Technik in den letzten 300 Jahren hat eine kaum zu uberbli-ckende Vielfalt an Maschinen und Anlagen, an Fahrzeugen und Transportsys-temen hervorgebracht, die fast ausnahmslos auf die einzigartige Erfindung desRades gegrundet sind. Im Gegensatz zur Biologie benotigen alle technischenTransportsysteme hoch organisierte und teilweise sehr große Flachen. Autosbrauchen befestigte Strassen, Zuge Schienenwege, Schiffe benotigen Hafenan-lagen und Flugzeuge Flughafen. Dies mag der Preis dafur sein, dass hoheGeschwindigkeiten erreicht und große Massen transportiert werden konnen,Aspekte, die es in der Biologie in dieser extremen Form nicht gibt. Laufma-schinen werden daher nicht schnell sein im Sinne der modernen Technik, undsie werden auch wenig geeignet sein fur die Bewaltigung von Massentranspor-ten. Aber sie werden langfristig uber Intelligenz verfugen, die Fortbewegungin gefahrlichen und unzuganglichen Bereichen zulassen und auch unstruktu-riertes Gelande erschließen wird.

Alle Erbauer von Laufmaschinen haben sich an der Biologie orientiert,weshalb es nur sehr wenige rein technische Losungen gibt. Die biologischenSysteme sind dank einer Jahrmillionen dauernden Evolution an Aufgaben derFortbewegung angepasst, vom Gesamtsystem her, von allen Komponenten herund nicht zuletzt von ihrer Intelligenz her. Es lohnt also, sich diese Losungengenauer anzusehen und mit Hilfe der immer wichtiger werdenden Zusammen-arbeit mit den Kollegen aus Zoologie, Biomechanik, Neurobiologie und derNeurologie biologische Auslegungsprinzipien zu identifizieren, die Ingenieu-ren weiterhelfen. Biologische Systeme verwenden Beine statt Radern, Mus-keln statt Elektromotoren, Nervenstrange mit Synapsen statt Bussystemenund eine außerordentlich große Zahl von Sensoren. So verfugt allein der Fuh-ler einer Schabe uber 300 000 Sensoren. Auf der anderen Seite haben moderneTechnologien vorzugliche Artefakte anzubieten, so etwa schnelle Rechner undAlgorithmen, systematische Konstruktionsprinzipien, leistungsdichte Motor-Getriebe-Kombinationen fur die Antriebe, hoch entwickelte Sensortechnolo-gien und Mikroprozessoren sowie intelligente Leichtbaustrukturen, um nureinige zu nennen. Es macht daher keinen Sinn, die Biologie und biologischePrinzipien

”eins zu eins“ umzusetzen, sondern man sollte solche Prinzipien mit

der bestmoglichen Technologie approximieren. Laufmaschinen werden einesTages genau so beurteilt werden wie andere Maschinen auch, nach Funktiona-litat, nach Effizienz, Nutzen und Aufwand und damit auch nach Kosten. Wenndie Biologie hierzu Ideen liefert, ist das hoch willkommen. Und selbst wenndie Realisierungen in nicht zu ferner Zukunft der Biologie naher kommen alsbisher, so wird das nur in den wenigsten Fallen mit biologienahen, sondern al-lenfalls mit bioanalogen Komponenten verwirklicht sein. Diese Betrachtungs-weise der Bionik statt der Biomimikry ist originar in Deutschland entstandenund weiterentwickelt worden, sie hat zwischenzeitlich uber das bundesweiteBionik-Kompetenznetzwerk BioKoN Einzug in die Industrie gehalten.

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Vorwort VII

Im Sinne der Bionik muss daher das Folgende getan werden. Biologen,Biomechaniker, Neurobiologen und Neurologen auf der einen Seite, sofern amLaufen im weitesten Sinne interessiert, sollten ihre Forschungen auch darauffokussieren, die wesentlichen, beim Laufen von Mensch und Tier eingesetz-ten Prinzipien herauszufinden. Besonderes Interesse verdienen dabei einerseitsdie noch zu wenig untersuchten Beitrage elastischer Strukturen und anderer-seits die Architektur der neuronalen Systeme, die fur intelligente Entscheidun-gen (

”welches Verhalten soll als Nachstes ausgefuhrt werden?“) verantwortlich

sind. Hier gibt es noch große Lucken, etwa im Bereich des schnellen Lau-fens oder des Laufens uber unstrukturiertes Gelande. Die Ingenieure auf deranderen Seite mussen offen sein fur die Diskussion aller neuen biologischenForschungsergebnisse, um daraus mogliche Umsetzungen fur technische Lauf-maschinen abzuleiten, und dies auch immer vor dem Hintergrund neuesterTechnologien. Dies erfordert intensive Vernetzung der Disziplinen als Grund-voraussetzung fur zukunftige Erfolge. Der Bau von Laufmaschinen stellt einehochkaratige Herausforderung dar, er ist Technologie-Treiber ersten Ranges.

Aus Sicht der Biologie verdient ein weiterer Aspekt Erwahnung. Fur Bio-logen eignen sich Laufmaschinen auch als Instrument, um Hypothesen ubervermutete biologische Mechanismen zu testen und zu klaren. Dies erfordertden Bau besonders flexibler Maschinen, was im Zeit- und Kostenrahmen einesSchwerpunktes nur sehr unvollkommen verwirklicht werden kann. Das Tes-ten biologischer Hypothesen ist daher realistischerweise nur in ausgewahltenFallen mit spezifisch fur die jeweilige Fragestellung entwickelten Laufsyste-men moglich. Fur den Fortschritt in der biologischen Grundlagenforschung istdieser Beitrag jedoch unerlasslich.

2 Ausschreibungstext SPP 1039 von 1996

Der nachfolgende Ausschreibungstext wurde am 20. September 1996 von derDFG an interessierte Kollegen aus Biologie und Ingenieurwissenschaft ver-schickt:

”Das geplante Schwerpunktprogramm Autonomes Laufen soll schwer-

punktmaßig Aspekte der technischen Realisierung von Laufmaschinen ab-decken. Ebenso willkommen sind biologische Teilvorhaben, deren Ergeb-nisse unmittelbar in solche technischen Umsetzungen einfließen konnen.

Hierzu gehoren die Frage nach den topologischen Strukturen des Lau-fens, die Problematik der Regelung und Steuerung und hiermit verbunde-nen Fragen der Sensoren und der Aktoren, die Modellierung der Dynamikund schließlich die Auslegung und der Bau von ausgewahlten Laufma-schinen, auf die sich die Teilnehmer einigen. Um autonomes, also weit-gehend selbststandiges Laufen zu ermoglichen, ist weiterhin ein hohesMaß an maschineller Intelligenz vonnoten, die uber richtige Laufmusterentscheidet, die unvorhergesehene Laufprobleme bewaltigt, die auch in

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VIII Vorwort

schwierigem Gelande die richtigen Bewegungsablaufe auswahlt und rege-lungstechnisch realisiert. Dabei sollen auf allen Ebenen, und soweit dastechnisch sinnvoll erscheint, Forschungsergebnisse aus der Biologie undNeurobiologie des Laufens berucksichtigt und auch technologisch umge-setzt werden. Unter dem Begriff des Laufens wird dabei stets Laufen ineinfachem und schwierigem Gelande als auch das Klettern in moderaterForm verstanden.

Die Beschaftigung mit der Thematik der Lauftechnologie ist schon ausdem Grund bedeutungsvoll, da bekanntlich weit weniger als die Halfte derErdoberflache mit radergetriebenen Fahrzeugen erreicht, der Rest jedochdurch Laufen erschlossen werden kann. Diese Aussage gilt erst recht furPlaneten in unserem Sonnensystem. Laufmaschinen konnen eine Vielzahlvon erdgebundenen Problemen losen helfen. Der Zugang zu verseuchtenGebieten, sei es durch Chemie oder Radioaktivitat, der Zugriff auf Brand-herde, die riesenhafte Aufgabe der Sanierung unseres Abwassersystems,die Bewaltigung von Unterwasserarbeiten konnen durch geeignete Lauf-technologien in neuartiger Weise verbessert oder gelost werden. Jede For-schung auf dem Gebiet des Laufens wird schließlich auch die Technik vonProthesen voranbringen, wo ja Fragen aktiver Beeinflussung etwa durchRegelung, Fragen der Energieversorgung vielfach noch ungelost sind.

Die Beschaftigung mit der Lauftechnologie ist auch deshalb inter-essant, weil die Menschheit ihre technologischen Anstrengungen weitest-gehend auf radergetriebene Systeme konzentriert hat, wobei die Erfindungdes Rades eine fundamentale und typisch menschliche Errungenschaft dar-stellt. Auch diese Technologie ist bei weitem noch nicht ausgereizt. Den-noch bieten die heutigen Moglichkeiten der kunstlichen Intelligenz, derKonstruktion, der Sensorik und der Aktorik einen hervorragenden Hinter-grund, um Laufmaschinen zu realisieren. Dies haben die Anstrengungenund Erfolge der letzten zwanzig Jahre in USA, Japan und Deutschlandgezeigt. Trotz alledem steht die Technologie des Laufens noch in ihrenAnfangen. Ein Schwerpunktprogramm wird diese Situation verbessern hel-fen.

Ziel des Schwerpunktes wird es sein, einige wesentliche Probleme desLaufens zu klaren und bei der Umsetzung in Laufmaschinen zu beruck-sichtigen. Dieses betrifft Fragen der Laufstrukturen, der Laufdynamik,besonders bei Zwei- und Vierbeinern, der Laufregelung und in diesemZusammenhang der notwendigen Intelligenz fur zielorientiertes, sensorge-fuhrtes Laufen. Es betrifft Fragen der Sensorik, der Sensordatenverarbei-tung und Aktorik und nicht zuletzt Umsetzungsstrategien. Neben theore-tischen Arbeiten muss der vorgeschlagene Schwerpunkt auch Experimentebeinhalten, und neben Ingenieuren sollten auch Biologen und Informatikerteilnehmen. Die wichtigsten Themen gliedern sich folgendermaßen:

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Vorwort IX

Laufstrukturen

Bisher scheint auch bei Biologen die Frage nach der optimalen Anzahlder Beine fur eine bestimmte Laufaufgabe weitgehend unbeantwortet. DieNatur hat eine Fulle von Beispielen erzeugt und ist fur die speziellen An-forderungen in ausgezeichneter Weise ausgerustet. Dabei sind bestimmteParameter auch bei erheblicher Variation der Korpergroße erstaunlich kon-stant. Die Unterschiede in der Anzahl der Anordnung der Beine hangenvermutlich im wesentlichen von der Art der jeweiligen Umweltbedingun-gen ab, wie etwa Laufen unter Wasser, Laufen mit hoher Geschwindigkeit,hoher Krafterzeugung (z. B. Bohren in der Erde) oder kritischer Stabili-tatssicherheit (Klettern). Einzelheiten sind jedoch weitgehend unbekannt.Wir wissen nur, dass die Evolution diese heute vorliegenden biologischenErgebnisse in hervorragender Weise optimiert hat.

Laufdynamik

Eine einigermaßen zuverlassige Kenntnis der Beinstrukturen wird automa-tisch mit dem Wissen uber die hierfur besten Beinkinematiken verknupftsein. Dies ist dann Ausgangspunkt fur eine Betrachtung der Dynamikund Regelung solcher Systeme. Diese beiden Gebiete sind mitsamt ihrerSensorik und Aktorik sehr eng miteinander verzahnt. Sinnvoll erscheintzunachst einmal die Betrachtung der Dynamik, da auch beim Bau vonLaufmaschinen eine vorherige dynamische Simulation, die dann naturlichauch die Regelung mit einschließt, erfolgen muss. Dynamik bedeutet dieBetrachtung der Krafte und Momente, die notwendig sind, um ein Lauf-gerat unter Berucksichtigung der Kinematik in Bewegung zu setzen. Diestrifft sowohl fur biologische als auch fur technische Laufsysteme zu. DieModellierung derartiger Systeme muss zweckmaßigerweise so erfolgen,dass mit einem einzigen Simulationsprogramm die oben genannten ver-schiedenen Strukturen abgedeckt werden konnen. Dies ist in jedem Fallemoglich, da bereits heute Rechenprogramme existieren, die gleichermaßenfur zwei-, vier-, sechsbeiniges Laufen eingesetzt werden konnen.

Laufregelung und Laufintelligenz

Die Dynamik macht ohne Regelung keinen Sinn. Regelung beinhaltet Sen-sorik und Aktorik. Auf dem Gebiet der Regelung von Laufmaschinen kon-nen wir besonders viel von der Biologie lernen. Niedrig organisierte Tierar-ten wie Insekten verfugen offenbar uber eine dezentrale Laufregelung, dieman naherungsweise durch drei Ebenen beschreiben kann. Solche Reg-ler sind in der Biologie durch biologisch-neuronale Netze realisiert. In derTechnik gibt es weltweit viele Anstrengungen, solche neuronale Netzetechnisch nachzuempfinden. Man kann aber auch die gleiche Funktion

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X Vorwort

durch entsprechende Auslegung nichtlinearer Regelungen erreichen, wiein jungster Vergangenheit gezeigt wurde.

Die bei niedrigen Tierarten wie Insekten so hervorragend funktionie-rende dezentrale Regelung durfte bei hoher entwickelten Lebewesen, alsoinsbesondere bei den Saugern und bei Menschen, dahingehend erweitertsein, dass noch ubergeordnete zentrale Regelungs- und Steuerfunktionenhinzukommen. Hierzu gehoren Sichtsysteme, die uber Hindernisse infor-mieren, aber auch Entscheidungen treffen in Bezug auf das Gangmuster inAbhangigkeit von der gerade zu bewaltigenden Umgebung. Der KomplexRegelung und Steuerung fur eine Laufmaschine ist also extrem vielschich-tig und kompliziert.

Sensoren und Aktoren

Es muss weiterhin die Sensorseite und die Aktorseite abgedeckt sein. Trotzdes hohen Entwicklungsstandes der Sensoren sind gewisse Sensoreigen-schaften der Natur nicht nachvollziehbar. Man denke an die Fingersen-sorik beim Greifen oder die Luftsensorik im Fuß. Dennoch muss versuchtwerden, fur eine technisch zu realisierende Laufmaschine solche Senso-reigenschaften wenigstens naherungsweise zu erreichen. Denkt man anubergeordnete Regelungsfunktionen wie Sichtsysteme, so ist auch hierwiederum eine gute Effizienz bei kleinem Gewicht und guter Entschei-dungsfahigkeit in Bezug auf das Bild vonnoten.

Die geometrische und mechanische Beschaffenheit des Bodens spieltfur eine sichere Platzierung der Beine eines Laufgerates eine erheblicheRolle. Dies macht die Entwicklung geeigneter Sensorsysteme zur Erfas-sung der Bodenbeschaffenheit notwendig. Im Falle mechanischer Eigen-schaften (Elastizitat, nichtelastisches Nachgeben, Reibungskoeffizienten)kann eine Identifikation uber den Laufvorgang selbst erfolgen. Im Fallegeometrischer Eigenschaften (Rauhigkeit, Kornigkeitsgrad, Bodenwellen.Locher, Vorsprunge, isolierte Festigkeitszonen etc.) besteht ein Bedarf,bekannte Verfahren des Robotersehens speziell fur die Extraktion boden-beschaffenheitsrelevanter Information zu erweitern. Daruber hinaus kannfur technische Anwendungen an weitere Sensortypen wie beispielsweiseUltraschall gedacht werden.

Laufexperimente

Ein Schwerpunktprogramm uber Laufen und uber Laufmaschinen, bio-logische und technische, macht nur Sinn, wenn solche Maschinen auchrealisiert werden. Naturlich muss sich die Forschergruppe dabei auf einigeObjekte einigen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre und im Hinblickauf zukunftige Anwendungen erscheinen laufende Roboter mit zwei undmit vier Beinen sehr aussichtsreich. Das zweibeinige Laufen hatte lang-fristige hervorragende Chancen im Bereich der Prothetik, das vierbeinige

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Vorwort XI

Laufen mindestens ebenso gute Chancen in allen umweltbelasteten Berei-chen wie in Kernreaktoren, unter Wasser, in Feuern, in chemischen Anla-gen oder ahnlichem. Daher sollte sich je eine Teilgruppe mit diesen beidenGeraten befassen. Bei beiden Laufmaschinen ware insbesondere auch dasdynamische Laufen, das heißt mit Abheben samtlicher Fuße vom Bodenund dem Problem des Wiederaufspringens, besonders interessant.“

3 Ablauf des Schwerpunktes

Die ersten Aktivitaten fur die Einrichtung eines DFG-Schwerpunktes uberLaufen begannen Mitte 1996. Es wurde ein Entwurf fur den obigen Text andie DFG geschickt, darauf erfolgte ein Vorgesprach mit Gutachtern der DFGund Vertretern der DFG selbst und schließlich konnte nach einer Befurwor-tung durch den DFG-Senat der Ausschreibungstext am 20. September 1996an interessierte Kollegen verschickt werden. Die Bewilligung durch den Se-nat wurde prinzipiell fur sechs Jahre ausgesprochen, wobei nach jeweils zweiJahren Zwischenberichte und Neuantrage fur eine neuerliche Begutachtung zuerstellen waren. Es gingen in dieser ersten Antragsphase insgesamt 32 Antra-ge aus Biologie und Ingenieurwissenschaften bei der DFG ein. Die DeutscheForschungsgemeinschaft lud dann alle Antragsteller nach Bonn-Bad Godes-berg zu einer zweitagigen Begutachtung ein. Sie fand am 13./14. Marz 1997statt. Von den 32 Antragen wurden in diesem Verfahren 17 Antrage bewilligt,und zwar acht aus den Bereichen Biologie und Medizin und neun Antrage ausden Ingenieurwissenschaften und verwandten Gebieten. Die ursprungliche An-tragssumme betrug mehr als 11 MioDM, die bewilligte Antragssumme hieltsich dann mit etwas mehr als 6 MioDM fur zwei Jahre im ublichen Rahmender Schwerpunktfinanzierung.

Bereits Mitte des Jahres 1998 begann die Diskussion uber die weitere Bean-tragung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft lud mit einem Schreiben vom22. September 1998 nahezu sechzig Wissenschaftler ein, Neu- oder Fortset-zungsantrage fur den Schwerpunkt zu stellen. Es gingen 26 Antrage mit einerGesamtsumme von 9,3 MioDM ein, die am 3./4. Februar 1999 in Munchen imRahmen eines Berichtskolloquiums begutachtet wurden. Fur das dritte undvierte Jahr wurden dieses Mal 18 Antrage bewilligt, und zwar jeweils neunin den Bereichen Biologie und Ingenieurwissenschaften. Die bewilligte Summefur wiederum zwei Jahre betrug 6,7MioDM.

Die Diskussion uber die dritte Antragsphase begann Mitte 2000. Sie wurdewahrend des Berichtskolloquiums in Koln am 26./27. September 2000 vertieft.Die Deutsche Forschungsgemeinschaft forderte dann potentielle Teilnehmerauf, Neu- oder Fortsetzungsantrage fur die letzte Phase zu stellen und lud zurBegutachtung am 1./2. Februar 2001 nach Munchen ein. Wegen der letztenAntragsphase ging die Zahl der Antrage naturgemaß zuruck, und zwar auf15. Die Antragssumme belief sich auf 5,3 MioDM fur zwei Jahre. Die Gutach-

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XII Vorwort

ter bewilligten 12 der 15 beantragten Vorhaben mit einer Gesamtsumme von3,72 MioDM.

Der Schwerpunkt SPP1039 war in seinem Ablauf stets von einer großenZahl von Offentlichkeitsaktivitaten, sei es im streng wissenschaftlichen odermehr im allgemeinen Sinn, begleitet. Folgende offizielle Treffen aller Teilneh-mer, also solche Treffen, die teilweise auch von der DFG unterstutzt wurden,gab es:

13. Marz 1997, Munchen: Treffen in kleinem Kreis fur eine erste Diskussiondes SPP-Ablaufs und der SPP-Strukturierung

14. November 1997, Jena: Alle Teilnehmer, Vorstellung der Einzelprojekteund Abstimmung des weiteren Vorgehens

2. Dezember 1998, Karlsruhe: Alle Teilnehmer, Vorstellung der bisherigen Ar-beiten

3.-4. Februar 1999, Garching: Alle Teilnehmer, Vorstellung der Arbeiten, Zwi-schenberichte, Neu- bzw. Fortsetzungsantrage, Begutachtung durch dieDFG

26.-27. September 2000, Koln: Vorstellung der bisherigen Arbeiten, weiteresVorgehen bezuglich der Fortsetzungsantrage und der Begutachtung

1.-2. Februar 2001, Garching: alle Teilnehmer, Vorstellung der Arbeiten, Zwi-schenberichte, Neu- bzw. Fortsetzungsantrage, Begutachtung durch dieDFG

20.-21. Februar 2002, Jena: Alle Teilnehmer, Berichtskolloquium, Stand derArbeiten kurz vor Ende des Schwerpunktes

Zusatzlich zu diesen Treffen, die immer auch der organisatorischen undwissenschaftlichen Abstimmung und Kommunikation dienten, gab es vielfal-tige Veranstaltungen in Form von Tagungen, Seminaren, Kolloquien und immehr allgemeinen Offentlichkeitsbereich Ausstellungen auf Messen und Fern-sehauftritte, besonders im Zusammenhang mit der zweibeinigen Laufmaschi-ne JOHNNIE. Es fanden die folgenden Tagungen, Seminare oder Kolloquienstatt, die direkt oder indirekt im Zusammenhang mit dem Schwerpunkt ste-hen, und die von Teilnehmern des Schwerpunktes organisiert oder mitorgani-siert wurden, beispielsweise als Organisator, Vorsitzender oder Vortragender:

• EUROMECH-Kolloquium”Biology and Technology of Walking“, Mun-

chen, March 23-25, 1998, chair and co-chair Pfeiffer and Cruse• CISM-Course No. 375, “Human and Machine Locomotion” (Eds. Morecki,

Waldron), 8.-12. Juli 1996 in Udine, Italy, Lectures on “Theory and Prac-tice of Machine Walking” (Pfeiffer)

• CISM-Course No. 467, “Walking: Biological and Technical Aspects”, (Eds.Pfeiffer, Zielinska), 8.-12. September 2003 in Udine, Italy, chairman andlecturer Pfeiffer, (“Technological Aspects of Walking”)

• ZIF - Colloquium on “Walking Machines – Biological and Artificial Sys-tems”, 4.-5. Juli 2003 Bielefeld, Chairmen Cruse, Pfeiffer

• Interdisciplinary College IK 2004, Gunne, Body and Motion 5.-12. Marz2004, Chair: Jaeger, Cruse

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Vorwort XIII

• Motion Systems 1997 Conference of the Innovationcollege “Motion Sys-tems”, Organizer: Blickhan

• III. GTTB Workshop, 1997, Organizer: Blickhan;• Motion Systems 2001, Conference of the Innovationcollege “Motion Sys-

tems”, Organizer: Blickhan• VIth World Congress of Biomechanics, 2002, Calgary, Canada, Symposion

on Self-Stability 1, 2: Organizer: Blickhan• Workshop

”AutonomousWalking 98“, Fraunhofer IFF, Magdeburg, 25. Ju-

ni 1998, Chairman Schmucker• Plenary Lectures (Prof. Pfeiffer) bei folgenden Tagungen:

– VDI/VDE Congress”Humanoids 2003“ 1.-3. Oktober 2003 in Karlsru-

he, “Walking Machines – From Biology to Technology”– CLAWAR 2003, Climbing and Walking Robots, 17.-19. September

2003, Catania, Italy, “Humanoid Robots”– IFAC-Workshop on “Modelling and Analysis of Logic Controlled Dy-

namic Systems”, July 30-August 1, 2003, Irkutsk, Russia, “The Logicof Walking Machine Control”

– Victor Kaplan Lecture, 21. April 2004, Wien, “Laufende Roboter”• Invited Lectures (Prof. Cruse) bei folgenden Tagungen:

– NATO RTO AVT Meeting, Ankara 2000, “Control of hexapod walking- a decentralised solution based on biological data”.

– NAISO, Information Science Innovations, Dubai 2001. Control of six-legged walking in unpredictable environment – biologically inspired so-lutions.

– CLAWAR 2001, Climbing and Walking Robots, September 2001, Karls-ruhe, Control of hexapod walking – a decentralized solution based onbiological data

– AMAM 2003, Adaptive Motion of Animals and Machines, 4.-8. Marz2003, Kyoto, Japan, Control of hexapod walking in biological systems

– ISR, Insect Sensors and Robotics, Brisbane, Australien, 23.-26. August2004, “Stick insects and other walking machines: Control of hexapodwalking using a decentralized architecture”.

• Plenary Lectures (Prof. Blickhan) bei folgenden Tagungen:– 44th ISC-1999, Ilmenau: “Bionics of running”.– AMAM 2000, Montreal: “Robust behaviour of the human leg”– SEB 2001, Canterbury “The spider’s jump: Optimum strategies.”– dvs–Schwerpunkt Biomechanik 2001, Konstanz:

”Robustes Laufen: Bio-

mechanische Grundlagenforschung fur Biologie, Robotik und Sport“– 3rd ICFSR, 2001, Helsinki: “Adaptivity and robustness of locomotion

in animals and humans.”• Invited Lectures (Prof. Blickhan) bei folgenden Tagungen:

– ICCPB 1995, Birmingham, UK:”Dynamics of the spider leg.“

– Gastvortrag Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 2002:”Motion

Systems“

Page 14: Autonomes Laufen

XIV Vorwort

– Vortragsreihe”Bionik“ 2002, Urania, Graz, Osterreich, “Bewegungsab-

laufe – Vom Tier zum Roboter.”– APS Symposion: The influence of comparative physiology on enginee-

ring, neuromuscular biological inspiration toward the design of artificialmuscle and robots. 2002, San Diego, USA, “Facilitating Control usingIntelligent Mechanics in Animals and Machines”

– IK, Gunne, Body and Motion, 2004:”Muscle, Motion, and Self-Stability

• Lectures (Prof. Blickhan) bei folgenden Tagungen:– IWMC, Bielefeld, 1997

”Jumping in spiders and humans.“

– Euromech 375, Munchen, 1998.”Elastic mechanisms in fast legged lo-

comotion.“– IARP Workshop Biologically motivated robots, Jena,1999,: “From spi-

ders to micromachines.”– XIIIth CISB, Zurich, 2001, “The design of the muscle skeletal system

and robustness of locomotion.”– 6thICVM, Jena, 2001, “Mechanical design and stability of locomotion.”– DZG, 2002, Halle: “Selfstability and Robustness of Locomotion.“– VIth World Congress of Biomechanics, Calgary, Canada, 2002: “Leg

design and jumping in spiders.”– ZIF – Colloq. Walking Machines – Biological and Artificial Systems,

2003 Bielefeld, “Self-Stability: From Global Strategies to Local Proper-ties”

• Lectures (Dr. Gunther) bei folgenden Tagungen:– Workshop Autonomes Laufen, Karlsruhe, 1998 “Computersimulation

of human gait in two dimensions.”– SEB, 1999: “Adjustment of knee- and ankle stiffness to running and

jumping.“– IWR-Workshop Biomechanics meets robotics, Heidelberg, 1999 “Wal-

king – an attempt to minimize control effort.”• Lectures (Dr. Karner) bei folgenden Tagungen:

– DZG, 1999: “The mechanism of hydraulic pressure production in Pera-nia nasula Schwendinger, 1989 (Aranea, Tetrablemmidae)”

– SEB, 1999: “Perturbing single legs of running cockroaches (Blaberusdiscoidalis (Serville)).”

• Lectures (Dr. Petkun) bei folgenden Tagungen:– Motion Systems, Jena 1997: “Designing a diminutive force plate.”

• Lectures (Prof. Buschges) bei folgenden Tagungen:– 6th International Congress for Neuroethology, Bonn, 27.7.-3.8.2001,

“Mechanisms of sensory influences in intra- and interjoint control oflocomotor patterns in the insect limb”

– East Coast Nerve Net Meeting, Woodshole/MA, 21.3.-23.3.2003, “Cen-tral Pattern Generators and the Control of Multi-jointed Limbs in Lo-comotion”

Page 15: Autonomes Laufen

Vorwort XV

– Canadian Physiological Society Meeting, Kelowna, BC, Canada, 28.1.-1.2.2004, “Pattern Generators and the Control of Multi-jointed Limbsin Locomotion”

– 7th International Congress for Neuroethology, Nyborg, Danemark, 8.8.-13.8.2004, “Pattern Generators and the Control of Multi-jointed Limbsin Locomotion”

• Lecture (Dipl. Biol. O. Ludwig) bei folgender Tagung:– Conference on motor control 1999, St. Constantine, Varna, Bulgaria:

“Human Walking Stability and Reaction to Disturbances”• Vortrage (Prof.Schiehlen) bei folgenden Tagungen:

– 11th ROMANSY, Symposium on Theory and Practice of Robots andManipulators, 1.-4. Juli 1996, Udine, Italien, “On direct-search optimi-zation of biped walking”

– UNIVERSITY OF CAPE TOWN, 9. September 1999, Kapstadt, Sud-afrika, “Multibody dynamics with some applications to biomechanics”

– 18th ASME Biennial Conf. Mech. Vibr. Noise, 9.-12. September 2001,Pittsburgh, USA,

”Power demand of actively controlled multibody sys-

tems“– 14th ROMANSY, Symposium on Theory and Practice of Robots and

Manipulators, 1.-4. Juli 2002, Udine, Italien, “Inverse dynamics powersaving control of walking machines”

– WCCM V, 5th World Congress on Computational Mechanics, 7. – 12.Juli 2002, Wien, Osterreich, “Biped walking machines: a challenge todynamics and mechatronics”

Mit den realisierten Laufmaschinen wurden eine ganze Reihe von Aus-stellungen und Fernsehveranstaltungen durchgefuhrt. Sie sind im Folgendenaufgefuhrt:

• Premiere: GEO-TV, 24.03.1998 (TARRY)• Neue Magdeburger Experimente, Magdeburg, April 1998 (KATHARINA)• Wissenschaftliche Pressekonferenz, Bonn, 15. Dezember 1998 (KATHARI-

NA)• Knoff-hoff Show im Januar 1999 (KATHARINA)• Sonderausstellung

”Zukunft Leben“ im Deutschen Museum anlasslich des

50jarigen Jubilaums der Fraunhofer Gesellschaft, Munchen, 27. Marz bis30. April 1999 (KATHARINA)

• IARP Workshop”Biologically Motivated Service Robotics“, Jena, 21.-23.

Juni 1999 (KATHARINA)• Tag der offener Tur an der Otto-von-Guericke Universitat Magdeburg,

Januar und September 2001 (KATHARINA)• Hannover Messe 2001 (JOHNNIE)• CLAWAR 2001, Karlsruhe, September 24.-26.9. 2001 (JOHNNIE)• Sonderausstellung

”Computer-Gehirn“ des Heinz Nixdorf Museumsforum

Paderborn (JOHNNIE, TARRY)

Page 16: Autonomes Laufen

XVI Vorwort

•”Sensomotorik bei Mensch und Maschine“, Residenz Munchen, 22.11.2002

(JOHNNIE)• Hannover Messe 2003 (JOHNNIE)•

”Walking Machines, Biological and Artificial Systems“, ZIF Bielefeld, 4.-5.Juli 2003 (JOHNNIE)

• Knoff-hoff Show, Munchen, 2.10.2003 (JOHNNIE)• Eroffnung der INI-TUM (Aninstitut Audi/TUM) in Ingolstadt, 30.10.2003

(JOHNNIE)• DFG-Wissenschaftssommer Stuttgart, 25. September bis 1. Oktober 2004

(JOHNNIE)

4 Dank

Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und unseren Gutachter-Kollegen seifur die großzugige Unterstutzung uber insgesamt sechs Jahre sehr herzlichgedankt. Die Finanzierung von rund 17 MioDM hat uns allen wirkungsvollgeholfen, vielen neuen Ideen nachzugehen und dabei Vieles erfolgreich umzu-setzen. Unser Dank gilt dabei besonders Herrn Dr.-Ing. Jurgen Hoefeld, deruber die Jahre hinweg und immer mit sehr viel Verstandnis und vor allemauch mit der haufig notwendigen Geduld unseren Schwerpunkt begleitet hat.Gedankt sei aber auch allen Teilnehmern, die mit viel Engagement und mitvielen uberzeugenden Konzepten diesen Schwerpunkt zum Erfolg fuhrten.

Einem glucklichen Umstand verdanken wir die Umsetzung der Ergebnissedes Schwerpunktes in einen Film, der von Frau Kerstin Hoppenhaus an derFilmakademie Ludwigsburg als Diplomprojekt erstellt wurde. Die Direkto-rin des DFG-Bereiches Presse- und Offentlichkeitsarbeit, Frau Dr. Eva-MariaStreier, hat diese DVD-Produktion spontan unterstutzt. Auch dafur unserenherzlichen Dank, der im Ubrigen auch fur vielfaltige Hilfen bei anderen Of-fentlichkeitsbemuhungen gilt.

Schließlich mochten wir dem jetzigen Leiter des Lehrstuhls fur Angewand-te Mechanik, Herrn Professor Dr.-Ing.habil. Heinz Ulbrich, fur die Moglichkeitdanken, dass die Arbeiten fur den SPP 1039 ohne Probleme uber den Ruhe-standszeitpunkt von Prof. Pfeiffer hinaus zu Ende gefuhrt werden konnten.Besonders gilt das fur den Einsatz von Herrn Dipl.-Ing. Sebastian Lohmeier,ohne dessen redaktionelle Arbeiten und den damit verbundenen Umsetzungenam Rechner der vorliegende Band in dieser Form nicht moglich gewesen ware.

Garching, Bielefeld, Dezember 2004

Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing.E.h. Friedrich Pfeiffer, KoordinatorProf. Dr.rer.nat. Holk Cruse, stellvertretender Koordinator

Page 17: Autonomes Laufen

Inhaltsverzeichnis

Teil I Grundlagen

1 Vom Kriechen zum Laufen: Evolution des Laufens mitGenetischer Programmierung auf beliebigen MorphologienWolfgang Banzhaf, Jens Ziegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien undMechanismenReinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner . . . . 19

3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zurHindernisdetektion und Steuerung von gezieltenGreifbewegungen bei InsektenVolker Durr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4 Periphere Kontrolle sensorischer Signalflusse:Datenreduktion und -selektionHarald Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Teil II Zweibeiniges Gehen

5 Energieabsorption, Energiespeicherung und Arbeit beischneller Lokomotion uber unebenes TerrainReinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

6 Dynamik und Anpassungsvorgange bei der Laufkoordinationdes MenschenWerner Nachtigall, Bernhard Mohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Page 18: Autonomes Laufen

XVIII Inhaltsverzeichnis

7 Dreidimensionale biomechanische Modellierung und dieEntwicklung eines Reglers zur Simulation zweibeinigenGehensHanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

8 Entwurf und Realisierung einer zweibeinigen LaufmaschineFriedrich Pfeiffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

9 Schwingungstilgung und Stoßminderung bei zweibeinigenLaufmaschinenWerner Schiehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

10 Perzeptionsbasiertes humanoides GehenGunther Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Teil III Vierbeiniges Gehen

11 Rechnerarchitektur, Sensorik und adaptive Steuerungeiner vierbeinigen Laufmaschine mit dynamisch stabilemGangRudiger Dillmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

12 Autonomes hydraulisch angetriebenes SchreitfahrwerkALDUROManfred Hiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

13 Kinematisches Modell und Dynamiksimulationvierbeinigen Laufens von SaugetierenMartin S. Fischer, Hartmut Witte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

14 Mechanische Modellbildung quadrupeder LokomotionManfred Hiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Teil IV Sechsbeiniges Gehen

15 Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung beiEinzelbeinbewegungen von InsektenAnsgar Buschges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

16 Hexapodes Laufen, von der Biologie zur Simulation undzuruckHolk Cruse, Josef Schmitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

17 Neuronale Bewegungskoordination und -steuerung furautonome LaufmaschinenMartin Frik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Page 19: Autonomes Laufen

Inhaltsverzeichnis XIX

18 Multisensorielle Verfahren zur Bewegungssteuerungsechsbeiniger SchreitroboterUlrich Schmucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Page 20: Autonomes Laufen

Autoren

Prof. Dr. Wolfgang BanzhafUniversitat DortmundFachbereich InformatikLehrstuhl fur Systemananlyse

Prof. Dr. Reinhard BlickhanFriedrich Schiller Universitat JenaFakultat fur Sozial- und Verhaltens-wissenschaftenLehrstuhl fur Bewegungswissenschaft

Prof. Dr. Ansgar BuschgesUniversitat zu KolnZoologisches InstitutLehrstuhl II/Tierphysiologie

Prof. Dr. Holk CruseUniversitat BielefeldFakultat fur BiologieBiologische Kybernetik/TheoretischeBiologie

Prof. Dr. Rudiger DillmannUniversitat KarlsruheFakultat fur InformatikInstitut fur Rechnerentwurf undFehlertoleranz

Dr. Volker DurrUniversitat BielefeldFakultat fur BiologieBiologische Kybernetik und Theore-tische Biologie

Prof. Dr. Martin S. FischerFriedrich-Schiller-Universitat JenaInstitut fur Spezielle Zoologie undEvolutionsbiologie mit Phyletischem-Museum

Prof. Dr. Martin FrikGerhard-Mercator-UniversitatDuisburgFakultat fur IngenieurwissenschaftenLehrstuhl fur Technische Mechanik

Prof. Dr. Dr. h.c. ManfredHillerUniversitat Duisburg-EssenInstitut fur Mechatronik undSystemdynamikLehrstuhl fur Mechatronik

Prof. Dr. Bernhard MohlUniversitat des Saarlandes, Saar-bruckenFB 8 BiologieFR 8.4 Zoologie

Prof. Dr. Werner NachtigallUniversitat des Saarlandes, Saar-bruckenFB 8 BiologieFR 8.4 Zoologie

Page 21: Autonomes Laufen

XXII Autoren

Dr. Sergei PetkunFriedrich Schiller Universitat JenaFakultat fur Sozial- und Verhaltens-wissenschaftenLehrstuhl fur Bewegungswissenschaft

Prof. Dr. Dr. E.h. FriedrichPfeifferTechnische Universitat MunchenFakultat fur MaschinenwesenLehrstuhl fur Angewandte Mechanik

Prof. Dr. Hanns RuderUniversitat TubingenInstitut fur Astronomie undAstrophysik,

Prof. Dr. Prof. E.h. Dr. h.c.Werner SchiehlenUniversitat StuttgartInstitut B fur Mechanik

Prof. Dr. Dr. E.h. GuntherSchmidtTechnische Universitat MunchenFakultat fur Elektrotechnik undInformationstechnikLehrstuhl fur Steuerungs- undRegelungstechnik

Prof. Dr. Josef SchmitzUniversitat BielefeldFakultat fur BiologieBiologische Kybernetik/TheoretischeBiologie

Dr. Ulrich SchmuckerFraunhofer-Institut fur Fabrikbe-trieb und -automatisierung IFF,Magdeburg

Prof. Dr. Hartmut WitteTechnische Universitat IlmenauFakultat fur MaschinenbauFachgebiet Biomechatronik

Prof. Dr. Harald WolfUniversitat UlmAbteilung Neurobiologie

Dr. Jens ZieglerUniversitat DortmundFachbereich InformatikLehrstuhl fur Systemananlyse

Page 22: Autonomes Laufen

Teil I

Grundlagen

Page 23: Autonomes Laufen

1

Vom Kriechen zum Laufen: Evolution des

Laufens mit Genetischer Programmierung auf

beliebigen Morphologien

Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

Lehrstuhl fur Systemananlyse, Universitat Dortmund

1.1 Zusammenfassung

Aus welchen Gebieten auch die Problemstellungen entstammen, die zu Ent-wurf und Konstruktion eines Laufroboters fuhren, eines muss dieser Roboterimmer beherrschen: die stabile Fortbewegung mit Hilfe seiner Beine. Die Im-plementierung eines Steuerungsprogramms fur Laufroboter ist aufgrund derengen Verzahnung von Struktur und Funktion der einzelnen Beine und Gliedereines Laufroboters eine sehr komplexe Aufgabe. Hinzu kommt, dass bedingtdurch die unterschiedlichen Roboterarchitekturen, die sich in der Anzahl derBeine, der Anzahl der Gelenke pro Bein, in den geometrischen Abmessungenund Massen und vielen weiteren Details unterscheiden, keine kanonische Formfur den Entwurf einer Steuerung fur Laufroboter existiert. Eine Moglichkeitzur Umgehung dieses Problems besteht darin, die Kontrollprogramme nichtmanuell zu implementieren, sondern Verfahren zu entwickeln, die automa-tisch fur beliebige Roboterarchtitekturen optimierte Laufprogramme generie-ren. Fur den Fall der Evolution von Laufrobotersteuerungen wird die Gute derLosungen bestimmt, indem die in den Individuen kodierte Laufrobotersteue-rung ausgefuhrt und die Qualitat des Programms ermittelt wird. EvolutionareAlgorithmen sind bekannt fur ihre Kreativitat bei komplexen Problemstellun-gen und haben sich vielfach bewahrt, indem sie Losungen generiert haben,deren Leistungsfahigkeit oft den manuell erstellten Losungsansatzen gleich-kam oder sie sogar ubetraf.

Die Evolution von Laufrobotersteuerungen mit Genetischer Programmie-rung (GP) wurde in diesem Projekt anhand unterschiedlicher Roboterarchi-tekturen sowohl in der Simulation als auch mit realen Robotern untersucht.Bedingt durch die lang andauernden Auswertungen von Laufprogrammen inSimulation und Realitat wurden die Methoden der Evolution - Evaluation, Se-lektion und Variation - zusatzlich einer grundlichen Analyse unterzogen, umden evolutionaren Prozess zur automatischen Generierung von optimiertenLaufrobotersteuerungen moglichst zu beschleunigen.

Page 24: Autonomes Laufen

4 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

Gegenstand der Analyse waren außerdem die Moglichkeiten zur Paralleli-sierung des Algorithmus, zur Einsparung von Rechenzeit bei der Auswertungvon Laufprogrammen, zur Optimierung von Parametern des evolutionarenProzesses und zur Beschleunigung der Evolution mit Hilfe von Modellen derFitnessfunktion.

Laufprogramme fur eine Vielfalt von Roboterformen in der Simulationkonnten erfolgreich evolviert werden. Desweiteren wurden fur einen sowohlreal als auch als Computermodell existierenden humanoiden Roboter Laufpro-gramme evolviert. Hierbei wurde das Konzept einer zweiphasigen Evolutionin Simulation und Realitat erfolgreich angewendet. Experimente mit vierbei-nigen Laufrobotern wurden ebenfalls erfolgreich durchgefuhrt. Die Resultateder Experimente unter Einbeziehung der interaktiven Evolution und der Mo-dellierung der Fitnessfunktion zeigten eine deutliche Verbesserung gegenuberdem Standardalgorithmus.

1.2 Arbeitsbericht

Der Arbeitsbericht stellt den Stand der Arbeiten zur Evolution von Laufro-botersteuerungen mit Genetischer Programmierung zum Zeitpunkt der Been-digung des Projektes dar.

1.2.1 Ausgangslage

Bedingt durch die langwierigen, sowohl personal- als auch materialintensivenEvolutionsexperimente mit realen Robotern hatte sich zu Beginn der letztenForderperiode ein zweigleisiges Vorgehen herauskristallisiert: einerseits sollteder Einsatz von virtuellen Robotern in einer physikalischen Simulation Evolu-tionsexperimente leichter durchfuhrbar machen. Auf der anderen Seite solltendie bereits begonnenen Arbeiten an der Entwicklung eines Miniaturhuma-noiden weitergefuhrt werden, um eine Plattform fur Experimente mit realenRobotern zu schaffen.

Weiterhin sollten verstarkt strukturierte Roboter Gegenstand von Expe-rimenten werden, nachdem in der vorherigen Forderperiode hauptsachlichdie Evolution der Fortbewegungsmuster unstrukturierter Roboter untersuchtwurde. Bereits in der ersten Forderperiode vielversprechende Ansatze zur Ver-besserung des Konvergenzverhaltens evolutionarer Algorithmen sollten eben-falls weiter verfolgt werden.

1.2.2 Beschreibung der durchgefuhrten Arbeiten

Entsprechend der Ausgangslage wurden Arbeiten in den Bereichen Dynamik-simulation, methodische Untersuchungen zum Konvergenzverhalten evolutio-narer Algorithmen sowie zur Evolution mit realen Robotern durchgefuhrt.

Page 25: Autonomes Laufen

1 Vom Kriechen zum Laufen 5

Der Einsatz der Dynamiksimulation

Entsprechend den im Antrag formulierten Zielen wurde der Einsatz simulier-ter Laufroboter systematisch weiterverfolgt. Das zu diesem Zweck entwickelteRobotersimulationssystem SIGEL1 besteht aus drei wesentlichen Bestandtei-len (siehe Abb. 1.1). Uber eine Benutzeroberflache wird das System gesteuertund parametrisiert. Die Roboter und ihre Bewegungen werden dort visuali-siert. Das integrierte GP-System ist fur die Durchfuhrung von evolutionarenExperimenten zustandig. Der Roboter wird gemaß dem in einem Interpreterausgefuhrten GP-Individuum (dem Steuerungsprogramm) in der Dynamiksi-mulation bewegt. Im GP-Modul wird die Evolution von Kontrollprogrammen

Visualisierung

Dynamiksimulation

GP−System

MorphologieGP−Parameter

FitnessfunktionSimulationsparameter

Fitness

MorphologieProgrammcode

Simulationsparameter

Position

GeschwindigkeitOrientierung

MorphologieProgrammcode

Simulationsparameter

Position

Geschwindigkeit

Orientierung

Abb. 1.1. Der Aufbau des Robotersimulationssystems SIGEL.

fur einen ausgewahlten Roboter durchgefuhrt. Durch die Teilkorper und derenrelative Bewegungsmoglichkeiten (die Gelenke des Roboters), die Dichte dermodellierten Materialien und deren Eigenschaften (z.B. Reibkoeffizienten), so-wie die initialen Positionen, Orientierungen und Geschwindigkeiten wird derRoboter vollstandig beschrieben und somit zu einem Parameter des Evolutio-nare Algorithmus reduziert.

Die Fitness eines Kontrollprogrammes wird berechnet, indem es den Ro-boter in der Dynamiksimulation bewegt. Diese Bewegungen werden anhandvon bestimmten im vorhinein zu definierenden Kriterien entweder manuelloder automatisch bewertet, was eine Selektion der qualitativ besten Kontroll-programme durch die Evolution erlaubt. Alle Parameter des Roboters, derDynamiksimulation und des GP-Systems konnen in SIGEL zur Laufzeit vonExperimenten verandert werden. Die Dynamiksimulation ist das Kernstuckdes SIGEL-Systems. Ein Roboter wird aktiv bewegt, indem an den definier-ten Gelenken Drehmomente aufgebracht werden. Wo (in welchem Motor) und

1 Das Projekt SIGEL ist ein Open-Source-Projekt und unter der URL http://

sourceforge.net/projects/sigel im Internet fur jeden abrufbar.

Page 26: Autonomes Laufen

6 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

in welchem Ausmaß die Drehmomente aufgebracht werden, wird durch dieAusfuhrung eines GP-Individuums im Interpreter bestimmt. Durch den Reib-schluss einzelner Glieder des Roboters mit dem Boden wird die dadurch ver-ursachte Vortriebskraft simuliert. Der Interpreter der Kontrollprogramme istdirekt mit der physikalischen Simulation verknupft, in der der Roboter, dieUmgebungsbeschreibung, die Reib-, Feder- und Dampferkoeffizienten sowiedie Programm- und deshalb zeitabhangigen Momente in den einzelnen Gelen-ken zusammen in ein System von Differentialgleichungen uberfuhrt werden,das das numerisch gelost wird.

Untersuchungen zur Konvergenzverbesserung

Die vielversprechenden Ansatze zur Verbesserung des Konvergenzverhaltensvon Evolutionaren Algorithmen (EA) sind in unterschiedlichen Bereichen wei-ter untersucht worden.

Parallelisierung und vorzeitiger Abbruch von Auswertungen

Die parallele Ausfuhrung von Auswertungen in einem Rechencluster und dervorzeitige Abbruch von Auswertungen bei Unterschreitung eines bestimmtenQualitatslevels sind in die Entwicklung des SIGEL Systems eingeflossen. EinGeschwindigkeitszuwachs von bis zu 900% konnte allein durch den vorzeitigenAbbruch von Auswertungen erreicht werden, die Geschwindigkeit der Evo-lution wird weiterhin durch parallele Bewertung der Laufprogramme nahezulinear zur Anzahl der eingesetzten Rechner erhoht.

Selbstadaptives Parametertuning

Ziel dieses Ansatzes ist es, die Zahl der Auswertungen zu reduzieren, indem Pa-rameter des EA in einer Weise modifiziert werden, die es erlaubt, im Verlaufeder Evolution einen zu jedem Zeitpunkt optimalen Fortschritt zum Optimumzu erzielen. Trotz der Tatsache, dass adaptive Methoden der Parametervaria-tion seit langerer Zeit in Genetischen Algorithmen (GA), Evolutionsstrategien(ES) und Genetischer Programmierung (GP) analysiert und verwendet wer-den, existieren nur wenige Arbeiten zu diesem Thema im Bereich GP. Es wur-de deshalb systematisch die Moglichkeit untersucht, mit Hilfe von adaptivenElementen die Zahl der Fitnessauswertungen in der Genetischen Programmie-rung soweit wie moglich zu reduzieren. Hierfur wurde ein neuer, erweiterterGP-Algorithmus getestet.

Verwendung eines Modells der Fitnessfunktion

Die hohe Anzahl von Fitnessauswertungen bei EA ist oft verbunden mit zu-satzlichen hohen Kosten und/oder hohem Zeitaufwand. Gerade deshalb ist

Page 27: Autonomes Laufen

1 Vom Kriechen zum Laufen 7

eine rechenzeit-effektive Approximation der originalen Fitnessfunktion wun-schenswert, d.h. die Bestimmung der Fitness eines Individuums mit einer Me-thode mit reduzierter Laufzeit. Dies ist besonders in den folgenden Fallen in-teressant: (i) wenn die Auswertung der Fitnessfunktion rechenzeitintensiv ist,(ii) wenn keine mathematische Fitnessfunktion definiert werden kann, oder(iii) wenn zusatzliche mechanische Apparate verwendet werden mussen. Eskonnte gezeigt werden, dass es moglich ist, eine laufzeitintensive Fitnessfunk-tion durch ein Modell zu ersetzen mit gleichbleibender Qualitat der evolviertenLosungen und gleichzeitig reduzierter Anzahl rechenzeitintensiver Auswertun-gen.

Reale Roboter

Fur die Experimente mit realen Robotern wurde zum einen der bereits in dervorherigen Forderperiode vorgestellte autonome humanoide Roboter Zorc

weiterentwickelt (siehe Abb. 1.5, rechts). Er hat ein Gewicht von ca. 2 kgin voll funktionsfahigem Zustand, d.h. mit Batterie und Prozessor, und eineHohe von ca. 40 cm. Uber eine serielle Schnittstelle konnen Laufprogrammeauf den Roboter uberspielt und dort ausgefuhrt werden. Die Gelenkwinkel dereinzelnen Servomotoren werden uber eine eigens hierfur entwickelte Elektro-nik abgefragt und an den analogen Ports zur Verfugung gestellt. Der Roboterbesitzt 9 Freiheitsgrade. Auf der anderen Seite wurden Experimente mit ei-nem kommerziellen vierbeinigen Laufroboter durchgefuhrt, dem SONY Aibo.Der Roboter besitzt 22 Freiheitsgrade, von denen 12 (je drei pro Bein) derFortbewegung dienen.

1.2.3 Darstellung der erzielten Ergebnisse

Die Resultate der in den drei bereits beschriebenen Gebieten durchgefuhrtenExperimente werden nun kurz prasentiert. Detaillierte Beschreibungen fin-den sich in den entsprechenden Publikationen, auf die an den entsprechendenStellen jeweils verwiesen wird.

Untersuchung von selbst-adaptiven Parametereinstellungen

Ziel dieses Ansatzes ist es, die Zahl der Auswertungen zu reduzieren, indem Pa-rameter des EA in einer Weise modifiziert werden, die es erlaubt, im Verlaufeder Evolution einen zu jedem Zeitpunkt optimalen Fortschritt zum Optimumzu erzielen. Zu diesen Parametern gehoren vor allem die Mutations- und Re-kombinationsrate. Es wurden zwei Methoden der Parameteranpassung an dendrei Testproblemen untersucht, die deterministische und die adaptive Variati-on. Die Parameter sind in allen Experimenten nach einer konstanten Anzahlvon Generationen variiert worden. Deterministische Veranderungen sind reinzeitabhangig, adaptive Variationen erfordern es, den Fortschritt innerhalb ei-nes bestimmten Zeitintervalls zu messen. Dies erfolgt hier global, d.h. es wird

Page 28: Autonomes Laufen

8 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

nicht nach einzelnen Operatoren getrennt gemessen. Die aktuellen Mutations-wahrscheinlichkeiten zum Zeitpunkt t fur die deterministische Variante lassensich nun nach Gleichung (1.1) bestimmen

m(t) = m0 · akm·tm , (1.1)

wobei m0 die Mutationswahrscheinlichkeit zu Beginn (t = 0) des Experimen-tes angibt. Die Große der Anderung wird durch am ∈ [0, 1] angegeben undkm ∈ {−1, 0, 1} beschreibt die Richtung der Anpassung. Die Wahrscheinlich-keit des Crossoveroperators berechnet sich analog zu Gleichung (1.1) durch

c(t) = c0 · akc·tc . (1.2)

Bei der deterministischen Strategie sind m(t) und c(t) nur monoton anderbar,wohingegen bei der adaptiven Strategie die Parameter nach Gleichung (1.3)auch nicht monoton verandert werden konnen.

m(t) = m0 · akm·(s(t)−f(t))m , (1.3)

wobei s(t) die Anzahl der Verbesserungen, f(t) die Anzahl der Verschlechte-rungen im beobachteten Intervall angibt. Die Crossoverwahrscheinlichkeit istanalog in Gleichung (1.4)

c(t) = c0 · ckm·(s(t)−f(t))m (1.4)

gegeben. Mutations- und Crossoverwahrscheinlichkeit sind auf das Intervall[0, 1] beschrankt.

Es ist bemerkenswert, dass keine Variante in allen Experimenten Uber-legenheit zeigt, bzw. dass auch keine Variante wegen durchgangig schlechterResultate ausgeschlossen werden kann [3]. Die stochastische Natur der Datenerschwert einen Vergleich zusatzlich, so dass schwache Auswirkungen (positiveoder negative) selbst mit Hilfe von statistischen Methoden nicht leicht zu iden-tifizieren sind. All dies kann als ein Hinweis dafur gesehen werden, dass Pa-rameteranpassungen wahrend der Evolution eine Leistungsverbesserung desAlgorithmus nicht garantieren und sogar Verschlechterungen auftreten kon-nen. Aus diesem Grund sind die untersuchten Strategien zur Anpassung derOperatorwahrscheinlichkeiten in den Hauptexperimenten des Projektes nichtweiter verfolgt werden.

Einsatz der Dynamiksimulation

Fur den Einsatz der Dynamiksimulation wurde das Tool SIGEL entwickeltund intensiv fur Experimente mit verschiedenen Roboterarchitekturen ver-wendet [1]. Zur Bestimmung der Gute von Laufprogrammen in SIGEL istes notwendig, eine entsprechende Fitnessfunktion anzugeben. Es hat sich alsgeeignet erwiesen, hierfur fur die Dauer der Simulation einen Korridor festzu-legen, innerhalb dessen sich ein ausgezeichnetes Roboterglied (in der Regel das

Page 29: Autonomes Laufen

1 Vom Kriechen zum Laufen 9

Torsoelement) bewegen darf. Verlasst das Element diesen Korridor, wird dieFitness auf Null gesetzt und die Simulation kann vorzeitig abgebrochen wer-den (siehe Abschnitt 1.2.2). Eine aufrechte Bewegung kann evolviert werden,indem der Korridor fur das Torsoelement in einer Mindesthohe hmin oberhalbdes Bodens definiert wird. Hierdurch wird ein Selektionsdruck zu Gunstenvon Individuen erzeugt, die eine aufrechte Bewegung des Roboters erzeugen2.Diese Fitnessfunktion ist formal definiert als

fitness =

{(x(tend)−x(t0))

tend−t0, fur hmin ≤ h(t) ≤ hmax mit t0 ≤ t < tend

0 sonst.

(1.5)

Mit dieser Fitnessfunktion, die schnelle Bewegungen uber weite Distanzen po-sitiv bewertet (unter der Voraussetzung, dass eine Mindesthohe eingehaltenwird), sind fur verschiedene Roboter (siehe Abb. 1.2) erfolgreich Bewegungs-programme evolviert worden. Es ist hierbei besonders hervorzuheben, dassweder die kinematischen Gegebenheiten des Roboters, noch irgendein anderesDetail des Robotermodells (wie beispielsweise Symmetrien oder die Anzahlder Freiheitsgrade pro Bein) im vorhinein extrahiert und dem System zurVerfugung gestellt wurden3.

Eine Problematik, die ebenfalls besonders untersucht wurde, ist die Fra-ge nach der Wiederverwendbarkeit bereits evolvierter Individuen. Ein Indivi-duum (oder eine Menge davon) kann dann als wiederverwendbar bezeichnetwerden, wenn der Evolutionsprozess durch die Aufnahme der Individuen be-schleunigt wird oder die Qualitat der besten Individuen signifikant besser ist.Die Frage nach der Wiederverwendbarkeit ist besonders wichtig, wenn ver-sucht werden soll, die Anzahl der Auswertungen bzw. die Gesamtlaufzeit derEvolution zu minimieren. Um diese Hypothese zu testen, wurde der vierbei-nige Roboter (Abb. 1.2) fur eine weitere Serie von Experimenten verwendet.Ein Bein des Roboters wurde versteift, d.h. die Gelenke dieses Beines sinddurch das Steuerungsprogramm nicht langer zu bewegen. Ein ansonsten un-vermeidlicher Totalausfall des Roboters kann nun vermieden werden, wenn esmoglich ist, mit einer zum Teil aus erfolgreichen Individuen fur die ursprung-liche Architektur bestehenden Population schnell neue, fur die modifizierteVersion des Roboters besser geeignete Laufprogramme zu evolvieren. In einerersten Serie dieses Versuches wurde hierfur ein komplett neues Evolutionsex-periment mit einer zufallig initialisierten Startpopulation durchgefuhrt, in derzweiten Serie waren 50% der Individuen der Startpopulation in einem fruhe-ren Experiment bereits erfolgreich evolviert worden. Die Neuevolution fuhrtezu einer deutlich anderen Fortbewegungsart, deren Rhythmus an Bewegungen

2 Ohne explizite Hohenangabe bewegen sich die Roboter ausschließlich kriechendfort.

3 Unter der URL http://ls11-www.cs.uni-dortmund.de/people/ziegler/

robotics.html sind im Internet Videos der fur die einzelnen Roboter evolviertenBewegungsablaufe verfugbar.

Page 30: Autonomes Laufen

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Generation

MaxMinDurchschn.

Abb. 1.2. Die verwendeten Roboter besitzen eine unterschiedliche Anzahl von Frei-heitsgraden: zwischen einem (erste Reihe links) und 18 (zweite Reihe rechts). Die da-zugehorigen Fitnessverlaufe geben die Geschwindigkeit der evolvierten Bewegungs-ablaufe der Roboter in m

san.

Page 31: Autonomes Laufen

1 Vom Kriechen zum Laufen 11

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50%-50%

Abb. 1.3. Links: Durchschnittliche Fitness und Standardfehler bei der Neuevolutionmit dem modifizierten Vierbeiner. Rechts: Durchschnittliche Fitness und Standard-fehler bei der Evolution mit dem modifizierten Vierbeiner und 50% zufalligen, 50%vorevolvierten Individuen.

von vierbeinigen Lebewesen erinnert. Die evolvierte Bewegung ist deutlich aufdie neue Struktur des Roboters abgestimmt, wohingegen die Individuen ausfruheren Experimenten hingegen merklichen Einfluss auf die resultierendenBewegungsablaufe haben: im zweiten Experiment ist die ruckartige, rutschen-de Bewegung fruherer Experimente zu erkennen. Interessanterweise war dasbeste Individuum dieser Serie allerdings um 30% schneller als das beste Indi-viduum bei der Neuevolution.

Hybride Evolution in Simulation und Realitat

Unter Umstanden ist es wunschenswert, die Gute von Laufprogrammen zubestimmen, indem sie auf einem realen Roboter ausgefuhrt werden. Bei Expe-rimenten mit realen Robotern tauchen allerdings mehrere Probleme auf. So istes schwierig, die Experimente automatisiert durchzufuhren. Hierfur notwendigist zusatzliches Equipment, das den Roboter nach einem Fall wieder aufrichtetund auch dafur sorgt, dass der Roboter das Experimentierfeld nicht verlasst.Das Problem, eine automatische Fitnessbewertung inklusive Bildverarbeitungetc. implementieren zu mussen wird umgangen, wenn stattdessen interaktivevolviert wird. Hierbei erfolgt die Bewertung der Fitness eines Individuumsmanuell durch einen Experimentator. Wird turnierbasierte Selektion verwen-det, entfallt die Angabe von numerischen Werten zur Beschreibung der Gutevon Individuen, die aufgrund der mangelnden Vergleichsmoglichkeiten zumBewertungszeitpunkt und aufgrund eines fehlenden absoluten Qualitatsmaß-stabes problematisch ist. Werden stattdessen die Individuen in Turnieren mit-einander verglichen, entscheidet nur der Unterschied zwischen

”schlechterem“

und”besserem“ Individuum. Dieser Unterschied ist fur einen menschlichen

Beobachter mit einer - naturlich subjektiven - Vorstellung von”gutem“ bzw.

”schlechtem“ Laufen leicht festzustellen, es ist allerdings schwierig, die ent-

sprechenden Bewertungskriterien mathematisch exakt zu formulieren Wennnur offline in der Simulation gelernt wird und die Ergebnisse anschließend auf

Page 32: Autonomes Laufen

12 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

Evaluation

Selektion

Variation PhaseI

Evaluation

Selektion

Variation PhaseII

Modell-Optimierung

EvolviertePopulation

Abb. 1.4. Schematische Darstellung der zwei Phasen der Evolution. In der Simulati-on evolvierte Programme werden als Startpopulation fur die zweite Phase verwendet.Ergebnisse der zweiten Phase konnen als Kalibrierung fur das Modell von Phase Iverwendet werden.

den Roboter ubetragen werden, muss ein entsprechender Aufwand fur die Er-stellung des Modells und fur die Dynamiksimulation getrieben werden. Kanndie Evolution von Laufrobotersteuerungen komplett auf dem realen Robotererfolgen (entweder vollstandig auf dem Roboter oder teils auf dem Roboter,teils auf einem angeschlossenen Rechner) und eine korrekte Fitnessbewertungist gewahrleistet, wird der Aufwand durch die Dauer und Anzahl der Ausfuh-rungen bestimmt. Es ensteht also immer das Dilemma, Zeit in eine exaktereSimulation zu investieren oder die gleiche Zeit fur die Evolution mit einemrealen Roboter aufzuwanden. Ein Ausweg besteht darin, beide Moglichkeitenzu verwenden. Diese hybride Methode (Abb. 1.4) lost das Problem, sehr exak-te Simulationen oder reale Roboter verwenden zu mussen, indem die Vorteilebeider Methoden vereint und die Nachteile weitestgehend vermieden werden.

Um diese Methode anwenden zu konnen, wurde ein Computermodell desrealen humanoiden Roboters Zorc fur das System SIGEL entwickelt unddie Evolution in einem ersten Schritt in der Simulation gestartet. In eineranschließenden Phase sollten dann das beste oder die besten Individuen aufdem realen Roboter ausgefuhrt werden. In Abb. 1.4 ist der Ablauf der Evo-lution schematisch dargestellt. Als eine geeignete Fitnessfunktion mit gutenGewichtungsfaktoren4 ws und wh ist schließlich die Funktion (1.6) gewahlt

4 Uber die Faktoren ws und wh wird der Einfluss der Geschwindigkeit bzw. derHaltung geregelt. Hohe ws-Werte fuhren beispielsweise zu schnellen Fallbewe-gungen, eine starke Gewichtung der aufrechten Haltung dagegen verhindert dieFortbewegung.

Page 33: Autonomes Laufen

1 Vom Kriechen zum Laufen 13

worden:

fitness(i) =ws ·xi(tend) − xi(t0)

tend − t0+ wh ·

1N+1

N ·h∑t=0

hi(t)

hsoll

, (1.6)

N = 200.000, ws = 100, wh = 1, h = 5 · 10−5

Durch die Simulationsschrittweite von h = 5 · 10−5 und die Simulationszeitvon 10s wird die Hohe des Roboters 200.000 Mal gemessen (N=200.000). Beiden Experimenten wird ebenfalls die Methode des vorzeitigen Abbruches derSimulation verwendet. Unterschreitet die Hohe des Roboters 66% der Sollhohehsoll, so wird die Simulation abgebrochen und die Fitness des Individuums miteiner angenommenen Hohe h(t) = 0 fur alle noch folgenden Zeitschritte bistend = 10s berechnet. Der Gesamtalgorithmus konnte durch den vorzeitigenAbbruch dieser Individuen um bis zu 900% beschleunigt werden.

Als Startpopulation fur die zweite Phase der Evolution wird eine Mischungaus den besten Individuen aus den Simulationsexperimenten zusammenge-stellt, zusatzlich werden noch Individuen in die Startpopulation eingefugt, dieein manuell erstelltes Programm enthalten. Dieses Programm bewegt die Mo-toren in einer Weise, dass Zorc aufrecht stehen bleibt, ohne sich zu bewegen.In Abbildung 1.5 ist die Position zu sehen, in der Zorc verharrt, nachdemdas Programm ausgefuhrt wurde. Deutlich sichtbar ist, dass sowohl der inSIGEL simulierte als auch der reale Roboter die gleiche Position einnehmen.Es wurde in beiden Fallen exakt das gleiche Programm ohne jegliche Ande-rung ausgefuhrt. Auch fur Phase zwei wurde wiederum SIGEL verwendet.

Abb. 1.5. Der humanoide Miniaturroboter Zorc im Robotersimulationssystem SI-

GEL und in der Realitat. Es wird auf beiden Robotern das identische Kontrollpro-gramm ausgefuhrt.

Es wurde eine spezielle Fitnessfunktion entwickelt, die es erlaubt, aus SIGEL

heraus einen externen Roboter zu steuern. Die auf dem realen Roboter aus-

Page 34: Autonomes Laufen

14 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

gefuhrten Programme werden manuell bewertet, wobei asthetische Eindruckeals Bewertungsgrundlage ausdrucklich erwunscht waren.

Ein Beispiel fur die Beeinflussung der Modellierung (Phase I) durch Er-gebnisse aus Phase II (Abb. 1.4) ist die Veranderung der Dauer einzelnerInstruktionen der GP-Programme. Der Mikrocontroller des realen Robotersist nur in der Lage, alle 10 ms einen neuen Stellwinkel fur die Servomotorendes Roboters zu senden, wohingegen in der Simulation eine wesentlich feinereAuflosung moglich ist, so dass fur eine korrekte Ubertragbarkeit der Program-me die Simulation an die realen Gegebenheiten angepasst werden muss.

Die Experimente haben gezeigt, dass es moglich ist, fur eine sehr kom-plexe Roboterarchitektur Laufprogramme zu evolvieren [4, 7]. Der verfolgtezweiphasige Ansatz vermeidet zeit- und kostenintensive Auswertungen vonLaufprogrammen auf dem realen Roboter, vielmehr werden in der Simulationevolvierte Programme an die tatsachlichen Gegebenheiten angepasst.

Evolution von Laufbewegungen mit realen Robotern

Als Plattform fur diese Experimente wurden SONY-Aibos gewahlt, frei er-haltliche vierbeinige Laufroboter. Fur die Fortbewegung der Roboter wurdeein parametrisierbarer Algorithmus auf Basis einer inversen Kinematik zurGenerierung von Laufmustern verwendet. Eine Gehbewegung wird hier rea-lisiert, indem die Fußspitzen der vier Beine des Roboters entlang einer furjedes Bein vordefinierten Trajektorie gefuhrt werden. Uber die verschiedens-ten Wertekombinationen der Parameter konnen unterschiedliche Laufmustererzeugt werden, die mit Hilfe eines GA automatisch optimiert wurden. Umdie Fitness eines Individuums wahrend der Evolution zu bestimmen, wird dieinverse Kinematik mit den Parametern eines Individuums berechnet und dasresultierende Laufmuster anschließend vom Roboter ausgefuhrt. Die Individu-uen werden paarweise manuell bewertet. Erfahrungen mit den Experimentenmit Zorc in Kapitel 1.2.3 haben fur diese Experimente zur Wahl der Turnier-selektion gefuhrt, die allein auf der Basis von Vergleichen funktioniert. Furdie Turnierselektion ist eine exakte Angabe der Fitness als numerischer Wertnicht notwendig, es reicht eine simple

”Programm A ist besser als Programm

B“ -Relation.Mit Hilfe dieser Methode konnten nach wenigen Generationen Parame-

terkombinationen fur den Laufalgorithmus evolviert werden, die eine hohereGeschwindigkeit erreichten, als die zuvor verwendete manuell eingestellte Pa-rameterkombination [2].

Einsatz von Ersatzzielfunktionen

Nicht nur die Dauer sondern auch die Anzahl der kostenintensiven Auswer-tungen wahrend der Evolution konnte erfolgreich reduziert werden. Die Ver-

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1 Vom Kriechen zum Laufen 15

gleiche, die fur das Erstellen einer Halbordnung5 der Population notwendigsind und die auf den Fitnesswerten der Laufprogramme basieren, werden hier-fur durch Klassifikationen ersetzt. Die Grundlage dieser Klassifikationen istallein die Struktur der Individuen, so dass die zeitaufwandige Bestimmungder Fitnesswerte eines Laufprogrammes entfallen kann. Die Entscheidungender Klassifizierer, die ebenfalls in einem evolutionaren Prozess erzeugt wer-den, basieren auf Resultaten fruherer Auswertungen, die als Trainingsmengeverwendet werden. Der Klassifizierer wird an die sich andernde Struktur derPopulation angepasst, indem die Trainingsmenge durch Auswertungen aktua-lisiert wird. Alle im Verlaufe der Evolution entstehenden Daten fur die Evo-lution eines Klassifizierers zu verwenden wirkt sich allerdings ungunstig aus,wie die Performance der entsprechenden Klassifizierer zeigte. Deutlich bes-sere Resultate (vor allem im Bereich der Fehlklassifikationen) erreichten dieKlassifizierer, die nur begrenzt Datensatze aus der jungsten Vergangenheit furdie Evolution erhielten. Evolutionslaufe, die diese Methode der Modellierungder Fitnessfunktion verwendeten, haben bei deutlich geringerer Anzahl vonAuswertungen Resultate mit gleichbleibender Qualitat gezeigt [5,6]. In einem

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

0 5 10 15 20 25 30 35

Generation

Fit

nes

s [c

m/s

]

MetaManuell

0.00%

10.00%

20.00%

30.00%

40.00%

50.00%

60.00%

70.00%

80.00%

90.00%

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Generation

Ein

spar

un

gen

Abb. 1.6. Links: Die Fitness des besten Individuums der Population bei manuellerund Meta-Modell-Evolution. Rechts: Prozentsatz der Klassifizierungen pro Genera-tion. Die Evolution mit Meta-Modell erreicht schnell bessere Fitnesswerte als diemanuelle Evolution ohne Meta-Modell.

Experiment (siehe Abb. 1.6) konnte gezeigt werden, dass die Einsparung anbenotigten Auswertungen mit dem realen Roboter groß ist. Pro Generationkonnten bis zu 70% der Auswertungen gegenuber der manuellen Evolutioneingespart werden. Von den 1750 Auswertungen, die insgesamt fur die Evo-lution von 35 Generationen benotigt werden, konnten 664 Auswertungen mitHilfe der Klassifikation durchgefuhrt werden, d.h. es wurden ca. 38% allerAuswertungen eingespart.

5 Die Halbordnung der Laufprogramme stellt die Grundlage fur den Selektionspro-zess dar.

Page 36: Autonomes Laufen

16 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

1.2.4 Ausblick auf kunftige Arbeiten

Eine der wichtigsten Fragestellungen in diesem Projekt war die nach den es-senziellen Kriterien, die ein erfolgreiches Programm erfullen muss, um uber-haupt ein Laufmuster zu erzeugen. Die Komplexitat des Laufvorganges in derBiologie und die ausgefeilte mechanische Struktur existierender Laufroboterlassen die Vermutung zu, dass nur durch einen ebenso komplexen Kriterienka-talog, der die Fitnessfunktion der Evolution von Laufprogrammen bildet, einekontrollierte, laufahnliche Fortbewegung erzielt werden kann. Wenn die Kom-plexitat einer naturlichen Bewegung (wobei

”naturlich“ an dieser Stelle ein

subjektiver Eindruck der Fortbewegungsmuster kunstlicher Apparate ist) abernur durch einen Katalog unterschiedlich gewichteter Kriterien zu beschreibenist, so wird dadurch eine potenzielle Methode fur zukunftige Untersuchungenaufgezeigt: Methoden der multikriteriellen Optimierung, angewendet auf dieEvolution von Laufrobotersteuerungen, stellen eine Moglichkeit dar, komple-xere Fortbewegungsmuster zu evolvieren. Ein erster Ansatz fur die Umsetzungdieser Methode kann die Anwendung abwechselnder Entscheidungskriterienbei den Vergleichen der Turnierselektion sein. Eine komplexe Fitnessfunktionkann so durch unterschiedlich haufige Verwendung der verschiedenen Kriteri-en realisiert werden. Die optimale Zusammensetzung der Fitnessfunktion kannebenfalls durch einen weiteren evolutionaren Prozess bestimmt werden.

Ob durch immer komplexere Fitnessfunktionen oder uber eine entsprechen-de Zusammensetzung und ausgewogene Gewichtung des Kriterienkatalogesauch immer komplexere Laufmuster generiert werden konnen ist ein weiterhinungelostes Problem. Der in diesem Projekt verfolgte Ansatz der

”ganzheitli-

chen“ Evolution von Laufroboterprogrammen, d.h. der Evolution des komplet-ten Programms zur koordinierten Bewegung der Beine eines Laufroboters ineinem Evolutionslauf, bedeutet zwangslaufig einen Verzicht auf vorhandenesProblemwissen. Einerseits ist dies beabsichtigt, um die Evolution moglichstwenig einzuschranken und einem breiteren Anwenderkreis die Benutzung desSystems zu erlauben, auf der anderen Seite hat dies zur Folge, dass moglicher-weise wertvolle Information nicht verwendet wird. Das Wissen uber die meistmodulare Struktur von Laufrobotern, deren Beine in der Regel kinematischidentisch sind, oder uber die symmetrische Struktur von stabilen Laufbewe-gungen kann zu einer beschleunigten Evolution oder zu verbesserten Lauf-bewegungen fuhren, wenn es in einer geeigneten Weise in den EvolutionarenAlgorithmus integriert werden kann.

Ein vielversprechender Ansatz fur zukunftige Arbeiten auf diesem Gebietist es, die Ubertragbarkeit von Laufprogrammen aus der Simulation auf realeRoboter ebenfalls als ein Fitnesskriterium zu betrachten. In einem - dann auf-wandigeren - kombinierten Prozess, bei dem die Fitness sowohl durch Kriterienzur Bewertung von Laufmustern als auch zur Bewertung der Ubertragbarkeitdefiniert wird, konnte die manuelle Anpassung des Modells an den realen Ro-boter ersetzt werden durch einen automatisierten Prozess.

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1 Vom Kriechen zum Laufen 17

1.2.5 Interdisziplinare Weiterentwicklung

Die Ergebnisse der in diesem Projekt durchgefuhrten Arbeiten lassen sichdirekt verknupfen mit wenigstens zwei weiteren Disziplinen:

Biologie

Mit Hilfe des entwickelten SIGEL-Systems konnen Struktur-Funktion-Bezie-hungen eingehend untersucht werden. Eine interessante Fragestellung ist zumBeispiel die Untersuchung der dreiteiligen Struktur (Fußgelenk, Kniegelenk,Huftgelenk) der Extremitaten von Saugetieren im Hinblick auf evolutionareVorteile, die sich eventuell durch vorteilhafte bio-mechanischen Eigenschaf-ten oder eine leichtere Evolvierbarkeit der Struktur begrunden lassen. Hierfurkonnen Bewegungsablaufe fiktiver Beingeometrien mit den Bewegungen tat-sachlich existierender Beine verglichen werden.

Ingenieurwissenschaften

Hier liegt die Verwendbarkeit der Ergebnisse bzw. der untersuchten Ansatzeim Vergleich von automatisch evolvierten Kontrollprogrammen mit manuellerstellten Regelungen von Laufrobotern. Das Simulationssystem SIGEL er-laubt es außerdem, bereits existierende Laufroboter zu simulieren, so dass ausden resultierenden Bewegungsablaufen Ruckschlusse uber eventuelle Schwach-stellen der Robotergeometrie oder besondere Schwierigkeiten der Roboter-steuerung gezogen werden konnen. Aufgrund von Zeitmangel in der Endpha-se des Projektes konnten geplante Untersuchungen mit Robotern aus anderenProjekten des Schwerpunkprogramms zu dieser Fragestellung nicht durchge-fuhrt werden.

Literaturverzeichnis

[1] Busch, J. ; Ziegler, J. ; Aue, C. ; Ross, A. ; Sawitzki, D. ; Banzhaf, Wolf-gang: Automatic Generation of Control Programs for Walking Robots UsingGenetic Programming. In: Foster, J. A. (Hrsg.) ; Lutton, E. (Hrsg.) ; Miller,J. (Hrsg.) ; Ryan, C. (Hrsg.) ; Tettamanzi, A. G. B. (Hrsg.): Proceedings ofthe 5th European Conference on Genetic Programming Bd. 2278, Springer, NewYork, 2002, S. 258–268

[2] Dahm, Ingo ; Ziegler, Jens: Using artificial neural networks to construct a meta-model for the evolution of gait patterns of four-legged walking robots. In: Bidaud,P. (Hrsg.) ; Amar, F. B. (Hrsg.): Proc. Fifth Int’l Conf. Climbing and WalkingRobots and the Support Technologies for Mobile Machines (CLAWAR 2002). BurySt. Edmunds, U.K. : Professional Engineering Publ., 2002. – ISBN 1–86058–380–6, S. 825–832

[3] Ziegler, J.: On the Influence of Adaptive Operator Probabilities in Genetic Pro-gramming / Technical Report Sys-03/02, Chair of Systems Analysis, Universityof Dortmund. 2002. – Forschungsbericht. ISSN 0941-4568

Page 38: Autonomes Laufen

18 Wolfgang Banzhaf und Jens Ziegler

[4] Ziegler, J. ; Wolff, K. ; Nordin, P. ; Banzhaf, W.: Constructing a SmallHumanoid Walking Robot as a Platform for the Genetic Evolution of Walking. In:Ruckert, U. (Hrsg.) ; Sitte, J. (Hrsg.) ; Witkowski, U. (Hrsg.): Proceedingsof the 1st International Workshop on Autonomous Minirobots for Reserch andEdutainmant (AMiRe), HNI Verlagsschriftenreihe, 2001, S. 51–59

[5] Ziegler, Jens ; Banzhaf, Wolfgang: Decreasing the number of evaluations inevolutionary algorithms by using a meta-model of the fitness function. In: Ryan,C. (Hrsg.) ; Soule, T. (Hrsg.) ; Keijzer, M. (Hrsg.) ; Tsang, E. (Hrsg.) ; Poli,R. (Hrsg.) ; Costa, E. (Hrsg.): Proc. Sixth European Conf. Genetic Programming(EuroGP’03) Bd. 2610. Berlin : Springer, 2003. – ISBN 3–540–00971–X, S. 264–275

[6] Ziegler, Jens ; Banzhaf, Wolfgang: You can judge a book by its cover –Evolution of gait controllers based on program code analysis. In: Muscato,G. (Hrsg.) ; Longo, D. (Hrsg.): Proc. Sixth Int’l Conf. Climbing and WalkingRobots and the Support Technologies (CLAWAR 2003). Bury St. Edmunds, U.K.: Professional Engineering Publ., 2003. – ISBN 1–86058–409–8, S. 205–212

[7] Ziegler, Jens ; Barnholt, Jan ; Busch, Jens ; Banzhaf, Wolfgang: Automaticevolution of control programs for a small humanoid walking robot. In: Bidaud,P. (Hrsg.) ; Amar, F. B. (Hrsg.): Proc. Fifth Int’l Conf. Climbing and WalkingRobots and the Support Technologies for Mobile Machines (CLAWAR 2002). BurySt. Edmunds, U.K. : Professional Engineering Publ., 2002. – ISBN 1–86058–380–6, S. 109–116

Page 39: Autonomes Laufen

2

Schnelle Bewegungen bei Arthropoden:

Strategien und Mechanismen

Reinhard Blickhan, Sergei Petkun,Tom Weihmann, Michael Karner

Lehrstuhl fur Bewegungswissenschaft, Friedrich Schiller Universitat, Jena

2.1 Zusammenfassung

2.1.1 Kinematik und Dynamik

Verschiedene Aspekte der Lokomotion araneomorpher Spinnen wurden kine-matisch, kinetisch und durch die Verwendung computergestutzter mathemati-scher Modelle untersucht. Als Versuchstiere dienten hauptsachlich die aus Mit-telamerika stammende Jagdspinne Cupiennius salei (KEYS.) aus den Zuchtenvon Prof. Dr. F.G. Barth und Prof. Dr. E.A. Seyfarth. Der Schwerpunkt unse-res Interesses lag vor allem auf den biomechanischen Charakteristika schnellerBewegungsformen. Die bisherigen Arbeiten zur Spinnenlokomotion umfass-ten lediglich langsame Laufe. Zudem finden sich in der spezifischen Literaturnur sehr wenige kinematische Untersuchungen an araneomorphen Spinnen,dem bedeutendsten Cheliceratentaxon. Die meisten Quellen bezogen sich aufSkorpione, Geißelskorpione und Vogelspinnen. Deren Bewegungsmodi unter-scheiden sich aber oft schon auf Grund anatomischer Gegebenheiten stark vonder Lokomotion der hier untersuchten Tiere. Kinetische Untersuchungen anvergleichsweise kleinen Spinnen fehlten vollig.

Im ersten Antragszeitraum wurden vor allem Sprunge untersucht. Dabeizeigte sich, dass C. salei je nach Situation sowohl zu vorbereiteten Sprun-gen als auch zu raschen unvorbereiteten Fluchtsprungen in der Lage ist. Beiden vorbereiteten Sprungen folgt der typischen Ausholbewegung eine defi-nierte Aktionsfolge der einzelnen Beinpaare, wobei die Kinematik auf großeAnteile des zweiten und das letzten Beinpaares an der Beschleunigung desSpinnenkorpers hinweisen. Die unvorbereiteten Sprunge zeichnen sich durcheine besonders hohe Variabilitat der Sprungrichtung aus, da diese Sprungeausschließlich der Feindvermeidung dienen.

C. salei diente ebenfalls bei den Sprintexperimenten als Versuchstier. Eszeigte sich, dass sich die Funktion der Beine mit zunehmender Geschwin-digkeit andert. Wahrend das Gewicht der Tiere bei langsamer Lokomotionhauptsachlich auf den hinteren Beinpaaren lastet, gewinnt der Beitrag des

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20 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

ersten Beinpaares mit wachsender Geschwindigkeit immer mehr an Bedeu-tung. Dynamische Messungen belegen, dass der Vortrieb bei schnellen Laufenhauptsachlich von den vorderen Beinpaaren geleistet wird, wohingegen diehinteren Beine dabei vor allem bremsen. Bei sehr langsamen Laufen sind dieRollen der einzelnen Beinpaare noch vertauscht.

Bei den Untersuchungen zu den hydraulischen Eigenschaften des Bewe-gungsapparates von C. salei stellte sich heraus, dass die Tiere die zur gleichzei-tigen Streckung aller Beine notigen Volumenverschiebung aufgrund des großenphysiologischen Querschnittes der prosomalen Druckpumpe sehr leicht und vorallem ohne große Relativbewegungen von Sternum und Tergum erzeugen kon-nen. Weshalb die wichtige bifunktionale, extrinsische Coxamuskulatur durchdie Druckerzeugung nicht bei ihren anderen Aufgaben behindert wird.

Anhand der sudostasiatischen Panzerspinne Perannia nasuta wurde derbei Spinnen sehr seltene Fall vollig chitinos versteifter Prothoraxpleuren un-tersucht. Da in einem solchen Fall das Modell der prothorakalen Druckpumpeoffensichtlich nicht greift, ist davon auszugehen, dass die Tiere die zur Bein-streckung notigen Hamolymphdrucke im Opisthosoma erzeugen.

Zwei Arten computergestutzter Modelle kamen zum Einsatz. Zum einenwurden die hydraulischen Mechanismen beim Sprung modelliert wobei wiruns an Vogelspinnen und C. salei orientierten, zum anderen wurden die Be-sonderheiten des bogenformigen Dreisegmentbeines, wie es gerade bei denSpinnen verwirklicht ist, untersucht. Dabei lag das Hauptaugenmerk auf denUnterschieden zum, im ubrigen Tierreich dominierenden, Z-formigen Dreiseg-mentbein.

Mit dem ersten Ansatz konnte gezeigt werden, dass die typische Beinstel-lung, die C. salei beim vorbereiteten Sprung zeigt, optimal an das Erreichengroßer Sprungweiten angepasst ist. Wie bei den realen Experimenten zeigtesich auch hier, dass aufgrund der hydraulischen Gegebenheiten im Spinnenbeinbei extremer Belastung (Sprunge sind wohl die extremsten Belastungen dieunter naturlichen Bedingungen im Spinnenbein auftreten) die Beinstreckungzuerst unter Beugung des schwacheren distalen Tibio-Metatarsal-Gelenkesverlauft. Dessen Streckung erfolgt erst, wenn das proximale Femoro-Patellar-Gelenk bereits weitgehend gestreckt ist. Die mit dem Modell vorhergesagtenAbsprunggeschwindigkeiten stimmen weitgehend mit den gemessenen Datenuberein. Also ist der hydraulische Streckmechanismus zumindest fur die Beinerelativ großer Spinne gesichert und in der Literatur sporadisch auftauchendeVermutungen uber elastische Streckmechanismen spielen fur diese Tiere ledig-lich eine untergeordnete Rolle. Bei der Variation der geometrischen Modellpa-rameter stellte sich außerdem heraus, dass die Geometrie der Beine der Vogel-spinnen als auch von C. salei nicht auf weite, sondern auf besonders schnelleSprunge angepasst sind. Dieser Punkt ist zur Interpretation der okologischenRelevanz des Spinnensprungs wichtig und legt in diesem Zusammenhang denSchluss nahe, dass er vor allem fur Flucht und Beutefang von Bedeutung ist.

Der zweite Ansatz zeigte, dass sich bogenformige Beine trotz ihrer ver-gleichsweise unokonomisch geringen Steifigkeit, stabiler als Z-formige Beine

Page 41: Autonomes Laufen

2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 21

verhalten. Deshalb lasst sich stabile Lokomotion auch mit eingeschrankterRegulation der Beinkonfiguration erreichen. Da zudem die fehlende Strecker-muskulatur besonders viel Raum fur Beuger-Muskeln lasst, eignet sich derBewegungsapparat der Spinnen besonders gut zum Beutegreifen und zu mehroder minder hangenden Fortbewegungsformen.

2.1.2 Ausblick und mogliche Anwendungen

Einige Einsichten konnten gewonnen werden, an vielen Stellen sind wir abervon einer fundierten Erkenntnis noch entfernt. Es bleibt eines unserer Ziele,Messungen der Gelenkmomente zu erzielen (inverse Dynamik mit ALADIN).Wir erhoffen uns dadurch besseren Aufschluss uber den Beitrag der Hydraulik.

Die Konzentration auf die Hauptgelenke verdeckt den Blick auf eine wahr-scheinliche Rolle der ubrigen Gelenke, vor allem des Coxagelenkes. Die ge-spreizte Beinhaltung fuhrt dort zu hohen Momenten und Vorversuche bele-gen auch Bewegungen in diesem Gelenk. Die Kopplung von Druckpumpe undBeinantrieb scheint zwar unkritisch zu sein, aber genau hierin konnten weiteregrundsatzliche Designgrenzen vergraben liegen. Auch eine detailliertere Un-tersuchung der Druckpumpe bzgl. Anatomie und Wirkung (Druckmessung)ist durchaus angezeigt.

Bei gleichem Bauplan (dorsale Drehachsen in den Hauptgelenken) zeich-nen sich Spinnentiere durch eine große Variabilitat in relativen Abmessungenund in absoluter Große aus. Welche Folgen haben die unterschiedlichen Ab-messungen fur die Bewegungsfahigkeit und das Verhalten? Kann der hydrau-lische Mechanismus uberhaupt noch bei Millimeter großen Tieren eingesetztwerden? Selbst der Großenunterschied innerhalb einer einzelnen Art ist be-trachtlich und auch der sexuelle Dimorphismus vieler Spinnen sollte zu un-terschiedlichen lokomotorischen Fahigkeiten fuhren und Konsequenzen fur dieokologische Nischung haben.

Die moglichen Anwendungen der Ergebnisse ergeben sich zwanglos ausder naturlichen Nutzung des Bewegungsapparates durch die Spinnen selbst.Sie laufen mit ihrem Apparat aus 8 anatomisch nahezu identischen, hydrau-lisch gestreckten Beinen sehr behande uber alle Arten von Oberflachen, wasdas System dazu pradestiniert, in Laufmaschinen umgesetzt zu werden. Auchdie sich als ausgesprochen stabil erweisende bogenformige Beinkonstruktionunterstutzt diese Ansicht. Außerdem greifen Spinnen ihre Beute sehr sicher.Erste Umsetzungen zeigen bereits die Eignung bionischer Adaptationen alsGreifwerkzeug. Das lasst auf hydraulisch bzw. pneumatisch gestreckte Hand-prothesen hoffen. Aber vielleicht sind Spinnen auch gute Vorbilder fur fluidischangetriebene Ultraminiaturmaschinen.

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22 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

2.2 Schnelle Lokomotion und hydraulischer Antrieb

2.2.1 Arthropoden als Vorbilder fur Laufmaschinen

Die Beschreibung der Kinematik und Dynamik der naturlichen Vorbilder derLaufmaschinen bilden den Referenzrahmen, an welchem die Leistungsfahigkeitder technischen Konstrukte gemessen wird.

Die Lokomotion von Arthropoden (Gliederfußern) - also von Insekten,Spinnen und Krabben - wird seit Beginn des letzten Jahrhunderts erforscht[15,23]. Grundsatzliches Interesse an Funktionsprinzipien, aber auch die Kon-struktion von Laufmaschinen nach biologischen Vorbildern, haben einen neu-en Forschungsschub ausgelost [13,30,34,41]. Aufgrund der besseren statischenStabilitat und der dadurch zur Verfugung stehenden langen Zeit zur Bewe-gung einzelner Beine wurden bisher bei den meisten Laufmaschinen sechsbei-nige, insektomorphe Konstruktionen bevorzugt. Fortschritte auf dem Gebietder Kontrollalgorithmen und der Auslegung der Antriebe ermoglichen aberzunehmend auch fur solche Maschinen immer hohere Geschwindigkeiten. Siestoßen also in Bereiche vor, in welchen dynamische Phasen und sogar Flugpha-sen relevant werden. Die Grundmechanismen der schnellen Lokomotion vonArthropoden ahneln uberraschenderweise denen großer Vertebraten [6]. Wah-rend die Grundmechanismen gleich sind, ist auf der Ebene der Beine aufgrundihrer Anzahl, Anordnung und der abweichenden Bewegungsmechanismen mitUnterschieden zu rechnen.

Detaillierte kinematische Untersuchungen zur schnellen Lokomotion vonArthropoden sind auch heute noch eher selten [11,20,40]. Fur schnelle Wende-reaktionen, Sprunge oder schnelle Fortbewegung auf unebenem Terrain fehl-ten Untersuchungen. Das Interesse an solchen Studien belegen dynamischeund kinematische Untersuchungen des Polypedal Labs unter der Leitung vonProf. Full an der University of California at Berkeley an Schaben [29]. Klas-sisch sind die Untersuchungen des Sprunges von Springspinnen von Parry undBrown [31]. In diesen Studien wurde die Kinematik aus wenigen Aufnahmengeschatzt. Naturlich gibt es Untersuchungen uber spezialisierte Springer wiezum Beispiel Heuschrecken. Diese sind allerdings schlechte Laufer. Die bishe-rigen arthropodenahnlichen Laufmaschinen wurden haufig Stabheuschreckennachempfunden (vgl. auch die entsprechenden Projekte des Schwerpunktpro-grammes). Stabheuschrecken sind extrem langsame Tiere und daher nicht alsVorbilder fur schnelles Laufen geeignet. Andere Insekten wie zum BeispielAmeisen konnen hier eher als typische Vertreter gelten.

Fur die Durchfuhrung von dynamischen Analysen ist die Messung der Re-aktionskrafte notwendig oder zumindest vorteilhaft. Aufbauend auf fruhenMessungen [3,5,10,12,21] wurden im Polypedal Lab in Berkeley systematischMessungen an Schaben durchgefuhrt [2, 16, 18]. Insbesondere Messungen ankleinsten Tieren (Ameisen etc.) fehlten und werden auch gegenwartig erst inAnsatzen (Full, Federle, pers. comm.) realisiert. Die Herstellung eines entspre-chenden Messgerates stoßt an die Grenzen der Messtechnik. Im Mikrobereich

Page 43: Autonomes Laufen

2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 23

haben spannungsoptische Ansatze kombiniert mit Bildverarbeitung zu erstenErgebnissen gefuhrt [18, 21]. Allerdings ist dieses Verfahren enorm aufwen-dig und bisher kein Weg in Sicht, wie es in den Mikrobereich transferiertwerden kann. Ohne brauchbare Kraftmessungen wird es vor allem bei vielbei-nigen Tieren schwierig bis unmoglich, die Belastung einzelner Beine sicher zurekonstruieren. Kraftregistrierungen dienen haufig als Maßstab fur die Quali-tat von Regelalgorithmen. Die haufig ruckende Fortbewegung von Roboterndruckt sich in entsprechenden Oszillationen der Reaktionskrafte aus.

Obgleich also die simultane Erfassung von Bewegung und Kraft wun-schenswert ist, war die Beschreibung allein der Bewegung hierbei nicht nurvon akademischem Interesse. Untersuchungen aus der Zusammenarbeit vonFull, Berkeley und Brooks, MIT (pers. comm.) haben ergeben, dass gerade dievom Tier ausgewahlten Bewegungsmuster eine besonders stabile und schnelleFortbewegung ermoglichen. Die Ursache des Vorteils dieser Muster war nichtverstanden, zumal die Antriebe der Beine nicht im Detail kopiert werden konn-ten. Denkbar war also, dass diese Bewegungsmodi stabile Grenzzyklen bilden,deren Kontrolle nur minimaler neuronaler Eingriffe bedarf. Aus einer besserenBeschreibung von tierischen Bewegungen sind somit direkte Anregungen furdie Konstruktion von Laufmaschinen zu ziehen.

Ein Charakteristikum vieler Arthropoden ist ihre Fahigkeit, scheinbar ge-nauso behande eine Wand oder gar eine Decke zu uberqueren wie auf ebenerFlache zu laufen. Dies verlangt nicht nur eine ausreichende Haftung, sondernauch eine entsprechende Organisation der Beine. Hierbei kommt den Tierensicherlich ihre gespreizte Beinstellung zu Pass. Vor allem Spinnen zeichnensich durch die gespreizte, nahezu radialsymmetrische Konstruktion aus undman hat daher eine verbesserte radiale Beweglichkeit vermutet. Offensicht-lich ist der Zusammenhang zwischen Beinkonstruktion und Beweglichkeit ineiner bestimmten Richtung bei den lateral laufenden Krabben [4]. Die ge-spreizte Beinstellung hat aber auch zufolge, dass die anatomisch sehr ahnlichaufgebauten Beine und die dort eingesetzte Muskulatur abhangig von der Be-wegungsrichtung unterschiedliche Aufgaben erfullen mussen. So wurde fur dieSchaben nachgewiesen [17], dass die Vorderbeine bremsen und die Hinterbeinebeschleunigen. Bei Spinnen ist dies bei der langsamen Lokomotion ahnlich zubeobachten [10] und die Anordnung von Gelenken und Muskulatur unterschei-det sich bei den verschiedenen Beinpaaren lediglich geringfugig [37,38]. Nochschwieriger wird diese Betrachtung dadurch, dass Spinnen ihre Beine ubereinen erhohten Hamolymphdruck strecken. Fur die Hauptgelenke des Beines,das Femur-Patella-Gelenk und das Tibia-Metatarsus-Gelenk ist das gar nichtanders moglich. Der Antrieb sitzt hierbei im Korper (Prosoma) und der Druckubertragt sich mit Einschrankungen auf alle Beine. Es konnte bereits gezeigtwerden, dass die Tiere ihre Beine zumindest teilweise gegen den Widerstanddes Hamolymphdruckes beugen mussen [37]. Die hohen und moglicherwei-se einstellbaren Fliesswiderstande in den Hamolymphkanalen zwischen denMuskeln konnen eine schnelle Fullung behindern bzw. prinzipiell zu einer In-teraktion von Beugung und Streckung an unterschiedlichen Gelenken fuhren.

Page 44: Autonomes Laufen

24 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

Bionisch ist ein solcher gemischter Hydraulik- und Muskelantrieb von großemInteresse. Die Studien an kleinen Tieren konnen dadurch auch als Pionierar-beit fur die Auslegung miniaturisierter hydraulischer Beine dienen.

In dem vorliegenden Projekt sollten durch experimentelle Untersuchungder Kinetik schnell laufender und springender Spinnen und begleitende Stu-dien an Modellen Einblicke in die Organisation und die Moglichkeiten deshydraulisch-muskularen Bewegungsapparates gewonnen werden.

2.2.2 Experimentelle und modelltechnische Ansatze

Versuchstiere

Obgleich zunachst durchaus mehrere Spezies als Untersuchungsobjekte in Er-wagung gezogen wurden, dominierten aus Grunden der eigenen Erfahrungenund des allgemeinen wissenschaftlichen Interesses (Hydraulik) die Untersu-chungen an Spinnen. Hierbei wurde bewusst auf eine Spezies (Cupiennus salei,Keyserling, 1877; Abb. 2.1) zuruckgegriffen, die beispielsweise in Deutschland(Dr. Seyfarth, Frankfurt am Main) und in Osterreich (Prof. Dr. Barth, Wien)gezuchtet wird (Zahl der insgesamt in der Studie verwendeten Tiere N=25).Ohne den Ruckgriff auf diese Zuchten ware dieses Vorhaben nicht moglichgewesen. Daruber hinaus ist es sinnvoll, eine Spezies auszuwahlen, uber wel-che umfangreiche Informationen vor allem auf sinnesphysiologischem Gebietvorliegen [1]. Spinnen zeigen allgemein ein nahezu isometrisches Wachstum– andern also ihre Proportionen kaum – und die ausgewahlten Tiere wach-sen von einigen mm großen frisch geschlupften Tieren auf eine betrachtlicheSpannweite von ca. 10 cm. Mit ihrer Große und ihrem Gewicht (bis ca. 3-5 g)eignen sie sich fur kinetische Untersuchungen. Es besteht die Chance, Mar-ker aufzubringen und die Reaktionskrafte zu messen. Gegenuber Vogelspinnenhaben die Tiere den Vorteil einer hoheren Lauffreudigkeit. Hierbei bestatigtesich die Beobachtung der Zuchter und Experimentatoren, dass vor allem klei-ne Tiere eine gute Agilitat zeigen. Als Jagdspinne ist Cupiennius vor allem imVergleich zu Netzspinnen durchaus ein guter Laufer und auch Sprunge wurdenvon den Zuchtern und Pflegern beobachtet.

Die Tiere wurden in einem Vorbereitungsraum des C.R.Taylor-Labors amTierexperimentellen Zentrum der Friedrich-Schiller-Universitat von den Ex-perimentatoren und Assistenten gepflegt.

Kraftplattformen

Die hier verwendeten Kraftplattformen (Abb. 2.2) gehen auf ein Design zu-ruck, welches einer der Antragsteller (Blickhan) wahrend des Forschungsauf-enthaltes an der Harvard University entwickelt hat und dessen erster Prototyp(beschrieben in [2]) sich im Polypedal Lab im Einsatz befindet. Nach vergeb-licher Suche nach leistungsfahigen Alternativen mit anderen Messprinzipienwurde es von S. Petkun (Mitantragsteller) verbessert und fur die Messungen

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 25

Abb. 2.1. C. salei - Jung-tier von dorsal in Ruhestel-lung an einer Glasscheibehangend. Im Hintergrund:M. Karner (Photo).

an Spinnen angepasst [32]. Die Plattform basiert auf dem Halbleiter-DMS-Biegebalkenprinzip (Micron Instruments, Simi, Valley, Ca) und erlaubt dieAuflosung der drei Komponenten (Fx, Fy, Fz) der Bodenreaktionskraft (Emp-findlichkeit ca. 0.02 mV/(V N)) und des Auftrittspunktes. Entscheidend furdas Design der Plattform ist ein geeigneter Kompromiss zwischen ausreichen-der Empfindlichkeit und ausreichend hohen Eigenfrequenzen (fn). Diese ergibtsich fur den einseitig eingespannten Biegebalken zu:

fn =λ2

n

√EJz

Aρ(2.1)

Fur die eingespannten Enden der Biegebalken ergibt sich die folgende Glei-chung zur Bestimmung der Eigenwerte λ:

1 +1

cos(λL) cosh(λL)= ελ

(tan(λL) − tanh(λL)

)(2.2)

E: Elastizitatsmodul; J : Flachentragheitsmoment, A: Querschnittsflache; ρ:Dichte; L: Balkenlange; ε: Dehnung.

Die Plattform hat eine Eigenfrequenz von ca. 160 Hz. Dieser niedrige Wertist der Kompromiss fur eine ausreichende Empfindlichkeit. Die Trittflache ausBalsaholz misst 7 cm x 7 cm und kann fur Einzelbeinmessungen eingeschranktwerden. Betrieben wird die Plattform mit einem 12-Kanal Gleichspannungs-verstarker (DMC-Plus; Hottinger Baldwin Messtechnik). Zur besseren Tren-nung der einzelnen Kanale erfolgt die Verrechnung uber eine Transforma-tionsmatrix. Hochempfindliche Ultraminiaturplattformen die im Auftrag desPolypedal Lab am Caltech in Stanford entwickelt wurden sind bisher zu wenig

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26 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

robust fur den Routineeinsatz. Deshalb konnen zurzeit dynamische Messun-gen nur mit konventioneller Technik an ausreichend schweren Tieren (ca. 1g)durchgefuhrt werden.

Messaufbau fur die Bewegungsanalyse

Im ersten Abschnitt der Versuche standen Messungen von Sprungen im Vor-dergrund. Hierbei zeigte sich, dass planmaßige Sprunge auf ebener Flachenicht moglich waren. Damit schieden im ersten Anlauf dynamische Messun-gen aus und die Untersuchung beschrankte sich auf kinematische Analysen.Als Losung ergaben sich, zum großen Erstaunen aller Beteiligten, Sprunge voneinem

”Sprungbrett“, (Abb. 2.3). Die Haftung auf der Unterseite des Kunst-

stoffbretts wurde durch Fluon (Sigma-Aldrich) herabgesetzt. Die Tiere jagenin freier Wildbahn auf den Blattern von Bromelien und anderen großblattrigenPflanzen. Bei Gefahr kann ein Sprung von der Blattspitze die Rettung sein.Die Kinematik wurde mit einem im Rahmen des Innovationskollegs

”Bewe-

gungssysteme“ beschafften Hochgeschwindigkeits-Videosystem (Camsys 500,mikromak) erfasst (Auflosung: 256 x 256 Pixel, 500 Bilder/s). Kalibriert wur-de unter Verwendung von markierten Lego-Bausteinen. Diese haben sehr kon-stante Abmessungen (± 0.002 mm). Bei Digitalisierung per Hand kann hier aufMarker verzichtet werden. Dies macht Untersuchungen an kleinen, agilen Tie-ren moglich. Problematisch war der fehlende Schnellverschluss (Shutter), derbei aktuellen Aufnahmen durch simultane Beleuchtung mit Stroboskopblitzenbehoben wird.

Abb. 2.2. C. salei - Weibchen auf der partiell abgedeckten Kraftmessplatte.

Im noch laufenden zweiten Abschnitt der Messungen werden Sprints unter-sucht. Hier sind Kraftmessungen moglich. Die Kinematik wird an markierten

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 27

Tieren mit Hilfe des im Rahmen des Schwerpunktprogrammes beschafftenInfrarot-Hochgeschwindigkeitssystems (ProReflex, Qualisys Medical AB) er-fasst. Die Online-Verfolgung von Markern beschleunigt den Erfassungs- undAuswerteprozess.

Volumenverschiebung

Zur Abschatzung der bei der Bewegung der Beine notwendigen Hamolym-phverschiebungen wurden abgetrennte Beine von Spinnen mit Hilfe einer In-jektion von Ringer uber eine Mikroliterspritze leicht gestreckt. Die Messungdes verschobenen Volumens erfolgte uber die Messung der Verschiebung einerLuftblase in einer Glaskapillaren. Bei Beugung eines Gelenkes wurde sowohldie Bewegung selbst, als auch die Verschiebung der Luftblase mit Hilfe vonDigitalkameras registriert. Die Luftblasenverschiebung konnte durch Injektionmit der Mikroliterspritze kalibriert werden.

Steifigkeit des Hinterleibs (Abdomen)

Die meisten Spinnen verwenden den Brustraum (Prosoma) als Pumpe zurErzeugung des hydraulischen Druckes. Durch Anspannung der Muskulatur,die mit den Huftgelenken (Coxae) verbunden ist und den musculi latera-les, der Verbindung zwischen Ruckenschild (Tergum) und lateralen Skleriten(vgl.Abb. 2.9) wird der Hamolymphdruck erhoht. Einige exotische Arten be-sitzen einen subjektiv steifen Brustraum und damit stellt sich die Frage, wiediese Spezies Drucke erzeugen konnen. Um die Steifigkeit zu messen, wurdenfrischtote Tiere mit den Brustschildern (Sternit) auf einen Stift montiert, derseinerseits auf der Kraftplattform fixiert wurde. mit Hilfe eines durch Spindelnuntersetzten Schrittmotors wurde mit einer Schrittweite von 1 µm von dorsalauf das Carapax gedruckt. Der Quotient aus erzeugter Kraft und Verschiebungergibt die gesuchte Steifigkeit.

Datenreduktion

Die 3D kinematische Analyse wurde durch das Softwarepaket Winanalyse1.3 (Camsys) unterstutzt, Winkel-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungs-berechnungen wurden mittels eigener Algorithmen (Matlab 5.2 bis 6.5, Ma-thworks) ausgefuhrt. Die Glattung der differenzierten Daten erfolgte uber glei-tende Polynome zweiter Ordnung (8 Stutzpunkte).

Die Daten der Kraftplattform wurden unterstutzt durch die Scriptoberfla-che Catman plus (Hottinger Baldwin, Darmstadt) ausgelesen. Aus der Kali-brierung wurden Transformationsmatrizen errechnet (Mathematica, WolframResearch; Matlab, Mathworks), die ein moglichst geringes ubersprechen (ca.3%) und eine moglichst genaue Registrierung des Auftreffpunktes gewahrleis-ten

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28 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

Abb. 2.3. Wer springt zuerst? R.J. Full, S. Petkun und M. Karner (v.r.) bei Sprung-experimenten.

Modelle

Unterschiedliche Aktivitaten in der Umgebung dieses Projektes brachtendie Modellbildung voran. Diese reicht von der Entwicklung eines Lagrange-basierten Algorithmus zur Berechnung der inversen Dynamik an vielgliedrigenTieren (ALADIN, S. Leseduarte) uber Stabilitatsbetrachtungen dreisegmen-tiger elastischer Beine [39], bis hin zu sehr ausfuhrlichen Untersuchungen vonzweibeinigen, hydraulisch erzeugten Sprungen und dem dazugehorigen Ein-fluss der Beingeometrie [43]. Neben analytischen Anteilen der Modellbildungwurde zur numerischen Analyse auch hier auf die Oberflachen von Mathema-tica und Matlab und den dort vorhandenen numerischen Losungsalgorithmenzuruckgegriffen.

2.2.3 Bewegung, Mechanismen und Auslegung

Kinematik der Sprunge von Cupiennius

Zwei Kategorien von Sprungen konnten unterschieden werden: unvorberei-tete und vorbereitete Sprunge. Bei vorbereiteten Sprungen wird eine spezi-elle Korperhaltung mit leicht nach caudal verschobenem Schwerpunkt undgebeugtem hinterem Beinpaar angenommen und die Sprunge erfolgen nachvorn (Abb. 2.4). In allen Sprungen sichern sich die Tiere durch einen Faden,den Sie bei nahezu jedem Positionswechsel am Substrat befestigen. Unvorbe-reitet Sprunge erfolgen immer weg von der Storung (Anblasen, Beruhrung).

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 29

Abb. 2.4. VorbereiteterSprung einer jungen C. salei.(Aus [25]).

Dies bedeutet auch, dass Sprunge in allen Rich-tungen moglich sind, wobei ruckwartsgewand-te Sprunge mit spektakularen Salti verbundensind. Die radiale Beinanordnung ermoglicht al-so in der Tat eine hohe Manovrierbarkeit undFlexibilitat.

Vorbereitete Sprunge entsprechen in ihremGrundmuster weitgehend bisherigen Beobach-tungen an Springspinnen und anderen Gruppen[15, 31]. Sie erreichen innerhalb von etwa 70 mseine Spitzengeschwindigkeit von ca. 1.4 m/s unddamit Weiten von ca. 20 cm. Damit reichen dieSprunge aus, vom Blatt einer Bromelie bei einemAngriff zu entkommen, aber auch um Beute imSprung zu uberraschen. Typisch ist bei solchenSprungen eine ruckwartige Drehung des Rump-fes. Die Spinne erreicht dadurch eine typischegunstige Flugposition mit dem Bauch voran. DieBeine werden nach dorsal, von der Flugrichtungweg gestreckt und das Tier wirkt wie ein Feder-ball. Eine leichte Korrektur erfolgt uber den Si-cherheitsfaden. Nimmt man die Dauer der Stutz-phase der einzelnen Beine als Indikator fur de-ren Beitrage zum Sprung (Abb. 2.5), so ergibtsich, dass i) das erste Beinpaar als Taster wegge-streckt wird und damit nicht beitragen kann, ii)das zweite Beinpaar am langsten Bodenkontakthat und somit sicherlich am Ende des Absprun-ges einen Beitrag liefert, iii) das dritte Beinpaarden kurzesten Bodenkontakt hat und somit vorallem zu Beginn den Sprung unterstutzen kannund iv) das vierte Beinpaar, eine Zwischenstel-lung einnimmt, aber durch seine Positionierungwahrscheinlich einen bedeutenden Anteil zur ho-rizontalen Beschleunigung liefert.

Der geringe Beitrag des dritten Beinpaareswird von der Gelenkkinematik weiter relativiert.Dort wird deutlich, dass dieses Bein sich inden Hauptgelenken kaum streckt, eine Unter-stutzung sollte daher vor allem durch muskulareBeugung in den Huftgelenken erfolgen. uberra-

schend ist die sehr ahnliche Kinematik der Hauptgelenke des zweiten undvierten Beinpaares. Damit kann in beiden Fallen der bei dem Sprung erhoh-te Hamolymphdruck (Hinweis: aufgestellte Borsten) zum Sprung beitragen.Moglicherweise stellt die sich hier abzeichnende Strategie eine Moglichkeit

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Abb. 2.5. Relative Kon-taktphasendauer der ver-schiedenen Beinpaare beivorbereiteten Sprungen. 1,2, 3, 4: Beinpaar; Links:linkes Bein; rechts: rechtesBein. (Aus [25]).

dar, durch den simultanen Einsatz der Beine eine moglichst große Weite zuerzielen. Ein fur die Modellierung bedeutendes Detail besteht im Einknickendes korperfern (distal) liegenden Tibia-Metatarsus-Gelenkes. Der dort anste-hende Druck erreicht offenbar erst spat einen Wert, der eine Streckung desGelenkes sichert.

Abb. 2.6. Das Laufmuster(Standphase: schwarze Bal-ken) bei geradliniger Loko-motion (ca. 0,25 m/s) belegtBruche in der Koordinationund sehr unterschiedlicheSchrittperioden. (Aus [25]).

Dieses Muster darf nicht daruber hinwegtauschen, dass die Verhaltensva-riabilitat der Tiere erheblich ist. Selbst die vorbereiteten Sprunge sind allesandere als stereotyp. Nimmt man die unvorbereiteten Sprunge hinzu, so wirddeutlich, dass zwar die weitesten Sprunge nach vorne gehen, aber das Tier inder Lage ist, flexibel zu reagieren und nach allen Richtungen auszuweichen.

Sprints

Die Untersuchungen hierzu dauern gegenwartig noch an [42]. Auf ebenemSubstrat bevorzugt Cupiennius Sprints. Bei den ausgewahlten augenscheinlich

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konstanten und geradlinigen Sprints wurden Spitzengeschwindigkeiten von 0.7m/s erreicht. Mit zunehmender Laufgeschwindigkeit (v) verkurzt sich die Dau-er der Kontaktphase (tc) der Beine etwa umgekehrt proportional:

tc ∝ v−1 (2.3)

und uberstreicht einen Bereich von etwa 0,05 s bis 0,4 s. Die Dauer derSchwungphase (ts) bleibt deutlich konstanter (von 0,07 s bis 0,15 s):

ts ∝ v−0.5 (2.4)

Dies hat zur Folge, dass die Schrittdauer (T ) ebenfalls weniger als umgekehrtproportional verlangert wird, so dass der Geschwindigkeitszuwachs teilweiseauf eine Verlangerung der Schrittweite zuruckzufuhren ist. Die Schrittfrequen-zen uberstreichen einen Bereich von ca. 2 Hz bis 8 Hz. Der Duty-Faktor (DF :Anteil des Bodenkontaktes am Schrittzyklus des Beines) verringert sich vonetwa 0,7 bei 0,1 ms−1 bis etwa 0,5 bei 0,6 ms−1. Vor allem bei hoheren Ge-schwindigkeiten dissoziiert der Duty-Faktor der unterschiedlichen Beine. Daszweite Beinpaar zeigt ahnlich wie beim Sprung den relativ langsten Kontaktallerdings sind die Unterschiede zum dritten und ersten Beinpaar gering. Deut-lich kurzer wird dagegen der Anteil der Kontaktphase fur das vierte Beinpaar.

Abb. 2.7. Die Schrittdauer der verschiedenen Beinpaare (BP 1, 2, 3, 4) nimmthyperbolisch mit der Geschwindigkeit ab (N=87-134).

Die Schrittdauer der hinteren beiden Beinpaare ist außer bei der ganz lang-samen Lokomotion (unter 0,2 m/s) uber alle Geschwindigkeiten um ca. 0.03s kurzer als die der vorderen Beinpaare. Daraus folgt, dass der alternierendquadrupedale Gang fur Cupiennius nicht als stabil angenommen werden kann,sondern im Gegenteil die hinteren Beine bei langeren Laufen mehr Schritteausfuhren mussen als die vorderen (Abb. 2.6, Abb. 2.7).

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32 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

Bezeichnend ist eine Veranderung der von den unterschiedlichen Beinen er-zeugten mittleren horizontalen Kraft. Wahrend diese bei der langsamen Fort-bewegung noch etwa gleich verteilt ist, beginnen mit zunehmender Geschwin-digkeit die ersten und zweiten Beinpaare zu ziehen, wohingegen die schieben-den Anteile des dritten und vierten Beinpaares nachlassen bzw. zunehmendbremsen (Abb. 2.8, Tabelle 2.1). Die zweiseitigen Korellationen (Spearman-Rho fur nicht normal verteilte Daten) sind auf dem Niveau von 0.05 signifikantDie mittleren vertikalen Krafte zeigen an, dass bei langsamen Geschwindigkei-ten hohere Gewichtsanteile auf dem dritten und vierten Beinpaar liegen. Mitsteigender Geschwindigkeit bleiben die von den zweiten und vierten Beinenausgeubten vertikalen Krafte nahezu konstant, wahrend der Anteil des ers-ten Beinpaares hoch signifikant steigt und der Beitrag des dritten Beinpaarestendenziell sinkt.

Abb. 2.8. Trotz aller Variabilitat zeichnet sich in den horizontalen Kraften mit zu-nehmender Geschwindigkeit eine wachsende propulsive Rolle der Vorderbeine (BP1und BP2) ab, wogegen das dritte und vierte Beinpaar (BP3, 4) die Propulsion zu-nehmend behindert. Punkte: Rohdaten, Linien: Regressionsgeraden).

Insgesamt schalt sich also heraus, dass ahnlich unseren fruheren, statis-tisch weniger unterstutzten Beobachtungen an Vogelspinnen [37] zumindestbei großen Spinnen mit erheblichen Anteilen der vorderen 4 Beine gerechnetwerden muss. Bei den Sprints ziehen die beiden vorderen Beinpaare, so dassdie Geschwindigkeiten zunehmend durch direkten Muskeleinsatz erreicht wer-den. Den hinteren Beinpaaren ist es offensichtlich nur mit Hilfe des muskularbetriebenen Beugemechanismus moglich die zum Tragen des Korpergewich-tes notigen Vertikalkrafte aufzubringen, dadurch erzeugen sie allerdings inhorizontaler Richtung hauptssachlich Bremskrafte die zudem bei hoheren Ge-schwindigkeiten noch steigen.

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 33

Tabelle 2.1. Vergleich der auf die Quartile der Durchschnittsgeschwindigkeitsver-teilung bezogenen Medianwerte der drei Kraftrichtungen aller vier Beinpaare sowieder Kraftmediane uber den gesamten Geschwindigkeitsbereich.

Inter-quartil

BP 1. 2. 3. 4. ges. Median

x-Krafte 1 0,0115 0,0469 0,0439 0,0377 0,0315in N 2 0,0004 0,0185 0,0218 0,0438 0,0200

3 0,0137 0,0072 −0,0053 −0,0142 0,00364 0,0167 −0,0059 −0,0144 −0,0044 −0,0044

y-Krafte 1 0,0009 0,0035 0,0048 0,0014 0,0021in N 2 0,0007 0,0011 −0,0002 0,0014 0,0003

3 0,0022 −0,0168 −0,0032 0,0124 −0,00254 0,0024 −0,0024 −0,0136 −0,0190 −0,0034

z-Krafte 1 0,0637 0,0506 0,0925 0,0987 0,0822in N 2 0,1078 0,1035 0,1066 0,0899 0,1021

3 0,1324 0,1007 0,1261 0,0717 0,12064 0,1805 0,1312 0,1423 0,1565 0,1480

Hydraulik und Volumenverschiebung

Sprunge stellen sicherlich die hochsten Anforderungen an das hydraulischeSystem. Die zwei hydraulischen Hauptgelenke, das Tibia-Metatarsus und dasFemur-Patella-Gelenk sind die Gelenke, in welchen die großten Hamolym-phvolumina verschoben werden, wobei dies aufgrund seines deutlich große-ren Querschnittes insbesondere fur das korpernahere Femur-Patella-Gelenkzutrifft. Dies konnte bei simultaner Streckung aller Beine aber auch beimSpringen und Laufen dazu fuhren, dass Engpasse bei der Versorgung mit Ha-molymphe auftreten. Es zeigt sich jedoch, dass der Carapax (Ruckenschild)bei einem Durchmesser von 8 mm sich lediglich um 0,02 mm zum Sternumbewegen muss, um das erforderliche Hamolymphvolumen zur Verfugung zustellen (Abb. 2.9). Hamolymphvolumen steht — ausreichende Flussigkeitszu-fuhr vorausgesetzt — mehr als genugend zur Verfugung. Auch ein alternativesPumpen unterschiedlicher Beine ist aus dieser Sicht nicht notwendig. Diesergeringe notwendige Carapaxhub konnte auch wesentlich fur eine sichere Funk-tion der dort ansetzenden Huftmuskulatur sein (bifunktionale Muskulatur).Eine Anspannung der Huftmuskulatur mit simultaner Druckerhohung wurdenur geringe Langenanderungen der Muskulatur nach sich ziehen und damitzu entsprechend geringen Storungen der Huftwinkel fuhren. Damit behindertdie Druckpumpe nicht die Lokomotion. Aus dem Verlauf der aus den Gelenk-winkeln extrapolierten Volumenverschiebung wird deutlich, dass bei vorbe-reiteten Sprungen das Femur-Patella-Gelenk des vierten Beinpaares nahezukontinuierlich gestreckt wird, wogegen sich fur das kleinere, weiter korperfernliegende Tibia-Metatarsus-Gelenk zunachst eine leichte Beugung abzeichnet.

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Das zweite und das dritte Beinpaar verhalten sich hierbei ahnlich. Bei nichtvorbereiteten Sprungen wird das zweite Beinpaar zu Beginn etwas gebeugt,der Korper wird vermutlich von den Hinterbeinen uber das dritte und zweiteBeinpaar als Krucken nach vorn geschoben und dann durch Streckung deszweiten Beinpaares vertikal beschleunigt. Das dritte Beinpaar verliert dannden Kontakt mit dem Boden. Das erste Beinpaar konnte den Sprung durchZug unterstutzen. Bei Seitwartssprungen wird dieses Muster nur leicht modi-fiziert.

Abb. 2.9. Schemat. Prosomaquerschnitt nach Eckweiler & Seyfarth (1989). Diekraftige Linie markiert den zur Druckerzeugung notwendigen Hub des Tergums. c1= M. tergo-coxalis anterior profundus; c2=M. tergo-coxalis medio-anterior; c3 = M.tergo-coxalis medius posterior; c6 = M. endosterno-coxalis postero-superior; c8 =M. endosterno-coxalis postero-inferior; s4 = dorsaler Suspensor des Endosternums;m.lat. = M. lateralis.

Steifigkeit des Rumpfes und Druckerzeugung

Entscheidend fur eine okonomisch arbeitende Druckpumpe im Bereich desRumpfes ist eine ausreichende Kompressibilitat desselben. In Thailand wur-den Arten gefunden, deren Prosoma sehr steif wirkt. Dies hat sich durch unsereMessungen bestatigt [26]. Die Arbeit pro Volumenverschiebung (Druck), diefur eine sehr steife Art (Perania nasuta (Schwendinger, 1989), Tetrablemmi-dae) aufgebracht werden muss, betragt das 24 fache des fur eine heimischeArt (Pardosa lugubris s.l. (Walckenaer, 1802)) gemessenen Wertes. Die Ver-formungsarbeit zur Druckerzeugung konnte aufgebracht werden, wurde aberimmerhin 30 % der maximal moglichen Spannung erfordern. Bei den ver-steiften Arten befindet sich wahrscheinlich die Druckpumpe im mit Skleriten

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verstarkten Abdomen. Bei den meisten anderen Arten ist die Druckerzeugungim Rumpf unproblematisch. Allerdings muss bei der Lokomotion in der Regelgegen einen erhohten, sich lokal auf Grund von Bewegung andernden Ham-olymphdruck angekampft werden, das durfte die Koordination erschweren. Esbleibt aber der Vorteil, schlanke Beine mit kraftigen Beugern fullen zu konnen- entscheidend fur den Beutefang.

Hydraulischer Antrieb und Sprungvermogen

Die experimentellen Beobachtungen werden durch Modellstudien [8, 43] un-terstutzt. In diesen numerischen Studien wird davon ausgegangen, dass derSprung ausschließlich durch hydraulische Streckung des hinteren Beines er-zeugt wird. Die Beine werden durch eine maßstabsgerechte dreisegmentigeGliederkette angenahert (Abb. 2.10). In den Gelenken werden passive Dreh-federn und Dampfer angebracht (Auslegung nach Blickhan und Barth [3]).

ϕ

ϕ

ϕ

ϕ

Abb. 2.10. Numerisches Modell fur den hydraulisch erzeugten Sprung- Links: Glie-derkette. Der Rumpf wird als Punktmasse angenommen. Rechts: Zusatzlich imple-mentierte passive Gelenkeigenschaften. Fx,y: Gelenkkrafte; Px,y: Komponenten derdurch Hamolymphdruck (pi) erzeugten Krafte; ϕi: Winkelstellung der Beinglieder(i = 0,1,2); mi: Segmentmassen; g = 9.81 m/s2. (Aus [43]).

Die Drehmomente werden durch den Druck der Hamolymphe bestimmt.Letzterer hangt wiederum davon ab, dass der Volumenstrom fur den Druckauf-bau ausreicht. Der Volumenstrom wird durch die Bewegung und die Geometrieder Gelenke bestimmt, die Behinderung (Stromungswiderstand, Druckverlust)wird entsprechend Hagen-Poiseuille durch den Querschnitt der durchstrom-ten Lakunen [3] bestimmt. Bei der Erzeugung des Druckes im Prosoma wirddie Kraft-Geschwindigkeitsfunktion des Muskels berucksichtigt. Eine korrigie-rende Wirkung der Muskulatur wird in diesen Sprungen ausgeschlossen. Eswird deutlich, dass bei gegebener Aktivierung der prosomalen Druckpumpenur eine bestimmte Ausgangsstellung zur maximalen Sprungweite fuhrt. Diese

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Ausgangsstellung entspricht etwa der bei vorbereiteten Sprungen (s. o.) einge-nommenen Position (Abb. 2.11). Ein Vergleich der Kinematik der Hauptge-lenke belegt, dass das Tibia-Metatarsus-Gelenk entsprechend den experimen-tellen Befunden zunachst gebeugt und dann gestreckt wird. Die Streckungdes weiter distal positionierten Gelenkes hinkt der Streckung des großerenFemur-Patella-Gelenkes nach. Aufgrund der Fließwiderstande und des gerin-geren Drehmomentes (kleinerer Querschnitt) reichen letztere zu Beginn desSprunges nicht fur eine synchrone Streckung der Gelenke aus. Auch die Ab-sprunggeschwindigkeiten werden in der Regel korrekt wiedergegeben. Damitkann davon ausgegangen werden, dass zumindest fur große Spinnen die Wir-kung des hydraulischen Antriebs ausreichend belegt ist und elastische Mecha-nismen fur die untersuchten Sprunge nicht erforderlich sind.

0.01 0.02 0.03

0.005

0.01

0.015

0.02 θ

θθ

Abb. 2.11. Kinematik des hydraulisch gestreckten Hinterbeines. Rot bzw. Strich-figur mit am weitesten links liegenden proximalem Ende: Ausgangsstellung. (Aus[43]).

Auslegung der Beine und Performance

Das Modell kann nun fur Parameterstudien genutzt werden, welche Informa-tion uber die Anpassung des Bewegungsapparates liefern [7,43]. Eine Anmer-kung zu Beginn: Der Sprung reprasentiert die extremste Anforderung an einsolches System, dennoch muss berucksichtigt werden, dass er bezogen auf dieFitness der Tiere und ihre Uberlebenschancen moglicherweise keine heraus-ragende Bedeutung besitzt. Nun, die einfachste Variation der Beinauslegungfur einen Korper mit einem bestimmten Gewicht besteht in deren isometri-scher Vergroßerung oder Verkleinerung. Hier zeigt sich, dass Vogelspinnen undJagdspinnen so ausgelegt sind, dass die Absprungzeiten minimal sind (Abb.2.12). Dies gilt auch fur die Zeiten der Bewegung des freien Beines. Nichtgroße Sprunge, sondern schnelle Aktionen stehen fur einen lauernden Jagerim Vordergrund.

Noch kurzere Zeiten konnte durch Versteifung des Tibia-Metatarsus-Ge-lenkes erreicht werden. Komplexer stellt sich die Auslegung des Schlankheits-grades dar. Die Werte fur eine maximale Beschleunigung liegen deutlich tiefer

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Abb. 2.12. Die Beine der Spinnen sind so ausgelegt, dass der Absprung in kurzesterZeit erfolgen kann. (Nach [43]).

als die Werte fur maximale Geschwindigkeiten. Große Tiere benotigen fur ma-ximale Sprungweiten deutlich kraftigere Beine als kleine Tiere. Insgesamt sindUbereinstimmungen und Unterschiede mit Vorsicht zu bewerten, da eine expe-rimentell sehr schwierige, unabhangige Bestimmung der Stromungswiderstan-de aussteht und dieselben die Lage der Maxima stark beeinflussen. Naturlichhangt das Design letztendlich auch von der Druckhohe ab. In dem bevor-zugten Druckregime liegen die Optima fur kurze Sprungzeiten und maximaleBeschleunigung nahe beieinander.

0.01 0.02 0.03

0.025

0.05

0.075

0.1

0.125

0.15

[ ]

[ ]Abb. 2.13. Simulation der vertikalen Komponente der Reaktionskraft fur eine Jagd-spinne mit 3,25 g und einer Beinlange von 49,5 mm. Die hohe Kraftspitze entstehtdurch Segmentschwingungen. (Aus [43]).

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Vogelspinnen oder Taranteln sind, fur viele glucklicherweise, mit einer Mas-se von bis zu 120 g eindeutig die großten Spinnen. Als gangiges Argument furdiese Großenlimitierung dient der Hautungsvorgang. In diesem Stadium istdie Cuticula, das skelettare Material, sehr weich und wird lediglich hydrau-lisch stabilisiert. Bei hoher Masse und wachsenden Krummungsradien steigtdie Beanspruchung des Materials. Unsere Simulationen zeigen jetzt, dass auchdie Performance ein limitierender Faktor ist. Vogelspinnen sind nur noch inder Lage, ein bis zwei Zentimeter weit zu springen. Wir wurden dies gar nichtals Sprung einstufen. Hinzu kommt ein weiteres Problem. Selbst dieser kur-ze, optimal gestaltete Sprung kann nur erreicht werden, wenn simultan Mus-keln antagonistisch dagegen wirken. Ohne diese Gegenwirkung entstehen wah-rend der Kontaktphase starke Schwingungen in der Gliederkette, die zu einerVerkurzung bzw. einem Prellen beim Absprung fuhren (Abb. 2.13). GroßereSpinnen mussten so stark gegenhalten, dass fur den Sprung keine ausreichen-de Beschleunigung erreicht werden kann. Dieses Problem wird bisher in denUntersuchungen der Sprunge von Wirbeltieren und Menschen nicht beschrie-ben (erste Hinweise Bobbert, pers. comm.), spielt aber dort wahrscheinlichebenfalls eine bisher unterschatzte Rolle.

Die bogenformige Anordnung der Beinsegmente

Ein anderer, unabhangig beschrittener Pfad der Modellierung [39] fuhrt zueiner erstmals moglichen Interpretation der fur Spinnen typischen bogenfor-migen Anordnung der 3 Hauptsegmente. Z-formig angeordnete, mit linearelastischen Gelenken verbundene Segmente laufen bei Belastung in Gefahrumzuknicken. Fur ein solches Konstrukt ist bei gleicher Beinlange (Abstandzwischen Fußpunkt und Hufte) der Bogenmodus energetisch gunstiger, Z-formige Systeme sind instabil. Verschiedene Maßnahmen konnen bei Verte-braten dazu beitragen, das Risiko dieser Instabilitat zu vermindern (vgl. Be-richt in diesem Band, Blickhan et al.:

”Energieabsorption, Energiespeiche-

rung und Arbeit bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain“, S. 71).Eine verbreitete Maßnahme ist die Einfuhrung von Federelementen (Sehnen)mit zunehmender Steifigkeit. Die Steifigkeit der Hauptgelenke bei Spinnen istbei Beugung durch die Drehmoment-Winkel-Charakteristik des hydraulischenAntriebes bestimmt. Unsere Messungen belegen (Abb. 2.14), dass die Gelenkejedoch nicht steifer sondern weicher werden. Die Exponenten der Charak-teristiken sind < 1. Dies bedeutet, dass hydraulisch angetriebene Beine beieiner Z-formigen Anordnung sehr unstabil waren. Im Gegensatz dazu ist diebei Spinnen umgesetzte bogenformige Anordnung sehr stabil. Auch Dysba-lancen in den Drehmomenten der Gelenke – die Hohe der Drehmomente ist jadurch die Beingeometrie festgelegt – werden durch Verschiebung der Achsenleicht korrigiert und fuhren nicht zu kaum kontrollierbaren Zustanden. DerBogenmodus besitzt allerdings einen entscheidenden Nachteil: Die Gelenkach-sen entfernen sich von der Beinachse das Bein wird nachgiebiger. Mit anderenWorten: großere Drehmomente sind in den Gelenken erforderlich, um eine

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 39

ahnliche Beinsteifigkeit zu erreichen bzw. um gleiche Reaktionskrafte zu er-zeugen. Sie ist also keine okonomische Strategie. Es ist allerdings moglich, dassdie spinnentypische bogenformige Anordnung der Segmente die Fortbewegungauf weichem Substrat (Netz) erleichtert. Daruber hinaus erleichtert die Anord-nung den Einsatz der Beine als Greifer beim Beutefang. (Anmerkung: Bisherwurden allerdings lediglich elastische Gelenke diesbezuglich gepruft und hierdie quasistatischen Charakteristiken des Gelenkes zugrunde gelegt.)

Abb. 2.14. Die Anderung des Gelenkvolumens bei Winkelanderung wird mit zu-nehmender Beinstreckung geringer. (Aus [25]).

2.2.4 In Zukunft: Nachgiebige Exoskelette und

Beobachtungen legen nahe, dass bei manchen Arten elastische Gelenksteifig-keiten eine wichtige Rolle spielen konnten (Ker, pers. comm.). Der Nachteileiner solchen Konstruktion besteht in einer weiteren Reduktion der Kontrol-lierbarkeit der Gelenke. Zukunftige Untersuchungen mussen diesen Befundverifizieren und in vergleichende Studien unterschiedlicher Arten einbeziehen.Dies ist von zoologischer, aber auch technischer Relevanz. Von besonderer Be-deutung wird auch die Untersuchung kleinerer Spinnen sein, wobei allerdingsdie an sich schon betrachtlichen messtechnischen Schwierigkeiten wachsen. DieBeschaftigung mit kleinen Tieren ist gerade in Verbindung mit Mikrotechnikweiterhin wichtig.

Die bisherige Modellierung beschrankt sich auf wenige Beine und auf dieWirkung der Hydraulik. Zukunftige Modelle mussen die Muskulatur und eine

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40 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

großere Anzahl von Beinen einbeziehen. So kann untersucht werden, wie durchden Einsatz mehrerer Beine ein Sprung verbessert wird, wie durch Zusammen-wirkung von Muskeln und Hydraulik Sprunge in unterschiedlicher Richtungmoglich werden und wie die Muskulatur beim schnellen Laufen eingesetzt wer-den kann. Berucksichtigt man allerdings die Tatsache, dass Muskeleigenschaf-ten von Spinnen bisher nicht bekannt sind – also lediglich geschatzt werdenkonnen – wird die Ambitioniertheit eines solchen Vorhabens deutlich.

Ein weiterer wichtiger, bisher nicht erwahnter Baustein ist die Nachgiebig-keit dunnwandiger Strukturen. Das Wechselspiel zwischen Materialersparnisund notwendiger Steifigkeit ist bisher nicht untersucht. Durch die in Ilmenauverfolgten mathematischen Ansatze zur Biegung hydraulisch gefullter, dunn-wandiger Balken [43, 44] haben sich die Voraussetzungen hierzu deutlich ver-bessert.

2.2.5 Kooperationen

Das Projekt wurde bisher von einem interdisziplinaren Team von Zoologen, In-genieuren und Physikern vorangetrieben. Dies wird weiterhin notwendig sein.Als Untersuchung an Gliederfußern stehen die Arbeiten den Untersuchungenan Insekten (vgl. Projekte Cruse, Buschges) auch weiterhin sehr nahe. Die en-ge Verbindung mit Abteilungen der Technischen Universitat Ilmenau (Tech-nische Mechanik: Prof. Dr. Zimmermann; Biomechatronik: Prof. Dr. Witte)stellt eine gute Plattform fur zukunftige Vorhaben und technische Realisie-rungen dar.

Mit Robert Full (University of California, Berkely) verbindet uns eine lang-jahrige Kooperation auf dem Gebiet der Fortbewegung von Arthropoden. Ers-te Experimente zu selbststabilisierenden Eigenschaften von Arthropodenbei-nen wurden durchgefuhrt [27,28].

Seit einigen Monaten hat sich hinsichtlich biomechanischer Untersuchun-gen an Ameisen eine sehr viel versprechende Zusammenarbeit mit den Uni-versitaten Zurich (Arbeitsgruppe Wehner), Ulm (Arbeitsgruppe Wolf) undBerlin (Arbeitsgruppe Ronacher) etabliert. Die dabei auftretenden Synergiensind bereits jetzt spurbar und werden in der Zukunft sicher noch deutlichersichtbar werden.

2.2.6 Spinnenbeine als Vorbild fur die Technik

Konsequenzen fur Laufmaschinen

Bereits in fruhen Phasen wurden spinnenahnliche Laufmaschinen realisiert(z. B. [22]). Die Ahnlichkeit besteht meist in einem tief zwischen Beinen ein-gebetteten Korper. Der Stand solcher Systeme mit zweisegmentigen Beinenist leichter zu kontrollieren. Selten wurden achtbeinige Maschinen gebaut. Indiesen Fallen steht in der Regel die Moglichkeit nach allen Richtungen zu

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 41

Abb. 2.15. Konzept eines hydraulischen Greifers nach dem Prinzip des Spinnen-beines. (Aus [43])

Laufen im Vordergrund. Der hydraulische Antrieb ist klassisch und schwe-re Maschinen ohne diesen Antrieb kaum denkbar (vgl. Bericht Hiller, 191).Allerdings sind in diesen Fallen die hydraulischen Antriebe als separate Bau-steine entwickelt und nicht in einem Rohrenskelett integriert. Das gilt auch furbiomimetische pneumatische Designs [35, 36]. Ein solches integriertes Designkonnte sich vor allem im Bereich kleiner Maschinen als vorteilhaft erweisen. Eserfordert allerdings die Moglichkeit, durch lokal geanderte Materialeigenschaf-ten in steifen Rohren nachgiebige Gelenke zu implementieren. EntsprechendeAnstrengungen werden derzeit von Partnern an der Universitat Ilmenau vor-angetrieben (Abb. 2.15, Abb. 2.16, [43,45,46]). Der Vorteil, der durch monta-gefreie Konstruktion von Gelenken gewonnen wird, birgt aber auch Nachteile.Mit der Miniaturisierung ist mit einer immer großeren Rolle des Stromungs-widerstandes zu rechnen. Kleine Spinnen sind nur Millimeter groß und dieverwandten Milben sind kaum noch sichtbar. Es konnte gezeigt werden, dassgeschickte Auslegung den Spinnen eine gute Performance ermoglicht, die sieimmerhin zu erfolgreichen Fangern von rein muskular angetriebener Beute(Insekten) werden lasst. Ein weiterer Nachteil des hydraulischen Antriebs istdie globale Wirkung der Druckpumpe. Ventile wurden bisher nicht nachge-wiesen. Eine Kontrolle der Lakunenquerschnitte konnte hier zumindest Mo-

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42 Reinhard Blickhan, Sergei Petkun, Tom Weihmann, Michael Karner

dulationen ermoglichen. Allerdings ist diese wiederum an die Kontraktion derMuskulatur gekoppelt. Experimentelle Untersuchungen stoßen hier bisher anihre Grenzen und man muss davon ausgehen, dass die Muskulatur der Spin-ne gegen die durch den Hamolymphdruck erzeugten Drehmomente arbeitenmuss. Obgleich der hydraulische Antrieb dem Bewegungsapparat der Spinneneinen unverwechselbaren Stempel aufdruckt, ist die Vielfalt des beobachtetenVerhaltens auch bei den untersuchten Sprungen und Laufen nur durch mus-kulare Unterstutzung zu verstehen. Wir gehen gegenwartig davon aus, dassahnlich agile Miniaturroboter ebenfalls eine solche Kombination, vielleicht mitKunststoffantrieben (Polystyrol, z.B. [24]) erfordern. Dies ist naturlich einebesondere, aber hochaktuelle, technische Herausforderung.

Abb. 2.16. Kontrolle der Gelenkbewegung durch lokale Erwarmung eines mit Druckbeaufschlagten fluidgefullten Schlauches. (Aus [43]).

2.3 Externe Unterstutzung

• Modellierung (Kapitel 2.2.3: Hydraulischer Antrieb und Sprungvermogenund Auslegung der Beine und Performance, Abb. 2.10 bis Abb. 2.13; Ka-pitel 2.2.6: Abb. 2.15 und Abb. 2.16): Lena Zentner (TU Ilmenau)

• Stabilitat bei Bogen- und Z-Modus: Andre Seyfarth, Michael Gunther (Je-na)

• Erstellung des Modells fur inverse Dynamik: Sergio Leseduarte (Jena)• Technische Umsetzung von Hydraulikskeletten: Lena Zentner, Klaus Zim-

mermann (TU Ilmenau)

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2 Schnelle Bewegungen bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen 43

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3

Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur

Hindernisdetektion und Steuerung von

gezielten Greifbewegungen bei Insekten

Volker Durr

Biologische Kybernetik und Theoretische Biologie, Universitat BielefeldUnter Mitarbeit von Dipl.-Inform. Andre F. Krause

3.1 Zusammenfassung

3.1.1 Wesentliche Ergebnisse und erzielte Fortschritte

Viele Insekten tragen lange Antennen, die sie wahrend der Fortbewegung stan-dig bewegen. Damit eignen sie sich als Modellorganismen fur das Studiumaktiver taktiler Sensoren, besonders in ihrer Bedeutung beim Laufen.

Als Grundlage fur eine systematische Untersuchung des aktiven taktilenSinnes bei Insekten wurde ein generisches, kinematisches Modell entwickelt,das die anatomischen Eigenschaften wichtiger Modellorganismen der Bewe-gungsphysiologie (Stabheuschrecke, Grille, Heuschrecke) abbilden kann: einzweigliedriger Manipulator mit zwei Scharniergelenken. Eine Simulationsum-gebung erlaubte die systematische Anderung aller morphologischer Parameter,z.B. die Stellung der Gelenkachsen, sowie die Animation mit beliebigen Bewe-gungsmustern. Es wurde gezeigt, dass nicht senkrecht aufeinander stehendeGelenkachsen, wie es bei der Stabheuschrecke der Fall ist, den Arbeitsbe-reich der Antenne einengen. Es entstehen

”Bereiche außer Reichweite“, wobei

aber gleichzeitig die Genauigkeit der Positionsbestimmung im Arbeitsbereicherhoht wird. Taktile Effizienz bestimmter Bewegungsmuster wurde uber dieAbtastdichte in einer stochastischen Umgebung (einer Wolke aus kugel- oderzylinderformigen Objekten) bestimmt, wobei ein geschwindigkeitsabhangigerEnergieverbrauch angenommen wurde. Der Einfluss von Umwelteigenschaften,wie z.B. der vorherrschenden Kantenorientierung, wurde ebenfalls in dieserstochastischen Umwelt ermittelt. Dabei zeigte sich, dass die schrag stehendenAchsen der Stabheuschrecke bei einem gegebenen Bewegungsmuster fur dieDetektion vertikaler und horizontaler Kanten immer etwa gleich gut geeignetsind. Bei der Grille hingegen erfordert die effiziente Detektion horizontalerKanten ein anderes Bewegungsmuster als die effiziente Detektion vertikalerKanten.

Gegenstand aller anatomischen und bewegungsphysiologischen Untersu-chungen war die Antenne der Stabheuschrecke Carausius morosus. Mittels

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48 Volker Durr

Ausschaltexperimenten wurde gezeigt, dass Stabheuschrecken beim Erkletternvon Hindernissen taktile Information ihrer Antennen benutzen, wahrend dieBedeutung der Augen gering ist. Greifbewegungen, die durch einen Antennen-kontakt mit einem senkrechten Stab ausgelost werden, fuhren zu Beinberuh-rungen mit dem letzten Drittel des Unterschenkels oder mit dem Fuß. Das Beinberuhrt oberhalb der ersten und unterhalb der letzten Antennenberuhrung.Bei Wandhindernissen lassen die ersten Antennenberuhrungen Vorhersagenuber nachfolgende Richtungsentscheidungen der Tiere zu. All dies zeigt, dassdie Stabheuschrecken taktile Information ihrer Antennen nutzen um Bein-bewegungen gezielt zu steuern (siehe Greifbewegungen) oder um koordinier-te Bewegungen mehrerer Beine einzuleiten (siehe Richtungsanderungen). Furbeide Leistungen muss das Tier die Stellung der zwei Antennengelenke mes-sen. Dass Borstenfelder und -reihen an den Antennengelenken diesem Zweckdienen, legen erste Experimente nahe, in denen Tiere ohne diese externenSinneshaare nicht mehr in der Lage waren, das normale Bewegungsmuster zuerzeugen. Im folgenden wurde Lage und Zahl der Haare in den vier Borsten-feldern und drei Borstenreihen bestimmt. Erste neuroanatomische Praparatewurden hergestellt um die Verzweigungsmuster im zweiten Gehirnsegment,dem Deutocerebrum, zu beschreiben. Außerdem wurden drei Bereiche vonNeuronenzellkorpern im Gehirn beschrieben, deren Nervenfasern in den Tho-rax absteigen, und die damit Kandidaten fur eine neuronale Transformationvon Antennenkoordinaten in Beinkoordinaten sind.

3.1.2 Ausblick auf kunftige Arbeiten und Beschreibung moglicherAnwendungen

Vier der beschriebenen Projekte sind noch nicht vollstandig abgeschlossen.Dies sind die neuroanatomische Charakterisierung der Borstenfeld-Afferenzen,die kinematischen Analysen des Wandkletterverhaltens und der Borstenfeld-Ausschaltexperimente sowie die multikriterielle Optimierung der Antennen-morphologie und -bewegung mit evolutionaren Algorithmen.

Bei den Borstenfeld-Afferenzen zeichnen sich interessante morphologischeUnterschiede ab, die auf spezialisierte Funktionen bei der Bewegungssteuerunghindeuten. Um die bisherigen Befunde abzusichern und die gesamte Vielfaltder Afferenzentypen zu erfassen ist ein mehrmonatiges Anschlussprojekt erfor-derlich. Um die Bedeutung der einzelnen Sinneshaartypen im Verhalten nach-zuweisen, sind detaillierte Ausschaltexperimente notig, die die Zuordnung derbeobachteten Effekte zu einzelnen Borstenfeldern erlauben. Auch dies wirdzwei bis drei Monate dauern. Die kinematische Analyse des Kletterverhaltenssteht dagegen kurz vor dem Abschluss. Hierbei wird der Zusammenhang desAntennenkontaktmusters mit dem nachfolgenden Verhalten des Tieres geklart.Ebenfalls weit fortgeschritten ist die Optimierungsstudie mit evolutionarenAlgorithmen. Von ihr kann man sich hilfreiche Impulse fur die Interpretati-on artspezifischer

”Losungen“ erwarten, aber auch Hinweise fur das Design

biomimetischer Tastsonden.

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3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur Hindernisdetektion 49

Im unmittelbaren Anschluss an diese Arbeiten wird einerseits eine neu-rophysiologische Studie zur Verarbeitung mechanorezeptiver Information imDeutocerebrum durchgefuhrt werden, andererseits die Simulationsumgebungfur die Modellierung der Antenne-Vorderbein-Koordination erweitert. Eineneurophysiologische Analyse des Informationstransfers von Antenne zum Vor-derbein ist von großer Bedeutung fur die Modellbildung, da sie die neuro-nalen Mechanismen der Koordinatentransformation von Kontaktpunkt, d.h.Antennengelenkwinkel und Position auf dem Flagellum, in eine entsprechendeGreiftrajektorie des Vorderbeins, d.h. in den Beingelenkwinkelraum, erfassenwird. Die Erweiterung der vorhandenen Simulationsumgebung um zwei odermehr Beine wird im Laufe dieses Jahres begonnen, setzt allerdings weiterekinematische Daten, z.B. uber Kopf-Antennen-Koordination voraus.

Im Rahmen einer interdisziplinaren Machbarkeitsstudie mit Prof. Dr. Ul-rich Schmucker vom Fraunhofer-Institut fur Fabrikbetrieb und -automatisie-rung (IFF) in Magdeburg wird dieses Jahr eine taktile Sensorplattform ent-wickelt, die sich am Bau der Stabheuschreckenantenne orientiert. Sollte dieseStudie erfolgreich verlaufen, eroffnet sich fur die Weiterentwicklung aktivertaktiler Sonden ein reichhaltiges Anwendungspotenzial, u.a. fur autonome Ro-boter.

Konkrete Anwendungsbeispiele der abgeschlossenen Arbeiten gibt es beider neu entwickelten Software VideoTrack sowie der Nutzung der theo-retischen Berechnungen bei der Analyse experimenteller Daten (z.B. inverseKinematik). Die Software VideoTrack wird bereits in mehreren neuroetho-logischen Studien an der University of Cambridge und an der UniversitatBielefeld angewandt.

3.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

3.2.1 Ausgangslage

Autonome Laufer brauchen sensorische Information uber ihre eigene Postur(propriorezeptive Information) sowie uber die Umgebung in der sie sich bewe-gen (exterorezeptive Information). Wahrend erstere notig ist um Reflexe zuermoglichen, z.B. zur Stabilisierung des Gleichgewichts, ist letztere, die Vor-aussetzung um vorausschauend zu handeln, z.B. um die nachsten Schritte zuplanen. Exterorezeptive Sensorik mobiler Roboter beschrankt sich weitestge-hend auf optische und akustische Messverfahren, die die Umgebung entwedermit einem Rasterverfahren abtasten (Ultraschall, Laser-Entfernungsmesser),oder Kamerabilder verarbeiten (z.B. Stereosehen). Mechanische Kontaktsen-soren werden bislang fast ausschließlich passiv eingesetzt, z.B. um eine Be-ruhrung mit einer Wand zu detektieren (z.B. Roboter Genghis; [2]). Aufdem Laufroboter Sprawlette [4] kommen passive Antennen mit Mechano-sensoren zum Einsatz, die nicht nur binare Kontaktinformation, sondern auchAbstandsinformation liefern. Ansatze zu aktiv bewegten Tastsonden sind in

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50 Volker Durr

der Robotik zwar vereinzelt erarbeitet worden (z.B. [21, 28]), werden abernicht auf mobilen Robotern angewandt.

Menschen und Tiere nutzen zur Raumwahrnehmung neben ihren visuellenund auditorischen Sinnessystemen auch den aktiven taktilen Sinn. Dies giltfur einen Blinden mit Blindenstab genauso wie fur Insekten, die ihre Antennenbeim Laufen fortwahrend bewegen. Beim taktilen Sinn muss das Sinnesorganbewegt werden um der Raumwahrnehmung zu dienen, da ansonsten nur ein-dimensionale Kontaktinformation moglich ware. Eigenbewegung einer aktivenmechanischen Sonde bringt die Notwendigkeit mit sich, durch Eigenbewegunginduzierte Information von externer Information, z.B. uber beruhrte Objek-te, zu trennen. Uber die physiologischen Mechanismen, die dieses leisten, istbislang fast nichts bekannt.

Alle Arthropoden tragen aktiv bewegliche Sensorgliedmaßen, Antennenund Palpen, die neben Geruchs-, Geschmacks- und Temperaturinformationauch mechanische Information aufnehmen konnen. Der gangigen Interpreta-tion zufolge, sind Antennen und Palpen im Laufe der Evolution aus Lauf-beinen hervorgegangen, verloren also ihre lokomotorischen Aufgaben um zuspezialisierten Tastbeinen zu werden. Die morphologisch-physiologische Ver-wandtschaft von Beinen und Antennen wird z.B. in der Fahigkeit einiger In-sekten deutlich, anstelle einer amputierten Antenne ein Bein zu regenerieren(z.B. [6]).

Die Bedeutung der Antennen fur Verhaltensleistungen von Insekten sindhinlanglich bekannt und im Falle der Olfaktorik [16,24], Akustik (z.B. [7,15])und Thermosensorik (z.B. [3, 27]) relativ gut untersucht. Was die Mechano-sensorik der Antenne betrifft, sind Form und Funktion diverser Sensillentypenebenfalls gut beschrieben und eine Vielzahl von Einzelstudien legt nahe, dassantennale Mechanorezeption in den verschiedensten Verhaltenskontexten eineRolle spielt (zusammengefasst in [26]). Unter den Insekten eignen sich fur dieUntersuchung des aktiven taktilen Sinnes und seiner Bedeutung bei der Fort-bewegung besonders die Stabheuschrecke Carausius morosus und die GrilleGryllus bimaculatus, da beide Arten sowohl aktive Antennenbewegungen beimLaufen [11, 18] oder aktive Objektfolgebewegungen [17] zeigen, als auch eta-blierte Modellorganismen in der Neuroethologie sind [1, 19]. Es liegt dahernahe, die Physiologie von Antennenbewegungen bei Stabheuschrecken zu un-tersuchen um daraus Hinweise fur die Entwicklung biomimetischer aktiverTastsensoren fur autonome Laufmaschinen zu entwickeln (siehe auch [12,14]).

3.2.2 Beschreibung der durchgefuhrten Arbeiten

Wie im ursprunglichen Arbeitsplan vorgesehen dienten die durchgefuhrtenArbeiten zwei Zielen. Einerseits wurde die Verhaltens- und Neurophysiolo-gie des aktiven taktilen Sinnes der Stabheuschrecke Carausius morosus naheruntersucht um ein spezielles Vorbild fur biomimetisch-technische Losungenim Detail zu verstehen. Andererseits sollten theoretische Uberlegungen undSimulationsstudien die Modellierung des biologischen Vorbilds vorantreiben,

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3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur Hindernisdetektion 51

sowie grundlegende Untersuchungen zur sensorischen Leistungsfahigkeit akti-ver taktiler Sensoren ermoglichen.

Theoretische und Methodische Arbeiten (Teilprojekte I-III)

Um die Modellierung einer Insektenantenne zu ermoglichen war es zunachstnotig, ihre Kinematik formal zu beschreiben. Dafur wurden publizierte Arbei-ten zum Bewegungsapparat von Insekten- und Krebsantennen recherchiert,ein generisches kinematisches Modell einer typischen Insektenantenne erstellt,sowie dessen inverse Kinematik analytisch bestimmt (I).

Fur die Weiterfuhrung der verhaltensphysiologischen Studien war es wun-schenswert, die enorm zeitraubende und nicht immer genaue, manuelle Aus-wertung von Videoaufnahmen zu verbessern. Aus finanziellen und praktischenGrunden sollte eine neue Losung nicht die Komplexitat der Videoapparaturerhohen, sondern vor allem die Extraktion der kinematischen Daten aus denaufgenommenen Filmen unterstutzen und, wenn moglich, automatisieren. Diespeziell dafur entwickelte Software VideoTrack (II) kann am Tier ange-brachte, reflektierende Marker detektieren und mithilfe eines stochastischenOptimierungsverfahrens ein vordefiniertes kinematisches Modell an die beob-achteten Markerpositionen anpassen.

Außerdem wurde eine spezielle Infrarot-Blitzbeleuchtungsanlage (III) furdie Videoapparatur entwickelt, um den Kontrast zwischen Markern und Hin-tergrund zu optimieren.

Sensorik und Bewegungsphysiologie (Teilprojekte IV-XI)

Um die Borstenfelder und -reihen an den basalen Antennengelenken der An-tenne zu charakterisieren wurden rasterelektronenmikroskopische Aufnahmenangefertigt, anhand derer Lage und Anzahl der Sensillen innerhalb der Bors-tenfelder bestimmt wurden (IV).

Voraussetzung fur die neurophysiologische Untersuchung des antennalentaktilen Sinnes ist die Kenntnis der Neuroanatomie der sensorischen Af-ferenzen. In einer Reihe von Voruntersuchungen wurden die Projektionender Borstenfeld-Afferenzen uber anterograde Farbung mit Cobaltchlorid oderNeurobiotin sichtbar gemacht und entweder in Schnittserien, Bildserien derpraparierten Gehirne im Wholemount, oder mittels hochauflosender Konfo-kalmikroskopie dokumentiert (V). Die anatomische Beschreibung der Afferen-zen gestaltet sich deutlich aufwandiger als gedacht. Ein Grund hierfur ist dieunerwartete Komplexitat der Borstenfelder und -reihen, die erst seit kurzemin notwendigem Maße bekannt ist. Bereits vorhandene Literaturangaben [29]erwiesen sich als falsch.

Außer den Afferenzen wurden auch auf- bzw. absteigende Neurone vom/zum Prothorakalganglion mit Neurobiotin retrograd uber Konnektivfarbun-gen dokumentiert. Ziel hierbei war die Beschreibung von Neuronenclustern im

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Gehirn, die als Kandidaten fur den direkten Informationstransfer von Antennezum Vorderbein in Frage kommen (VI).

Um festzustellen, ob und wie Stabheuschrecken die Winkelstellungsinfor-mation der Gelenkborstenfelder fur die Bewegungssteuerung nutzen, wur-den zwei Typen von Ausschaltexperimenten durchgefuhrt: Durch Ausschaltenvon Antennen und/oder Augen wurde nachgewiesen, dass Stabheuschreckentaktile Information der Antennen zur Anderung der Korperachsenstellung,und damit des Laufverhaltens nutzen (VII). Erste Verhaltensexperimente mitBorstenfeld-Lasionen sollten daruber hinaus die Nutzung dieser Propriorezep-toren bei der Antennenbewegungssteuerung aufklaren (VIII).

Weitere Teilprojekte befassten sich mit der Koordinatentransformationvon Kontaktposition der Antenne zur passenden Postur des Vorderbeins. Zumeinen wurde der Zusammenhang von Antennenkontaktposition und dadurchinduzierter Greifbewegung des Vorderbeins analysiert (IX), zum anderen dieBedeutung von Antennen- und Beinkontakten bei der Hindernisuberwindunguntersucht (X).

Um die Beinsimulation, speziell die Modellierung des Greifverhaltens, vor-zubereiten, wurde anhand kinematischer Berechnungen an empirischen Datenaus [8] uberpruft, wie stark sich sie Achsenstellung des Thorax-Coxa-Gelenksim Vorderbein verandert (XI). Zwar ist durch [5] bekannt, dass diese Ge-lenkachse nicht starr ist, aber das Ausmaß dieses zusatzlichen Freiheitsgradeswar bislang nicht dokumentiert.

Antennen- und Beinsimulation (Teilprojekte XII-XVI)

Als Grundlage fur weiterfuhrende Modellstudien uber Antennenbewegungenwurde eine OpenGL-Simulation fur die direkte Kinematik beliebiger Insek-tenantennen geschrieben (Abb. 3.1). Die Bedeutung diverser morphologischerund bewegungsphysiologischer Parameter konnte auch uber ein grafisches In-terface interaktiv untersucht werden, z.B. mit der raumlichen Darstellung derAntennentrajektorie als gewundenes Band, was sich fur die Planung und In-terpretation der endgultigen Experimentserien als sehr hilfreich erwies. Mitdieser Simulationssoftware wurde sowohl die Bedeutung von Gelenkachsen-stellung und - arbeitsbereich, Segmentlange, sowie Phasenlage und Frequenzder Bewegung fur die Form des Antennenarbeitsbereiches, die Positionierge-nauigkeit (raumliches Auflosungsvermogen) und die taktile Effizienz bestimmt(XII). Durch Variation von Objektdichte und -form in der simulierten Umge-bung wurde die Rolle bestimmter Umwelteigenschaften auf die Tast-Effizienzbestimmter Bewegungsmuster studiert (XIII).

Die Optimierung von Bewegungsmuster und Morphologie der Antennewurde mit evolutionaren Algorithmen versucht (XIV). Die Formulierung derAntennenevolution als multikriterielles Optimierungsproblem fuhrte zur Be-rechnung so genannter Pareto-Fronten, die das Zusammenspiel verschiedenerParameter bei der Bestimmung der Effizienz des Gesamtsystems veranschau-lichen sollte. Diese Analyse dauert noch an.

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3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur Hindernisdetektion 53

Zur Simulation von Antennenfolgebewegungen wurde ein selbst - organi-sierendes Vorwartsmodell der Antennenkinematik entwickelt, das auf meh-reren parallelen Kohonen-Karten basiert (XV). Eine Simulation empirischerSchwing- und Suchbewegungen bediente sich an Varianten des kunstlichenneuronalen Netzes (KNN) SwingNet. Dabei wurden unterschiedliche Netz-Architekturen getestet um z.B. die Bedeutung von Antagonisten und inhibito-rischen Motoneuronen besser zu verstehen (XVI). Als vermeintlicher Grund-typus mechanisch ungekoppelter Beinbewegungen ist das Verstandnis vonSchwingbewegungen die Grundlage fur das Modellieren von Greifbewegun-gen.

Modifizierte und vertagte Teilprojekte

Einer Empfehlung der Gutachter folgend, wurden die Sensorkennlinien einzel-ner Borstenfelder nicht aufgenommen.

Bei der Antennensimulation wurde die Entwicklung eines KNN zur kine-matischen Simulation der Antennenbewegung innerhalb der LaufsimulationWalkNet vorerst vertagt, vor allem weil stattdessen die Modellsimulatio-nen der theoretischen Studie ausgeweitet wurden. Außerdem erlaubten diebereits vorhandenen Trajektoriendaten keine eindeutige Trennung von Kopf-und Antennenbewegungen und somit nur ungenaue Bestimmung der Gelenk-winkelverlaufe. Ein KNN hatte also mit unzureichenden Daten trainiert wer-den mussen. Die Trennung von Kopf- und Antennenbewegungen ist seit derEntwicklung der neuen Videoapparatur moglich. Entsprechende Daten werdenzur Zeit erhoben.

Die deutlichsten Anderungen im ursprunglichen Arbeitsprogramm betref-fen die gemeinsame Simulation von Bein- und Antennenbewegungen, die erstnach Abschluss der Antennensimulationen Sinn macht. Das geplante KNN furAntenne-Bein-Koordinatentransformation ist aufgrund der eindeutigen Zu-ordnung von Antennenkontaktpunkt und Beinpostur nur eine Routineaufgabe,die allerdings vorerst in den Hintergrund geruckt ist. Das Training der Walk-

Net-Komponente SwingNet mit empirischen Greiftrajektorien, ebenso wiedie Simulation des Greifverhaltens in kunstlicher Umwelt stehen noch an. MitAbschluss der Antennensimulation ist die ,virtuelle Welt’ fur die Simulationdes Greifverhaltens bereits gegeben. Mit Wegfall der elektrophysiologischenBestimmung der Sensorkennlinien fiel der ursprunglich geplante Effizienztestzur Auswirkung der Sensorkennlinien auf die Greifgenauigkeit aus.

3.2.3 Darstellung der erzielten Ergebnisse

Theoretische Uberlegungen und Methodik

I. Die Antennen vieler Insektenfamilien (z.B. von Stabheuschrecken und Gril-len) lassen sich als kinematische Kette mit zwei Scharniergelenken beschrei-ben. Ein generisches Modell mit wenigen Parametern erlaubt Vergleiche zwi-

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Abb. 3.1. Grafische Oberflache der Simulationsumgebung fur die theoretische Ana-lyse der Antennenmorphologie und -bewegung.A) Ein stilisierter Insektenkorpertragt zwei bilateralsymmetrische Antennen, die uber je zwei Scharniergelenke bewegtwerden (schrag stehende Pfeile zeigen Achsenstellung bei Carausius morosus). DieBander illustrieren die zuruckgelegte Trajektorie der Antennenbewegung. Rechts istdas dazugehorige Bedienungsfenster abgebildet.B) Schragaufsicht von oben auf dasAntennenmodell der Stabheuschrecke in einer stochastischen Testumgebung. Fur dieBestimmung der taktilen Effizienz eines Bewegungsmusters wurde eine Objektwolkeauf das Antennenmodell zu bewegt und jeder Schnittpunkt mit einem der Objek-te als Treffer gewertet. Die Trefferzahl wahrend einer standardisierten Testperiodewurde durch den Energieverbrauch geteilt. Als Energieverbrauch wurde ein viskosesReibungsmodell angenommen, das stark geschwindigkeitsabhangig ist.C) Der hypo-thetische Arbeitsbereich einer Antenne mit der Gelenkstellung von C. morosus, bei360◦ Rotation beider Gelenke. Der Torus (frontal angeschnitten) ist asymmetrisch.Posterio-lateral liegt ein kleiner, unerreichbarer Bereich. Dar große, medial gelegeneBereich außer Reichweite wird durch den Arbeitsbereich der contralateralen Antenneabgedeckt.

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3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur Hindernisdetektion 55

schen verschiedenen Arten, sowie die Berechnung der Gelenkwinkel aus denKoordinaten des Antennenendpunktes.

II. Die Software VideoTrack wurde fur das Betriebssystem Windows

programmiert und erlaubt durch eine benutzerfreundliche Oberflache auchdie Bedienung durch wenig geschulte Mitarbeiter. Durch die Anwendung desVerfahrens Simulated Annealing wird ein kinematisches Modell, dessenKomponenten im Verhaltensexperiment leicht gemessen werden konnen, andie detektierten Markerpositionen angepasst. Da nicht Trajektorien bestimmtwerden sondern einzelne Korperposturen, kann bereits bei geringer zeitlicherAuflosung (PAL-Videobild) und auch bei Markerverdeckung eine korrekte Lo-sung gefunden werden. Die Genauigkeit und Robustheit des Verfahrens gleichtder kommerzieller Software [30]. Auch die Extraktion von 3D-Daten aus 2D-Bildern ist moglich, da immer ein 3D-Modell angepasst wird.

III. Ein spezieller Ring-Blitz aus Infrarot-LEDs, der direkt am Kameraob-jektiv montiert und mit dem Videosignal synchronisiert wird, ermoglicht beiVerwendung von retroreflektierenden Markern (z.B. Folie Scotchlite, 3M)sehr kontrastreiche Aufnahmen. Bei Experimenten mit nachtaktiven Tierenkann auch in absoluter Dunkelheit gearbeitet werden. Auch sehr kleine Markerkonnen verwendet werden, z.B. um an der feinen Antennengeißel angebrachtzu werden.

Sensorik und Bewegungsphysiologie

IV. Die Antenne von Carausius morosus tragt an der Basis der beiden ers-ten Segmente vier Borstenfelder und zwei Borstenreihen [25]. Die Stellung desKopf-Scapus-Gelenks (KS-Gelenk) wird durch ein dorsales und ein ventralesBorstenfeld, sowie eine ventro-mediale Borstenreihe detektiert. Die Stellungdes Scapus-Pedicellus-Gelenks (SP-Gelenk) wird durch ein dorso-mediales undein ventro-laterales Borstenfeld (pHPvl), sowie eine ventro-laterale und einedorso-laterale Borstenreihe detektiert. Die Borstenreihen des Pedicellus rei-chen unmittelbar an den lateralen Gelenkpunkt heran.

V. Erste Ergebnisse zeigten große anatomische Unterschiede zwischen denAfferenzen der beiden pedicellaren Borstenfeldern [10]. Zum einen sind dieArborisationsmuster im Deutocerebrum unterschiedlich, zum anderen findetman bei pHPvl-Afferenzen Projektionen bis in den Thorax, sonst aber nurbis ins Suboesophagalganglion. Außerdem kommt es bei vielen Farbungen zuDye-Coupling mit Antennen-Motoneuronen, was auf eine direkte synapti-sche Verbindung schließen ließe. Kontrollpraparate mit großeren Farbstoff-Molekulen stehen allerdings noch an.

VI. Drei Cluster mit absteigenden Neuronen wurden im Gehirn von C.morosus dokumentiert: Ein rein ipsilateraler Cluster in der ventralen Rindedes Protocerebrums, ein bilateraler Cluster, der sich diagonal vom anterio-ren ventro-medialen zum posterioren dorso-lateralen Protocerebrum erstreckt,und ein weiterer bilateraler Cluster im ventro-medialen Deutocerebrum [10].Die Zahl der Somata in diesen Clustern wurde ausgezahlt.

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VII. Beim Erklettern eines wandformigen Hindernisses verhalten sich blin-de Tiere wie sehende: Mit intakten Antennen wird die Korperachse deutlichfruher aufgerichtet als bei Tieren ohne Antennen. Demnach ist der taktile Sinnfur das Klettern bedeutender als der visuelle [14,25].

VIII. Rasur der Borstenfelder am KS-Gelenk fuhren zu einer markantenAnderung des Antennenbewegungsmusters [9], was auf eine wichtige Rolledieser Propriorezeptoren bei der Bewegungssteuerung der Antenne schließenlasst.

IX. Schwingbewegungen eines Vorderbeins konnen nach einem Antennen-kontakt mit einem vertikalen Stab umgelenkt werden und gewissermaßen ineine Greifbewegung ubergehen [12]. Greifbewegungen beruhren den Stab ober-halb des ersten Antennen- und unterhalb des letzten Kontaktpunktes. DieBeinbewegung ist nicht optimal gezielt, da der Stab nicht immer mit demTarsus zuerst beruhrt wird, aber genugend gut um nie zu kurz zu greifen undum meistens mit dem distalen Drittel der Tibia zuerst zu beruhren.

X. Bei einem wandformigen Hindernis gibt es signifikante Korrelationenzwischen Seite der Erstberuhrung und der Richtung des nachfolgenden Klet-terverhaltens. Stabheuschrecken drehen meist ab von der Seite der zuerst be-ruhrenden Extremitat, und hin zur Seite der zuerst beruhrten Wandflache [25].Eine kinematische Analyse dieser Daten steht noch aus.

XI. Wahrend Suchbewegungen (Daten aus [11]) andert sich die Neigungder Thorax-Coxa-Gelenkachse im Mittel um 0.9◦ pro 10◦ Protraktion im Vor-derbein und um 1.1◦ pro 10◦ Protraktion im Hinterbein. Bei einer durch-schnittlichen Schwingbewegung mit 60◦ Protraktion bedeutet dies eine Nei-gungsanderung um 5.4◦ im Vorderbein und 6.6◦ im Hinterbein.

Antennen- und Beinsimulation

XII. Die Spitze einer zweigelenkigen Antenne bewegt sich auf der Oberfla-che eines Torus, dessen Locher unerreichbare Zonen darstellen (Abb. 3.1 C).Der Winkel zwischen den beiden Gelenkachsen bestimmt die Große der bei-den unerreichbaren Zonen, die Schragstellung des Flagellums auf dem Pe-dicellus deren Asymmetrie [22]. Grillenantennen haben keine unerreichbarenZonen, Carausius morosus hat dagegen eine im ventro-lateralen Bereich. Beibegrenzter Genauigkeit eines Gelenks erhoht sich die Positioniergenauigkeitder Antennenspitze mit abnehmendem Winkel zwischen den Achsen. Zur De-finition eines Effizienzbegriffs wurde die Zahl detektierter Objekte in einerstochastischen Umgebung bestimmt und durch einen geschwindigkeitsabhan-gigen Energieverbrauch (Reibungsverlust) geteilt.

XIII. Die Carausius-Antenne mit ihren schrag stehenden Achsen detektiertbei gegebenem Bewegungsmuster horizontale und vertikale Kanten etwa gleicheffizient, wahrend eine Grillenantenne das Bewegungsmuster an die vorherr-schende Kantenorientierung anpassen muss um gleiche Effizienz zu erreichen(Abb. 3.2).

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3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur Hindernisdetektion 57

Abb. 3.2. Umwelteigenschaften und Antennenmorphologie haben einen starkenEinfluss auf die taktile Effizienz eines Bewegungsmusters. Der Vergleich zeigt zweiMorphologievarianten (Simple: orthogonale Gelenkachsen, ahnlich der einer Grille;C. morosus: Situation der Stabheuschrecke) und drei Umweltvarianten (Zylinder-umgebungen mit vorherrschend horizontaler oder vertikaler Kantenorientierung und,neutrale’ Kugelumgebung). Fur jede Kombination wurden Bewegungsstrategien ge-testet, in denen beide Achsen sinusformig mit einer Frequenz von 0 bis 3 Hz ange-steuert wurden (fa: Frequenz des Kopf-Scapus-Gelenks; fb: Frequenz des Scapus-Pedicellus-Gelenks). Je dunkler die Graustufe, desto hoher ist die taktile Effizienzdes Bewegungsmusters. Bei der Grillenmorphologie zeigt sich eine umweltabhangigeVerschiebung des Maximums, d.h. die beste Strategie fur waagerechte Kanten (A)ist ungeeignet fur senkrechte Kanten (B). Beim Stabheuschreckenmodell sind die ef-fizientesten Strategien nur wenig von den getesteten Umwelteigenschaften abhangig(vgl. etwa D und F). Die dunklen diagonalen Linien zeigen die Lage von Lissajous-Figuren wie sie z.B. bei fa = fb oder fa = 2fb entstehen. Die eingefugten Grafikenzeigen einen diagonalen Schnitt mit fa = 2-fb und fb = [0..2]. (modifiziert nach [23])

XIV. Werden Antennenmorphologie und –bewegungsmuster gleichzeitigfur eine bestimmte Umgebung optimiert, kann der Trade-Off zwischen mehre-ren Optimierungskriterien (z.B. Menge der detektierten Objekte, Energiekos-ten und morphologische

”Baukosten“) quantifiziert werden (z.B. [20]). Uber die

so genannte Pareto-Front wird die Menge aller Losungen sichtbar gemacht,die fur mogliche Gewichtungskombinationen der Kriterien optimal waren. Ineiner Design-Aufgabenstellung kann daraus die am besten geeignete Kombi-nation herausgesucht werden. Im biologisch-evolutionaren Kontext kann uber

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58 Volker Durr

die Lage relativ zur Pareto-Front ggf. die Anpassung spezieller Losungen(z.B. Antennentypen verschiedener Arten) erortert werden. Dies zeichnete sichbislang als viel versprechender Ansatz ab.

XV. Ein selbst-organisierendes Vorwartsmodell aus parallelen Kohonen-Karten kann das inverse-Kinematik-Problem bei Antennenfolgebewegungenlosen, indem die adaquate Postur iterativ bestimmt wird [12]. Biologischmacht dieses Modell insofern Sinn, als inverse Kinematik vom Tier nur schlechtgelernt werden kann, z.B. wegen moglicher Singularitaten. Die Vorwartskine-matik hingegen ist immer eindeutig.

XVI. Die Kinematik von Suchbewegungen der Beine konnen mit einem ein-fachen KNN simuliert werden indem Regelkreiseigenschaften des KNN dafursorgen, dass die eine Schwingbewegung, die nicht durch Bodenkontakt termi-niert wird, in eine Serie von zyklischen Suchschleifen mundet [8]. Integrationeines inhibitorischen Elements (Common Inhibitor) und der Vorwartsge-schwindigkeit fuhren zu sehr realistischen Vorderbeinsuchbewegungen (Abb.3.3).

3.2.4 Ausblick auf kunftige Arbeiten

Im direkten Anschluss an die beschriebenen Projekte stehen besonders dieWeiterfuhrung der Teilprojekte V (Neuroanatomie) IX und X (Bewegungsphy-siologie des Abtastmusters und der Antenne-Bein-Koordination) sowie XIV(multikriterielle Optimierung) und XVI (Simulation von Greifbewegungen)im Vordergrund. Eine neuroanatomische und –physiologische Arbeit zur Ver-arbeitung mechanorezeptiver Information im Deutocerebrum ist von großerBedeutung fur die Modellbildung, da sie Mechanismen der neuronalen Koor-dinatentransformation erfassen kann. Konkret wird hierbei die Transformati-on von einem polarkoordinaten-ahnlichen Raum, in dem der Antennenkontaktreprasentiert sein wird (Gelenkwinkel und Kontaktentfernung auf dem Flagel-lum), in einem Beingelenkwinkel-Raum untersucht, die die Erzeugung geziel-ter Greifbewegungen ermoglicht. Mathematisch ist diese Abbildung innerhalbdes gemeinsamen Arbeitsraumes von Antenne und Bein bijektiv und deshalbeindeutig bestimmt. Wie diese Abbildung neuronal bewerkstelligt wird ist je-doch vollig unbekannt. Die Kenntnis dieser Transformation ist Grundlage furdie Modellbildung und anschließender Simulation mit kunstlichen neuronalenNetzen.

Fur die technische Anwendung aktiver taktiler Sensoren wird eine Fortfuh-rung der bewegungsphysiologischen Studien von Vorteil sein, da hier spezielleLosungen von ,erfolgreichen’ Abtastmustern mit jenen verglichen und interpre-tiert werden konnen, die uber theoretische Studien (z.B. uber Pareto-Fronten)ermittelt wurden.

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3 Nutzung aktiver Antennenbewegungen zur Hindernisdetektion 59

Abb. 3.3. Suchbewegungen des Vorderbeins konnen bei leichter Erweiterung vonSwingNet als nicht-terminierte Schwingbewegungen realistisch modelliert werden(Vgl. [8]). A) Das kunstliche Neuronale Netz (ANN) SwingNet regelt den Grund-typ aller mechanisch ungekoppelter Beinbewegungen, die Schwingbewegung. Dabeireichen drei Neuroide aus, die eine Zielpostur (Beinwinkel αT , βT , γT ) und diegegenwartige Beinpostur (Beinwinkel α, β, γ) eingegeben bekommt und die Bein-bewegung als Winkelgeschwindigkeiten ausgibt. Erweiterung um Antagonisten undeinen Common Inhibitor (graue Gewichte) und einen zusatzlichen sensorischenEingang, der die Vorwartsbewegung des Korpers misst (velocity) erlauben die Er-zeugung deutlich realistischerer Bewegungen als bei [8]. Der Common Inhibitor

wirkt hemmend (weiße Gewichte) auf alle ubrigen Neuroide. B) Beispieltrajekto-rie einer Suchbewegung des Vorderbeins von Carausius morosus im korperfestenKoordinatensystem mit Ursprung im Thorax-Coxa-Gelenk (x: Langsachse, z: Hoch-achse). C) Die Trajektorie des ANN SwingNet, nach Training der Gewichte miteinem Random-Search-Algorithmus, zeigt große Ahnlichkeit mit dem Vorbild. Dasverwendete Netz hatte in diesem Fall keine Antagonisten, aber den Geschwindig-keitseingang und einen Common Inhibitor.

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4

Periphere Kontrolle sensorischer Signalflusse:

Datenreduktion und -selektion

Harald Wolf

Abteilung Neurobiologie, Universitat Ulm

4.1 Zusammenfassung

Die Modulation peripherer sensorischer Signalflusse, d.h.vor der Verrechnungim Zentralnervensystem, wurde untersucht. Dies geschah vorwiegend am Bei-spiel des femoralen Chordotonalorgans, eines mit dem

”Kniegelenk“ der Insek-

ten assoziierten Stellungsrezeptors, bei Wander- und Stabheuschrecken. Unter-sucht wurden die prasynaptische Hemmung und die Spikefrequenzadaptation.Die durch diese Mechanismen bewirkte Reduktion des Signalflusses konnte ei-ne wichtige Rolle spielen bei der Bewaltigung der in Tieren – im Gegensatz zuLaufrobotern – zu beobachtenden Uberfulle an sensorischen (Ruck-)Meldun-gen uber Beinbewegung und -belastung. Bemerkenswert sind Interaktionenvon verschiedenen an der Bewegungskontrolle beteiligten Sinnesorganen, wieBorstenfeldern und Chordotonalorganen, bereits auf der Ebene der prasynap-tischen Hemmung, sowie der bisher fur Sinnesorgane unbekannte Adaptati-onsmechanismus der Spikefrequenzadaptation.

4.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

4.2.1 Ausgangslage

Meldungen der Beinsensorik uber Bewegungsfortschritt, Kontakt zu Bodenoder Hindernissen etc. sind fur die Kontrolle von Beinbewegungen von ent-scheidender Bedeutung, bei der Lokomotion von Tieren genauso wie beiLaufrobotern. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf die Flexibilitat der Bein-bewegung und die Bewaltigung unvorhersehbarer Situationen. Angesichts derFulle sensorischer Ruckmeldungen kann es sinnvoll sein, Sensordaten bereitsperipher auszuwahlen und zu reduzieren. Bei der Lokomotion von Tieren -Wirbeltieren wie Wirbellosen - kommt hierfur in erster Linie die prasynapti-sche Hemmung afferenter Signalflusse in Frage (z. B. [4, 13]). Doch auch auf

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64 Harald Wolf

der Ebene zentralnervoser Interneurone konnen funktionell relevante Daten-segmente ausgewahlt werden, beispielsweise im Rahmen phasenabhangigerVerstarkungsregelung. Mechanismen und funktionelle Bedeutung einer sol-chen Datenselektion und Datenreduktion waren Gegenstand des Forschungs-projekts. Im Mittelpunkt stand hierbei das femorale Chordotonalorgan desFemur-Tibia Gelenkes bei Stab- und Wanderheuschrecken als Sensoren des Ge-lenkwinkels. Der Grund hierfur ist zum Einen die gute experimentelle Zugriffs-moglichkeit auf diesen Sensor und zum Anderen der ausgezeichnete Kenntnis-stand aus fruheren Arbeiten (Zusammenfassung: [1,2]), was eine unmittelbareEinordnung aktueller Ergebnisse ermoglichen sollte.

4.2.2 Durchgefuhrte Arbeiten

In dem Projekt wurde die prasynaptische Hemmung von Afferenzen der Bein-sensorik, insbesondere des femoralen Chordotonalorgans, bei Stabheuschre-cken elektrophysiologisch untersucht und mit den Verhaltnissen bei Wander-heuschrecken [4, 20] verglichen. Hierbei zeigten sich grundsatzliche Uberein-stimmungen zwischen Stab- und Wanderheuschrecken - wie nicht anders zuerwarten - doch auch wichtige Unterschiede in Details mit womoglich signifi-kanter funktioneller Bedeutung.

4.3 Erzielte Ergebnisse

4.3.1 Prasynaptische Hemmung

1. Prasynaptische Hemmung einer Sinnesafferenz wird im femoralen Chordo-tonalorgan insbesondere durch Spikeaktivitat im Sinnesorgan selbst aus-gelost. Dabei kann eine bestimmte Afferenz durchaus hemmende Eingangeals Antwort auf die Spike-Entladung andere Afferenzen mit unterschiedli-chen Antwortcharakteristika erhalten. Beispielsweise kann eine positions-empfindliche Afferenz positions- und geschwindigkeitsempfindliche hem-mende Eingange erhalten. Dies entspricht den Verhaltnissen bei Wander-heuschrecken.

2. In Frage kommen fur prasynaptische Hemmung jedoch auch zentralner-vose Quellen, insbesondere bei aktiver Bewegung (dieser Aspekt ist beiStabheuschrecken offenbar weniger ausgepragt, s.u., z.B.

”Twitching“). Ei-

ne Funktion zentralnervos generierter Eingange ist in der Form denkbar,dass man die prasynaptische Hemmung als Efferenzkopie [11] des moto-rischen Signals interpretiert. Die Hemmung der einlaufenden sensorischenSignale kann dann als Subtraktion der Efferenzkopie vom reafferenten Ein-gang verstanden werden. Das verbleibende (sensorische) Signal reprasen-tiert die Abweichung der ausgefuhrten von der geplanten Bewegung undkann zur Korrektur des Bewegungsablaufs und zur Kalibrierung des mo-torischen Systems herangezogen werden.

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4 Periphere Kontrolle sensorischer Signalflusse 65

3. Prasynaptisch hemmende Eingange, die ihren Ursprung in der Erregunganderer Sinnesorgane haben sind selten, aber vorhanden [14, 16]. Hier-bei wurde gegenseitige Hemmung auf der prasynaptischen Ebene zwi-schen femoralem Chordotonalorgan, campaniformen Sensillen und coxalenBorstenfeldern nachgewiesen. Derartige Interaktionen zwischen verschie-denen Sinnesorganen, bereits auf der Ebene der prasynaptischen Hem-mung, konnten eine wichtige Funktion bei der ersten Verrechnung undReduktion von Sinneseingangen haben.

4. Die Auspragung der prasynaptischen Inhibition von fCO-Afferenzen istin der Stabheuschrecke wesentlich invarianter als in anderen Praparaten,insbesondere der Wanderheuschrecke (vgl. [20]). Eine Abhangigkeit vomVerhaltenszustand konnte nicht beobachtet werden. Ursache und Bedeu-tung dieser artspezifischen Unterschiede sind unklar und werden z.Z. un-tersucht.

5. D.h. bei der Stabheuschrecke wird die prasynaptische Hemmung durchVerstarkungsanderungen im Regelkreis und insbesondere wahrend der Re-flexumkehr offenbar nicht beeintrachtigt. Auch im aktiven Tier ist in derRegel keine Modulation des Membranpotentials zu beobachten, außer imRahmen von Spikeentladungen der Afferenz selbst.

6. Einzig beim”Twitching“, einer Kokontraktion der Beinmuskulatur z.B.

bei Beunruhigung, lassen sich reproduzierbare und relativ stereotype pra-synaptische Eingange hervorrufen, die von zentraler Quelle generiert wer-den, auch wenn sie meist mit einer Entladung der betreffenden Afferenzverbunden sind.

4.3.2 Spikefrequenzadaptation bei afferenten Fasern desfemoralen Chordotonalorgans

In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Ralph DiCaprio, Ohio State University,und Prof. Dr. Ansgar Buschges, Universitat Koln, wurde eine fur Sinnesaf-ferenzen vollig neue Form der Adaptation beobachtet. Es handelt sich umeine Spikefrequenz-Adaptation, die vollkommen unabhangig von den bekann-ten Mechanismen der Adaptation auf der Ebene der Signaltransduktion wirkt.Hierbei adaptiert die Umsetzung des Rezeptorpotenzials in die Frequenz derSpike-Entladung auf dem Rezeptoraxon, offenbar aufgrund von Kaliumleitfa-higkeiten, die von der Konzentration an Kalziumionen abhangig sind. Es istklar, dass eine derartige Spikefrequenzadaptation die Charakteristik der Si-gnalubertragung von Sensoren deutlich beeinflusst und eventuell ahnlich wiedie prasynaptische Inhibition an einer Datenreduktion beteiligt sein kann [9].

4.3.3 Vergleichende Untersuchung der Haltungskontrolle(Katalepsie bei Phasmiden und Proscopiiden)

In Kooperation mit Prof. Dr. Ulrich Bassler, Stuttgart, und teilweise mit Dr.Rolf Kittmann, NaVision, Freiburg, sowie im Rahmen der Diplomarbeit von

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66 Harald Wolf

Roland Spieß, wurde der Femur-Tibia Gelenkstellungsregelkreis bei Prosco-piiden (Kegelkopfschrecken) mit den von Stabheuschrecken bekannten Datenanhand einer kybernetischen und elektrophysiologischen Analyse verglichen.Die Untersuchung von Proscopiiden ist deshalb von besonderem Interesse, weilsie ein verwandtschaftlich entfernt stehendes Pendant zu den gut untersuch-ten Stabheuschrecken darstellen, und - vollig unabhangig von diesen - Zweig-mimese und damit einher gehende Spezialisierungen der Bewegungskontrolleevolviert haben. Die wichtigste dieser Spezialisierungen ist die sogenannte Ka-talepsie, eine extrem langsame Ausfuhrung von (Ruckkehr-)Bewegungen, dieoffenbar die Erregung von Aufmerksamkeit optisch orientierter Beutegreiferverhindern soll. Proscopiiden bilden damit ein exzellentes Testsystem, um dieanhand der Untersuchung von Stabheuschrecken aufgestellten Theorien zurBewegungskontrolle, insbesondere im Rahmen der Katalepsie, einer kritischenKontrolle zu unterziehen. Es zeigte sich, dass die grundsatzlichen Parameterder Haltungskontrolle - Positions- und Geschwindigkeitsempfindlichkeit, de-ren Verstarkung und Zeitkonstanten - bei Proscopiiden und Stabheuschreckenausgesprochen ahnlich sind und damit die bisherigen Vorstellungen bestati-gen. Insbesondere bei der Verstarkungskontrolle ergaben sich jedoch deutli-che Unterschiede, die eine Neuinterpretation der bisherigen Daten nahe le-gen [17]. Diese Daten helfen mit, die Anforderungen an die Modulation sen-sorischer Eingange, beispielsweise im Rahmen von prasynaptischer Hemmungoder Spikefrequenzadaptation, zu umreißen, und die dort erhaltenen Daten zuinterpretieren.

4.3.4 Insektizide als Mittel der spezifischen Ausschaltung vonBeinsensoren

In Kooperation mit Prof. Dr. Hartmut Kayser, Syngenta Crop Protection,Basel, wird zur Zeit der Wirkungsmechanismus eines neuroaktiven Insektizidsuntersucht. Dabei stellte sich heraus, dass dieses Insektizid vorwiegend, wo-moglich ausschließlich, auf Mechanosensillen wirkt. Dies konnte die Moglich-keit eroffnen, eine spezifische chemische Inaktivierung von Chordotonalorga-nen vorzunehmen, und damit neue experimentelle Moglichkeiten bei mehrerender oben vorgestellten Projekte eroffnen.

4.4 Ausblick und zukunftige Arbeiten

Mehrere der oben angesprochenen Fragen werden z.Z. im Rahmen eines Dis-sertationsprojekts weiter verfolgt. Die Doktorarbeit von Herrn Oliver Straubhat die Modellierung des Femur-Tibia Regelkreises der Stabheuschrecke zumGegenstand. Genutzt wird ein in der Abteilung Neurobiologie entwickeltesNeuronenmodell, welches die zellularen Eigenschaften von Neuronen fur ei-ne Netzwerksimulation mit hinreichender Genauigkeit wiedergibt, gleichzeitig

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4 Periphere Kontrolle sensorischer Signalflusse 67

aber einfach genug ist, um auch komplexe Netzwerke mit vertretbarem Rech-neaufwand zu modellieren [12]. Diese Modellierung konnte insbesondere beiFragen zur Rolle der prasynaptischen Hemmung in der Verstarkungkontrolleund in der moglichen Verrechnung von Efferenzkopien (s.o.) Losungsmoglich-keiten aufzeigen.

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68 Harald Wolf

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Teil II

Zweibeiniges Gehen

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5

Energieabsorption, Energiespeicherung und

Arbeit bei schneller Lokomotion uber unebenes

Terrain

Reinhard Blickhan, Veit Wank,Michael Gunther

Lehrstuhl fur Bewegungswissenschaft, Friedrich Schiller Universitat, Jena

5.1 Zusammenfassung

5.1.1 Selbststabilitat und der Arbeitspunkt beim Laufen

Die schnelle Lokomotion von Tieren kann in einer ersten Naherung in Formeines Masse-Feder Systems beschrieben werden. Auch beim Laufen (Rennen)des Menschen dominiert die quasi-elastische Arbeitsweise des menschlichenBeines die allgemeine Dynamik. Wahrend ein eindimensionales Masse-Feder-System einen Gleichgewichtswert besitzt, zu dem es nach Storungen zuruck-findet, ist dies nicht selbstverstandlich fur zweidimensionale Systeme, fur seg-mentierte Systeme und fur Systeme, bei welchen die elastischen Eigenschaf-ten erst durch geeignete Ansteuerung von Antrieben erzeugt werden. Bei derKonstruktion von Laufmaschinen wird die Ruckkehr oder das Einpendeln auferwunschte Gleichgewichtspunkte oder Bewegungsbahnen durch sensorischeRuckkopplung erreicht. Durch eine intelligente Konstruktion kann jedoch dieStabilitat durch eine rein mechanische Ruckkopplung uber die Bauteile ge-wahrleistet werden. Wir nennen dies

”Selbststabilisierung“. Unsere Untersu-

chungen zeigen, dass sowohl die Auslegung des Systems als auch die gewahltenBewegungsstrategien unter uberraschend vielfaltigen Aspekten dem Prinzipder Selbststabilisierung genugen. Neben dem Aspekt der Stabilisierung wur-den die Optimierung der Beingeometrie unter energetischen Gesichtspunktenund die Stoßdampfung durch schwingende Muskelmassen untersucht.

Aufgrund der hohen Zahl der Freiheitsgrade und der hohen Dimensiona-litat des Parameterraumes des menschlichen Bewegungsapparates ist es not-wendig, zunachst mit Hilfe von reduktionistischen Modellen ein Grundver-standnis fur selbststabilisierende Effekte zu ermitteln. Hierzu wurde eine Mo-dellpalette entwickelt, die von einem einfachen, zweidimensional arbeitendenMasse-Feder-System bis hin zu mehrgelenkigen Muskelskelettsystemen reicht.Alle Modelle sollten transparent sein, das heißt mit einem moglichst geringenParametersatz auskommen. Die eingesetzten Großen sollten daruber hinaus

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72 Reinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther

experimentell bestimmbar sein. Nur so kann der individuellen Varianz dieserGroßen Rechnung getragen werden, die zur Gewahrleistung einer Selbststabi-litat aufeinander abgestimmt sein mussen. Die Differential- und algebraischenGleichungen konnen fur alle Modelle noch manuell aufgestellt werden. Fur ihreLosung und die Parameterstudien wurden numerische Verfahren (Matlab, Ma-thworks; C++Routinen, Numerical Recipes in C [21]) eingesetzt. AllgemeineAussagen konnten jedoch insbesondere durch analytische Auswertungen derStabilitat der betrachteten Differentialgleichungen getroffen werden.

Zur Ermittlung beschreibender Parameter (Muskeleigenschaften) und dersemi-globalen Eigenschaften des segmentierten menschlichen Beines wurde ei-ne Bewegungsanalyse mit invers-dynamischen Berechnungen durchgefuhrt.

Fur die globale Operation des menschlichen Beines wurde nachgewiesen,dass bei menschahnlicher Auslegung (Steifigkeit, Masse, Segmentlangen) beiden von Menschen gewahlten Anstellwinkeln des Beines Selbststabilitat er-reicht wird. Unebenheiten von bis zu ca. 8 cm werden durch das Verhaltendes Systems kompensiert. Fuhrt man eine dreisegmentige Gliederkette mitlinearen Drehfedern als Ersatz fur die Beinfeder ein, so ergeben sich ab ei-ner bestimmten Beinverkurzung Instabilitaten. Ab diesem Punkt tendiert beiweiterer Beinverkurzung eines der beiden Gelenke dazu, sich auf Kosten desanderen Gelenkes zu offnen. Das Bein schiebt sich vom Z-Modus in den Bogen-modus. Die Z-formige (symmetrische) Verformung erfordert mehr Kraft als diebogenformige bei gleicher Beinverkurzung, ist also energetisch teurer. DurchEinfuhrung eines kurzeren und starker angewinkelten, außeren Beinsegmentesoder/und sich versteifende Drehfedern kann der stabile Verkurzungsbereichim Z-Modus aus starker Beinstreckung heraus vergroßert werden. Bei starkgebeugter Ausgangskonfiguration ist die Z-Anordnung stabil.

Werden Muskeln eingefuhrt, so muss das federartige Verhalten durch ei-ne entsprechende Ansteuerung (Koordination) der Muskulatur erreicht wer-den. Sie gewahrleistet jedoch nicht die Selbststabilitat dieses Muskel-Skelett-Systems. Die monoton ansteigende Kraft-Geschwindigkeitskurve ist eine not-wendige Voraussetzung fur die selbststabilisierenden Eigenschaften der Mus-kulatur. Letztere werden daruber hinaus durch einen Arbeitspunkt auf demansteigenden Ast der Kraft-Lange-Kurve und durch eine parallele Elastizitatunterstutzt. Eine serielle Elastizitat (Sehne) erschwert die Selbststabilisierung.Gerade im Bein ist der Einfluss der Geometrie und damit der Gelenkkon-struktion erheblich. Ohne flankierende Unterstutzung durch erhebliche par-allele Elastizitaten wird hier der Strecker nicht selbststabilisierend wirksam.Durch Einfuhrung des komplexen Roll-Gleit-Gelenkes mit wandernder Dreh-achse verbessert sich die Situation ebenfalls. Unter diesen Umstanden kannauch durch die Koaktivierung des Antagonisten der Stabilitatsbereich ver-großert werden, bzw. der Strecker von der sonst notwendigen Unterstutzungdurch parallele Elastizitaten befreit werden.

Die Zielgroße Selbststabilitat ist neu, aber auch die Betrachtung der hau-fig benutzten Zielgroße der minimalen Kosten – hier als minimale Summe derDrehmomente berucksichtigt – enthalt insbesondere in Verbindung mit der

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 73

Selbststabilitat noch weiteres Potential fur das Verstandnis der Funktion desBewegungsapparates. So ist die von Menschen gewahlte Konfiguration der be-reits oben erwahnten Dreisegmentanordnung auch energetisch gunstig. Dage-gen ist fur stark gebeugte Beine wieder die Z-formige Anordnung gleichlangerSegmente gunstig. Insbesondere bei der Konstruktion von Laufmaschinen undProthesen sollten diese Zusammenhange beachtet werden.

Die Auswertung kinematischer Laufdaten erbrachte, dass bei traditionellerAuswertung von Segmentmarkierungen zeitweise Segmentlangenfehler von biszu 2 cm auftreten konnen. Ursache ist vor allem die Bewegung der Hautim Bereich des Knies. Im Folgenden wurde die Lage des Drehpunktes desKniegelenkes aus der horizontalen Position der Patella und den Segmentlangenberechnet.

Eine wesentliche Rolle bei der Stoßdampfung wahrend des Aufsetzens desBeines bei schneller Lokomotion spielt die visko-elastische Aufhangung derMuskulatur. Die Berucksichtigung der durch die Schwingungen erzeugten Aus-lenkungen fuhrt zu einer erheblich verbesserten Beschreibung der Gelenkkrafteund -momente in den ersten 20 ms des Bodenkontaktes. Die Berucksichtigungder Hautverschiebung und der schwingenden Muskelmassen fuhrt insbesonde-re zu der Vorhersage deutlich geringerer Krafte und Momente im Bereich desHuftgelenkes.

5.1.2 Eingrenzung selbststabiler Mechanismen undImplementierung in Laufmaschinen

Weitere Experimente sind zur Verifizierung der stabilisierenden Effekte not-wendig. Fur das Zusammenspiel der Selbststabilisierung mit Kontrollalgorith-men ist die Erfassung und Begrundung von Stabilitatsbereichen notwendig.Auch die Moglichkeit der Verschiebung des Gleichgewichtswertes, wie sie sichin der Kokontraktion durch die Muskulatur andeutet, muss weiter ausge-leuchtet werden. Der Einfluss des Rumpfes und der oberen Extremitat aufselbststabilisierende Eigenschaften sowie Komplikationen durch die Aufgabedreidimensionaler Lokomotion bieten weitere auch fur die Robotik relevanteFragestellungen.

Wahrend globale Auslegungen und Segmentierungen direkt vom Konstruk-teur von Laufmaschinen ubernommen werden konnen, mussen technische An-triebe bzgl. ihrer selbststabilisierenden Eigenschaften untersucht werden. Hiersind noch weitere Schritte bis zur gezielten Ubertragung auf die Technik not-wendig.

Insgesamt haben die Untersuchungen sowohl fur das Verstandnis desMuskel-Skelett-Systems als auch fur den Bau von Laufmaschinen wichtigeHinweise und neue Einsichten geliefert.

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74 Reinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther

5.2 Arbeitsweise und Selbststabilitat des menschlichen

Beins bei schneller Lokomotion

5.2.1 Zur Notwendigkeit der Untersuchung des globalenFedermodells

Die vorliegende Untersuchung wurde als Zuarbeit zur Auslegung einer zwei-beinigen Laufmaschine verstanden. Bis auf die von Raibert [22] konstruiertenMaschinen waren die zweibeinigen Laufmaschinen langsam und auch zur Zeitgibt es keine zweibeinige Maschine, die frei joggen kann. Die Raibert’schenMonopoden bestanden aus einem pneumatischen Teleskopbein, das axial elas-tisch wirkt, und einem schweren Korper. Bezogen auf den Korper wurde dasBein hydraulisch um zwei senkrechte Achsen gedreht. Durch Einstellung vonSteifigkeit und Schrittweite konnte sich die Maschine in allen Richtungen be-wegen. Nach diesem Konzept wurden auch mehrbeinige Maschinen konzipiert,die allerdings weder ihre gesamte Kontrolleinheit noch ihre Energieversorgungan Bord tragen mussten.

Nicht ohne Grund spielen federartige Mechanismen bei der schnellen Loko-motion eine wichtige Rolle. Schnelle Lokomotion mit Beinen ist ohne Sprun-ge nahezu unmoglich oder zumindest sehr teuer [2]. Stoße konnen bei derLandung von bebeinten Systemen nur mit großem Regelaufwand vermiedenwerden. Die Vermeidung von horizontalen Beschleunigungen zieht erheblicheDrehmomente an den korpernahen Gelenken nach sich. Energiespeicherungdurch elastische Elemente setzt eine saltatorische Lokomotion voraus. Des-halb sollten sich Maschinen, die sich schnell und okonomisch fortbewegen undnicht in den Genuss einer spiegelglatten Asphaltbahn kommen, saltatorischund federartig fortbewegen.

In sich nachgiebige Strukturen, wie sie federartige Beine darstellen, set-zen die Harte von Stoßen herab. Dies schont die Bauteile und der allmahlicheKraftanstieg fuhrt zu einem Zeitgewinn fur das Regelsystem. Die Auslegungder Steifigkeit der Gelenke und damit des Beines beeinflusst also zahlreicheGroßen. Allerdings gibt es nur ein relativ kleines, durch die Dynamik defi-niertes Fenster, innerhalb dessen noch die eleganten, weichen Sprunge vonMensch und Tier moglich sind. Dieses Fenster wird u.a. durch die Reibungs-verhaltnisse (Bodenkontakt), die globalen Systemparameter (Beinlange undKorpermasse) sowie die muskularen Voraussetzungen bestimmt.

Elastische Modelle liefern eine gute Beschreibung der Dynamik [1, 3, 6,16,18,19]. Im tierischen und menschlichen Vorbild ist ein Teil des elastischenSystems durch die passiven Eigenschaften der Bauteile (Sehnen, Muskeln, Ge-lenke) gegeben. Der ubrige Teil wird aktiv durch entsprechende Ansteuerungder Muskulatur erzeugt. Vergleichbares wird vermutlich auch fur technischeSysteme gelten mussen. Ahnlich wie der Mensch nicht dazu gebaut ist standigzu hupfen, wird dies auch fur Maschinen gelten. Dies bedeutet, dass die Antrie-be in den Gelenken zahlreiche Verhaltensweisen erlauben mussen. Wenn alsoFedern als Bauteile eingesetzt werden sollen, stellt sich die Frage nach einem

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 75

geeigneten Arrangement und nach geeigneter Abstimmung der Eigenschaftenvon Feder und Motor.

Rechnermodelle konnen mit masselosen Beinen arbeiten. In der Realitatist in Natur und Technik kein Bein ohne Massen denkbar. Dies impliziert, dassdas Aufsetzen des Beines immer mit Stoßen verbunden sein wird, auch bei elas-tischer Arbeit der Gelenke. Das Bein muss diese Stoße dampfen, wenn nichtSchwingungen die Kontrolle erschweren sollen [5]. Hinzu kommen Schwingun-gen der Kettenglieder gegeneinander (vgl. Bericht in diesem Band, Blickhanet al.:

”Schnelle Bewegung bei Arthropoden: Strategien und Mechanismen“,

S. 19). Unter dem Etikett”Peitscheneffekt“ spielt dies eine wichtige Rolle

in der Betrachtung sportlicher Bewegungen. Als grundsatzliches Problem derAuslegung wurde es aber bisher nicht beachtet. Ein Weg zur Verbesserung derKoordination eines mehrsegmentigen Systems besteht in der Einfuhrung vonmehrgelenkigen Antriebselementen (z.B. Federn oder Motoren) [15,23,30]

5.2.2 Das Bein als quasi-elastische Kette

Skizze der experimentellen und modellhaften Ansatze

Modelle

Ahnlich wie bei der Konstruktion komplizierter Gerate (z.B. Laufmaschinen)eine ausreichende Modellierung fur den Erfolg entscheidend ist, bilden Mo-delle das Ruckgrat moderner biomechanischer Untersuchungen. Uber Modellewerden Fragen an das System gestellt und es wird dann versucht, Vorher-sagen durch Beobachtungen zu untermauern. Die klarsten Einsichten bietenanalytische Modelle. Allerdings sind selbst fur das einfachste Modell eineslaufenden Systems lediglich Naherungslosungen analytisch moglich (s.u.). Inder Regel mussen die Gleichungen oder Differentialgleichungen numerisch ge-lost werden. Die inzwischen zur Verfugung stehenden Programmierhilfen (z.B.Alaska, ADAMS, SIMM) verleiten dazu, fruhzeitig komplexe Systeme aufzu-bauen. Aufgrund der Vielzahl der Bauteile, der Freiheitsgrade und zu be-stimmenden Parametern und der nichtlinearen, vernetzten Zusammenhangewird es mit zunehmender Komplexitat schwierig ein klares Verstandnis desSystemverhaltens zu erreichen. Unsere Strategie besteht also darin, zur Si-cherung großtmoglicher Transparenz die Modelle so einfach wie moglich zuhalten. Die numerischen Simulationen wurden in der ProgrammierumgebungMatlab (Mathworks) durchgefuhrt.

Das globale Verhalten des Laufens wird bereits in seinen wichtigstenGrundzugen durch ein System wiedergeben, das aus einer masselosen Federund einer darauf ruhenden Masse besteht, Abb. 5.1 [1,19] Es lasst sich durchein einfaches System von zwei Differentialgleichungen beschreiben:

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76 Reinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther

x = xω2

(l√

x2 + y2− 1

)(5.1)

y = yω2

(l√

x2 + y2− 1

)− g . (5.2)

Dabei bezeichnen x,y die Auslenkung eines Punktes der Masse m, l die Ruhe-lange und k die lineare Steifigkeit der Feder sowie ω =

√k/m die zugehorige

Eigenfrequenz des Masse-Feder-Systems.

Abb. 5.1. Masse-Feder-System zur Beschreibung der Dynamik des Laufens. Pfeile:Kompression der Feder.

Neben der Masse enthalt es die Federsteifigkeit und die Ruhelange derFeder. Daruber hinaus ist die Dynamik von den Anfangsbedingungen desSystems, gegeben durch die Landegeschwindigkeit und den Anstellwinkel derFeder zu Beginn des Bodenkontaktes, entscheidend abhangig. Das System be-schreibt den allgemeinen Kraftverlauf und den Zusammenhang zwischen Flugund Kontaktphase korrekt. In dieser Verknupfung bestand die neue Leistungdes Modells im Vergleich zu fruheren Ansatzen (z.B. [17]). Inzwischen liegterstmals eine analytische Naherung vor [9]. Im Forderungszeitraum wurde dasModell auf sein Verhalten bei einer Serie von Sprungen hin untersucht. Diesfuhrte zu einem neuen Kriterium fur die Einstellung des Arbeitspunktes beimLaufen (s.u., [24]).

Die Einfuhrung eines einzigen Gelenkes fuhrt, solange das Gelenk lediglichelastisch angetrieben und das Bein weiterhin masselos angenommen wird, zukeiner wesentlichen Anderung. Interessant wird das Verhalten des Systems,wenn durch die Einfuhrung eines weiteren Gelenkes (3-Segment-Kette) sichdie Zahl der Freiheitsgrade erhoht und die Beanspruchung der Gelenke damitnicht mehr eindeutig bestimmt ist. Fur gleiche axiale Beinkraft und Bein-verkurzung sind unterschiedliche Gelenkkonfigurationen denkbar. Dies wurdebezuglich der auftretenden Nettomomente und fur den Fall elastischer Ge-lenke bezuglich ihrer Stabilitat untersucht [27]. An dieser Stelle zunachst dasGrundkonzept des Modells (Abb. 5.2). Fur den Fall masseloser Beingliedergeht der Vektor der Reaktionskraft durch die Beinachse definiert durch Fuß-punkt und Huftgelenk (Ort der Punktmasse). Der Abstand der Wirkungslinie

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 77

dieser Kraft von den Gelenkpunkten zusammen mit dem Kraftwert selbst be-stimmt die Drehmomente in den Gelenken. Diese wiederum werden durch dieMomente innerer Aktoren im Gleichgewicht kompensiert. Die Summe dieserDrehmomente kann als Maß fur die Nettobelastung der Aktoren dienen [11].Konfigurationen, in welchen diese Belastungen minimal sind, sollten fur Tie-re und Roboter gunstig sein. Werden an Stelle aktiver Elemente Drehfederneingefuhrt, so ist die Erzeugung der Drehmomente mit der Anderung der Ge-lenkwinkel verknupft (Abb. 5.2):

M12

M23=

h12

h23mit Mij = cij(ϕij − ϕ0ij)

νij (5.3)

Hierbei ist naturlich die Ausgangsstellung, die die Ruhestellung der Federnmarkiert, nicht unbedeutend. Wahrend im Beispiel des Masse-Feder-Systemsdie Gesamtdynamik im Vordergrund stand, stehen hier die internen Gleichge-wichtslagen des Beins im Vordergrund, die allerdings aufgrund seiner Masselo-sigkeit auch bei dynamischen Belastungen durch die Tragheit der Korpermassegultig sind.

ϕ

ϕ

Abb. 5.2. Dreisegmentmodell zur Untersuchung derenergetischen Kosten und der Stabilitat. r: Beinlange;m: Korpermasse; �1,2,3: Segmentlangen; Fußgelenk: ij =12; Knie: ij = 23; cij : Gelenksteifigkeit; ϕij : Gelenkwin-kel; ϕ0ij : Gelenk-Ruhe- bzw. Gelenkfeder-Soll-Winkel;νij : Exponent fur nichtlineare Gelenkfedern; Mij : Dreh-momente; hij : Abstand der Gelenke von der Wirkungs-linie der Reaktionskraft (nach [4]).

Die Eigenschaften des menschlichen und tierischen Bewegungsapparateswerden in hohem Maße durch die Eigenschaften der Muskulatur bestimmt. Dieeinfachsten Modelle zur Untersuchung des Einflusses von Muskeleigenschaftenbestehen aus einer Masse, die durch einen Muskel beschleunigt wird (Abb.5.3). Dies entspricht der typischen Situation bei Muskelexperimenten [28].Eine ausreichende Beschreibung der Experimente ist erst gegeben, wenn nebenSchalt-, Langen- und Geschwindigkeitsfunktion auch der Einfluss des seriellenElementes berucksichtigt wird.

Der Einfluss des Muskels innerhalb einer Gliederkette wird entscheidendvon der Ubersetzung innerhalb derselben gepragt. Dies wird besonders bei derModellierung des Kniegelenkes in einem zweisegmentigen, masselosen Systemdeutlich. Eine Geometriefunktion gibt die beinlangenabhangige Ubersetzung

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78 Reinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther

⋅⋅−⋅=

Abb. 5.3. Einfaches Beispiel des Ansatzes ohne serielle Elastizitat. Bei sprung-formiger Aktivierung bestimmt sich die Muskelkraft FM (t) aus dem Produkt derAktivierung A(t), der Schaltfunktion F (t), der Kraft-Langenfunktion F (l) und derKraftgeschwindigkeitsfunktion F (v).

zwischen dem muskular erzeugten Drehmoment und der außerer Kraft an. Sieliefert damit auch die Ubersetzung der Wege und Geschwindigkeiten.

0.4 0.45 0.5 0.55 0.6 0.65 0.7 0.75 0.8 0.85 0.90

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

1.2

1.4

1.6

1.8

2.0

Extensor Flexor

Geo

met

rie-F

unkt

ion

Zeit [s]

β

kkoof

α

lo

luk

ku

uf r

X

Abb. 5.4. Beispiel der Geometriefunktionen des Knieextensors und-flexors (nach [32])

Page 99: Autonomes Laufen

5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 79

Die in Abb. 5.4 dargestellte Geometriefunktion fur den Extensor kann mitfolgenden Gleichungen beschrieben werden [29]:

Ge(X) =r · sin β

lo · lu sinαX (5.4)

mit

α = 2β + arcsin

(r

ko

sinβ

)+ arcsin

(r

ku

sin β

), (5.5)

X =√

l2o + l2u − 2lolu cos α . (5.6)

Die explizite Formel fur den Flexor lautet:

Gf (X) =kof · kuf · X

lo · lu

√k2

of + k2uf −

kof ·kuf

lo·lu(l2o + l2u − X2)

(5.7)

Trotz seiner einfachen Struktur handelt es sich bei diesem Modell aufgrundder zu quantifizierenden Eigenschaften des Muskelsehnenkomplexes durchausum ein vielparametriges System, dessen Qualitat nicht zuletzt von den richtiggewahlten Muskeleigenschaften abhangt. Die Zuordnung von externen Kraftenund internen Muskelkraften ist hier eindeutig. Dies andert sich, wenn gleich-zeitig aktive Synergisten oder Antagonisten berucksichtigt werden. Hier sindzusatzliche Kriterien zur Aufteilung der Krafte und Momente notwendig. Inunserem Ansatz wurde gezeigt, dass hierzu das Kriterium der Beinstabilitatgute Ergebnisse liefert [32].

Inverse Dynamik

Wie bereits angemerkt spielen in der Kontaktphase des Laufens die Segment-massen eine untergeordnete Rolle. Die prognostizierten Spitzenkrafte in demdurch Muskelkrafte gepragten aktiven Abschnitt der Kontaktphase unterschei-den sich mit Segmentmassen [20] lediglich um ca. 5 % im Bereich des Kniesund um 0.1 % im Bereich des Sprunggelenkes von den mit Hilfe des masselosenModells errechneten Werten [10]. Der Verlauf der Drehmomente in der Hufteandert sich von einem nach dem Erreichen der maximalen Reaktionskraft ste-tig ansteigenden (Berechnung mittels statischen Analyse) zu einem uber diegesamte Kontaktphase stetig abfallenden (Berechnung mittels dynamischerAnalyse) Verlauf. Der passive Abschnitt beim Aufsetzen des Beines wird aberdurch die Verteilung der Massen gepragt. In diesem Stadium werden die gera-de beim Menschen und auch bei zahlreichen Robotern erhebliche korperfernenMassen stoßartig gebremst (Abb. 5.5). Durch eine viskoelastische Aufhangungder Muskelmassen, die immerhin im Bereich des Unterschenkels 50 % und imBereich des Oberschenkels 66 % der Beinmassen ausmachen, kann der Stoßgedampft werden:

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80 Reinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther

F = C(L − L0)2 + DL (5.8)

mit F : Federkraft, L: Federlange, L0: Ruhelange der Feder; C: Federsteifigkeithier 2 · 106N/m; D: Dampfungskonstante: 102 Ns/m; fur transversale Feder:C = 0; D = 3 · 102 Ns/m.

Umgekehrt bedeutet dies, dass bei der Ermittlung von Kraften und Mo-menten aus experimentellen Daten (inverse Dynamik) diese Weichteilschwin-gungen berucksichtigt werden mussen. Dies gilt in doppeltem Sinn, namlichbezuglich der Beurteilung der von außen beobachteten Segmentbewegungenals auch bzgl. der Berechnung der internen Krafte mit Hilfe eines geeignetenModells. Es zeigt sich, dass die gangigerweise als sicher geltenden Kniemarkie-rungen durch die Weichteilbewegung in dieser Stoßphase unsicher sind [13]. Inunserem Ansatz wurde daher ein System aus zwei starren Korpern in die Mar-ker eingepasst, wobei als die zuverlassigsten Landmarken der außere Knochelund die horizontale Position der Kniescheibe dienten. Fur die Beschreibungder von außen beobachteten Schwingungen an Unter- und Oberschenkel ge-nugte ein System aus jeweils einem in Hohe des Muskelschwerpunktes ubernichtlineare viskoelastische Elemente (Glg. (5.8)) an das Segment gekoppeltenMassepunktes.

Abb. 5.5. Schwingungen der Muskulatur beim Aufsetzen des Beines. A) MarkierterUnterschenkel und Fuß kurz vor dem Aufsetzen. B) Zeitlicher Verlauf der gemessenenund errechneten vertikalen Schwingungen der Schwerpunkte der schwingenden Mas-sen. Durchgezogene Linie mit Diamanten: gemessene Reaktionskraft (Skala rechts);durchgezogene Linien mit Quadraten und gefullten Kreisen: Beschleunigung (linkeSkala) des Unter- und des Oberschenkels; gestrichelte Linien: Beschleunigungen dergemessenen (kraftig) und der errechneten (blass) Unterschenkelmuskulatur; strich-punktierte Linien: Beschleunigungen der gemessenen (kraftig) und der errechneten(blass) Oberschenkelmuskulatur (nach [13]).

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 81

Erfassung der Muskelparameter

Grundlegende Untersuchungen zur Bestimmung der mechanischen Eigenschaf-ten der Muskulatur werden an Tierpraparaten durchgefuhrt [28]. Dort kanndie Anregung kontrolliert werden und der Arbeitspunkt des Muskelsehnen-komplexes eindeutig festgelegt werden. Hierbei dienen unterschiedliche Expe-rimente der Bestimmung der charakteristischen Eigenschaften (quick release,isotonische, isokinetische und isometrische Kontraktionen) und der Erfassungdes Verhaltens bei naturnahen Belastungen (work-loop). Durch Anpassung desoben skizzierten Modellansatzes einschließlich der seriellen Elastizitat an eineSerie von isokinetischen Datensatzen konnten Parameter gewonnen werden,die fur Frosch und Ratte eine gute Beschreibung in allen Situationen lieferte.Damit kann mit den Einschrankungen des konzentrischen Belastungsbereichesund den bisher untersuchten Spezies das Modell als validiert gelten.

Bei Untersuchungen am Menschen ist dieser Ansatz nicht moglich und bis-her weicht man auf plausible, durch wenige an Leichenteilen und leicht invasi-ven Messungen gewonnene Literaturdaten aus. Diese konnen naturlich nichtden erheblich schwankenden individuellen Zustand berucksichtigen. Dieser Zu-stand ist auch nur sehr eingeschrankt uber anthropometrische Daten zugang-lich. Letztere liefern fur Segmentmassen und Tragheitsmomente brauchba-re Eckdaten. Muskelparameter mussen in separaten Experimenten bestimmtwerden. Die Eigenschaften der hier relevanten Beinstrecker wurden in Ex-perimenten am Belastungsschlitten ermittelt. Hierbei stoßt der Proband beimaximaler Anstrengung mit den Beinen unterschiedliche Gewichte von sich.Die Gewichte liegen auf einem instrumentierten Schlitten, der auf einer geneig-ten Ebene (18 ) gleitet (Eigenbau, [7]). Auch hier dient das oben beschriebenezweisegmentige Muskelskelettmodell als Berechnungsgrundlage. Die Wirkungder Synergisten wird durch einen Ersatzmuskel beschrieben. Entscheidend istauch hier die simultane Anpassung der beschreibenden Muskeleigenschaftenan die Ergebnisse bei unterschiedlichen Belastungen [31,32].

Laufen

Zur Verifikation einiger Modellrechnungen und als Grundlage zur Auslegungder Laufmaschinen dienten Messungen der Gelenksteifigkeit beim laufendenMenschen [10]. Diese Messungen folgten einem planaren Ansatz unterstutztdurch Hochgeschwindigkeitsvideographie (500 Bilder/s, Camsys, Mikromak,Erlangen) und durch Dynamographie (9281B11, Kistler, Winterthur). ZurAuflosung der schwingenden Muskelmassen am Ober- und Unterschenkel undjeweils dort angebrachten etwa 80 Oberflachenmarkierungen wurden zwei syn-chronisierte Kameras mit entsprechend eingeschranktem Bildausschnitt einge-setzt (Abb. 5.5). Danach erfolgte eine planare inverse Analyse (vgl. AbschnittInverse Dynamik, s.o. [10,13,14]).

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Ergebnisse aus Modellierung und Experiment

In diesem Abschnitt erfolgt die Darstellung der wichtigsten aus den unter-schiedlichen Ansatzen erzielten Ergebnissen, allerdings nicht in der oben ge-wahlten, auf der Modellstruktur basierenden Reihenfolge, sondern nach denjeweiligen Fragestellungen gegliedert.

Selbststabilisierung

Eine der Hauptgegenstande der Untersuchungen betraf die Selbststabilitatvon Systemen [4]. Stabile Systeme bleiben nach einer Storung zumindest inder Nahe eines beabsichtigten Zielpunktes, wobei dieser Zielpunkt zunachstbeliebige Qualitaten betreffen kann. Storungen konnen sowohl in technischenals auch lebenden Systemen in Form von externen Storungen durch nichtantizipierte Anderung außerer Bedingungen auftreten. Ein fur die Lokomoti-on relevantes Beispiel ist ein unebener Boden. Man denke beispielsweise andas Laufen auf Kopfsteinpflaster oder einem Waldweg. Desweiteren und nichtminder bedeutend sind innere Storungen. Hier ist das offensichtlichste Beispieleine fehlerhafte neuronale Ansteuerung des Muskels oder eine numerische Ab-weichung im Rechenalgorithmus im Falle des Roboters. Gerade die innerenStorungen konnen sehr vielschichtig sein und sind mit Sicherheit in jedemSystem uppig vorhanden. Die Sensoren sind ungenau und nicht nur daraufberuhend die Wahrnehmung. Die Entscheidung fur die

”Programmauswahl“

unterliegt zahlreichen Einflussen und das Programm selbst kann nicht fur jedekleine Abweichung neu gestrickt werden. Neben diesen zentralen Storungengibt es aber noch viele periphere Storquellen, wie z.B. Verletzungen und Ermu-dungen, oder ganz einfach den Wechsel des Schuhwerkes. Es ist offensichtlich,dass es unumganglich ist hier Strategien zu entwickeln, welche die Anfalligkeitdes Systems gegen solche Storungen reduzieren. Hinzu kommt der bei komple-xen Systemen immense Datenfluss, der nur dann eingedammt werden kann,wenn die Leistungsfahigkeit von der Abhangigkeit vom Datenfluss soweit wiemoglich befreit wird. Eine Losung bietet hier die Strategie, fur essentielle Auf-gabenbereiche das System so auszulegen, dass wenig oder keine Interventionerforderlich ist. Die Stabilisierung ohne sensorische Ruckkopplung nennen wirSelbststabilisierung. Sie bedeutet nicht, dass das System nicht mehr gesteu-ert wird. Vielmehr erfolgt die Steuerung derart, dass die Antwort des Sys-tems ohne Ruckkopplung der Storung sich selbst korrigiert. Fur uns sind dieLeistungskriterien zum Beispiel stabiles Laufen, also mechanische Kriterien.Entsprechend muss das System eine intrinsische mechanische Ruckkopplungbesitzen, die die Storung kompensiert, das System muss im dynamischen Fallattraktiv sein.

Auf der einfachsten Ebene unserer Betrachtungen ist das globale Verhal-ten des Laufers, beschrieben durch ein Masse-Feder-System, angesiedelt (vgl.Abb. 5.1). Ein solches System liefert nur fur ein bestimmtes Set von Landebe-dingungen symmetrische, d.h. kontinuierliche Losungen und scheint zunachstsehr empfindlich gegen Abweichungen zu sein. Unsere Untersuchungen haben

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 83

aber gezeigt, dass der Bereich der von Mensch und Tier bevorzugt wird, at-traktiv ist. Kleine Storungen in den Anfangsbedingungen werden automatischvon Sprung zu Sprung kompensiert (Abb. 5.6). Der zunachst klein erscheinen-de Bereich des stabilen Anstellwinkels kann durch eine greifende Strategie desBeines vergroßert werden [25]. Der Mechanismus setzt eine Mindestgeschwin-digkeit voraus [9], die etwa im Bereich des Gangartwechsels angesiedelt ist. Mithoherer Geschwindigkeit verstarkt sich der selbststabilisierende Effekt. Damitbestimmt die Zielfunktion der Stabilitat des globalen Systems den Arbeits-punkt des biologischen Vorbildes und die greifende Beinbewegung. Roboter,die entsprechend ausgelegt sind, sind einfacher zu kontrollieren.

αααα

Abb. 5.6. Ruckkehrgraph(yi+1(yi)) der maximalenFlughohe (Apex) einesMasse-Feder-Systems, beieinem Anstellwinkel vonα0 = 68. Einschub: vertikaleAuslenkung y(t) (nach [24]).

Wird die Beinfeder durch drei Segmente und zwei Drehfedern ersetzt (Abb.5.2), so fuhrt der zusatzliche Freiheitsgrad zu neuen Stabilitatsproblemen [27].Ausgehend von einer kraftefreien Stellung verkurzt sich das Bein und die Fe-dern bauen Krafte und Momente auf. Fur jede Beinlange gibt es dann mehre-re Stellungen, welche die Gleichgewichtsbedingung erfullen. Nimmt man zu-nachst den einfachsten Fall gleichlanger Beinsegmente und gleicher, linearerDrehfedern an, so ist naturlich die parallele Schließung beider Segmente (sym-metrische, Z-formige Segmentanordnung) eine derartige Losung. Ab einer be-stimmten Verkurzung ist genau diese symmetrische Stellung aber instabil. Sieerfordert mehr Kraft als andere unsymmetrische (bogenformige) Stellungenbei gleicher Beinverkurzung. Es tritt eine Bifurkation auf und das Systemspringt um (Abb. 5.7). Fur die Drehfederlosung ist dies bis auf den etwaigenNachteil eines nachgiebigeren Beines nicht gravierend. Werden aber die Dreh-federn durch entsprechende Ansteuerung der Muskulatur erreicht, bedeutetdies, dass Gelenke sich bei der Verkurzung des Beines plotzlich strecken, stattsich zu beugen. Dies wurde eine dramatische Erschwernis der Muskelkoordina-tion mit sich bringen und ware uber Reflexe aufgrund der hierfur notwendigen

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Zeiten nicht zu kontrollieren. In der Modellierung konnen nun die Parameterdes Systems geandert werden, um herauszufinden, ob es Auswege gibt.

1. Ein Ausweg besteht in der Nutzung stark gebeugter Beinstellungen. Ei-ne solche Stellung ist nicht mehr durch Umklappen gefahrdet und wirdbei kleinen Tieren eingesetzt. Sie ist aber aufgrund der Gelenkmomenteeine energetisch teure Strategie. Große Sauger und dazu zahlen auch wir,bevorzugen aus energetischen Grunden saulenartige, gestreckte Beinstel-lungen.

2. Ein Merkmal unseres Beines ist der kurze, stark angewinkelte Fuß. Vogelhaben wahrscheinlich das entsprechende Segment eher korpernah (Ober-schenkel) realisiert. Durch eine solche Anordnung verschwindet die Bifur-kation nicht, sie verschiebt sich aber in Richtung starkerer Beinverkurzun-gen. Balletttanzen ist also immer noch gefahrlich.

3. Eine weitere Maßnahme mit ahnlicher Wirkung besteht in der Einfuhrungvon nichtlinearen, sich versteifenden Federn. Solche Federn kompensierenteilweise, die durch die Geometrie bedingte Nichtlinearitat (vgl. Berichtin diesem Band, Blickhan et al.:

”Schnelle Bewegung bei Arthropoden:

Strategien und Mechanismen“, S. 19). Tatsachlich besitzen unsere Sehnenentsprechende Charakteristiken.

4. Es liegt ebenfalls nahe, die Bewegung in beiden Segmenten durch zweige-lenkige Verbindungen zu koppeln. Im Extremfall einer Pantographenkon-struktion verschwindet der zusatzliche Freiheitsgrad und damit aber auchein Teil der funktionellen Flexibilitat. Bei Menschen beispielsweise wareeine solche Zwangsfuhrung fur das Laufen denkbar, fur das Stehen undGehen auf unebenem Gelande aber sicherlich nicht hilfreich.

Im menschlichen Bewegungsapparat werden die quasi-elastischen Eigen-schaften der Gelenke beim Laufen (s.u.) durch eine geeignete Ansteuerungder Muskulatur erreicht. Eine Feder erzeugt bei einer Storung in Form einerAuslenkung immer ruckfuhrende Gegenkrafte, Muskulatur muss dies nicht apriori ohne neuronale Ruckkopplung tun. Wird ein Muskel im Laufe eines Be-lastungszyklus gedehnt, so steigt aufgrund des monotonen Verlaufes der Kraft-geschwindigkeitskurve die ruckfuhrende Kraft. Die Untersuchung der Stabili-tat durch Zuhilfenahme des Ljapunov-Kriteriums zeigt, dass diese Monotonieder Kraftgeschwindigkeitskurve die Schlusseleigenschaft fur eine stabilisieren-de Wirkung der Muskulatur ist [31]. Arbeitet das System auf dem ansteigen-den Zweig der Kraft-Lange-Kurve, so zeigt der Muskel eine federartige Wir-kung und Dehnungen fuhren wieder umgehend zu einer Krafterhohung. Diesgilt naturlich nicht mehr fur den absteigenden Zweig. Die in der Muskulaturunterschiedlich stark ausgepragte parallele Elastizitat unterstutzt die Ruck-fuhrung und damit die Stabilitat. Dagegen fuhrt die haufig als Losung ins Feldgefuhrte serielle Elastizitat nicht zu einer Verbesserung der selbststabilisieren-den Mechanismen. Nimmt man eine Auslenkung des Muskel-Sehnenkomplexesals Storung, so vermindert das serielle elastische Element die Auslenkung undvor allem die Auslenkungsgeschwindigkeit des kontraktilen Anteils und damit

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 85

Abb. 5.7. Die Kompres-sionsenergie wachst mitzunehmender Beugung desFuß- und Kniegelenks. Furkonstante Beinverkurzun-gen (r1,2,3,4) ist unterhalbeiner kritischen Beinlangemehr Arbeit fur eine sym-metrische Konfiguration(Fußgelenk- und Kniege-lenkwinkel gleich) notwen-dig (nach [4]).

die ruckfuhrenden Krafte. In der Regel treibt Muskulatur trage Massen an.Eine Masse und ein elastisches Element bilden einen Oszillator (Abb. 5.8).Die Schwingungen des Systems nach einer Storung wurden eine ordnungsge-maße Arbeit verhindern. Es ist also von großer Bedeutung, dass die dampfen-de Eigenschaft eines Muskels in der Kraft-Geschwindigkeitskurve des aktivenMuskels zu suchen ist. Das Verhalten des kontraktilen Elements eines Muskelskann zwar nicht insgesamt durch ein nichtlineares Feder-Dampfer Element be-schrieben werden, lokal, d.h. fur eine bestimmte Kontraktionsgeschwindigkeit,impliziert die Kraft-Geschwindigkeitskurve aber eine dampfende Eigenschaft.Dies bedeutet, dass Schwingungen bei entsprechender Auslegung unterdrucktbzw. kritisch gedampft werden. Entsprechendes wurde fur Muskelprapara-te [28] und einfache eingelenkige Anordnungen (rechtwinklig gebeugter Arm)gefunden (vgl. [4]).

Diese dampfenden Eigenschaften der aktivierten Muskulatur kommen si-cherlich auch beim Auffangen der Stoße beim Aufsetzen des Beines bei jedemSchritt (vgl. Methodik) zum Tragen. Die Unterdruckung von Schwingungenund Stoßen, die insbesondere bei schnell laufenden Robotern eine große Rollespielt, wird im lebenden System entscheidend durch nachgiebige, dampfendeAntriebselemente gepragt.

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass unterschiedliche Eigenschaftendes Muskels abgestimmt sein mussen, bzw. der Arbeitspunkt so gewahlt wer-den muss, damit die selbststabilisierenden Eigenschaften des Muskels zumTragen kommen. Beim Einbau des Muskels in eine Skelettgeometrie kanndiese erschwerend wirken. Dies gilt bezeichnenderweise fur das menschlicheBein [31]. Die die Ubersetzung der Muskelkraft in die außeren Bodenreaktions-krafte festlegende Geometriefunktion (s.o.) besitzt fur das gestreckte Bein eine

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α

Abb. 5.8. Quickrelease Experiment (A, B) am Musculus triceps brachii eines Wie-selmeerschweinchens Galea muteloides. Experimentelle Daten (grau gepunktet) undVorwartssimulation (schwarz). B) Vergroßerte Ansicht der Phase direkt nach derStorung (Release nach tetanischer Anspannung). Die gedampften Schwingungen er-geben sich aus der Wechselwirkung des Muskels mit der tragen Masse des Ankersdes antreibenden Motors (nach [28]).

Singularitat: Muskelkrafte bewirken keine Veranderung der Beinlange und au-ßere Krafte keine Drehmomente, das Bein wird unendlich steif (vgl. Abb. 5.4;die Nachgiebigkeit des Skelettes wird hier vernachlassigt). Kleine Anderungendes Kniegelenkswinkels fuhren zu großen Anderungen in der Ubersetzung. Ei-ne Storung, die jetzt zum Beispiel eine leichte Schließung des Kniegelenksbewirkt, hat einmal zur Folge, dass die Ubersetzung fur die Muskulatur un-gunstiger wird, andererseits steigt aufgrund der Dehnung des Muskels dessenKraft. Solange aber die Geometriefunktion zu steil ist, reicht diese Krafter-hohung nicht aus, das System ist instabil. Auch hier gibt die Natur wiederHilfestellung. Bei einfachen Betrachtungen des Kniegelenkes wird haufig ver-nachlassigt, dass das Kniegelenk eine wandernde Drehachse besitzt. Das Roll-Gleitverhalten unterstutzt die Gelenkschmierung. Aber es vermindert auchin einem entscheidenden Abschnitt die Steilheit der Geometriefunktion. Be-rucksichtigt man die wandernde Drehachse, so genugen bei den vom Menschengewahlten Ausgangsbedingungen mit leicht angewinkeltem Kniegelenk die Ei-genschaften der Kraft-Geschwindigkeitskurve zur Selbststabilisierung. Unterdiesen Bedingungen, namlich bei Existenz einer wandernden Drehachse, kanndurch Kokontraktion eines Antagonisten die Stabilitat erhoht werden. DieStabilitat als Zielfunktion sagt die Anregungsmuster der antagonistisch arbei-tenden Muskulatur richtig voraus (Abb. 5.9; [32]). Stabilitat und okonomischeBewegungsgeneration stellen gegenlaufige Anforderungen an das System. Inder Phase des motorischen Lernens sind Bewegungen nicht okonomisch, wiedas die eigene Erfahrung beim Lernen neuer Sportarten zeigt. Aber Bewe-

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5 Energieabsorption bei schneller Lokomotion uber unebenes Terrain 87

gungen, die in ihrer Ausfuhrung sich dem Idealbild maximaler Leistung odergroßer Okonomie nahern, sind entweder auf andere stabilisierende Mechanis-men angewiesen oder sind instabiler und damit anfalliger gegen Storungen.

Abb. 5.9. Stabilitatsberechnungen sagen bei vertikalen Korperschwingungen eineKoaktivierung von Antagonisten (Knieextensor und -flexor) voraus. Sie kann deut-lich verringert werden, wenn weitere die Stabilitat unterstutzende Eigenschaften derMuskulatur (z.B. ansteigender Ast der Kraft-Langen Abhangigkeit) in das Modellimplementiert werden. Durchgezogene Linie: Vorhergesagte Aktivierung; dunne un-ruhige Linie: elektrische Muskelaktivitat (nach [32]).

Gegenwartig durchgefuhrte Untersuchungen belegen, dass das Kriteriumder Selbststabilisierung ein neues Licht auf eine unerwartet breite Palette vonBewegungsphanomenen, von der Durchfuhrung von Wurftechniken [33] bis hinzur Organisation der Ruckenmuskulatur, wirft. Es ist aber nicht das einzigeBewegungskriterium. Der Ingenieur hat es leicht, kann er doch selbst wahrenddes Designs seine Kriterien und deren Gewichtung definieren. Biologische Sys-teme haben im Laufe der Evolution auf externe und interne Anforderungenreagiert und haben sich, soweit zur Wahrung der Fitness notwendig, angepasst.Wie die Anforderungen gewichtet werden ist zunachst unbekannt und kann ineinem gewissen Umfang nur dadurch erschlossen werden, dass das vorhande-ne Design oder Verhalten mit Idealbildern verglichen wird. Unabhangig vonder Stabilitatsanalyse sind die Betrachtungen des Dreisegmentmodells auchauf einer anderen Ebene moglich. Die Summe der zur Lastkompensation not-wendigen Drehmomente kann als einfachstes Maß fur die Kosten, das Beinzu betreiben, dienen. Dass ein durchgedrucktes Bein wenig kostet ist trivial.Aber ein solches Bein ist eben auch steif. Wir betrachten also lediglich ver-kurzte Beine und untersuchen, welche Konfigurationen (Segmentlangen undGelenkwinkel) einen maximalen Vorteil liefern [11]. Hierbei zeigt sich, dassdies fur die beim Menschen herausgebildete Konfiguration mit einem kurzen

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angewinkelten Fuß bei einer Verkurzung von etwa 6 % gilt. Ein solches Designist also nicht nur stabil sondern auch energiesparend (Abb. 5.10). Fur Tiere,die mit einem stark gebeugten Bein, also hoher Beinverkurzung zurechtkom-men mussen oder konnen, z.B. weil ihr Lebensraum hohe Beschleunigungs-strecken erfordert, ist es dagegen gunstiger, ein Design mit etwa gleichlangenSegmenten zu wahlen.

Abb. 5.10. Konturgraph des Hebelgewinns der asymmetrischen Losung (H) bezo-gen auf die symmetrische Losung (Ha(φ12 = φ23)) in Abhangigkeit von der Langedes mittleren Segments l2 und der relativen Beinlange l. (nach [11])

Validierung der Vorhersagen am Menschen, einige Messungen

Nach dem Abschluss der methodischen Vorbereitungen zur Erfassung der Ge-lenksteifigkeiten war das Design der zweibeinigen Laufmaschine (Johnny, TU-Munchen) bereits weitgehend abgeschlossen, so dass die Ergebnisse nicht mehrberucksichtigt werden konnten. Dennoch lieferten die Messungen wichtige Ver-gleichsdaten und Ergebnisse [10,14,26]. Fur unsere Probanden hatte das Beineine nahezu lineare (Exponent: 1,05 ± 0,2; Abb. 5.11 A) Federcharakteristikmit einer Steifigkeit von ca. 23 kNm−1. Der Anstellwinkel betrug 70 und liegtim Bereich maximaler Selbststabilisierung. In allen Fallen wurde eine deutli-ches Zuruckziehen des Beines vor dem Aufsetzen (Retraktion) beobachtet. Ein

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breiter Stabilitatsbereich und minimale Gelenkmomente werden fur Segmen-tanteile von 0,42 (Oberschenkel) 0,46 (Unterschenkel) und 0,12 (funktionellerFuß) erreicht. Dies entspricht uberraschend genau dem Befund bei der un-tersuchten Stichprobe (junge Sportler mit Anteilen von 0,42 – 0,44 – 0,14).Die Evolution hat Losungen hervorgebracht, die nahe an den besten Losun-gen liegen. Knie- und Fußgelenk sind gebeugt beim Aufsetzen (Knie: 153 ±8 SD; Fußgelenk: 130 ± 10 SD; SD = standard deviation). Auch diese Werteliegen nahe den energetisch optimalen Werten (Knie: 168 ; Fußgelenk: 113 )fur die entsprechende Beinverkurzung (0,94 der maximal moglichen Lange).Das Bein arbeitet insgesamt in einem Verkurzungsbereich, bei welchem imVergleich zu Losungen mit gleichen Winkeln oder einem Zweisegmentmodellder maximale Gewinn erzielt werden kann. Die Beugung des Knies ist mit -11± 6 SD deutlich geringer als die des Fußgelenkes (-27 ± 8 SD). Hinzu kommteine Nettostreckung (shift) im Knie um 12 ± 9 SD und um 18 ± 13 SD furdas Fußgelenk. Verstarkt durch die unterschiedlichen Ausgangsstellungen derBeinglieder erfolgt die axiale Langenanderung vor allem durch die Arbeit desFußgelenks (Abb. 5.12 B). Wahrend das Maximum der vertikalen Kompo-nente der Reaktionskraft etwa in der Mitte der Kontaktphase erreicht wird(0,46 ± 0,03 SD der Kontaktzeit), tritt das Maximum des Kniemoments deut-lich fruher (0,36 ± 0,05 SD der Kontaktzeit) und das des Fußgelenkmomentesdeutlich spater auf (0,53 ± 0,05 SD der Kontaktzeit; Abb. 5.12 A). Dies stutztdie fur das Gehen bereits bekannte proximo-distale Sequenz der Momenter-zeugung. Das Knie arbeitet in den meisten Fallen weitgehend elastisch (Abb.5.11 B). Die Verluste von ca. 60 J werden zu 40 % durch die Streckung desFußes und zu 60 % durch die Arbeit der Hufte kompensiert. Der Anteil desSprunggelenkes ist hoch und deutet an, dass axiale Beinarbeit bei der Be-trachtung der Beinfunktion nicht vernachlassigt werden kann. Die Steifigkeitdes Fußgelenkes betragt 7,3 ± 1,9 SD Nmdeg−1, die des Knies 13,0 ± 3,5 SDNmdeg−1 mit deutlich ausgepragten Nichtlinearitaten (Exponent Fußgelenk:1,2 ± 0,2; Kniegelenk: 1,9 ± 0,5; Abb. 5.11 B). Um Stabilitat zu sichern, soll-te das Verhaltnis der Steifigkeiten (0,56) großer-gleich dem Langenverhaltnisder außeren Segmente (0,33) sein, auch dies ist erfullt. Die Nichtlinearitatenunterstutzen die Stabilisierung und sind am Knie hoher, wo dies aufgrundder steileren Geometriefunktion auch angebracht ist. Damit unterstutzen dieexperimentellen Ergebnisse in uberraschender Breite die Vorhersagen der Mo-delle.

5.2.3 In Zukunft: Eingrenzung des Stabilitatsverhaltens und seinerWechselwirkung mit der Kontrolle

Mit der Thematik der Selbststabilisierung wurde erst die Oberflache dersel-ben beruhrt, selbst wenn der Gegenstand gegenwartig international bearbeitetwird. Wichtige Aspekte betreffen beispielsweise

• die Variabilitat und Einstellbarkeit des Stabilitatspunktes,

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Abb. 5.11. Bein- und Gelenksteifigkeit. A) Kraft-Langen Kennlinie fur ein aus-gewahltes Beispiel. Der Anstieg betragt 19 kN/m, µ = 1.3 ist der Exponent ausder nichtlinearen Anpassung. B) Drehmoment-Winkel Kennlinie fur das Fußgelenk(links) und das Kniegelenk (rechts) mit den dazugehorigen Steifigkeiten (c12,23) undExponenten (ν12,23). Diamanten und Linien: Experiment; gestrichelte Linien: An-passung eines linearen Modells, durchgezogene Linien: Anpassung eines nichtlinearenModells (aus [10]).

• die Große und Einstellbarkeit des Einzugsbereiches,• die Uberlagerung stabilisierender Effekte auf unterschiedlichen Ebenen der

Konstruktion und des Verhaltens,• der Einfluss des Rumpfes und der oberen Extremitaten,• spezielle Probleme der 3D-Stabilisierung,• Abstimmung von neuronalem System und Mechanik.

Daruber hinaus muss in Zukunft insbesondere auch die Auswirkung der Eigen-schaften technischer Antriebe auf das Stabilitatsverhalten untersucht werden.Ein großes Arbeitsgebiet betreffen die Eigenschaften des Rumpfes und derAnkopplung der oberen Extremitat. Letztendlich bleibt zu prufen, inwieweitdie neuronale Kontrolle und die Entwicklung derselben sich die attraktiven Ei-genschaften des Systems zu Nutze macht, bzw. durch dieselben gepragt wird.

Mit dem in diesem Verfahren geforderten ehemaligen Mitarbeiter, HerrnDr. Gunther, zeichnet sich ebenfalls ein Fortsetzung der Zusammenarbeit ab.Hierbei steht die Standregulation des Menschen im Vordergrund. Stehen wirdbeim Menschen durch stetiges Ausbalancieren gewahrleistet, wobei die Bei-trage der passiven Antwort des Muskelskelettsystems und neuronaler Reflexeumstritten sind. Auch die Gesamtdynamik des durch standige Fluktuationengekennzeichneten Prozesses ist obgleich grundlegend, noch nicht ausreichendverstanden. Noch spannender wird die Frage sein, wie viel Aufwand zur Er-zeugung und Variation all dieser Verhaltensvarianten getrieben werden muss

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∆ ∆ ∆τ∆

∆∆

Abb. 5.12. A) Bezogen auf den Zeitpunkt der maximalen Reaktionskraft (τFmax)sind die Maxima der Drehmomente im Knie (τM23max) und des Fußgelenks(τM12max) zuruck bzw. nach vorn verschoben. B) Die Nettoarbeit (∆E12/E) desFußgelenkes erreicht fast den Beitrag des Huftgelenkes (∆E34/E). Der Beitrag desKnies (∆E23/E) ist in der Regel geringer. (aus [10])

und wie man von der einen zur anderen Bewegungsform okonomisch und mitgeringem Aufwand kommt. Beispiele zur vereinfachten Ansteuerung bietendas λ-Modell [12] und die positive Kraft-Ruckkopplung [8].

5.2.4 Ansatze und Moglichkeiten der Ubertragung aufLaufmaschinen

Innerhalb des Schwerpunktprogrammes konnten die erarbeiteten Prinzipiennoch nicht implementiert werden. Bereits gegenwartig wird die Realisierungvon Prototypen fur Dreisegmentbeine in Angriff genommen (Seyfarth, Emmy-Noether-Stipendium). Die unmittelbare Umsetzung der ermittelten Prinzipienwird gemeinsam im Rahmen des Entwurfes einer neuen Generation bipedalerMaschinen am Institut fur Mechanik an der TU Munchen gepruft. Sowohl derEnergieaspekt als auch der Kontrollaspekt erzwingen vor allem bei schnellerLokomotion die Berucksichtigung von Energieruckgewinnung und von attrak-tiven Systemeigenschaften. Anders als andere technische Realisierungen solldie neue Maschine in der Lage sein, einen breiten Aufgabenbereich abzude-cken. Damit kommen einfache Konstruktionen wie reine Beinfedern nicht mehrin Frage, sondern es mussen aufgabenfahige Kompromisse gefunden werden.

5.2.5 Anwendung

Die erwahnte selbststabile globale Strategie erlaubt in Zukunft eine geziel-te Auslegung und Ansteuerung quasi-elastisch laufender Roboter. Das grei-

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fende Fußfassen kommt bereits bei Prototypen unbeabsichtigt (Rhex) oderbeabsichtigt (Entwicklungen des Leg-Labs am MIT) zur Anwendung. Anthro-pomorph aufgebaute Roboter (Johnnie, TU Munchen; P3, Honda) erfullenteilweise die Kriterien einer geeigneten, energetisch vorteilhaften Segmentie-rung und Orientierung, vorausgesetzt sie arbeiten bei der richtigen Verkur-zung. Wird mit beliebigen Antrieben quasi-elastisches Verhalten erzeugt, sowird durch die Segmentierung auch das Verhaltnis von Steifigkeiten bestimmt,das einen breiten stabilen Arbeitsbereich erlaubt und umknicken im Gelenkvermeidet. Hierzu gehort auch die Auswahl einer geeigneten Anfangsbedin-gung. Die Arbeiten geben zumindest eine Motivation fur die Auswahl bzw.das Design von Maschinen mit muskelahnlichen Eigenschaften. Wieder stehenhier die selbststabilisierenden Eigenschaften im Vordergrund. Bei anderen An-trieben sollten zumindest die diesbezuglichen Eigenschaften gepruft werden.Auch die Bedeutung visko-elastisch aufgehangter Antriebe zur Stoßdampfungsollte nicht unterschatzt werden. Die serielle Anordnung elastischer Elemen-te kann zwar hilfreich sein, andert aber den Arbeitspunkt der Antriebe. Hiersind moglicherweise Kompromisse notwendig. Die bei anthropomorphen Ma-schinen gebeugte Beinhaltung kann durch Implementierung von Gelenken mitwandernden Drehachsen leicht gestreckt werden, bzw. besser stabilisiert wer-den. Solche Gelenke sind mechanisch kompliziert, ihre Konstruktion lohntsich aber durchaus. Es ist offensichtlich, dass die Untersuchungen den Blickfur vorteilhafte Konstruktionen geoffnet haben.

Es wird auszuloten sein, inwieweit die Moglichkeiten durch das vorhandeneArsenal technischer Bausteine begrenzt ist und Neuentwicklungen notwendigwerden. Umgekehrt erhoffen wir uns durch diese Zusammenarbeit Einsichtenuber Bauprinzipien des menschlichen und tierischen Bewegungsapparates zugewinnen.

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[13] Geyer, H. ; Seyfarth, A. ; Blickhan, R. ; Herr, H.M.: Local feedback me-chanisms for stable bouncing. In: Abstr World Cong Biomech (WCB). Calgary,2002

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[15] Herr, H.M. ; Seyfarth, A. ; Huang, G.T.: Running stability: limb rotatio-nal control in quadrupedal animals. In: Abstr World Cong Biomech (WCB).Calgary, 2002

[16] Keßler, D.: Weichteilkinematik des menschlichen Beines nach Fersenaufprall.Jena, Friedrich-Schiller-Universitat, Magister Artium, 2001

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[18] Morl, F.: Rumpf-Becken-Torsionsschwingung um die Korperlangsachse beimLaufen. Jena, Friedrich-Schiller-Universitat, Magister Artium, 1999

[19] Seyfarth, A. ; Apel, T. ; Geyer, H. ; Blickhan, R.: Limits of elastic legoperation. In: Blickhan, R. (Hrsg.): Motion Systems. Aachen : Shaker, 2001.– (ISBN 3-8265-9064-3), S. 102–107

[20] Seyfarth, A. ; Bobbert, M. ; Blickhan, R.: Muscular mechanisms of anelastically operating segmented leg. In: J Morph 258 (2001), S. 283

[21] Seyfarth, A. ; Geyer, H. ; Blickhan, R.: A movement criterion for running.In: Abstr XVIIIth Congr Intern Soc Biomech. Zurich, 2001, S. 193

[22] Seyfarth, A. ; Geyer, H. ; Blickhan, R.: Positive feedback in periodicbouncing. In: Abstr XVIIIth Congr Intern Soc Biomech. Zurich, 2001, S. 208–209

[23] Seyfarth, A. ; Geyer, H. ; Blickhan, R. ; Herr, H.M.: Does leg retractionsimplify control of running? In: Abstr World Cong Biomech (WCB). Calgary,2002

[24] Seyfarth, A. ; Geyer, H. ; Gunther, M. ; Blickhan, R.: Stability of runningwith elastic legs. In: Blickhan, R. (Hrsg.): Motion Systems. Aachen : Shaker,2001. – (ISBN 3-8265-9064-3), S. 92–95

[25] Seyfarth, A. ; Gunther, M. ; Blickhan, R.: Leg design and torque control:how to deal with kinematic redundancy. In: Abstr Ann Mtg Soc Exp Biol.Exeter, 2000. – Poster A8.9

[26] Seyfarth, A. ; Gunther, M. ; Blickhan, R.: Beinsteifigkeit als Schlussel zurCharakterisierung der Gelenkfunktion bei repulsiver Beinbeanspruchung. In:

Page 116: Autonomes Laufen

96 Reinhard Blickhan, Veit Wank, Michael Gunther

Riehle, H. (Hrsg.): Biomechanik als Anwendungsforschung - Transfer zwischenTheorie und Praxis Bd. 132. Hamburg : Czwalina, 2001. – (ISBN 3-88020-416-0), S. 151–155

[27] Seyfarth, A. ; Herr, H. ; Blickhan, R.: Bipedal and quadrupedal running:body design and leg control. In: Abstr Ann Mtg Soc Exp Biol. Canterbury,2001, S. 30

[28] Sholukha, V.A. ; Gunther, M. ; Blickhan, R.: Running synthesis with apassive support leg. In: Hoegfors Ziebell, C. (Hrsg.): XIIth InternationalBiomechanics Seminar on Dynamical Simulation. Gotheborg, Schweden, 1999.– (ISSN 1100-2247), S. 63–72

[29] Siebert, T. ; Meier, P. ; Blickhan, R.: Experimental investigation of passiveand active forces of m.triceps brachii in small mammals under locomotion likeconditions. In: Abstr XVIIIth Congr Intern Soc Biomech. Zurich, 2001, S. 259

[30] Wagner, H. ; Blickhan, R.: Attractive motion of biological systems. In:Blickhan, R. (Hrsg.): Motion Systems. Aachen : Shaker, 2001. – (ISBN 3-8265-9064-3), S. 96–101

[31] Wagner, H. ; Blickhan, R.: Human movement – stable without reflexes. In:Abstr XVIIIth Congr Intern Soc Biomech. Zurich, 2001, S. 196–197

[32] Wagner, H. ; Blickhan, R.: Muscle properties and movement stabilization.In: J Morph 258 (2001), S. 297

[33] Wank, V. ; Heger, H. ; Wagner, H. ; Blickhan, R.: Force transformation inthe knee joint a comparative study. In: Blickhan, R. (Hrsg.): Motion Systems.Aachen : Shaker, 2001. – (ISBN 3-8265-9064-3), S. 42–46

Page 117: Autonomes Laufen

6

Dynamik und Anpassungsvorgange bei der

Laufkoordination des Menschen

Werner Nachtigall und Bernhard Mohl

Fachrichtung Allgemeine Biologie, Universitat des Saarlandes, Saarbrucken

6.1 Zusammenfassung

6.1.1 Prinzipien der Laufkontrolle

In diesem Projekt sollten Prinzipien untersucht werden, nach dem beim Men-schen die Kontrolle der Laufbewegung unter variierenden Umweltbedingungenerfolgt. Erkenntnisse uber die Regelstrategien zweibeinigen Laufens an einemso erfolgreichen biologischen Vorbild wie dem Menschen konnten so Anre-gungen fur die Steuerung und Regelung kunstlicher Laufmaschinen geben.Hierzu wurde videografisch die Kinematik der Gehbewegung des Menschenauf ebenem Untergrund und ihre Anderung beim unerwarteten Auftreten vonHindernissen untersucht. Hinzu kamen myografische Registrierungen zur Ak-tivitat der Muskeln und Messungen, welche die Blickrichtungen wahrend desGehens erfassten. Schließlich wurden in einigen Versuchen auch Kraftmessun-gen an den Fussen beim Auftreten durchgefuhrt, um energetische Aspekteund ihre Rolle bei der Kontrolle der Laufbewegung beurteilen zu konnen.

Die Laufbewegung auf einem Laufband ohne Storung zeigt zunachst eineaußergewohnliche Gleichformigkeit, wobei jedoch die Winkelgeschwindigkei-ten aller beteiligten Gliedmaßen in sehr komplexer Weise koordiniert werden.Spontane Variationen in diesem Ablauf sind einerseits sehr klein und lassenauf den ersten Blick kaum Gesetzmaßigkeiten erkennen, wobei zusatzlich nochindividuelle Charakteristika des Gangbildes hinzukommen.

Plotzliche, unerwartete Hindernisse wahrend des Laufens andern jedochdas Bild. Hierzu wurde auf das Laufband ein Lichtpunkt von ca. Fußgroßesynchron zur Bandbewegung projiziert mit der Instruktion an den Probanden,diesen nicht zu betreten. In der uberwiegenden Zahl bestanden die Vermei-dungsreaktionen aus einer einmaligen Schrittverlangerung oder Schrittverkur-zung – je nach Schrittphase, indem der Lichtpunkt erschien. Diese Schrittmo-difikation geschah immer nur mit dem Schritt, der im Normalfall das Hindernisbetreten hatte. Die alternative Denkmoglichkeit, dass die noch verbleibendenSchritte vor dem Hindernis insgesamt - und damit jeder fur sich minimal -

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98 Werner Nachtigall und Bernhard Mohl

modifiziert werden, trat nicht auf. Die minimale Zeit, die der Mensch fur eineerfolgreiche Vermeidung eines plotzlich auftauchendes Hindernisses benotigt,betragt nach diesen Messungen zwischen 150-200 Millisekunden. Erste Ande-rungen in der Muskelaktivitat treten schon nach 100 Millisekunden auf. Beider Anderung der Schrittlange spielen integrierte Rotationen des Schulter-und Beckengurtels in Zusammenhang mit der eigentlichen Beinbewegung einewichtige Rolle.

Die tiefergehende Analyse zeigt daruber hinaus, dass sich die Wahl derAusweichbewegung nicht an einem moglichst geringen Energieaufwand, son-dern an der großtmoglichen Stabilitat orientiert. Die Wahl richtet sich janach dem Zeitpunkt, innerhalb dessen das Hindernis relativ zur momenta-nen Schrittphase wahrgenommen wird. Nach myografischen Messungen ist siedadurch bestimmt, welche Muskeln zur fraglichen Zeit schon aktiviert sind.Der Organismus bevorzugt dabei eine solche Schrittmodifikation, bei der Mus-keln, die sich schon in der Kontraktion befinden, nur verstarkt aktiviert werdenmussen. Die alternative Moglichkeit, die Bewegung uber die Aktivierung neu-er Muskeln zu modifizieren und die schon aktivierten Muskeln gegebenenfallszu schwachen, wird nicht realisiert. Das bedeutet, dass ein einmal gewahl-tes motorisches Programm nach Moglichkeit beibehalten und nicht zugunsteneines neuen abgebrochen wird. Man konnte dies als ein konservatives, d.h.stabilisierendes Prinzip bei der Anpassung der Motorik an außergewohnlicheBedingungen bezeichnen. Energetische Analysen uber die Kraftmessung anden Fußen wahrend der Ausweichbewegung zeigen, dass die Energiekostennicht im Vordergrund stehen. Es wird eine solche Ausweichbewegung bevor-zugt, welche die großtmogliche Stabilitat, und nicht welche den geringstenEnergiebedarf zur Folge hat.

Neben Prinzipien der kurzfristigen Bewegungsanpassungen sind auch Stra-tegien der visuellen Orientierung wahrend des Gehens wichtig. Die Analyseder Blickrichtungen zeigt zunachst ein bemerkenswertes und stets vorhandenesCharakteristikum: Motorische Aktionen werden aktuell durchgehend

”blind“

ausgefuhrt, d. h. die Umgebung wird vor der Durchfuhrung einer Bewegungvisuell kontrolliert, worauf eine eventuell plotzlich erkannte notwendige Ande-rung in der Bewegung geplant wird. Die dann stattfindende Vermeidung desunerwarteten Hindernisses, z. B. durch Uberschreiten, wird dann nicht mehrvisuell kontrolliert. Der Organismus verlasst sich vollkommen auf die Planungwahrend der vorherigen Beobachtung. Anpassungsvorgange im menschlichenLaufsystem nutzen also weitgehend

”feedforward“ Prinzipien, was man als

pradiktive Regelung bezeichnen kann.Das Prinzip der pradiktiven Regelung tritt noch deutlicher zum Vorschein,

wenn ein Hindernis nicht unerwartet erscheint, sondern ein oder viele Hin-dernisse dauerhaft auf einem Parcours, den der Proband durchschreiten soll,vorhanden sind. Auch hier wird zunachst jedes Hindernis vorher anvisiert undanschließend ohne visuelle Kontrolle uberschritten. Der Proband kann hierzwar schon lange vorher alle Hindernisse erkennen, doch lassen sich dabeikaum Regelmaßigkeiten fur die visuelle Inspektion des

”Großraums“ erken-

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6 Dynamik und Anpassungsvorgange bei der Laufkoordination 99

nen. Lediglich kurz vor Erreichen eines Hindernisses – bei einem bevorzugtenAbstand von ca. 120 cm – wird das Hindernis abschließend taxiert und dann

”blind“ uberschritten. Dabei zeigen sich bei wiederholtem Durchqueren des

Parcours (mit konstanten Hindernissen) auch noch deutliche Lernphanome-ne, welche es dem Probanden erlauben, das visuelle System zunehmend vonder Kontrolle der eigentlichen Gehbewegung zu entlasten.

Ein interessanter Aspekt ergibt sich auch aus der Dauer, mit welcher einHindernis oder die Umgebung durch ein

”Blickereignis“ fixiert wird. Als Bli-

ckereignis wird dabei eine Betrachtung (Fixierung) eines Teils im visuellenUmfeld angesehen, welche hinreichend lang ist, um in der anschließendenSchrittplanung berucksichtigt werden zu konnen. Die kritische Dauer betragtdabei ca. 60 Millisekunden, wobei die Hindernisse auf dem Boden in den uber-wiegenden Fallen auch nur mit dieser Minimalzeit fixiert werden, wahrend dieubrige Umgebung deutlich langer in Augenschein genommen wird. Dies kannals in der Evolution entstandene Anpassung dahingehend interpretiert wer-den, dass die weitere Umgebung mit ihren unvorhersehbaren Gefahren aufdiese Weise moglichst intensiv beobachtet wird. Wenn auf dem Parcours eindefinitives Ziel angegeben wird, welches auf geradem Wege erreicht werdensoll, so wird dieses mit zunehmend langerer Blickdauer anvisiert, je naher derProband diesem Ziel gekommen ist.

6.1.2 Ausblick

Zukunftige Arbeiten sollten sich in besonderem Maße auf Lernvorgange kon-zentrieren, welche die Motorik stabilisieren und beschleunigen. Aspekte furmogliche technische Umsetzungen ergeben sich aus den bisherigen Untersu-chungen zu Fragen der Steuerung und Regelung. Biologische Systeme scheinenin besonderem Maße Vorwissen in die momentane Regelung, bzw. Steuerungmit einzubeziehen. Hier sollte fur technische Entwurfe abgeschatzt werden,wie viel an Erfahrung und Vorwissen in die Programmierung mit einfließenund wie dieses durch Lernvorgange vermehrt werden kann.

6.2 Experimentelle Untersuchungen zur Laufkontrolle

6.2.1 Ausgangslage

Das DFG-Schwerpunktprogramm”Autonomes Laufen“ hatte zum Ziel, die

Konstruktion technischer Laufmaschinen nach biologischem Vorbild zu for-dern. Laufmaschinen haben nur dann einen Sinn, wenn es gilt, sich uber un-ebenes Terrain fortzubewegen, denn auf ebenem Boden kann man sich in vieleinfacherer Weise auf Radern fortbewegen. Eine sinnvolle Laufmaschine mussalso in der Lage sein, Unebenheiten und Hindernisse auf dem Boden zu er-kennen und diesen bei der Schrittplanung Rechnung zu tragen. Als Vorbild

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100 Werner Nachtigall und Bernhard Mohl

fur eine zweibeinige Laufmaschine durfte in erster Linie der Mensch in Fra-ge kommen. Die Ausgangsbasis fur die vorliegende Untersuchung war alsodie Frage, wie bewegt der Mensch seine Extremitaten und seinen Korper zu-nachst auf ebenem Untergrund und wie passt er diese Bewegung an variie-rende Bodenstrukturen an. Um die Dynamik dieser Anpassungsvorgange zuerfassen, erschien es auch wichtig, Hindernisse wahrend des Laufens nicht nurdauerhaft und statisch zu prasentieren, sondern auch – fur den Probandenunvorhersehbar – kurz vor einer moglichen Kollision. Hierdurch sollten auchkurzeste Reaktionszeiten und eventuelle Strategien zum Stabilitatserhalt beider dynamisch stabilen Gehbewegung offenbar werden.

Bei der Anpassung der Laufbewegung an Besonderheiten des Untergrundesist jedoch nicht nur die Anderung der Bewegungsweise von Interesse, sondernauch die damit verbundenen Anderungen in den Kraften, die in erster LinieMassenkrafte sind, aber auch Gewichtskrafte einschließen. Diese wiederummussen zum Teil von den Muskeln aktiv aufgefangen werden. Die Betrach-tung der Krafte ist letztendlich notwendig, um Berechnungen zum Energiever-brauch durchfuhren zu konnen. Dies ist ein Aspekt, der ganz besonders auchfur technische Laufmaschinen bedeutungsvoll ist, da die Energieversorgung ei-ner autonomen Laufmaschine ein zentrales Problem darstellt. Ausgangspunktfur diese Betrachtung war die Absicht, uber eine sogenannte KraftmessplatteBetrag und Richtung der uber den Fuß auf den Boden eingepragten Kraftewahrend der normalen Gehbewegung und wahrend einer Ausweichbewegungzu messen.

Schließlich ist es fur Anpassungsvorgange beim Gehen auch wichtig zuklaren, wie Variationen des Untergrundes und Hindernisse sensorisch, d. h.in erster Linie visuell, erfasst werden. Ein Laufroboter braucht hierzu einKamerasystem, welches die Umgebung standig abtastet und bewertet. Diesgeschieht auch beim Menschen, der durch systematisches Blickverhalten einstandig sequentiell erneuertes Bild seiner kompletten aktuellen Umgebung er-halt. Bewegungen des Auges sind jedoch kaum mit Kamerabewegungen zuvergleichen, da die letzteren wegen der großeren zu bewegenden Massen nichtso schnell ablaufen konnen. Es war daher geplant, das Blickverhalten vonProbanden wahrend der Laufbewegung so einzuschranken, dass sie die Blick-richtung - zumindest in der vertikalen Komponente – nur uber die Bewegungdes Kopfes und nicht durch Bewegungen des Augapfels einstellen konnten.Dies wurde mit Hilfe einer

”Schlitzbrille“ erreicht, welche das Blickfeld auf

einen schmalen, horizontalen Sehschlitz einengte. Die so erzwungenen Kopf-bewegungen der Probanden bei der visuellen Abtastung des Bodens und derubrigen Umgebung wurde leicht registrierbar sein und daruber hinaus besserauf die Kamerabewegung eines technischen Laufsystems zu ubertragen sein,als die schnellen sakkadischen Bewegungen des Augapfels.

Page 121: Autonomes Laufen

6 Dynamik und Anpassungsvorgange bei der Laufkoordination 101

6.2.2 Die einzelnen Experimente

Es wurden die Kinematik und Dynamik menschlicher Gehbewegungen unterdem Einfluß von Hindernissen auf einer experimentellen Gehstrecke unter-sucht. Die Hindernisse waren entweder real als auf dem Boden liegende Kar-tons (Schuhkarton) vorhanden oder aber nur virtuell als eine auf den Bodenprojizierte Lichtmarke. Diese sollte vom Probanden entweder nicht betretenoder aber gezielt betreten werden. Der Vorteil eines virtuellen Hindernissesbesteht darin, dass sein Erscheinen fur den Probanden unvorhersehbar ge-steuert werden kann. Schließlich wurde unter diesen Bedingungen auch dasBlickverhalten analysiert. Die einzelnen Versuchsprojekte sind im folgendengenauer beschrieben.

Kinematik von Ausweichbewegungen auf dem Laufband

Die Kinematik von Ausweichbewegungen wurde beim Gehen auf dem Lauf-band untersucht. Dazu wurde auf den Boden ein Lichtpunkt als flachenhaftes

”virtuelles Hindernis“ projiziert, welches sich synchron mit der Laufbandfla-

che bewegte und von den Probanden nicht betreten werden sollte. Mit einemBewegungsanalyse-System wurde die Bewegung der Extremitatengelenke ei-ner Korperhalfte in der Sagittalebene erfaßt. Das Analysesystem bestand ausInfrarotdioden, welche auf den Extremitaten befestigt von einem Videosystemals bewegte Punkte registriert werden konnten. Aus der Bewegungsbahn derPunkte wurden dann mit Hilfe eines grafischen Auswertesystems die jeweiligenWinkel und Winkelgeschwindigkeiten errechnet. Zusatzlich wurde die Aktivi-tat von vier bis sechs Beinmuskeln uber Oberflachenelektroden myografischregistriert und der Zeitpunkt jeden Bodenkontaktes des linken, ausweichen-den Beines durch zwei Drucksensoren an der Fußsohle bestimmt. KinematischeReaktionen, also Anderungen der Gelenkwinkel, wurden in Bezug zu gemittel-ten Winkelverlaufen eines Normschrittes gesetzt und die als Ausweichreaktionbeobachteten WinkelAnderungen ermittelt.

Kinematik und Kinetik von Ausweichbewegungen auf derGehstrecke

In einem gesonderten Teilprojekt wurde die Kinematik und Kinetik von pro-vozierten Ausweichbewegungen auf einer fest installierten Gehstrecke unter-sucht. Es erschien wichtig, Gehbewegungen nicht nur auf einem Laufband,sondern auch auf festem Untergrund zu analysieren, da Hinweise existieren,dass die Situation auf dem bewegten Laufband nicht auf die Verhaltnisse beifestem Untergrund vollstandig ubertragbar ist. Außerdem ist der Einsatz ei-ner Kraftmessplatte (s.u.) auf einem Laufband nicht moglich. Dieses Projektwurde an der Universitat Jena durchgefuhrt, da hier ein besonders leistungs-fahiges Analysesystem zur Erfassung von Korperbewegungen und eine Kraft-messplatte zur Verfugung standen. Es wurde auf der festen Gehstrecke eine

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102 Werner Nachtigall und Bernhard Mohl

dreidimensionale Bewegungsanalyse unter Erfassung von 12 Korpersegmentendurchgefuhrt. Die Bodenreaktionskrafte des Ausweichschrittes wurden miteiner Kraftmessplatte registriert, ebenso die Aktivitat von bis zu 12 Bein-und Huftmuskeln. Es wurden Versuche mit der Projektion eines Lichtpunktesdurchgefuhrt, der entweder als virtuelles Hindernis vermieden, oder aber alsVorgabepunkt gezielt betreten werden sollte.

Kinematik von Ausweichbewegungen unter Einbeziehung vonBecken, Rumpf und Schulter

In den Teilauswertungen der bisher beschriebenen Versuche fiel auf, dass dieProbanden teilweise sehr unterschiedliche Ausweichstrategien benutzten, dieso nicht in der bekannten Literatur beschrieben waren.

Um die kinematischen Ausweichstrategien klassifizieren zu konnen und Ge-setzmaßigkeiten zu finden, wurde daher der ursprungliche Versuchsplan umTeilversuche erweitert, in denen das kinematische Zusammenspiel der Extre-mitaten, der Hufte und der Schulter untersucht wurde. Diese Versuche wurdenin einer eigenen Versuchsserie unter den schon beschriebenen Bedingen zurAnalyse der Ausweichbewegung durchgefuhrt.

Weiterverwendung der Daten fur invers-dynamische Simulationen

Die Bewegungsdaten der Ausweichreaktionen wurden anschließend zum Teilals Eingangswerte fur eine Simulation der hierbei auftretenden Krafte benutzt.Dies geschah in der Arbeitsgruppe Prof. W. Schiehlen, Universitat Stuttgart,in der ein entsprechendes Simulationsprogramm entwickelt worden war.

Blickorientierung bei der Hindernisvermeidung

Auf Anregung der am Schwerpunktprogramm beteiligten Arbeitsgruppe Prof.G. Schmidt, TU Munchen, wurde die ursprungliche Versuchsplanung um wei-tere Teilversuche erweitert, welche die Blickorientierung eines gehenden Men-schen im Raum untersuchten. Dazu mussten die Probanden einerseits einenHindernisparcours in Form von auf dem Boden ausgelegten Kartons durch-queren. Ihr Sichtfeld wurde durch eine Schlitzbrille auf einen schmalen hori-zontalen Ausschnitt derart eingeengt, dass eine weitraumige Beobachtung desBodens sowie der weiteren Umgebung nur durch Bewegungen des Kopfes er-folgen konnte. Diese Bewegung konnte einerseits videografisch gut registriertwerden, andererseits entsprach sie den Gegebenheiten eines Laufroboters mitzwei Kamera-Augen in besserem Maße als die relativ schnelle (sakkadische)Bewegung des menschlichen Augapfels.

Daruber hinaus wurden Blickorientierung und Bewegungstrajektorien derExtremitaten beim Durchschreiten einer Hindernisstrecke analysiert, welchemaßstabsgetreu von der Arbeitsgruppe Prof. G. Schmidt zur Optimierung der

Page 123: Autonomes Laufen

6 Dynamik und Anpassungsvorgange bei der Laufkoordination 103

Bewegung eines Zwei-Kamera-Systems und zur Schritttrajektorienplanung ei-ner zweibeinigen Laufmaschine eingesetzt wurden. Damit konnte ein Abgleichder technischen mit den biologischen Hindernisvermeidungsstrategien erfol-gen.

6.2.3 Diskussion der Ergebnisse

Eine Strategie der Hindernisvermeidung zeigte sich zunachst deutlich in sol-chen Fallen, in denen ein prospektives Hindernis fur den Probanden unvorher-sehbar kurz vor einer moglichen Kollision geboten wurde. Die Reaktion wardeutlich abhangig davon, in welcher Zeit- und Ortsbeziehung sich der erschei-nende Lichtfleck (als virtuelles Hindernis) zum Schrittmuster befand. Je nachdieser Beziehung brauchte das Schrittmuster nicht geandert zu werden, wennsich das Hindernis zufallig zwischen den Auftrittsflachen der Fuße befand. Eskonnte gezeigt werden, dass das ZNS fruhzeitig zwischen nicht-storwirksamenund storwirksamen Hindernissen unterscheiden kann. Auch wenn bei nicht-storwirksamen Hindernissen eine schwache (eigentlich uberflussige) Korrekturstattfand, so war doch bei storwirksamen Hindernissen eine signifikant star-kere Reaktion zu beobachten. Die Ergebnisse zeigten daruber hinaus, dass dieAuswahl der motorischen Strategie zum Vermeiden des Lichtpunktes nichtwillkurlich war. Wahrend ein storwirksames Hindernis, geboten zu Beginnder mittleren Schwungphase, eine Schrittverlangerung hervorrief, fuhrte einHindernis, das erst gegen Ende der mittleren Schwungphase wahrgenommenwurde, zu einer Schrittverlangerung.

Die jeweils bevorzugte Strategie ließ sich allerdings nicht streng anhandder Kombination der Gelenkwinkel zum Zeitpunkt der Reizgabe vorhersagen.Damit kann propriorezeptive Eingangsinformation aus den Gelenken nicht alsausschlaggebendes Kriterium fur die Wahl einer Ausweichstrategie verant-wortlich sein, wie dies in Teilen der Literatur postuliert wird. Dagegen zeigtsich klar, dass die Entscheidung, wie die Bewegung an die neue Situation anzu-passen sei, sich primar nach dem Zustand der momentanen Muskelaktivierungrichtet. Eine plotzlich erforderlich gewordene Anderung in der Bewegung wirdvornehmlich nicht durch die Neu-Aktivierung von bisher ruhenden Muskeln,sowie Erschlaffung von schon aktivierten Muskeln durchgefuhrt, sondern nachMoglichkeit werden die schon aktivierten Muskeln in ihrer Aktion noch ver-starkt. Anders ausgedruckt bedeutet dies, dass fur die Hindernisvermeidungein einmal aktiviertes motorisches Programm in seinen Grundzugen moglichstbeibehalten und nicht zugunsten eines neuen Programms abgebrochen wird.Die starke Bevorzugung und Beibehaltung von Teilen eines schon aktiviertenGrundmusters kann als

”konservatives Prinzip“ bei der Anpassung der Mo-

torik an außergewohnliche Bedingungen angesehen werden. In zeitkritischenSituationen kann dadurch schnell und stabil reagiert werden, weil die entspre-chenden neuronalen Wege bereits gebahnt sind und die Muskulatur bereitseine Vorspannung besitzt. Auf der Basis dieses Konzeptes lassen sich auchEinzelphanomene bei der Hindernisvermeidung erklaren.

Page 124: Autonomes Laufen

104 Werner Nachtigall und Bernhard Mohl

In diesem Zusammenhang konnte in Ausnahmefallen gezeigt werden, dassbei der Hindernisvermeidung teilweise starre motorische Programme initiiertwerden, die unter besonders erschwerten Bedingungen, z. B. sehr spates Er-scheinen des Hindernisses, nicht mehr zu einer erfolgreichen Vermeidung fuh-ren. Diese Starrheit entspricht ebenfalls einem konservativen Prinzip, das zwarin extremen Ausnahmefallen nicht mehr zu einer erfolgreichen Reaktion fuhrt,dafur aber in den meisten ubrigen Fallen entsprechend schneller und sichererein Hindernis zu vermeiden hilft.

Die Analyse der Bodenreaktionskrafte bei Vermeidungsreaktionen konntezeigen, dass zur Schrittlangenanderung horizontale und vertikale Impulskom-ponenten gleichermaßen geandert werden. Diese Ergebnisse stehen im Gegen-satz zu teilweise in der Literatur publizierten Konzepten. Es konnten zweiprinzipiell verschiedene Strategien zur Verlangerung des Schrittes unterschie-den werden: die Anderung des Impulses in der Abstoßphase und die Verstar-kung der Beckenrotation in der Transversalebene.

Die invers-dynamische Simulation, die mit den gewonnenen Daten von derArbeitsgruppe Prof. W. Schiehlen an der Universitat Stuttgart durchgefuhrtwurde, konnte keinen signifikanten Unterschied bezuglich der energetischenSituation einzelner Ausweichstrategien aufzeigen. Anderungen der Energieni-veaus waren vor allem auf der Ebene des Rumpfes, weniger auf der Ebeneder Extremitaten festzustellen. Es konnte daraus gefolgert werden, dass dieenergetische Situation kein Entscheidungskriterium fur das ZNS darstellt, umkurzfristig eine bestimmte Ausweichstrategie zu initiieren. Es werden hingegensolche Strategien gewahlt, die eine großtmogliche Stabilitat des dynamischenSystems erhalten und schnellstmoglich initiiert werden konnen.

In der gesamten Untersuchung zeigte sich ein stets vorhandenes Charak-teristikum hinsichtlich des visuellen Verhaltens: Motorische Aktionen werdenaktuell durchgehend ohne visuelle Ruckkopplung durchgefuhrt. D. h. die Um-gebung wird vor der Durchfuhrung einer Bewegung visuell kontrolliert, woraufhin eine eventuell notwendige Anderung der Bewegung im Vorhinein geplantwird. Das aktuelle Uberschreiten eines Hindernisses selbst wird visuell nichtmehr kontrolliert. Der Organismus verlasst sich auf die

”feed-forward“ erstellte

Bewegungsplanung. Im technischen Sinne kann von einer”pradiktiven Rege-

lung“ (eigentlich: kurzfristig vorausgeplante Steuerung) gesprochen werden.Dieses Prinzip wird interpretiert als eine Moglichkeit, schnell und voraus-schauend auf geanderte Umgebungssituationen zu reagieren und zeitraubende(akute) Regelprozesse zu vermeiden.

Die Analyse der Blickkontaktzeiten zeigte, dass die Beobachtung des Bo-dens mit seinen Hindernissen in einem relativ starren zeitlichen Rahmen ab-lauft, was sich mit Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen deckt. Das An-visieren der ubrigen Umgebung oder eines gegebenen Zielpunktes, der nachdem Durchqueren der Hindernisstrecke erreicht werden soll, geschieht jedochinterindividuell sehr variabel und zeigt vielfaltige Bewaltigungsstrategien. Eslassen sich kaum Regelmaßigkeiten bei der Wahl der Blickrichtung feststellen.Hingegen ist bei der Beobachtung des Bodens ein Nahbereich klar zu definie-

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6 Dynamik und Anpassungsvorgange bei der Laufkoordination 105

ren, in dem Hindernisse intensiv betrachtet und bewertet werden. Dieser liegtbei ein bis zwei Schritten (entsprechend ein bis zwei Meter) vor dem Proban-den. Es konnte eine kritische Zeit von ca. 60 Millisekunden bestimmt werden,mit der Hindernisse taxiert werden mussen, um eine ausreichende Bewertungvornehmen zu konnen.

Es konnte gezeigt werden, dass die Anderung der Schritttrajektorien ent-weder nur in dem Schritt stattfindet, welcher das Hindernis uberschreitet, oderin dem unmittelbar davor liegenden Schritt. Die andere denkbare Alternati-ve, namlich den Schrittrhythmus fruhzeitig – und damit nur gering – so zumodifizieren, dass ein Betreten des Hindernisses uber die langere Schrittfolgevermieden wurde, wird hingegen nicht realisiert.

Die minimale Zeit, innerhalb der ein plotzlich auftauchenden Hindernisnoch vermieden werden kann, betragt 200-250 Millisekunden. Erste elektro-myographisch registrierbare Anderungen treten dabei bereits 100 Millisekun-den nach Erscheinen des Hindernisses auf.

Diese Ergebnisse sprechen insgesamt fur eine Kombination von feed-forward-Steuerung und feed-back-Regelung bei der Bewegung im Gelande,welche auch bei der Auslegung von Steuerprogrammen fur zweibeinige Lauf-maschinen Berucksichtigung finden konnte.

6.2.4 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Die in diesem Projekt gefundenen”konservativen Prinzipien“ bei der Auswahl

von Ausweichreaktionen sind in dieser Form bislang nicht in der Literaturbeschrieben. Es erscheint uns sinnvoll, durch eine verstarkte Zusammenarbeitmit neurologischen Arbeitsgruppen die neuronalen Grundlagen der kinema-tisch beschriebenen Phanomene zu untersuchen, um die zugrunde liegendenMechanismen zu klaren.

Im Hinblick auf die plastische Lernfahigkeit lebender Organismen ist esinteressant, Lernverhalten und Lernphanomene in Bezug auf Ausweichreak-tionen und Hindernisvermeidungsreaktionen genauer zu untersuchen. Dazubote sich eine Zusammenarbeit biologischer und medizinisch-neurologischerArbeitsgruppen an. In diesem Zusammenhang sollte untersucht werden, aufwelchen Ebenen sich

”starre“ neuronale Programme mit plastischen motori-

schen Programmen uberlagern.

Literaturverzeichnis

[1] Ludwig, O.: Untersuchungen zur Schrittphasenabhangigkeit von Hindernisver-meidungsreaktionen beim menschlichen Gang. Saarbrucken, Universitat des Saar-landes, Diss., 2002

[2] Ludwig, O. ; Bobrowitsch, E. ; Mohl, B.: Zeitverhalten beiHindernisvermeidungs-Reaktionen beim menschlichen Gang. In: Wisser, W.(Hrsg.): Biona-Report 14, Akademie der Wissenschaften und Literatur (Mainz).Saarbrucken : GTBB, 2000, S. 51–55

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106 Werner Nachtigall und Bernhard Mohl

[3] Ludwig, O. ; Mohl, B. ; Dillmann, U.: Untersuchungen zur Anpassungsfa-higkeit der Laufkoordination beim Menschen. In: 2. Tagung fur interdisziplinareBewegungsforschung. Saarbrucken, 1999

[4] Ludwig, O. ; Mohl, B. ; Nachtigall, W. ; Dillmann, U.: Human walkingstability and reaction to disturbances. In: Gantchev, N. (Hrsg.) ; Gantchev,G. (Hrsg.): From basic motor control to functional recovery. Sofia : AcademicPublishing House, 1999

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7

Dreidimensionale biomechanische Modellierung

und die Entwicklung eines Reglers zur

Simulation zweibeinigen Gehens

Hanns Ruder,Arnim Henze, Renata Gandini

Institut fur Astronomie und Astrophysik, Universitat Tubingen

7.1 Zusammenfassung

7.1.1 Stabile Dynamik-Simulationen des dreidimensionaler,menschlichen Gangs

Ein dreidimensionales biomechanisches Menschmodell (Abb. 7.1) mit 22 Frei-heitsgraden – angetrieben durch Gelenkdrehmomentaktuatoren – wurde ent-wickelt und mit einem physiologisch motivierten Regler fur die zweibeinigeFortbewegung ausgestattet. Mit diesem Modell konnten Computersimulatio-nen des dreidimensionalen menschlichen Gehens durchgefuhrt werden.

Es konnte gezeigt werden, dass zur Initiierung und Stabilisierung des drei-dimensionalen zweibeinigen Gehens einfache Konzepte ausreichen, was dieHypothese unterstutzt, dass das menschliche ZNS zur Kontrolle des Gehensnicht auf komplizierte Mechanismen angewiesen ist [8–11,20,21,30,31]. Trotzder komplexen dynamischen Eigenschaften des mechanischen Bewegungsap-parats sind keine exakten und rechenaufwendigen Verfahren erforderlich: Mitdem Modell ergeben sich stabile und robuste Gangzyklen in drei Dimensio-nen, die durch die Variation weniger Parameter flexibel variierbar sind, sodass ein breites Spektrum an Gangzyklen von variabler Geschwindigkeit, mitoder ohne Armeinsatz oder auch mit Richtungsanderungen simuliert werdenkonnte.

7.1.2 Transfer zu Klinik und Robotik

Das vorgestellte Modell ist ein guter Startpunkt fur Weiterentwicklungen mitdem Ziel einer zukunftigen medizinischen Anwendung beispielsweise in derDiagnostik von Gehstorungen. Schließlich ware auch eine technische Realisie-rung des Modells interessant, um sicherzustellen, dass der Regler nicht nurim idealen Umfeld der theoretischen Simulation erfolgreich arbeitet, sondernauch ein reales mechanisches System mit realen Aktuatoren und mit allen in

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108 Hanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini

K

yx

z

yexe

Sagitt

aleb

ene

ze

K e

medial-lateralGehrichtung

g

Abb. 7.1. Momentaufnahme des 3D-Menschmodell wahrend einer dynamischenGangsimulation. Zusatzlich sind das Inertialsystem K und das mitbewegte korperei-gene Koordinatensystem Ke eingezeichnet. In K wird mit Hilfe des Gravitationsvek-tors g und der beabsichtigten Gehrichtung Ke definiert. Dadurch wiederum konnendie Begriffe

”Sagittalebene“,

”vorne“ oder auch

”medio-lateral“ eindeutig festgelegt

werden. Beim Gehen muss die Kontrollinstanz stets dafur sorgen, dass die Schrit-te parallel zur Sagittalebene ausgefuhrt werden, dass die beiden Huftpunkte undder Oberkorper parallel zur Frontalebene ausgerichtet sind, die Fuße in positive x-Richtung (nach vorne) und die Achsen der Kniegelenke in medio-lateraler Richtung.(Aus [15]).

der Technik auftretenden Ungenauigkeiten und Storungen zuverlassig beimzweibeinigen Gehen kontrollieren kann.

7.2 Struktur und Funktion: biologisches Design unter

physikalischen Randbedingungen

7.2.1 Kontrolle versus Mechanik

Das aufrechte Gehen auf zwei Beinen ist eine der wichtigsten physischen Fa-higkeiten des Menschen und hat entscheidend zu seiner evolutionaren Ent-wicklung beigetragen. Aufgrund der vielen, noch immer ungeklarten Fragen– vor allem bzgl. der Bewegungsinitiierung und -kontrolle – ist diese Art derFortbewegung noch heute Gegenstand der bewegungswissenschaftlichen, bio-mechanischen und medizinischen Forschung [11].

Nach der Beobachtung zu urteilen, vollbringt das ZNS eine enorme Leis-tung, indem es scheinbar ununterbrochen gleichzeitig alle Sensorinformationenauswertet, Entscheidungen trifft, die gewunschten oder erforderlichen Trajek-torien der Gliedmaßen berechnet, die Aktionen der Aktuatoren bestimmt so-wie die entsprechenden Befehle erteilt und so permanent alle Freiheitsgradedes Bewegungsapparats kontrolliert.

Page 129: Autonomes Laufen

7 Biomechanische Modellierung zweibeinigen Gehens 109

Der weitaus uberwiegende Teil der technischen Anwendungen auf dem Ge-biet der Robotik versucht, diese vermeintliche Fahigkeit des ZNS zu imitieren,und es gelingt, zweibeinige Laufmaschinen mit entsprechend leistungsfahigenRechnern und Aktuatoren maximal zu kontrollieren und das Gehen zu reali-sieren. Dieser Ansatz fuhrt zwar zum Ziel, scheint jedoch mit viel großeremAufwand verbunden zu sein und genauere Informationen zu benotigen, als esim biologischen System der Fall ist. Zudem lasst er keinerlei Spielraum furdie Eigendynamik des Systems, die der Mensch nachweislich ausnutzt um denEnergieverbrauch beim Gehen zu senken.

Es ist daher fraglich, ob das ZNS den Bewegungsablauf tatsachlich voll-standig dreidimensional erfasst und unter der Berucksichtigung aller daraushervorgehenden Effekte kontrolliert, d.h. ob die erfolgreiche Kontrolle die Lo-sung der dreidimensionalen Bewegungsgleichungen voraussetzt.

Daraus ergab sich die Fragestellung, ob es tatsachlich moglich ist, eineneinfachen Regler zu konzipieren, der imstande ist, stabile Gangzyklen mit ei-nem dreidimensionalen biomechanischen Menschmodell zu erzeugen und zukontrollieren, ohne dabei auf die vollstandigen Bewegungsgleichungen zuruck-greifen zu mussen. Dieser Regler sollte zum besseren Verstandnis der Zu-sammenhange und Verhaltensstrategien algorithmisch formuliert werden undnicht auf neuronalen Netzen oder Fuzzy-Logic basieren. Wesentlich war seinephysiologische Motivation, d.h. er sollte im Wesentlichen nur egozentrische, re-lative und nicht perfekte Sensorinformationen, d.h. Schatzwerte verwerten undvor allem den Zustand des mechanischen Systems nicht vollstandig dreidimen-sional erfassen. Stattdessen sollte sich die Kontrollinstanz aus unabhangigen,ein- und zweidimensionalen Untereinheiten zusammensetzen, die jeweils nurfur einzelne Komponenten des Bewegungsablaufs verantwortlich sind und erstin der Uberlagerung synergetisch zu stabilen, dreidimensionalen Gangzyklenfuhren.

Da der verwendete Regler (Abb. 7.2 und Abb. 7.3) lediglich Drehmomen-te lieferte, wir langfristig jedoch an muskular erzeugtem Gehen interessiertsind, beschaftigte sich ein weiterer Arbeitsbereich mit der Berechnung vonMuskelkraften. Man ist hier von theoretischen Methoden abhangig, da zumgegenwartigen Zeitpunkt keine zuverlassige und zugleich nicht-invasive, hu-mane Methode zur Muskelkraftbestimmung insbesondere der tieferliegendenMuskeln existiert.

Das Hauptproblem bei der Berechnung von Muskelkraften ist die Tatsache,dass es mehr Muskeln als Gelenkfreiheitsgrade gibt, d.h. das Muskel-Skelett-System ist redundant. Zur Auflosung der Redundanz werden i.a. Optimie-rungsmethoden verwendet, da man annimmt, dass der menschliche Korperbei der Verteilung der Muskelkrafte einer der mathematischen Optimierungahnlichen Strategie folgt. Das Optimierungskriterium, mit welchem man die“beste“ Losung des unterbestimmten Systems auswahlt, spiegelt demnach inden meisten Fallen eine physiologische Große wider. Vorgeschlagen wurdenu.a. das Prinzip der minimalen Muskelkraft [25,27–29], das Prinzip der mini-

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110 Hanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini

Sensorik

Mechanik

VMC

Aktuatorik

Umwelt

Zustände

τττ

x0

PD PD PD

Sollwertex0

ζζζ

Absicht(bewusst)

(unbewusst)Erlernte Strategien

gg, f

θθ

J fTτττ = J fTτττ =

τττ

J fTτττ =

Standphase

VorwärtsschubSchrittlängenplanung

Schwungphase

Fußplatzierung SchwungbeinGeschwindigkeitskorrekturen B

odenkontakt

kine

mat

isch

e K

riter

ien

τττ

θθ θθ.

,{ }

θθ θθ.

,{ }

θθ θθ.

,{ }

Bodenreaktion

frontal transversalsagittal

f

virtuelle Kräfte

Gelenkdrehmomente

Propriozeption

interne Schaltkriterien

Bereitstellung

Auswahl

Parameter

Abb. 7.2. Die Struktur des Gesamtmodells: Die Mechanik des Bewegungsapparatswird von der Aktuatorik angetrieben, wechselwirkt mit der Umwelt uber den Boden-kontakt und liefert Informationen fur die Sensorik. Aktuatorik und Sensorik werdenals ideal und ohne innere Dynamik angenommen. Die Kontrollinstanz besteht auseiner ubergeordneten Ebene, die Strategien, d.h. interne Parameter, Schaltkriteri-en und Sollwerte liefert, und einer untergeordneten Ebene, in der explizite Bewe-gungskommandos generiert werden. Dies erfolgt durch das Schalten zwischen ver-schiedenen Reglerzustanden, die Auswahl von Sollwerten in Abhangigkeit von denZustanden sowie durch die Ermittlung der Gelenkdrehmomente mit

”Virtual Model

Control“ (VMC, siehe Abb. 7.3). Dazu werden die drei Bewegungsebenen unabhan-gig voneinander behandelt und die virtuellen Krafte durch PD-Regler bestimmt.(Aus [15]).

malen Muskelbelastung [2, 5, 6, 24], und das Prinzip des minimalen Energie-verbrauchs [3, 12,22,23].

Die Mehrheit dieser Untersuchungen verwendet statische Optimierungsme-thoden, die auf der Losung eines invers-dynamischen Problems aufbauen. DieEinfachkeit der Methode ermoglicht es, fur die Simulation außerst detaillierteMuskel-Skelett-Modelle mit einer betrachtlichen Anzahl von Freiheitsgradenund Muskeln zu verwenden.

Zwar wurde die statische Optimierung in verschiedenen Punkten kriti-siert, es ist jedoch fraglich, ob sich mit den fur komplexe, drei-dimensionaleBewegungen immens aufwendigen dynamischen Optimierungsmethoden eineVerbesserung der Muskelkraftvorhersagen erreichen lasst. In der Tat gibt es

Page 131: Autonomes Laufen

7 Biomechanische Modellierung zweibeinigen Gehens 111

Hinweise darauf, dass statische und dynamische Optimierungslosungen furdas menschliche Gehen praktisch aquivalent sind [1]. Unsere Untersuchungbeschrankte sich daher auf eine statische Optimierung.

Weder statische noch dynamische Optimierungen konnten bisher die Ko-kontraktion von quadriceps femoris und biceps femoris kurz vor dem Auftref-fen des Fusses auf den Boden vorhersagen. Das gibt einen Hinweis darauf, dassdie tatsachlich beim menschlichen Gehen minimierten Großen (angenommen,sie existieren) noch nicht eindeutig identifiziert worden sind. Unser Ziel wares also, verschiedene, auch unkonventionelle Kriterien in der Optimierung zuverwenden und die ermittelten Muskelkraftvorhersagen sowohl auf Koaktivie-rung antagonistischer Muskeln als auch auf allgemeine ubereinstimmung mitvorhandenen EMG-Messungen zu untersuchen.

7.2.2 Teilstrukturen in der Lokomotion: Kooperation stattgegenseitige Behinderung

Da der menschliche Korper als mechanisches System grundsatzlich den Geset-zen der Physik unterworfen ist und die Massentragheit sowie das dynamischeVerhalten der Gliedmaßen entscheidenden Einfluss auf die Bewegungen so-wie deren Stabilisierung haben, war zur Entwicklung und Uberprufung desReglers ein dreidimensionales biomechanisches Computer-Simulationsmodelldes menschlichen Bewegungsapparats erforderlich, welches die entsprechendenAbmessungen und Tragheitseigenschaften aufweisen und uber die fur den Be-wegungsablauf wesentlichen Freiheitsgrade und Aktuatoren verfugen musste.Zwar mussten in diesem Modell die wichtigsten Strukturen wie der Bodenkon-takt oder Gelenkanschlage berucksichtigt werden, eine detaillierte Abbildungdes menschlichen Korpers war jedoch nicht beabsichtigt, da die Reglerentwick-lung im Vordergrund stand. Es wurde davon ausgegangen, dass sich Detailswie beispielsweise die feinere Segmentierung des Fußes, durch die sich zusatzli-che dissipative Elastizitaten ergeben, eher positiv auf die Stabilitat der Gang-zyklen auswirken bzw. von einem robusten Regler toleriert wurden. Aufgrundihrer Komplexitat war die dreidimensionale Muskelmodellierung Gegenstandeines separaten Arbeitsbereichs. Im Rahmen der physiologischen Modellsteue-rung sollten statt Muskeln einfache Drehmomentgeneratoren als Aktuatorenzum Einsatz kommen.

Die Biomechanik

Fur die Simulationen wurde ein anthropometrisches biomechanisches Starr-korpermodell mit acht Segmenten und 22 Freiheitsgraden erstellt, das denpassiv-mechanischen Bewegungsapparat zwar auf niedrigem, fur die Regler-entwicklung jedoch ausreichendem Abstraktionsniveau abbildet. VerschiedeneMethoden und Werkzeuge wurden fur die Modellierung bereitgestellt:

Es wurde das Programm calcman3d entwickelt, das auf der Basis wenigerEingabeparameter einen konsistenten und umfassenden anthropometrischen

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112 Hanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini

Datensatz einer 50-perzentilen Person fur die biomechanische Starrkorpermo-dellierung liefert.

Bezuglich der Modellierung von Gelenkanschlagen in Gelenken mit mehre-ren Rotationsfreiheitsgraden wurde die Problematik bei der Beschreibung vonAnschlagsflachen und Ruckstelldrehmomenten mit den ublichen Koordinatender Orientierung demonstriert und es wurde ein Koordinatensatz vorgestellt,mit dem eine vernunftige, anschauliche und praktikable dreidimensionale Mo-dellierung moglich ist.

Um den Bodenkontakt zu beschreiben, wurde ein Algorithmus entwickelt,der die zuverlassige und gleichzeitig numerisch stabile Beschreibung von drei-dimensionalen Punkt-Flache-Kontakten sicherstellt und in gewissen Grenzendie Imitation von flachigen Kontakten zulasst.

Der Regler

Der Modellregler wurde auf der Basis von”Virtual Model Control“ (VMC) [26]

entwickelt. Dieses Konzept ist gewissermaßen eine Sprache, mit der die Bewe-gungsaufgaben fur das Modell formuliert und die Bewegungsablaufe initiiertund kontrolliert werden konnen (Abb. 7.3). Prinzipiell vereinigt VMC die we-sentlichen Eigenschaften, die der gesuchte Regler aufweisen sollte: Es ist eineinfaches Prinzip mit approximativem Charakter, in dem die Strategien al-gorithmisch formulierbar sind und in dem Raum fur die Eigendynamik desSystems bleibt.

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Abb. 7.3. Virtual Model Control: Mit Hilfe der hellgrau dargestellten”virtuel-

len Kraftelemente“ ergeben sich anschauliche Regelungsparameter fur die Kontrolledes Bewegungsablaufs. Die Krafte und Drehmomente der virtuellen Feder-Dampfer-Elemente dienen als Grundlage zur Berechnung der realen Gelenkdrehmomente, dieeinen Bewegungsablauf erzeugen sollen, als wurden die virtuellen Krafte wirken. (Alsvirtuelles Zugpferd wurde hier BILL WATTERSONs Calvin [32] verpflichtet. Aus [15]).

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7 Biomechanische Modellierung zweibeinigen Gehens 113

Die Muskelmodellierung

Nach einem ausfuhrlichen Vergleich veroffentlichter Muskelpfad-Datenbankenwurden in ein vorhandenes DADS-Modell 42 Muskelpfade je Bein nach demvon Delp et al. [4] angegebenen Datensatz implementiert. Um den Vergleichmit veroffentlichten EMG-Daten zu ermoglichen, wurde das Modell unterVorgabe experimenteller Gangtrajektorien, die ihm Rahmen einer invers-dynamischen Analyse [18] ermittelt wurden, kinematisch angetrieben [7]. NachBerechnung der Hebelarme in MATLAB-Simulink konnte dort unter Beruck-sichtigung der vorgegebenen Gelenkmomente ein konventionelles statischesOptimierungsproblem gelost werden. Die Muskelkraftverlaufe, die sich fur ver-schiedene Optimierungskriterien ergaben, wurden mit den EMG-Daten ver-glichen.

7.2.3 Vom Pendeln ohne Kontrolle und einem kontrolliertenGaspedal

Mit dem beschriebenen biomechanischen Menschmodell und dem einfachen,auf biologischen Prinzipien basierenden Regler ist es moglich, dreidimensiona-les Gehen zu simulieren und auch die Art der Gangzyklen zu variieren [15]. Da-bei sind die wichtigsten Parameter, mit denen die Bewegungsaufgaben an dasModell gestellt werden (z.T. symbolisch skizziert in Abb. 7.3), die Sollwertefur die Oberkorperorientierung, fur die Hufthohe/Standbeinlange, fur die Ex-tension des Standbeinsprunggelenks bei der Abdruckaktion, fur die maximaleSchwungbeinverkurzung, fur die Schrittlange und fur die Gehgeschwindigkeit.

So gelang es, stabile, naturlich wirkende Gangzyklen mit unterschiedli-chen Geschwindigkeiten und Schrittlangen zu erzeugen, wobei durch die Va-riation nur weniger Parameter beispielsweise ein breiter Geschwindigkeitsbe-reich abgedeckt werden konnte. Bei den Simulationen bestatigte sich, dass einewirkungsvolle Geschwindigkeitskontrolle wahrend der Schwungphase aufgrundder Unteraktuierung des Systems, der nur abstoßend wirkenden Bodenreak-tionskraft und der geringen Kontaktflache des Standbeinfußes de facto un-moglich ist. Obwohl in der Standphase keine Unteraktuierung vorliegt, istaufgrund ihrer kurzen Dauer und der ubrigen auch fur die Schwungphasegeltenden Grunde hier ebenfalls keine vernunftige Geschwindigkeitskontrollemoglich.

Im Einklang mit den theoretischen Uberlegungen von [19] und experimen-tellen Beobachtungen beispielsweise von [33] beim Menschen zeigte sich, dasssowohl die Gehgeschwindigkeit als auch die laterale Bewegung nur durch diegeschickte Platzierung des Schwungbeinfußes wirkungsvoll stabilisiert werdenkann.

Die Energiebilanz der erzeugten Gangzyklen bestatigt das Konzept desReglers, das Raum fur Eigendynamik lasst und die Mechanik nicht auf Tra-jektorien zwingt, die ihr vollig fremd und damit ineffizient sind. Die im Boden

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114 Hanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini

verbrauchte Leistung betragt pro Sekunde nur wenige Prozent der Gesamt-energie, d.h. das Modell arbeitet nicht unnotig gegen das Widerlager. Gleich-zeitig liegt der spezifische Widerstand der Gangzyklen zwar uber dem Wert desMenschen, jedoch beachtlich unterhalb von demjenigen eines klassischen zwei-beinigen Roboters, was die Effizienz der Bewegungserzeugung und -kontrollegegenuber den ublichen Ansatzen bestatigt und sicherlich als Indiz dafur ge-wertet werden kann, dass im Regler einige tatsachliche Strategien des ZNSabgebildet wurden.

Betrachtet man die Zeitverlaufe von Gelenkwinkeln, Kraften und Drehmo-menten, so fallen Unterschiede im Vergleich zu experimentellen Daten beimMenschen auf, was aber nicht verwunderlich ist, wenn man das Abstraktions-niveau des biomechanischen Modells und die Einfachheit des Reglers bedenkt:Wahrend das Modell beispielsweise nur uber ein einziges starres Fußsegmentund drei diskrete Kontaktpunkte auf der Fußsohle verfugt, ist der menschlicheFuß in sich elastisch und steht in flachigem Kontakt mit dem Untergrund.

Die Gelenkwinkelverlaufe zeigen die beste Ubereinstimmung mit experi-mentellen Daten, wenn man davon absieht, dass das Modell sein Standbeingrundsatzlich starker beugt als der Mensch. Dies ist beabsichtigt, da die Mo-dellkontrolle in der Nahe der Beinstreckung zwar nicht unmoglich, aufgrundder Verwendung von einfachen PD-Reglern fur die virtuellen Kraftelemente,d.h. von linearen Kraftgesetzen, wohl aber problematisch ist.

Ohne dass dies explizit beabsichtigt war, ergeben sich mit dem Modellwahrend des Bewegungsablaufs Beckendrehungen, die den menschlichen ah-neln, was vermuten lasst, dass sie auch beim Menschen großtenteils passiveUrsachen haben und nicht aktiv initiiert werden: Das Becken fuhrt synchronzur Beinbewegung eine Rotation um die Hochachse aus und senkt sich in derSchwungphase jeweils in Richtung der Schwungbeinseite ab. Allerdings istbeim Menschen eine vorubergehende Hebung der Schwungbeinhufte zur Mit-te der Schwungphase feststellbar, die aktiver Natur sein konnte, da sie beimModell ausbleibt.

Bei den Verlaufen der Bodenreaktionskraft und der Gelenkdrehmomentesind deutlichere Unterschiede zu experimentellen Daten zu erkennen. Aller-dings stimmen die Großenordnungen im Wesentlichen uberein und nur beieinigen Gelenkdrehmomenten reichen die Betrage kurzzeitig an die Obergren-ze des physiologisch maximal Moglichen heran.

In diesen Unterschieden macht sich vor allem die sehr einfache Reglerkon-zeption mit den wenigen Sollwerten, diskreten Zustanden und Gangphasen so-wie den linearen, elastisch-dissipativen virtuellen Kraftelementen bemerkbarund man muss daraus schließen, dass das ZNS die menschlichen Bewegungendifferenzierter kontrolliert als es der hier vorgestellte Regler fur das Modellleistet.

Die angestrebte Robustheit des Reglers konnte auf unterschiedliche Weisedemonstriert werden. Beispielsweise ergaben sich ohne jegliche Veranderun-gen am Regler oder an der Parametrisierung auch bei vollkommen starremRumpfsegment stabile Gangzyklen. Sie zeichnen sich gegenuber der Situation

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7 Biomechanische Modellierung zweibeinigen Gehens 115

mit einem zweigeteilten Rumpf und einem zu den Beinen gegenphasig beweg-ten Oberkorper allerdings durch beachtlich starkere Rumpfschwankungen aus,d.h. durch großere Amplituden der Komponenten des Gesamtdrehimpulses umdie Gehrichtung und um die Hochachse sowie durch hohere Kontaktdrehmo-mente im Fuß-Boden-Kontakt.

In anderen Simulationslaufen mit ebenfalls unverandertem Regler fur dieGangstabilisierung und mit identischem Parametersatz konnte auch das Ge-hen mit Armbewegungen simuliert werden. Dazu wurden die beiden Arme mitjeweils zwei Freiheitsgraden versehen, so dass sie in der Schulter und im Ellen-bogen parallel zum Oberkorper in Gangrichtung schwingen konnten. Sowohlmit koordiniert schwingenden als auch mit unkontrolliert pendelnden Armenvermochte der Regler das System zu stabilisieren. Im Fall der nicht synchro-nisierten Arme wurden die Reaktionen des Reglers auf die Storungen durchdie unregelmaßig angepasste Platzierung des Schwungbeinfußes deutlich.

Weiterhin war es moglich, durch die Variation einzelner anschaulicher Pa-rameter bei ansonsten unverandertem Regler stabile Gangzyklen in einemweiten Geschwindigkeitsbereich zu erzeugen.

Obwohl der Regler nicht uber eine Komponente verfugt, die explizit dieGehrichtung kontrolliert, ergibt sich im Zusammenwirken der einzelnen Teil-regler und Strategien dennoch eine Stabilisierung der Gehrichtung und dasModell bewegt sich parallel zu seiner Sagittalebene fort, d.h. parallel zur xy-Ebene des Ego-Referenzsystems. Aufgrund dieser Fahigkeiten konnten durchkontinuierliche, aber auch durch unstetige Modifikationen des Richtungspa-rameters, der die Orientierung des Ego-Referenzsystems im Inertialsystemfestlegt, mit unverandertem Regler auch Richtungsanderungen wahrend desGehens simuliert werden, wodurch wiederum die Robustheit des Reglers do-kumentiert wurde: Auf diese Parameteranderungen, die sich als Storungenin der lateralen Geschwindigkeit bemerkbar machen, reagiert der Regler er-folgreich, stabilisiert das Modell in der neuen Ausrichtung und bewirkt da-durch eine Richtungsanderung. Die Mechanismen zur Kontrolle der lateralenGeschwindigkeit sind somit gleichzeitig wirkungsvolle Mechanismen fur dieRichtungskontrolle.

Im Bereich der Muskelmodellierung ergab der Vergleich der konventionel-len Optimierungskriterien, dass das Prinzip der minimalen totalen quadriertenMuskelbelastung die beste Ubereinstimmung mit den EMG-Daten erzielte. Alsnachster Schritt wurde versucht, die mit diesem Optimierungskriterium erhal-tenen Ergebnisse weiter zu verbessern, indem durch das Einfuhren zusatzlicherZwangsbedingungen, die die obere und untere Muskelkraftgrenze der einzel-nen Muskeln betrafen, ein realistischer Kraftauf- bzw. -abbau forciert wurde.In Einzelfallen wurde damit eine bessere Ubereinstimmung mit vorhandenenEMG-Daten erreicht. Wie erwartet, wurden mit den konventionellen Optimie-rungskriterien keine gleichzeitige Aktivierung antagonistischer Muskeln vor-hergesagt. Auch mit unkonventionellen Kriterien (Minimieren des Signalrau-schens [13], Minimieren des Produkts von Gelenksteifigkeit und Equilibrium-Positions-Anderung [14]) gelang keine Vorhersage von Kokontraktion.

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116 Hanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini

7.2.4 Ubertragung auf Patienten und Transfer zur Robotik?

Im Hinblick einer zukunftigen medizinischen Anwendung oder einer techni-schen Realisierung des Modells sind Erweiterungen und Verbesserungen so-wohl am biomechanischen Modell des Bewegungsapparats und am Regler alsauch in der Muskelmodellierung erforderlich.

Bezuglich des Bewegungsapparats sind vor allem zwei Punkte zu nennen.Zum einen spielt der Fuß zweifellos eine wichtige Rolle bei der Fortbewegung,da er den physikalischen Kontakt zur Umwelt herstellt und der gesamte Korperauf ihm ruht. Aufgrund der Orientierung der Gelenkachsen, die aus den Struk-turen im Fuß resultieren, konnte es interessant sein, den bisher verwendetenprimitiven Fuß durch ein detaillierteres, mehrsegmentiges Modell zu ersetzen.Das rein kinematische Verhalten des Unterschenkel-Fuß-Systems lasst daraufschließen, dass sich die Anordnung der inneren Fußgelenkachsen unterstut-zend auf die Stabilisierung des Oberkorpers auswirken konnte: Bewegungendes Fußes um dessen Langsachse fuhren durch kinematische Zwangsbedin-gungen passiv zur Pronation-Supination des gesamten Beins, die bei gutemBodenkontakt die Aktionen der Huftmuskulatur unterstutzen konnte. Außer-dem besteht durch einen mehrteiligen, in sich elastischen Fuß die Moglichkeitder Energiespeicherung sowie der Dampfung von Stoßen.

Der zweite und fur die Untersuchung speziell des menschlichen Gehenswichtigere Punkt ist die Aktuatorik. Die momentan verwendeten Drehmo-mentgeneratoren in den Gelenken sind eine sehr technische Losung und muss-ten zur detaillierten Simulation durch Muskelaktuatoren ersetzt werden. Diessetzt eine weitere Komponente in der gesamten Kontrollinstanz voraus, nam-lich die Umsetzung der physikalisch erforderlichen Drehmomente in Muskel-stimulationen. Hier konnen die Ergebnisse der Muskelmodellierung verwendetwerden, die u.a. Hinweise daruber geben, wie die redundante Muskulatur ak-tiviert werden muss, um die gewunschten Netto-Drehmomente zu erreichen.

Fur den Regler sind verschiedene Untersuchungen und Verbesserungendenkbar. Zum einen waren detaillierte Parameterstudien sinnvoll, um dieGangzyklen auf dem derzeitigen Stand des Reglers noch weiter zu optimierenund die Stabilitatsgrenzen genau zu bestimmen. Allerdings sind solche Studi-en aufgrund der langen Simulationsdauer sehr zeitaufwendig, die Anfangsbe-dingung mussten mit den Parametern mitvariiert werden, damit es nicht zueinem fruhzeitigen Sturz aufgrund eines Fehlstarts kommt, und es musstenKriterien gefunden werden, die einen

”guten“ oder optimalen Gang charak-

terisieren. In diesem Zusammenhang konnten auch Gesetzmaßigkeiten dafuraufgedeckt werden, welche Parameteranderungen in welcher Kombination zuwelchen Veranderungen des Gangzyklus fuhren.

Besonders interessant ware die Implementierung neuronaler Gehirnstruk-turen, d.h. eines adaptiven neuronalen Netzes oder einer adaptiven Fuzzy-Logic. Diese Instanz, die das System mit den Schaltkriterien, den internenParametern sowie mit den Sollwerten versorgt, also mit auf Erfahrung undauf Training beruhendem Wissen, ist im vorgestellten Regler weitgehend un-

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7 Biomechanische Modellierung zweibeinigen Gehens 117

veranderlich. Mit einer intelligenten, entsprechend trainierten Komponentean dieser Stelle, die auf unterschiedliche Situationen mit geeigneten Parame-terwerten reagieren kann, sollten noch flexiblere und stabilere Gangzyklenmoglich sein und gleichzeitig die Eigenschaften des ZNS besser abgebildetwerden. Das Training entsprache dem Erlernen des Gehens, wie es bei Kin-dern geschieht, sowie der Langzeitadaption der Strategien, die sich aufgrundvon Korperwachstum oder Alterungsprozessen allmahlich verandern mussen.Mit adaptiven Ansatzen konnte das Modell durch kurzfristige Adaption undAntizipation auf plotzliche Veranderungen von Rahmenbedingungen reagie-ren und sein Verhalten, d.h. die Strategien zur Erreichung des Bewegungszielsentsprechend anpassen.

Weiterhin musste das Modell um einige zusatzliche Fahigkeiten erweitertwerden, was ebenfalls auf der Basis von VMC geschehen kann. Zum einenware dies die Fahigkeit des geregelten Stehens, des Losgehens und des Anhal-tens. Außerdem ware eine zusatzliche Komponente sinnvoll, die es ermoglicht,einem Pfad zu folgen, um beispielsweise sicher zwischen zwei Hindernissen hin-durchgehen zu konnen. Bisher behalt das Modell lediglich die Richtung beiund detektiert konstante seitliche Abweichungen nicht. Der Weg zur Synthe-tisierung des perfekten Gehens, wie es uns der Mensch vorfuhrt, ist allerdingsnoch weit, und es gibt eine Vielzahl von weiteren interessanten Fahigkeitenund Strategien, wie beispielsweise Stolperstrategien oder die zuverlassige Hin-dernisuberwindung, deren Implementierung und Untersuchung mit dem vor-liegenden Modell moglich sind.

Im Bereich der Muskelmodellierung blieb die Frage nach der Kokontrakti-on trotz Einfuhrung neuer Optimierungskriterien weiterhin offen. Im allgemei-nen kann jedoch die Moglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass bestimmteKriterien antagonistische Muskelaktivierungen wahrend anderer Bewegungs-ablaufen vorhersagen konnen. Herzog und Binding [16] z.B. demonstrierten aneinem Multi-Gelenk-System, dass ein nichtlinearer Optimierungsansatz basie-rend auf dem Prinzip der minimalen gesamten Muskelbelastung unter be-stimmten Bedingungen antagonistische Muskelaktivitat voraussagt. DerartigeBedingungen mussten im Hinblick auf das menschliche Gehen untersucht wer-den.

Das bisherige Unvermogen, Kokontraktion vorherzusagen, ist schwerwie-gend, wenn man bedenkt, dass quasi alle elektromyographischen Ergebnisseeindeutig darauf hinweisen. Eine mogliche Theorie ist, dass Koaktivierung derModellierung von Gelenksteifigkeit dient [17]. Deshalb ist es durchaus vorstell-bar, dass die Kokontraktion von bizeps femoris und quadriceps femoris kurzvor dem Auftreffen des Fusses auf den Boden das Resultat einer vorprogram-mierten Kontrollsequenz ist, um den mechanischen Anforderungen im Mo-ment des Bodenkontakts gerecht zu werden. Aus diesen Uberlegungen herausmusste versucht werden, Bewertungskriterien zu formulieren und zu testen,die explizit die Stabilitat in den Gelenken berucksichtigen.

Die Schwierigkeit, Muskelkrafte zu quantifizieren hat die Anwendung bio-mechanischer Forschung im klinischen Bereich bisher stark eingeschrankt. Oh-

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118 Hanns Ruder, Arnim Henze, Renata Gandini

ne eine genaue Kenntnis der vorherrschenden Muskelkrafte ist keine genaueBerechnung der Kontaktkrafte im Gelenk moglich. Fur das Design von Pro-thesen und die Behandlung gelenkspezifische Beschwerden ist dieses Wissenjedoch unerlasslich.

Auch Gehbehinderungen und ihre orthopadischen und neuromuskularenUrsachen lassen sich erst besser verstehen und effizient behandeln, wenn mandie Funktion einzelner Muskeln beim Gehen genau benennen kann.

Was das bessere Verstandnis von Kontrollmechanismen und Verhaltens-strategien der menschlichen Fortbewegung angeht, so kann es sowohl in Be-reichen der Diagnostik, Therapie, und Neuroprothetik als auch in der Robotikgewinnbringend eingesetzt werden.

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8

Entwurf und Realisierung einer zweibeinigen

Laufmaschine

Friedrich Pfeiffer

Lehrstuhl fur Angewandte Mechanik, Technische Universitat MunchenBearbeiter: Dipl-Ing. Michael Gienger, Dipl.-Ing. Klaus Loffler

8.1 Zusammenfassung

Der Entwurf und die Realisierung der zweibeinigen Laufmaschine JOHNNIEfand iterativ in mehreren Schritten statt, wobei die Arbeiten auf zwei wis-senschaftliche Mitarbeiter aufgeteilt wurden. Vom logischen Ablauf der Ent-wicklung her ergaben sich die beiden großen Pakete Konstruktion und Reali-sierung auf der einen und Dynamik und Regelung auf der anderen Seite. Dietechnologische Umsetzung des Laufens ist neu in der Geschichte der Technikund findet etwa seit zwei bis drei Jahrzehnten statt, wobei Japan Vorreiterist. Aufgrund dieser Situation haben sich alle Laufmaschinen-Entwickler letzt-endlich am Menschen orientiert, da erst heute allmahlich einige Erfahrungenmit technischen Laufmaschinen vorliegen. Diese Orientierung wurde auch amLehrstuhl B fur Mechanik vorgenommen, wobei eine besonders gunstige Aus-gangslage mit einem Teilprojekt aus dem Sonderforschungsbereich 462 vorlag,namlich das Teilprojekt uber eine computer- und modellgestutzte Rehabilita-tion von Hemiparetikern. Dies schloss die Entwicklung eines sehr detailliertenModells fur das menschliche gesunde und kranke Laufen ein, in dem auchMuskelmodelle berucksichtigt wurden. Die Zusammenarbeit mit den neuro-logischen Kollegen in Munchen fuhrte zusatzlich zu einem fur die Auslegungvon JOHNNIE (Abb. 8.1) sehr nutzlichen Gedankenaustausch uber die Rege-lungskonzepte beim menschlichen Laufen.

Vor diesem Hintergrund und naturlich auch mit Wissen der damals exis-tierenden Literatur auf diesem Gebiet wurde zunachst ein Konzept fur diezweibeinige Laufmaschine mit insgesamt 17 Gelenken erarbeitet, wobei jedesBein 6 Gelenke, der Oberkorper ein Drehgelenk, die Arme je 2 Gelenke besa-ßen. Dieses Konzept ist menschenahnlich, also humanoid, und erlaubt norma-les, aufrechtes Laufen und moglicherweise auch schnelles Laufen zu realisieren.Da es auch bereits im Jahre 1997 eine Vielzahl von zweibeinigen Laufmaschi-nen gab, sollte sich JOHNNIE dadurch abheben, dass er erstens moglichstschnell lauft und dass er zweitens autonome Lauffahigkeiten uber den Ein-satz eines Sichtsystems erhalt. Fur die gewahlte Struktur unseres Zweibeiners

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122 Friedrich Pfeiffer

Abb. 8.1. Zweibeinige Laufmaschine JOHNNIE

wurden dann in der Folge in iterativer Weise die Antriebe fur die Gelenke,die Auswahl der Sensorik, die Struktur der Rechner und der Bus-Systemeund das Regelungskonzept festgelegt und im Rahmen von umfangreichen Si-mulationsprogrammen, basierend auf Methoden der Mehrkorpertheorie, imRechner getestet. Der dabei stattfindende iterative Prozess mit deutlichenVerbesserungen pro Iteration fuhrte dazu, dass nach endgultiger Festlegungder Maschine die Konstruktionszeichnungen der fast 1 000 Einzelteile sicherund fur die Zukunft ohne Anderungen verabschiedet werden konnten, wasdann Basis fur die Realisierungen der Werkstatt war.

Beim Bau der Gelenke fur Laufmaschinen gibt es international immer wie-der den Streit, ob man kunstliche Muskeln oder Drehantriebe benutzen soll.Wir haben uns, wie fast alle Realisierungen von Zweibeinern, fur Drehantrie-be entschieden gemaß dem Prinzip, dass man biologische Losungen nicht 1:1umsetzen kann oder soll, sondern dass man die hinter den biologischen Losun-gen steckenden Prinzipien mit moglichst perfekter Technik realisiert. UnsereAntriebe bestehen demnach aus burstenkommutierten Gleichstrommotoren inVerbindung mit Harmonic Drive-Getrieben, die ein besonders hohes Uberset-zungsverhaltnis ermoglichen. Neben diesen wurde der mit zwei Freiheitsgradenversehene Antrieb der Fuße mit einem Parallelmechanismus aus zwei Kugel-umlaufspindeln, ebenfalls angetrieben uber Gleichstrommotoren realisiert.

Man muss zwar die Auslegung der Antriebe vor den jahrelangen Erfah-rungen sehen, die beim Sechsbeiner MAX und beim Achtbeiner MORITZgesammelt wurden, dennoch gab es einige Anforderungen, die weit daruberhinausgingen. Dies betraf insbesondere das Huftgelenk, das drei Freiheits-

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grade mit extrem hoher Momentenbelastung besitzt. Es stellte sich dabeiheraus, dass diese hohen Belastungen besonders um die Flexor-Achse bessermit zwei kleinen Motoren als mit einem großen aufgefangen werden konnen.Die beiden anderen Achsen, namlich die Rotationsachse und die Adduktions-/Abduktionsachse konnten mit einem Motor ausgefuhrt werden. Die dabeientstandene Konstruktion genugt hochsten Anspruchen in Bezug auf Leicht-bau, wobei eine ganze Reihe zusatzlicher Nebenbedingungen beachtet werdenmussten. Eine davon ist beispielsweise die Warmeableitung uber moglichstgroße Flachen an das Gehause. Die so entstandene Huftgelenkseinheit ist mit4,3 kg wahrscheinlich die leichteste ihrer Art in der Welt. Auch das Kniege-lenk hat wegen einer ahnlich hohen Momentenbeanspruchung zwei Motoren.Da die Fußdynamik ein zentrales Thema bereits im ersten Antrag war, wur-de besonderer Wert auf die Ausbildung des Fußgelenks gelegt, das mit zweiKugelgewindespindeln angetrieben wird und somit die zwei Freiheitsgrade desKippens und der Rotation besitzt.

Die fur JOHNNIE notwendige Sensorik ist sehr umfangreich und lasstsich im Wesentlichen in 3 Gruppen aufteilen, namlich die Gelenksensoren, dieKraftsensoren fur die Bodenreaktionen und ein Orientierungssensor als iner-tiales Referenzsystem. Die Gelenksensoren sind inkrementelle Winkelencoder,HP 5500 mit 500 Teilungen, was bei entsprechender Auswertung eine Auflo-sung von 2 000 Impulsen pro Umdrehung erlaubt. Jeder Fuß benotigt einenSechs-Komponenten-Kraftsensor, der in der benotigten Form am Markt nichtzu erhalten war. Deshalb wurde dieser Kraftsensor in Eigenregie entwickeltund gebaut. Die dabei erzielten Genauigkeiten sind besser als 2 %, die vielenund zeitlich sehr ausgedehnten Laufexperimente mit JOHNNIE haben denEntwurf und den Bau dieser Sensoren voll bestatigt.

Schließlich braucht eine Laufmaschine eine inertiale Referenz, da die Ruck-rechnung beispielsweise der Lage und der Orientierung des Oberkorpers ausden Bodenkontakten an den Fußen in Folge von Spielen und Elastizitaten sehrungenau ist. Daher wurde eine Art inertiale Plattform mit 3 Beschleunigungs-und 3 Drehratensensoren auf Piezobasis in JOHNNIE eingebaut. Das Problembei solchen Sensoren besteht darin, dass einerseits in Folge des Tiefpassver-haltens der Beschleunigungssensoren und auf der anderen Seite des Hochpass-verhaltens der Drehratensensoren eine Sensorfusion mit geeigneten Filterndurchgefuhrt werden muss. Dies ist mit Hilfe von Kalmanfiltern sehr effektivgeschehen. Ein nicht zu vernachlassigender Aspekt bei der Sensorik bestehtin der konstruktiven Auslegung der davon betroffenen Bauteile, die sensor-und aktorgerecht konzipiert werden mussen. Dies ist im Rahmen der obengenannten Iterationsprozesse bei der Entwicklung durch die Konstruktionenin allen Details geschehen.

Das Bindeglied aller Sensoren, aller Antriebe und der Regelungskonzep-te sind die Bussysteme und die Rechner. Auch hierbei hat man neben derAuswahl der am besten geeigneten Systeme uber die Regelung und die Phy-sik des Laufens den wichtigen Aspekt, dass auch diese Komponenten vonder Konstruktion bereits fruhzeitig berucksichtigt werden. Das Rechnersys-

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tem entscheidet weitgehend uber die Schnelligkeit der Regelung und damitauch uber die Leistungsfahigkeit der gesamten Maschine. Man braucht Au-tonomie, niedrige Zykluszeiten, in jedem Falle Echtzeitfahigkeit, Robustheit,einfache Softwareentwicklung und eine ubersichtliche Anbringung von Ein-und Ausgangen. So sind beispielsweise fast an die 90 Ein- und Ausgange zuerfassen und zu bearbeiten. Das zunachst entwickelte dezentrale Rechensystemsetzt sich aus 6 Mikrocontrollern Infineon C167CS und einem ZentralrechnerPentium III PC zusammen. Mehrere CAN-Bus-Kanale wurden fur die Kom-munikation der Einheiten eingesetzt. Fur das Laufen mit Sichtsystem gab esmit diesem Rechnersystem Geschwindigkeitsprobleme, daher wurden zu ei-nem spateren Zeitpunkt die Rechnerarchitektur und auch die Bus-Systemegeandert, beispielsweise vom CAN-Bus zu parallelen Bus-Systemen.

Laufen ist ein dynamischer Vorgang, der eine aufwendige Regelung erfor-dert. Demgemaß nimmt bei der Gesamtentwicklung der Maschine die Dyna-mik und die Regelung des Systems einen breiten Raum ein. Das Regelungs-konzept besteht aus 3 Schichten, wobei die unterste Schicht als Arbeitsebenedas Konzept der Feedback Linearisierung oder spater ein PID-Mehrgroßen-Konzept enthalt, die mittlere Ebene erzeugt das Laufmuster fur das Gehenoder fur schnelles Laufen und die oberste Ebene nimmt eine globale Gang-koordination vor. Die unterste Ebene stabilisiert die Laufmaschine und si-chert somit die Maßnahmen, die von den oberen Ebenen verlangt werden. Diezunachst eingesetzte Feedback Linearisierung funktioniert zwar hervorragendtrotz der Notwendigkeit alle Parameter sehr gut zu kennen, was einige Schatzernotwendig macht, sie war in dieser Realisierung allerdings zu langsam. Deshalbwurde zu einem spateren Zeitpunkt dieses nichtlineare Konzept der FeedbackLinearisierung durch einen Mehrgroßen-PID-Regler ausgetauscht und gleich-zeitig die Sensordatenverarbeitung von den vielen und relativ langsamen Mi-kroprozessoren auf einen zentralen Rechner verlegt.

Im Rahmen des Schwerpunktes wurde von dem Kollegen Prof. Dr.-Ing.Gunther Schmidt, Lehrstuhl fur Steuerungs- und Regelungstechnik (LSR),TU Munchen, ein Sichtsystem entwickelt, das der zweibeinigen Laufmaschinemehr Autonomie verleihen sollte. Dies gelang ohne Einschrankung. Fur dieHannover-Messe 2003 wurde das Sichtsystem auf den Kopf von JOHNNIE in-tegriert und es wurden bestimmte Laufszenarien entwickelt, fur die die Maschi-ne autonom, ohne irgendwelche Unterstutzung von außen, gehen konnte. DieMaschine entschied selbst, ob sie uber ein Hindernis hinweglaufen oder darumherumlaufen sollte, sie entschied selbst, wie sie in einem begrenzten Areal denWeg findet und sie entschied schließlich selbst, wie sie einige Treppenstufenhinaufstieg. Dies wurde mit 60 Vorfuhrungen auf der Hannover-Messe 2003ohne irgendwelche Pannen und mit viel Erfolg prasentiert.

Eine Weiterfuhrung von JOHNNIE und der Bau einer neuen Maschine istbereits von der DFG bewilligt. Kernpunkte dieses neuen Projektes sind Ver-besserungen im Leichtbau und in der Antriebstechnik nach heutigem Stand,aber besonders bei der Sensorik und bei der Regelung. Es soll schnelleresLaufen realisiert und mehr Autonomie verwirklicht werden. Neurologen und

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8 Entwurf und Realisierung einer zweibeinigen Laufmaschine 125

Neurobiologen haben die Erkenntnis gewonnen, dass bei Menschen und auchbei Tieren beim schnellen Laufen mit geringerem sensorischen und regelungs-technischen Aufwand gearbeitet wird als beim langsamen Laufen. Dies be-deutet geschwindigkeitsabhangige Reglerstrukturen und entsprechenden Sen-soreinsatz. Soweit es irgendwie geht, soll dieses Prinzip im neuen JOHNNIEverwirklicht werden. Die Autonomie betrifft ein besseres Sichtsystem, dessenInformation unmittelbar auch fur die Regelung der Maschine benutzt wer-den soll. Die bisher erreichte Autonomie soll damit um Vielfaches ubertroffenwerden.

Schließlich soll ein alter und immer wieder hochkommender Diskussions-punkt zumindest von der Simulation her besser untermauert werden. Es be-trifft die Speicherung von Energie beim Laufen, die bei biologischen Systemenuber die Muskeln ohne Zweifel stattfindet. Sie findet aber auch bei bisherexistierenden Maschinen statt, da alle Regelungen so ausgelegt sind, dass sieirgendeine Art von Energiekriterium erfullen. Etwas mehr im Detail soll ge-klart werden, wie man den Anteil der passiv gespeicherten Energie optimalfur den Laufvorgang ausnutzen und falls das ein Ergebnis ist, wie man diesenAnteil erhohen kann. Erst in einem zweiten Schritt sind dann konstruktiveMaßnahmen zu uberlegen.

8.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

8.2.1 Ausgangslage

Im Jahre 1997 existierten am Lehrstuhl B fur Mechanik zwei Laufmaschinen,der Sechsbeiner MAX und der Achtbeiner MORITZ. Letzterer war fur sta-biles Laufen in Rohren konzipiert und realisiert. Die von Weidemann undEltze entwickelte sechsbeinige Laufmaschine MAX [1,19] zeichnet sich durchdie Umsetzung biologischer Regelungsstrategien aus. Die Antriebskomponen-ten wurden mit Optimierungsmethoden ausgewahlt. Die Rechnerarchitekturentspricht dem biologischen Vorbild einer Stabheuschrecke und ist mit siebendezentral arbeitenden Mikrocontrollern realisiert. Steuer [18] erweiterte dasSystem um eine Neigungsregelung und optische Hinderniserkennung.

Der von Rossmann [17] entwickelte Rohrkrabbler MORITZ bewegt sichin Rohren mit variabler Krummung und unterschiedlichen Durchmessern fort.Das Einspreizen der Beine an den Rohrwanden wird mit der Methode derFeedback Linearisierung realisiert. Hierzu verfugt der Roboter uber eine auf-wandige Kraftsensorik in den acht Beinen. Die mehrstufige Regelung ist mitfunf uber CAN-Bus verbundenen Mikrocontrollern umgesetzt. Zagler [20]integrierte weitere Bewegungsmoglichkeiten und ein optisches Erkennungssys-tem, um damit Rohrabzweigungen bewaltigen zu konnen.

Die damit vorhandenen Erfahrungen betrafen das Gesamtsystem von Lauf-maschinen von der Konstruktion uber die Sensorik und die Antriebe bis hin zuRechnersystemen, Bus-Systemen und Regelungskonzepten. Damit war bereits

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126 Friedrich Pfeiffer

eine substantielle Basis fur die Entwicklung und Realisierung von JOHNNIEvorhanden.

Ein weiteres Fundament ergab sich durch die Mitarbeit im SFB 462”Sen-

somotorik“, in dessen Rahmen sich der Lehrstuhl mit der modellgestutztenRehabilitation von Hemiparetikern befasste. In diesem Zusammenhang wurdeein Simulationsmodell entwickelt, welches den dreidimensionalen Charakterdes menschlichen Ganges und die Beteiligung aller Korperglieder wiedergibt.Damit konnten die kinetischen Großen des menschlichen Bewegungsapparatesberechnet werden [6, 11]. Erkenntnisse aus dieser Arbeit flossen sowohl in dieAuslegung der Laufmaschine als auch in die Entwicklung der Bewegungsmus-ter und Regelungskonzepte ein.

Die Entwicklung der ersten zweibeinigen Laufmaschinen begann gegen En-de der 60er Jahre an der japanischen Waseda University. Eine aktuellere Ent-wicklung ist der Roboter WABIAN, der strukturelle Ahnlichkeiten zu seinenVorgangermodellen besitzt [2]. Die Bewegungen des Roboters lassen sich sogestalten, dass menschliche Emotionen (frohlich, traurig, verargert) erkennbarsind. Seine Maximalgeschwindigkeit betragt 2 km/h.

Die rasche Zunahme von Forschungsgruppen, die sich mit zweibeinigenLaufmaschinen beschaftigt, lasst sich unter anderem auf die Erfolge der Hon-da Motor Corporation zuruckfuhren. Bereits die ersten Prototypen P2 und P3zeichnen sich durch eine hohe Laufgeschwindigkeit aus. Die aktuelle Entwick-lung ASIMO verfugt neben ausgereiften Laufalgorithmen uber weitere Fahig-keiten: Kamera-gestutzte Objekterkennung, Sprach- und Schallrichtungsde-tektion sowie Greif- und Manipulationsfahigkeiten.

An der Tokyo University wird derzeit an der dritten Generation zweibei-niger Laufmaschinen geforscht [3]. Die unter dem Namen H5, H6 und H7bekannten Roboter wurden von der japanischen Firma Kawada IndustriesInc. entwickelt. Mit dem integrierten Sichtsystem werden Verfahren zur Hin-derniserkennung untersucht.

Im Rahmen des vom japanischen Wissenschaftsministerium (METI) gefor-derten Humanoid Project wurden in Zusammenarbeit des National Instituteof Advanced Industrial Science and Technology (AIST) und der Firma Kawa-da Industries Inc. zwei humanoide Roboter (HRP2, HRP2P) entwickelt. DieSysteme sind vollstandig autonom und verfugen uber eine humanoide Struk-tur mit Armen und Sichtsystem [4,5]. Neben der Gehbewegung wird auch anBewegungsstrategien zum Hinlegen, aufstehen und gezieltem Fallen geforscht.

In den USA gab es zweibeinige Laufmaschinen am MIT [16] und an anderenHochschulen. Das Engagement der Amerikaner in diesem Bereich ist allerdingsbei weitem nicht so hoch wie in Japan, wo inzwischen neben der Firma Hondaauch die Firmen Sony und Toyota aktiv in das Geschaft mit Laufmaschineneingestiegen sind.

Interessant ist eine Zusammenstellung der technologischen Daten existie-render Laufmaschinen, die in der Form wie in Tabelle 8.1 dargestellt zwar imJahre 1997 nicht existierte, deren Inhalt aber auch damals schon weitgehend

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bekannt war. An dem prozentualen Einsatz der verschiedenen Technologienhat sich bis heute nicht sehr viel geandert.

Tabelle 8.1. Technologische Auslegung bisheriger zweibeiniger Laufmaschinen (sta-tistische Daten aus internationalen Quellen)

Struktur und Antriebstechnik

Motortyp elektr. DC 71.4%elektr. EC 21.7%Sonstige 6.9%

Getriebe Harmonic Drive 73.9%Kugelumlaufspindeln 26.1%

Zehengelenk aktiv 8.3%passiv 8.3%keines 83.3%

Arme ja 66.7%nein 33.3%

Anzahl der Beingelenke 12 87.5%6 12.5%

Sensorik und Rechnersystem

Inertiale Drehlagemessung Gyro/Beschl. 72.7%Inclinometer 4.5%Keine 22.8%

Kraftmessung 6-achsig 50.0%3/4-achsig 37.5%Sonstige 12.5%

Winkelmessung Encoder (digital) 71.4%Potentiometer (analog) 28.6%

Sichtsystem Ja 54.2%Nein 45.8%

Rechnersystem Zentral 91.7%Dezentral 8.3%

Zum Zeitpunkt der Antragstellung bestand das Ziel darin, eine zweibeini-ge Laufmaschine zu verwirklichen, die moglichst schnell laufen sollte, deutlichuber den bis dahin bekannten Werten, und die eine gewisse Autonomie nachIntegration des Sichtsystems von Prof. Schmidt erhalten sollte. Eine Basisdieser Ziele war naturlich die Realisierung der Laufmaschine selbst, die indieser Form bis dahin in Europa nicht vorhanden war. Als Arbeitshypothesewurde ein Realisierungsprozess zugrunde gelegt, der in vielen Iterationsschrit-ten uber eine Simulation des Gesamtsystems, also der Mechanik der Antriebe,der Sensorik, der Computer, letztlich in einem Satz von Werkstattzeichnungenenden sollte, und zwar Werkstattzeichnungen sowohl mechanischer als auchelektronischer Natur, die dann dem Bau zugrunde liegen.

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8.2.2 Beschreibung der durchgefuhrten Arbeiten

Die Auslegung der zweibeinigen Laufmaschine JOHNNIE orientierte sich amMenschen und an den damals bereits existierenden Laufmaschinen. Der Aus-legungsprozess selbst folgte dabei einem iterativen Vorgehen wie es in Abb.8.2 dargestellt ist.

Abb. 8.2. Methodisches Vorgehen beim Realisierungsprozess

Schon in einer sehr fruhen Entwicklungsphase wurde die JOHNNIE-Struktur als Mehrkorpersystem dargestellt, und es wurden alle zuganglichenDaten fur die Motoren, die Getriebe, die Sensoren und die damals noch ein-fache Regelungsstruktur berucksichtigt. Es wurden die zwei in Abb. 8.3 skiz-zierten Modelle erstellt: Ein umfangreiches Modell mit 21 Motoren, 17 Ge-trieben, 22 Korper, was zusammen 65 Freiheitsgrade ergibt. Dieses Modelldiente in der Folge als virtuelle Maschine zum Testen von Sensordaten, Re-gelungskonzepten und Antrieben. Ein zweites einfacheres Modell wurde furdie Reglerauslegung erstellt. Es besaß 17 Korper einschließlich der Motorenund Getriebe und damit 21 Freiheitsgrade. In beiden Modellen wurden uber60 Sensorvariablen berucksichtigt. Diese Art von aufwendiger Modellierungbedeutete als Voraussetzung eine ebenso aufwendige Konstruktion. In Dut-zenden von iterativen Prozessen wurde diese Konstruktion dann im Verlaufder ersten 2 Jahre systematisch verbessert. Erst dann begann die eigentlicheRealisierungsphase.

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Einen großen Raum nahmen bei diesem Vorgang die Konstruktionen ein.Es musste nicht nur die Struktur von JOHNNIE als solche, sondern auch alleGelenke konstruiert und festgelegt werden. Hier flossen die Erfahrungen desLehrstuhls aus den beiden anderen Maschinen ein. Die aufwandigsten Kon-struktionen ergaben sich dabei fur das Huftgelenk mit drei Freiheitsgraden,das Kniegelenk mit einem und das Fußgelenk mit zwei Freiheitsgraden. Diedamals der Auslegung zugrunde gelegten maximalen Momente betrugen furdie Hufte 170 Nm, fur das Knie 180 Nm und fur den Fuß 100 Nm. Diese Zahlen-werte ergaben sich aus einer Simulation des schnellen Laufens, des Joggens.Wie sich spater herausstellte, stimmen zwar die Maximalmomente einiger-maßen, schnelles Laufen lasst sich mit der jetzigen Maschine dennoch nichterreichen, was noch zu diskutieren sein wird.

Abb. 8.3. Mechanische Modelle fur die Auslegung

Besonders fur das Huftgelenk wurden umfangreiche Studien fur die Anord-nung der Freiheitsgrade durchgefuhrt. Da die Freiheitsgrade seriell angeordnetsind, sind nicht samtliche Kombinationen stabil. Die schließlich ausgewahlteund von der Funktion her beste Losung bestand in einer Reihenfolge der Frei-heitsgrade in der Form Rotation, Adduktion, Flexion. Diese serielle Anord-nung erwies sich auch im Hinblick auf die Huftbewegungen als die stabilsteund bestmogliche. Sowohl in der Hufte als auch am Bein treten extrem großeDrehmomente auf, die mit den kleinen Neodym-Bor-Motoren in Kombinati-on mit Harmonic Drive Getrieben realisiert werden mussten. Es erwies sichhierbei als gunstig und vom Bauvolumen optimal, nicht einen großen, sondernzwei kleine Motoren, die uber Zahnriemen auf ein gemeinsames Getriebe ar-

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beiten, zu verwenden. Die gleiche Losung erwies sich fur das Knie optimal, wodas maximale Moment noch etwas großer ist.

Der Fuß besitzt zwei Freiheitsgrade. Fur das hierzu gehorige Sprungge-lenk wurden verschiedene Varianten kinematisch untersucht, um eine mog-lichst optimale Auslegung zu erzielen. Die jetzige Losung besteht darin, diebeiden Fußfreiheitsgrade Kippen und Rollen durch Kugelumlaufspindeln inVerbindung mit Gleichstrommotoren zu aktuieren. In Bezug auf die Antriebehat dies den Vorteil, dass die Rotoren niedrige Tragheitsmomente besitzen,dass die Verlustwarme vom Motor leicht abgefuhrt werden kann und dass dieUbersetzung einfach anzupassen ist.

Die Auslegung aller ubrigen Antriebe, des Oberkorpers oder der Arme,war einfach da hierbei keine ubermaßigen Belastungen auftreten. Die Armedienen im Wesentlichen dem Massenausgleich, das Rotationsgelenk fur denOberkorper soll eine Drehung der Hufte und damit schnellere und großereSchritte erlauben.

Samtliche mechanischen Teile der Laufmaschine wurde mit FE-Modellenvon der Belastung und dem Gewicht her optimiert. Alle Bauteile wurden aufdie Dauerfestigkeitsgrenze hin ausgelegt, wie sie in den Materialblattern an-gegeben war. Die diesbezugliche Optimierung der Form resultierte in einemextremen Leichtbau der Maschine ohne dabei Festigkeitsaspekte zu vernach-lassigen. Der erfolgreiche Einsatz der Maschine bestatigte diese Art von Aus-legung. Die Maschine besitzt uber 800 mechanische Teile, einen Eindruck vonder Komplexitat der Konstruktion gibt eine raumliche Darstellung des Huft-gelenks gemaß Abb. 8.4.

Abb. 8.4. Konstruktion des Huftgelenks

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Wie oben bereits erwahnt, verfugt JOHNNIE uber drei Gruppen von Sen-soren, die Gelenksensoren, die Kraftsensoren und die inertiale Plattform bzw.die Inertialreferenz. Die Gelenksensoren sind an die Motoren angebracht undbestehen aus inkrementellen Winkelgebern mit einer Auflosung von 2000 Im-pulsen pro Umdrehung. Die Winkelreferenz eines Gelenks wird mit einer Licht-schranke im Gelenkarbeitsraum ermittelt. Bevor JOHNNIE in Gang gesetztwerden kann, muss eine Initialisierung durchgefuhrt werden, bei der alle Ge-lenke diese Lichtschranken durchlaufen. Da die Harmonic Drive Getriebe sehrtorsionssteif sind, ist der Fehler bei diesem Vorgehen außerst gering. Die hoheAuflosung erlaubt uberdies eine sehr prazise Regelung der Gelenkposition ineiner sehr kurzen Zeit. Die Gelenke besitzen keine zusatzlichen Tachometerzur Geschwindigkeitsmessung, sondern benutzen die Positionsmessungen, umdaraus numerisch die Geschwindigkeiten herzuleiten. Um Schaden zu vermei-den, ist jedes Gelenk mit Schaltern ausgestattet, die den Arbeitsraum desGelenkes mit einem Minimal- und einem Maximalwert begrenzen. Wenn die-ser Arbeitsraum uberschritten wird, schaltet das System die Leistungszufuhrder Motoren ab. Ein typisches Beispiel fur den Einsatz eines Winkelencoderszeigt Abb. 8.5 fur das Sprunggelenk des Fußes.

Abb. 8.5. Antrieb des Fußgelenks mit Winkelencoder

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Die Stabilisierung des Laufens hangt von allen Freiheitsgraden des Men-schen oder der Maschine ab, es hangt besonders signifikant von der Dynamikdes Fußes ab. Es ist deshalb wichtig, sowohl die kinematischen als auch diekinetischen Großen des Fußes genau zu kennen. Zu diesem Zweck wurde einKraft-Momenten-Sensor entwickelt, der eine solche genaue Messung moglichmacht. Auf dem Markt war ein solcher Sensor in der erforderlichen Großenord-nung nicht verfugbar. Die Sensorauslegung stutzt sich dabei auf die Simulationder Dynamik eines geregelten Jogging-Vorganges mit einer Geschwindigkeitvon 5 km/h. Hierbei wurde das große Simulationsmodell eingesetzt (vgl. Abb.8.3). Zusatzlich wurden die Bodenkontaktvorgange als einseitige Bindungen inden Bewegungsgleichungen formuliert. Die sich daraus ergebenden Krafte undMomente waren dann Grundlage fur die Sensorentwicklung. Die Auslegungerfolgte auf der Basis von FEM-Rechnungen, und der dabei getroffenen An-nahme, dass der gesamte Sensor aus einem Stuck gefertigt wird. Die Bauweiseist klassisch, ein Ring mit 3 Stegen zur Mittelmasse, wobei die Gestaltungsich nach den Spannungen im Sensor richtete. Der Sensor wurde aus einerhochwertigen Aluminium-Legierung gefertigt. Die Dehnmessstreifen wurdenals Halbbrucken an den Biegebalken zwischen Ring und Mittelmasse ange-bracht. Geeignete Temperaturbehandlungen sichern die Dauerhaftigkeit undReproduzierbarkeit der Messungen. Ein wichtiger Teil der Sensorrealisierungwar die Kalibrierung, da Effekte, wie ein Ubersprechen zwischen den Dehn-messstreifen oder einige nichtlineare Vorgange kompensiert werden mussten.Abb. 8.6 zeigt eine prinzipielle Darstellung des Kraftsensors.

Abb. 8.6. Auslegung des Kraft-/Momentensensors mit sechs Freiheitsgraden

Ein Problem zwischen Leistung und verfugbaren Mitteln stellte die iner-tiale Referenz, also eine Art inertialer Plattform dar. Nach langen Studien,besonders was die Genauigkeit der Messungen im Rahmen der Laufdynamikanbelangte, entschieden wir uns fur ein Sensorsystem, das aus drei Drehra-tensensoren auf der Basis von Piezos und aus drei Beschleunigungssensoren

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auf der Basis von Masseneffekten besteht. Die Kosten waren gerade noch ver-traglich, die Genauigkeit in Ordnung, die Bandbreite des Gesamtsystems mit85 Hz eher etwas zu niedrig. Einige 100 Hz waren wunschenswert, aber nichtbezahlbar gewesen. Die Messung der inertialen Drehlage dynamischer Syste-me ist mit einigen prinzipiellen Schwierigkeiten verbunden. Fur den statischenFall kann die raumliche Drehlage eines Korpers im Gravitationsfeld aus denMesswerten eines dreiachsigen Beschleunigungssensors berechnet werden. Un-terliegt der Korper allerdings uberlagerten Beschleunigungen, so verfalschendiese das Ergebnis. Zur Messung hochdynamischer Bewegungen sind Drehra-tensensoren geeignet. Mit Kenntnis der Anfangswerte ist die Drehlage durchIntegration der Drehgeschwindigkeiten ermittelbar. Allerdings kommt es jenach Qualitat der verwendeten Sensoren zur Drift der integrierten Drehlage.Um trotz der Nachteile der beiden Messsysteme gute Ergebnisse zu erzielen,kommen Sensorfusionsmethoden zum Einsatz, die den sensorspezifischen Feh-lereigenschaften Rechnung tragen. Zur Filterung der Messwerte wird eine alsKomplementarfilterung bezeichnete Methode eingesetzt, die auf der Filterungder verschiedenen Sensorgroßen mit fehlerangepassten Ubertragungsfunktio-nen basiert. Die Sensorplattform und das Filterverfahren sind in Abb. 8.7angedeutet.

Abb. 8.7. Inertiale Plattform und Filterverfahren

Der Aufbau des Rechnersystems und der dazugehorigen Bus-Systeme hatsich im Laufe der Entwicklung verschiedentlich geandert. Das liegt einmaldaran, dass die Erreichung der gestellten Ziele stark von der Konzeption desGesamtsystems abhangt, dass jede auch geringfugige Anderung in diesem Ge-samtsystem auch die notwendigen Operationen in den Rechnern andert unddass schließlich die Rechner selbst auf die Schnelligkeit der Maschine einenwesentlichen Einfluss haben. So war die erste Konzeption dahingehend ver-wirklicht, dass etwas uber 80 Sensorsignale in 6 Mikrocontroller einliefen, dort

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verarbeitet und als vorverarbeitete Informationen an die Regelung weiterge-reicht wurden. Diese vorverarbeiteten Informationen bestanden aus 27 kine-matischen und 6 kinetischen Daten. Das nichtlineare Reglerkonzept der Feed-back Linearisierung hat diese Daten verarbeitet und dann 17 Drehmomenten-signale an die Antriebe der Gelenke zuruckgegeben. Dieses System war relativlangsam und wurde daher vor der Hannover Messe 2003 geandert. Die bisdahin benutzten CAN-Bus-Systeme wurden durch parallele Bus-Systeme undalle Infineon-Mikrocontroller durch einen einzigen zentralen Rechner ersetzt.Eine solche Zentralisierung der Informationsverarbeitung wird im Ubrigen seitNeuestem von der Neurobiologie wiederum bestatigt.

Schließlich die Regelung selbst, die letztendlich uber Struktur und Ein-satz der Sensoren, der Antriebe und der Rechner sehr wesentlich entscheidet.Fur das ursprunglich gewahlte System der Feedback Linearisierung gab es amLehrstuhl umfangreiche Erfahrungen. Ein solches nichtlineares Reglerkonzeptwurde fur den achtbeinigen Rohrkrabbler MORITZ entwickelt und realisiert,und es arbeitete in dieser Maschine in vielen Versuchen und Vorstellungenhervorragend. Das Konzept ist allerdings fur schnelle dynamische Vorgangenicht so gut geeignet, weil es einen relativ großen Aufwand fur Echtzeitbe-rechnungen erfordert. Dies ruhrt nicht zuletzt daher, dass fur das FeedbackLinearisierungs-Konzept alle Parameter und auch alle Zustandsgroßen aus-nahmslos bekannt sein mussen, und dieses bedeutet wiederum, dass man ubereine Vielzahl von Schatzsystemen, wie etwa fur die Reibung, fur die Gravi-tation, fur die Kinematik, sich die fehlenden und nicht gemessenen Großenbeschaffen muss. Dies alles ist zwar theoretisch und auch durchaus praktischperfekt, aber zu langsam. Es hat allerdings fur normales Gehen im JOHNNIEhervorragend funktioniert. Eine solche Regelung ist stabil und sehr robust.

Dennoch wurde in einem zweiten Durchgang ein modifiziertes Konzeptentwickelt, das aus den Elementen Mehrgroßen-PID-Regelung und zentralemRechner besteht. Die Sensorik und Aktorik wurde nicht geandert. Allerdingserlaubte dieses Konzept dann, die bisher eingesetzten Bus-Systeme uberflussigzu machen bis auf einen Rest, der durch Parallelbusse ersetzt wurde. DieseMaßnahme brachte eine erhebliche Beschleunigung mit sich, die Laufzeitenwurden kurzer, und JOHNNIE wurde schneller. Einen wirklichen Hartetestbestand dann die Maschine in der Hannover-Messe 2003, wo sie 60 mal furjeweils 20 Minuten zuverlassig lief.

Das Regelungskonzept besteht aus 3 Ebenen, wie es in Abb. 8.8 dargestelltist. Die unterste Ebene ist eine Art Arbeitsebene und stabilisiert die Maschi-ne, sichert dabei auch gleichzeitig eine Basis fur die Informationen von denoberen Ebenen. Die untere Ebene enthalt auf Abb. 8.8 noch das nichtlineareKonzept der Feedback Linearisierung, das zu einem spateren Zeitpunkt durchein schnelleres Konzept mit Mehrgroßen-Regler und Zentralrechner abgelostwurde. Hierauf wird noch einzugehen sein. Die mittlere Ebene bearbeitet dieTrajektorien fur normales und schnelles Laufen, sie berechnet die Regelungs-und die Trajektorienparameter, sie bestimmt die Referenzwerte und sie akti-viert den eigentlichen Regelungsprozess im Rechner. Die Berechnung der Re-

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ferenztrajektorien ist außerordentlich wichtig fur eine stabile Bewegung derMaschine. Hierbei mussen besonders die Umgebungsbedingungen berucksich-tigt werden. Da ein solcher Satz von Umgebungsbedingungen eine Trajektorienicht eindeutig bestimmt, werden in dieser Ebene auch geeignete Optimierun-gen zur Festlegung des Gangmusters vorgenommen. Die zugehorigen Kriteriensind im Wesentlichen Energieverbrauch und Stabilitat des Systems. Die obers-te Ebene behandelt die globalen Laufaspekte wie Gehen oder schnelles Laufen,aber auch das Stehen, das besonders aufwendige Regelungsmaßnahmen erfor-dert. Die einzelnen Phasen dieser Eigenschaften werden dann in der nachstenEbene im Einzelnen naher ausgefuhrt.

Zwei zusatzliche Aspekte sollten noch behandelt werden, namlich das Pro-blem der eben erwahnten Bedingungen und die sehr wichtigen Eigenschaftender Fußdynamik. Die großten Schwierigkeiten in der Regelung dynamisch lau-fender Maschinen kommen von einschrankenden Bedingungen, die die An-wendbarkeit konventioneller Regelungskonzepte unmoglich machen. Dabeimussen zwei Gruppen von solchen einschrankenden Bedingungen betrachtetwerden. Erstens werden die Arbeitsraume von Gelenken, die maximalen Ge-lenkgeschwindigkeiten und die maximalen Gelenkmomente beschrankt. Diessind auch typische Einschrankungen fur Industrieroboter und konnen durchentsprechende Konstruktion und richtige Wahl der Trajektorien vermiedenwerden. Ein kritisches Regelungsproblem resultiert jedoch aus der zweitenGruppe von Einschrankungen, die den einseitigen Bindungskontakt zwischenFuß und Boden beschreiben. Sie sind abhangig von der Normalkraft, die vomFuß auf den Boden ubertragen wird, und sie begrenzen die maximal auf denUntergrund ubertragbaren Momente als auch die Tangentialkrafte durch denentsprechenden Reibkegel am Boden. Praktische Experimente zeigen, dass dieMaschine im Normalfall nicht gleitet, dass aber die Grenzen der Momente inseitlicher und Gehrichtung zu kleinen Anderungen des Stabilitatsbereichs fuh-ren. Hier sind entsprechende Maßnahmen erforderlich.

Praktische Experimente zeigen, dass die Maschine im Normalfall nichtgleitet, dass aber die Grenzen der Momente in seitlicher und in Gehrichtungsehr leicht uberschritten werden konnen. Der Stabilitatsbereich der Maschineist daher im wesentlichen durch die maximal ubertragbaren Fußdrehmomentebegrenzt.

Wenn die maximalen Momente der Fuße uberschritten werden, beginntdie Maschine nach vorn bzw. zur Seite zu kippen. Es ist entscheidend, dassdiese Grenzen in der Berechnung der Referenztrajektorien und in der Rege-lung der Maschine berucksichtigt werden: Die Trajektorien sind so berechnet,dass auf der Referenzbahn moglichst große Drehmomentreserven vorhandensind. Praktische Experimente mit JOHNNIE haben jedoch gezeigt, dass op-timale Trajektorien zwar notwendig aber nicht hinreichend sind, um die Sta-bilitat des Systems sicherzustellen. In realen Experimenten treten aufgrundvon Bodenunebenheiten, Sensorrauschen und Ungenauigkeiten der Modellie-rung stets erhebliche Storungen auf, die ohne Anpassung der Trajektorien zurUberschreitung der maximalen Fußdrehmomente fuhren.

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Abb. 8.8. Reglerstruktur nach dem Konzept der Feedback Linearisierung

Die Regelung der Trajektorien muss daher mit einer Regelung der Fuß-drehmomente uberlagert werden, sodass der Roboter auf der Referenzbahngehalten und zugleich eine Uberschreitung der Fußdrehmomente verhindernwerden kann.

Bei dem zuerst eingesetzten Konzept der Feedback Linearisierung werdendie Fußdrehmomente mit einer

”direkten Kraftregelung“ geregelt. Dabei wer-

den die gemessenen Fußdrehmomente in einer dezentralen Regelschleife direktauf die Motormomente der Fußgelenke zuruckgefuhrt. Es ist zu berucksichti-gen, dass eine genaue und schnelle Regelung des Kraftzustands im einseiti-gen Bodenkontakt sehr schwierig ist. Je nach Anderung des Kontaktzustands

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(geschlossen/offen) variiert die Kontaktsteifigkeit sehr stark und mit konven-tionellen PID-Reglern ist keine ausreichende Regelgute erreichbar. Ahnlichwie bei der Kraftregelung des Rohrkrabblers kann jedoch durch Einsatz einesReibbeobachters eine sehr hohe Regelgute erzielt werden. Der Reibbeobachtergleicht dabei nicht nur die Reibung der Motor-Getriebe-Einheiten aus, sonderner kompensiert auch Storungen aufgrund der hoch nichtlinearen Kontaktstei-figkeit.

Das beschriebene Regelungskonzept aus Feedback-Linearisierung mit de-zentraler Kraftregelung wurde effizient zur Regelung des Stehens und langsa-men Gehens eingesetzt. Wie bereits im Vorangegangenen erwahnt ist diesesKonzept jedoch nicht fur schnelleres Gehen geeignet. Trotz hoher Regelguteder dezentraler Drehmomentregelung ist die Bandbreite des Gesamtsystemsdurch die Bandbreite der inertialen Plattform, der Kraftsensoren, der Uber-tragungsrate des Bussystems und die verfugbare Rechenleistung begrenzt.

In einer weiterentwickelten Implementation wurde daher das Konzept derFeedback Linearisierung aufgegeben und ein Mehrgroßen-PID Regler einge-setzt. Gleichzeitig wurde die Rechnerarchitektur auf ein vollstandig zentralesSystem umgestellt. Dadurch reduziert sich der Rechenaufwand und der Auf-wand der Datenubertragung. Wesentlicher ist jedoch die damit verbundeneAnderung des Regelungskonzepts. Die Regelung der Fußdrehmomente erfolgthierbei nicht mehr nach dem Prinzip der direkten Kraftregelung, sondern nachder Methode der Impedance Control. Bei der Impedance Control wird aus dengemessenen Fußdrehmomenten eine Anderung der Fußgelenkposition berech-net, die wiederum an die unterlagerten PID-Regler der Fußgelenke weiterge-geben wird. In diesem Konzept erfolgt auf unterster Ebene also die Positions-und Geschwindigkeitsregelung, die Kraftregelung ist uberlagert und relativlangsam. Zunachst erscheint diese Implementation ungunstiger zu sein als diedirekte Kraftregelung, bei der eine sehr schnelle und genaue Einstellung derFußdrehmomente moglich ist. Wenn jedoch das Gesamtsystem aus Drehlage-regelung des Oberkorpers und Fußmomentenregelung betrachtet wird, ergibtsich eine hohere Bandbreite fur den Roboter.

Grund dafur ist die geringere Zeitverzogerung bei der Ruckfuhrung derOberkorperdrehlage. Bei der direkten Kraftregelung der Fuße ist die relativeLage zwischen Fuß und Boden zunachst unabhangig von der Drehlage desOberkorpers. Diese fließt lediglich uber die Sensorsignale der inertialen Platt-form in die Fußmomente ein und wird damit relativ langsam zuruckgefuhrt.

Bei der Mehrgroßen PID-Regelung fuhren Abweichungen der Drehlage desOberkorpers uber die Kinematik zu einer Verkippung der Fuße relativ zumBoden. Damit werden Drehlageabweichungen sehr schnell zuruckgefuhrt, dieImpedance Control erlaubt es die Drehgeschwindigkeit sehr stark zu dampfenund Bodenunebenheiten auszugleichen.

Experimente haben gezeigt, dass die neue Implementation mit deutlichreduzierter Rechenleistung wesentlich effizienter arbeitet als das Konzept derFeedback Linearisierung. Aus den Veroffentlichungen der Firma Honda und

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den Robotern des HRP-Programms geht hervor, dass dort sehr ahnliche Kon-zepte zum Erfolg gefuhrt haben.

Das Konzept der Impedance Control lasst dabei noch einen weiten Spiel-raum fur zukunftige Entwicklungen. Wie dargestellt werden bei unserem Ro-boter lediglich die Drehlagen der Fußgelenke zur Stabilisierung der Oberkor-perdrehlage verwendet. Versuche, den Stoß beim Aufsetzen der Fuße durchvertikales Anheben zu dampfen waren sehr viel versprechend. Es ist daruberhinaus moglich, das gesamte Gangmuster nach dem Prinzip der ImpedanceControl anzupassen und den Roboter beispielsweise uber die Schrittlange, dieseitliche Position der Fuße und die Oberkorperdrehlage zu regeln.

Die in Abb. 8.8 gezeigte Regelung reicht aus, wenn JOHNNIE nach einemvorgegebenen Programm lauft. Wenn er dagegen mit Hilfe eines Sichtsystemslauft, so kommt uber diese dreilagige Regelung noch eine vierte Ebene, dieletztlich dem in Abb. 8.8 dargestellten Regelungssystem vorschreibt, was zutun ist. Das Sichtsystem erkennt Gegenstande, dieses muss mit dem Rechnerausgewertet, und dann uberpruft werden, ob JOHNNIE mit dieser Umweltfertig werden kann. Daraus resultieren Entscheidungen, die auch Aktionenvon JOHNNIE betreffen. Dies ist bereits eine einfache Vorstufe zu dem wasdie Neurobiologen action selection nennen.

Ein sehr großer Anteil der durchgefuhrten Arbeiten bezieht sich besondersin der letzten Phase auf Experimente mit JOHNNIE. JOHNNIE lauft aufeinem umlaufenden Band mit einer Maximalgeschwindigkeit von inzwischen2,5 km/h, er lauft auf einem speziellen Teppich mit großen schwarz-weiß Kon-trasten, damit das Sichtsystem arbeiten kann, er lauft gefuhrt, und er lauftautonom. JOHNNIE war zweimal auf der Hannover-Messe und mehrere Maleauf anderen Ausstellungen, z. B. auch im Nixdorf-Institut in Paderborn. Esgab bisher keinerlei Pannen und keinerlei Schaden, er lauft seit seiner Fertig-stellung absolut ohne Fehler.

8.2.3 Darstellung der erzielten Ergebnisse

Da die erzielten Ergebnisse im Wesentlichen bereits im vorangegangenen Ka-pitel angesprochen wurden, durfte es in diesem Kapitel ausreichen, diese Er-gebnisse noch einmal in Stichworten aufzulisten. Es wurde die folgende zwei-beinige Laufmaschine entwickelt und realisiert:

• JOHNNIE• Große 1,80 m• Gewicht 43 kg (ohne Sichtsystem)• Maximale Laufgeschwindigkeit 2,5 km/h• Maximale Schrittlange 55 cm

Diese Maschine umfasst die folgenden Komponenten, theoretisch und ex-perimentell:

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Softwaresysteme

• Virtuelles Dynamik-Modell von JOHNNIE mit 65 Freiheitsgraden, ein-schließlich der Regelung, einschließlich aller Sensoren, Antriebe und Rech-nern

• Vereinfachtes Modell von JOHNNIE fur die Reglerauslegung mit 21 Frei-heitsgraden

• Softwaresysteme fur JOHNNIE selbst, einmal fur die Zentralrechner-Ver-sion und einmal fur die verteilte Rechner-Version (6 Infineon Mikrocon-troller); bearbeitet die Echtzeitmodelle fur Dynamik und Regelung, dieSoftware fur die Kommunikation nach außen, die Software fur die Sensor-datenerfassung und fur die Antriebe (siehe Abb. 8.2.3)

Abb. 8.9. Softwaresysteme fur JOHNNIE

Mechanische Konstruktion

• Optimierte Leichtbaukonstruktion von JOHNNIE• Optimierte Leichtbau- und Kompaktkonstruktion aller Gelenke• Konstruktive Berucksichtigung von Sensoren und Aktoren,• Optimierung aller Bauteile mit Hilfe von FEM-Rechnung in Bezug auf

Gewicht und Spannungen• Alles in allem uber 800 mechanische Bauteile

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Sensorausstattung

• 17 Gelenksensoren in Form von inkrementellen Winkelencodern, zweisechsachsige Kraft-/Momenten-Sensoren, eine inertiale Plattform mit 6 ki-nematischen Ausgangsgroßen der Rotation und der Translation

• Antriebe: 21 burstenkommutierte Gleichstrommotoren auf Neodym-Bor-Basis der Firma Maxon, 13 Harmonic Drive Getriebe, 4 Kugelspindelan-triebe

Rechnerkonzepte und Bussysteme

• 6 Infineon-Mikroprozessoren fur das Konzept mit der nichtlinearen Rege-lung Feedback-Linearisierung, CAN-Bus-Systeme.

• Zentralrechner fur das Konzept einer Mehrgroßen-PID-Regelung, Parallel-Bussystem.

Laufergebnisse

• Theoretisch (JOHNNIE virtuell): Langsames und schnelles Laufen mit be-liebiger Konfiguration

• Praktisch (JOHNNIE real): Laufen auf dem Band mit 2,5 km/h, autono-mes Laufen mit Sichtsystem mit Hindernis uberschreiten und Hindernisumgehen sowie mit Treppen steigen, erste Schnelllaufversuche

Die zweibeinige Laufmaschine JOHNNIE ist innerhalb Europas einzigar-tig, innerhalb der Welt gibt es vergleichbare Maschinen in Japan. In Euro-pa wurden einige Laufmaschinen realisiert, so beispielsweise in Grenoble, inStockholm, in Hannover, von der Konzeption her sind alle diese Maschinenwesentlich einfacher als JOHNNIE.

Im Vergleich mit japanischen Maschinen muss man differenzieren. In derMaschine ASIMO von Honda stecken derzeit mehr als 100 Mio.¤, was natur-lich zu einer Perfektion der Mechanik und Elektronik gefuhrt hat, die man ineinem Universitatsinstitut nicht erreichen kann. Auf der anderen Seite mussgesagt werden, dass auch die Japaner autonomes Laufen noch gar nicht odernur sehr selten erreicht haben, die Firmen und die Institute arbeiten daran.Insofern ist dieses autonome Laufen von JOHNNIE mit JOHNNIE selbst unddem Sichtsystem von Prof. Schmidt in Munchen ein Meilenstein auch im in-ternationalen Vergleich. Was Amerika anbelangt, so sind dort die Laufmaschi-nen spezieller und weniger allgemein ausgelegt als die japanischen, aber auchals JOHNNIE. Zusammenfassend kann man sagen, dass trotz außerordentlichgroßer japanischer Konkurrenz, die mit einer vollig anderen Großenordnungan Mitteln arbeiten kann als wir hier in Deutschland, dennoch zwar nicht vomAussehen her, aber von der Funktion her, eine Maschine erstellt werden konn-te, die an japanische Maschinen zumindest herankommt und in einem Punkt,namlich dem autonomen Laufen, auch an der Spitze liegt.

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8.2.4 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Die Arbeiten fur und mit JOHNNIE haben eine Reihe von Fragestellungenergeben, die bereits in einem nachfolgenden Antrag bearbeitet werden undauch genehmigt wurden. Im Wesentlichen betrifft dies zwei Punkte, die aberfur die Realisierung solcher Maschinen allumfassend sind.

Erstens das schnelle Laufen. Schnelles Laufen scheitert nicht, wie man aufden ersten Blick meinen konnte an einer Schwache der Mechanik. Die mecha-nischen Konstruktionen sind heute so weit fortgeschritten, dass auch schnellesLaufen erreichbar ware. Schnelles Laufen wird hauptsachlich behindert durchdie derzeit ublichen und allseits eingesetzten Reglerstrukturen, wobei der Ein-satz weltweit sicherlich mit einigen Modifikationen behaftet ist, und schnellesLaufen wird gebremst durch die derzeit vorhandene Elektronik und Computer-technik. Die Realisierung von JOHNNIE mit der jetzt vorhandenen Regelung,soweit wir wissen sind in Japan die Regelungen nicht prinzipiell anders, bein-haltet trotz der Komplexitat der Konzepte und der Strukturen einige einfacheAblaufe, wie sie in der Biologie sicherlich nicht stattfinden.

Es werden alle Großen gemessen und auch geregelt, was derzeitigem tech-nischen Vorgehen entspricht. Dieser Punkt kann aber nach heutigen Aussagenvon Neurologen und Neurobiologen verbessert werden, nach denen biologischeSysteme bei langsamem Laufen mit mehr Sensor- und Rechenaufwand geregeltund gesteuert werden als bei schnellem Laufen, wo offensichtlich geringererAufwand an Sensorik und Regelung betrieben wird. Da dies eine qualitativeund nicht eine quantitativ untermauerte Aussage ist, tut sich der Ingenieurschwer, solche Aussagen sinngemaß umzusetzen. Es ist aber fur

”JOHNNIE II“

– die neue Maschine – vorgesehen, Regler zu entwerfen, die fur drei Geschwin-digkeitsbereiche ausgelegt sind: Einen langsamen, einen mittleren und einenschnellen Bereich, und dies mit abnehmender Komplexitat der Regelung undder Sensorik in der genannten Reihenfolge. Dies ist sicherlich noch nicht ei-ne gute Approximation an das biologische Verhalten, aber ein erster Schrittdorthin. In der Zwischenzeit erscheint es durchaus moglich, dass neue neuro-biologische Systeme eine bessere Annaherung moglich machen. Eine Zusam-menarbeit mit Neurobiologen ist vorgesehen und eine conditio sine qua non.

Das zweite große Problem betrifft die Autonomie. Fur dieses Gebiet imZusammenhang mit Zweibeinern werden derzeit in Japan enorme Geldmitteleingesetzt, da die zu erwartenden Ergebnisse nicht nur im Laufmaschinenbe-reich sondern in vielen anderen technologischen Bereichen einen Durchbruchhervorbringen werden. Autonomie fur Laufmaschinen heißt, dass die Umge-bung mit Sichtsystemen detektiert und dass aufgrund dieser Informationeneine Entscheidung gefunden wird, wie die Laufmaschine laufen soll. DiesenVorgang bezeichnen die Neurobiologen als

”action selection“. Er ist ohne ei-

ne Struktur, die eine eigene kunstliche Intelligenz im Sinne der biologischenLaufintelligenz realisiert, nicht denkbar. Auch hier ist dringend die Forschungseitens der Neurologie und der Neurobiologie gefragt, wonach nach zuverlassi-gen Auskunften dieser Kollegen, der Zeitpunkt fur einen Erfolg derzeit nicht

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abzusehen ist. Dennoch lohnt es sich, das autonome Verhalten biologischerSysteme zu studieren, die Ergebnisse mit den technischen Maschinen zu ver-gleichen und wenn irgend moglich, in neuere technische Laufmaschinen zuintegrieren. Selbstverstandlich kamen solche Ergebnisse auch der Automobil-industrie zum Thema Fahrerassistenzsysteme und vielen anderen Industrie-zweigen, etwa der Luft- und Raumfahrt, zugute. Auch in Bezug auf diesesThema sind bescheidene Ansatze im neuen Antrag vorhanden.

Zusammenfassend lasst sich sagen, dass fur moderne Laufmaschinen For-schungsbedarf in zwei großen Gebieten besteht. Das eine Gebiet betrifft dieStrukturen und Konzepte, die Laufen mit beliebiger Geschwindigkeit moglichmachen. Im Einzelnen betrifft dies vor allem den Sensoreinsatz, die Sens-ordatenverarbeitung und die Reglerstrukturen, die umgebungsabhangig undgeschwindigkeitsabhangig zuverlassig reagieren mussen. Das zweite große For-schungsthema umfasst das, was die Neurobiologen

”action selection“ nennen.

Es umschließt alle Aspekte einer wirklichen Laufintelligenz, also von den In-formationen eines Sichtsystems uber eine Entscheidungsfahigkeit fur den ambesten geeigneten Laufweg und die optimale Laufgeschwindigkeit bis hin zueiner automatischen Kontrolle dieser Lauffolgen. Erst damit ist ein wirklichesautonomes Laufen moglich. Die genannten Forschungsfelder konnen nur in ge-meinsamer Arbeit von Neurologen, Neurobiologen und Ingenieuren erarbeitetwerden.

8.3 Interdisziplinare Weiterentwicklung

Samtliche bisher am Lehrstuhl durchgefuhrten Laufmaschinenprojekte sind indirekter oder indirekter enger Zusammenarbeit mit Biologen, Neurobiologenund Neurologen durchgefuhrt worden. Es existiert fur eine solche Kooperationeine mehr als 15-jahrige Erfahrung. Sie macht deshalb Sinn, weil Laufmaschi-nen nicht nur aus einer mechanischen Konstruktion, sondern besonders auchaus einer Vielfalt von Sensoren, Antrieben und Regelungskonzepten beste-hen. Hier kann der Ingenieur von der Biologie lernen, umgekehrt bietet eineeinigermaßen gut funktionierende Laufmaschine auch fur Biologen die Mog-lichkeit, mit Hilfe dieser Maschine beliebige Hypothesen in Bezug auf Laufengefahrlos und ohne Probleme zu testen und auszuprobieren. Eine Zusammen-arbeit macht also fur beide Seiten Sinn, sie ist in dem neuen Paketantrag,an dem 3 Biologen und 3 Ingenieure beteiligt sind, auch intensiv vorgesehen.Die genannten Forschungsfelder sind definiert, die Marschrichtung ist eben-falls bekannt, die Schwierigkeiten bis zu konkreten Ergebnissen sind allerdingsso groß, dass eine zuverlassige Zeitschatzung derzeit nicht abgegeben werdenkann. Gemeinsame Publikationen sind erfolgt.

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8 Entwurf und Realisierung einer zweibeinigen Laufmaschine 143

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144 Friedrich Pfeiffer

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[3] Gienger, M. ; Loffler, K. ; Pfeiffer, F.: A Biped Walking and RunningRobot. Maribor, Slovenia, 2000, S. 23–28

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[5] Gienger, M. ; Loffler, K. ; Pfeiffer, F.: Design and Sensor System of aBiped Robot. Karlsruhe, Germany, 2001, S. 205–212

[6] Gienger, M. ; Loffler, K. ; Pfeiffer, F.: Towards the Design of a BipedJogging Robot. In: Proc IEEE Int Conf on Robotics and Automation (ICRA).Seoul, Korea, 2001, S. 4140–4145

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[9] Loffler, K. ; Gienger, M. ; Pfeiffer, F.: Dynamic Control of a BipedWalking Robot. (1999). – GAMM 99 Annual Meeting, Metz, France

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8 Entwurf und Realisierung einer zweibeinigen Laufmaschine 145

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9

Schwingungstilgung und Stoßminderung bei

zweibeinigen Laufmaschinen

Werner Schiehlen

Institut B fur Mechanik, Universitat StuttgartBearbeiter: Dipl.-Ing. Stefan Gruber

9.1 Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts

Die Zielsetzung des Projekts lag in der Modellierung, Regelung, Optimierungund Simulation von zweibeinigem autonomen Gehen mit Massenausgleich undStoßminimierung zum Erreichen eines weichen Bewegungsablaufs.

Einerseits sollte die menschliche Gehbewegung analysiert werden, um Er-kenntnisse von der Fortbewegung eines biologischen Systems zu gewinnen,welches ein ideales Vorbild fur eine zweibeinige Gehmaschine darstellt. Es wa-ren Fragen nach der Ursache und Funktion der Armbewegung beim Gehen zuklaren, sowie Erkenntnisse uber das menschliche Verhalten beim uberschreitenvon Hindernissen zu sammeln.

Andererseits war es das Ziel, unter geeigneter Einbeziehung dieser Erkennt-nisse uber das biologischen System die Fortbewegung von zweibeinigen Geh-maschinen zu verbessern, so daß große Schwingungen und harte Stoße ver-mieden werden. Dazu waren Mechanismen zur Schwingungstilgung fur zwei-beinige Gehmaschinen zu untersuchen. Die beim Gehen unweigerlich auftre-tenden Stoße zwischen Fußen und Boden sollten durch Sichtinformation undgeeignete Regelungsstrategien reduziert werden. Zur Stoßreduzierung sollteauch der Einsatz von Elastizitaten untersucht werden. Fur die Fortbewegungin unbekannter Umgebung war zur Erfassung von Hindernissen der Einsatzeines Sichtsystems geplant. Durch Hardware-in-the-Loop-Simulationen vonSichtsystem und einem in Echtzeit programmierten Softwaremodell der Geh-maschine sollte das komplexe System getestet werden.

9.2 Menschliche Geh- und Armbewegung

In der zweiten Antragsphase wurde an der Universitat Jena das Hochgeschwin-digkeits-Bewegungserfassungssystem ProReflex der Firma Qualysis durch fi-nanzielle Unterstutzung der DFG im Rahmen des Schwerpunktprogramms

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148 Werner Schiehlen

angeschafft. Die Nutzung dieses Systems erlaubte eine Fortsetzung und Ver-tiefung der experimentellen Untersuchungen der menschlichen Gehbewegungin Zusammenarbeit mit den Arbeitsgruppen von Prof. Mohl und Prof. Fischer.Es wurden Experimente zur Analyse der Armbewegung und zur Untersuchungvon Ausweichstrategien durchgefuhrt. Die Probanden gingen dabei uber eineLaufstrecke, in die eine Kraftmeßplatte integriert war. Dabei wurde die raum-liche Position von Markern an charakteristischen anatomischen Punkten desgesamten Korpers von den funf Digitalkameras des Bewegungsanalysesystemserfaßt. Normales Gehen, sowie Gehen mit vor dem Oberkorper verschranktenArmen wurde analysiert [11].

Die Meßdaten der ersten Experimente mit dem ProReflex System von ei-nem Probanden mit 26 Markern werden im Rahmen der Studienarbeit vonSEDLACZEK [33] analysiert. Das ebene Modell aus der ersten Antragsphasewurde dazu auf ein raumliches Modell mit 31 Freiheitsgraden erweitert. ZurWeiterverarbeitung der Meßdaten und Bestimmung der kinematischen Mo-dellgroßen werden dabei die von VAUGHAN et al. [35] beschriebenen nicht-optimierenden Verfahren eingesetzt. Anhand dieses raumlichen Modells wurdeder Einfluß der menschlichen Armbewegung auf die Drallanderung nachgewie-sen.

Nach weiteren Laufexperimenten an anderen Probanden mit 40 Markernwurde das raumliche Modell auf 39 Freiheitsgrade erweitert. Die Positionder Marker am Korper des Probanden sowie ein Bild von der Animationdes MKS-Modells des Probanden ist in Abbildung 9.1 dargestellt. Zur Wei-terverarbeitung der Meßdaten fur die Gewinnung der kinematischen Großenkonnten aufgrund der redundanten Markerzahl nun optimierende, d.h. fehler-minimierende Verfahren eingesetzt werden, die den zuvor benutzten Verfah-ren uberlegen sind. Die Bewegungsgleichungen des holonomen Mehrkorpersys-tems mit Schleifenstruktur wurden zur Simulation auf Minimalform reduziert.Der Verlauf des Relativdralls der Segmente bezuglich des Korperschwerpunktswurde berechnet [11]. Fur die Arbeitsgruppe von Prof. Mohl wurden Simu-lationen des inversen Problems der Dynamik und Energiebetrachtungen anebenen und raumlichen Modellen fur mehrere Meßdatensatze von Ausweich-bewegungen durchgefuhrt.

9.2.1 Armbewegung der Gehmaschine

Von SCHROTH [30] wurden verschiedene Mechanismen zum Massenausgleichbei zweibeinigen Gehmaschinen verglichen. Die Ergebnisse zur drallreduzie-renden Funktion der menschlichen Armbewegung werden im Rahmen der Stu-dienarbeit von SCHIPS [28] auf eine raumliche Gehmaschine ubertragen, umbei dieser die Gierbewegung zu vermeiden. Dabei wird ein Regler basierend aufeinem inversen Systemmodell eingesetzt, um die Nichtlinearitaten zu kompen-sieren. Die Ergebnisse bestatigen die von den Untersuchungen am Menschenbekannte Wirkung der Armbewegung. Bei geringer Haftreibung zwischen Fußund Boden, wenn nur geringe Momente ubertragen werden konnen, ist die

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9 Schwingungstilgung bei zweibeinigen Laufmaschinen 149

AC

CAFMVM

LMMM

TT

GT

MRF

LEFMEF

PSIS

ASIS

ST C7

LEHMEH

MBBMTB

UL

RA

Abb. 9.1. Markeranordnung und Modellansicht aus der Animation

Armbewegung zur geradlinigen Fortbewegung der Maschine ohne Gierbewe-gung unumganglich.

9.2.2 Elastizitaten

Der Einsatz von Elastizitaten in den Beingelenken einer ebenen Gehmaschinewurde untersucht. Lineare Federelemente wurden parallel zu den Aktuato-ren eingebaut. Es zeigte sich in Simulationen, daß aufgrund des periodischenWechsels zwischen Stand- und Schwingphase beim Gehen fur jedes Bein inden beiden Phasen sehr unterschiedliche Steifigkeiten notwendig sind. Wah-rend der Standphase sind hohe Steifigkeiten erforderlich, um den Oberkorperzu tragen, womit die Aktuatoren entlastet und Energie eingespart werdenkann. Wahrend der Schwingphase sind andererseits sehr weiche Federn not-wendig, um das Vorschwingen des Beins zu ermoglichen. Hohe Steifigkeitenfuhren in der Schwingphase zu unnotig hohen Stellmomenten. Der Einsatz vonElastizitaten in Knie- und Huftgelenk erwies sich deshalb fur die betrachteteGehbewegung nicht als energiesparend.

Der Einfluß von Elastizitaten zwischen Fuß und Boden einer Hupfmaschineist von GAO [5] bekannt. Das Modell einer Hupfmaschine reagiert mit Federnunempfindlicher gegenuber Bodenunebenheiten und Storungen. Um einen vis-koelastischen Kontakt auch bei einer Gehmaschine zu simulieren, wurde derFuß-Boden-Kontakt durch nichtlineare Feder-Dampfer-Elemente modelliert.Die Kraftgesetze sowie Parameter wurden von Daten des menschlichen Fußesaus der Literatur ubernommen. Die Anwendung dieses Fußmodells fand beiSCHROTH [30] statt.

Page 170: Autonomes Laufen

150 Werner Schiehlen

Der Einfluß der von biologischen Systemen bekannten”Schwabbelmassen“

wurde am Beispiel des menschlichen Arms untersucht. Dazu wurden Arm-modelle entwickelt, wobei die Armsegmente nicht als einzelne starre Korpermodelliert sind, sondern in kleine viskoelastisch miteinander gekoppelte starreAnteile unterteilt sind, K. GRUBER [9]. Simulationen von verschiedenen Be-wegungsablaufen zeigen, daß in allen Fallen aufgrund der zusatzlichen Damp-fung eine Reduzierung der Reaktionskrafte und -momente in den Gelenkenerzielt wird [19].

9.2.3 Energieeffizientes Gehen

Nachdem sich andere Teilnehmer am Schwerpunktprogramm (Prof. Schmidt)auf die Entwicklung eines Sichtsystems, die Hinderniserkennung und dieHardware-in-the-Loop-Simulation spezialisierten, und von der DFG die fur diezweite Antragsphase beantragten Sachbeihilfen fur wissenschaftliche Geratezur Hardware-in-the-Loop-Simulation nicht genehmigt worden waren, wurdedas ursprunglich geplante Konzept modifiziert. Ein von keinem Teilnehmerim Schwerpunktprogramm bearbeiteter Punkt, der jedoch ein generelles Pro-blem von autonomen Laufmaschinen darstellt, ist der hohe Energieverbrauch.Die geplante Untersuchung von Sichtinformation und Hindernisbewaltigungist deshalb zugunsten einer Untersuchung von Energieeinsparungsmoglichkei-ten abgeandert worden. Die Simulationen zur Gehbewegung von ebenen undraumlichen Modellen zweibeiniger Gehmaschinen zeigen, daß bei einer Bewe-gungsvorgabe durch Solltrajektorien fur stoßfreies Gehen und deren Regelungnach der Methode der inversen Dynamik sehr hohe Steuermomente notwen-dig sind, um die gewunschte Gehbewegung zu erzeugen [12], [13]. Die Kor-persegmente werden dabei entsprechend der Sollbewegung beschleunigt undabgebremst, ohne daß Energie zuruckgewonnen wird. Die von den Aktuatorenzu leistende Arbeit ist dann so groß, daß autonomes Gehen, d.h. Gehen mitEnergieversorgung auf der Maschine, nur fur sehr kurze Zeit moglich ist. EinBeispiel fur nach diesem Prinzip arbeitende Maschinen sind die humanoidenRoboter von HONDA, die aufgrund der mitfuhrbaren Batteriekapazitat einemittlere Arbeitszeit von weniger als einer halben Stunde haben HONDA [4].

9.2.4 Passives Gehen

Andererseits existieren auch passive Gehmaschinen, die zuerst von McGE-ER [23] und spater von GARCIA et al. [6] gebaut wurden. Diese zweibeini-gen Maschinen mit Knien sind in der Lage eine leicht geneigte Ebene (ca.γ = 2o) in einer passiven dynamischen Gangart hinunterzugehen. Dadurch istbewiesen, daß der Gehzyklus fur ein Paar menschenahnlicher Beine eine na-turliche Bewegung ist, welche durch ihre Eigendynamik erzeugt und aufrechterhalten wird. Die beim Gehen unvermeidlichen kleinen Stoßverluste werdendabei durch die Schwerkraft ausgeglichen. Dies zeigt, daß bei Gehmaschinen

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9 Schwingungstilgung bei zweibeinigen Laufmaschinen 151

die Ausnutzung der dynamischen Systemeigenschaften ebenso wichtig ist, wieeine komplexe Regelung.

Die symbolischen Bewegungsgleichungen von freien passiven Gehmaschi-nen wurden mit dem Programmsystem NEWEUL [21] hergeleitet. Ein Geh-zyklus wird dann in verschiedene Phasen unterteilt, in denen verschiedeneSatze von Bindungen fur die Fuß-Boden Kontakte aktiviert werden, wenndie Umschaltbedingungen erfullt sind. Ein Eintreten dieser Umschaltbedin-gungen wird wahrend der Simulation laufend vom Integrator uberpruft. DieFormulierung der zeitvariablen holonomen Bindungen erfolgt durch algebrai-sche Bindungsgleichungen. Dadurch ergeben sich die Bewegungsgleichungendes gebundenen Systems in Form eines differential-algebraischen Gleichungs-systems (DAE). Im Simulationsprogramm NEWMOS [27] wurde das Modellder Gehmaschine modular aufgebaut. Die Simulation des DAE erfolgt nachReduktion auf Index 1 mit dem Integrationsverfahren MBSSIM [32] fur me-chanische Deskriptorsysteme. Der Vorteil dieser Modellierung liegt darin, daßwahrend der Simulation lediglich zwischen den Bindungsgleichungen und -matrizen umgeschaltet werden muß.

Zu den Zeitpunkten der Fuß-Boden Kontakte treten beim Gehen unwei-gerlich Stoße auf, die als unelastisch modelliert werden. Im Zeitpunkt einesStoßes werden beim passiven Gehen Stand- und Schwingbein ausgetauscht.Bei den Stoßen geht ein kleiner Teil der kinetischen Energie des Systems ver-loren, was Sprunge in den verallgemeinerten Geschwindigkeiten bewirkt. Dieverallgemeinerten Geschwindigkeiten unmittelbar nach einem Stoß werden ausden Geschwindigkeiten vor dem Stoß unter Ausnutzung des Drallerhalts umden Kontaktpunkt und um die Gelenke berechnet, McGEER [23].

Beim passiven periodischen Gehen auf einer schiefen Ebene hangt die Gro-ße der Stoße nur vom Winkel der Ebene ab. Denn der Energieverlust beimStoß entspricht gerade dem Anteil, der wahrend eines Schrittes von poten-tieller in kinetische Energie umgewandelt wird. Eine Stoßreduzierung kanndeshalb erreicht werden, indem eine passive Gehbewegung auf einer moglichstflachen Ebene gewahlt wird.

9.2.5 Passiver Grenzzyklus

Die passive periodische Gehbewegung entspricht einem passiven Grenzzyklus,der nur fur spezielle Anfangsbedingungen existiert. Um solche Anfangszu-stande zu finden, wird die Schrittfunktion f gebildet, durch welche aus denAnfangszustanden x0 die Zustande x1 nach einem Schritt berechnet werdenkonnen,

f(x0) = x1 . (9.1)

Ein periodischer Gehzyklus wird durch spezielle Zustande x∗ bestimmt, furwelche Anfangs- und Endzustande symmetrisch sind. In Abbildung 9.2 ist dieSchrittfunktion fur einen Zustand skizziert. Sie besteht aus einer Integration

Page 172: Autonomes Laufen

152 Werner Schiehlen

der Bewegungsgleichungen von den Anfangszustanden bei t0 bis zum Zeit-punkt eines ersten Stoßes, einer Stoßberechnung, einer weiteren Integrationbis t1 und einer zweiten Stoßberechnung. Um solche spezielle Anfangszustan-de zu finden, muß ein zweiseitiges Randwertproblem gelost werden, da sowohlAnfangs- als auch Endbedingungen gegeben sind. Zu dessen Losung wird einSchießverfahren angewandt, PRESS [25]. Eine ausfuhrliche Beschreibung derAnfangs- und Endbedingungen fur ein Modell mit Knien und Oberkorper istbei LORENZ [22] zu finden.

Abb. 9.2. Skizze der Schrittfunktion

Es zeigt sich, daß wegen der starken Nichtlinearitaten mit Hilfe des Schieß-verfahrens die gesuchten Zustande nur dann gefunden werden, wenn die An-fangswerte bereits nahe der Losung liegen. Fur eine globale Suche nach derperiodischen Losung wird deshalb das Problem als Optimierungsaufgabe for-muliert. Als Optimierungskriterium wird die Abweichungen zwischen Anfangs-und Endzustanden unter Berucksichtigung weiterer geometrischer Nebenbe-dingungen formuliert. Die Anfangszustande eines Schritts stellen die Ent-wurfsvariablen bei der Optimierung dar. Fur die Mehrkriterienoptimierung,BESTLE [1], wird dazu das Programmsystem NEWOPT/AIMS [2] verwendet.Da die Kriterienberechnung in NEWMOS erfolgt, werden beide Programmeuber eine PVM-Schnittstelle gekoppelt, GEIST et.al. [7]. Ein stochastischesOptimierungsverfahren basierend auf Evolutionsstrategien wird zur globalenLosung eingesetzt, SCHWEFEL [31]. Dieser Algorithmus basiert auf einerAuswertung des Kriteriums ohne zusatzliche Gradientenberechnung. Die Op-timierung bricht deshalb im allgemeinen in der Nahe der periodischen Losungab. Um eine Losung im Rahmen der numerisch moglichen Genauigkeit zuerhalten, wird in einem zweiten Schritt die in der ersten Optimierung gefun-dene Losung als Anfangswert verwendet und eine weitere Optimierung mitdem deterministischen SQP-Verfahren durchgefuhrt, SCHITTKOWSKI [29].Dieses Verfahren findet das Minimum innerhalb weniger Funktions- und Gra-dientenauswertungen. Durch dieses Vorgehen wird gewahrleistet, daß auchbei komplexeren Modellen mit einer großeren Anzahl an Freiheitsgraden derexakte Wert eines globales Optimums gefunden wird. Mit Hilfe der entwickel-ten Optimierungsstartegien ist es moglich, Anfangszustande fur eine passive

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9 Schwingungstilgung bei zweibeinigen Laufmaschinen 153

Gehbewegung auf einer schiefen Ebene zu finden [15]. Die Stabilitat einer sol-chen Gehbewegung fur kleine Storungen nach Ljapunov wurde untersucht, vgl.LORENZ [22]. Bei einer stabilen passiven Gehbewegung konnen kleine Sto-rungen innerhalb weniger Schritte ausgeglichen werden. In Simulationen zeigtsich, daß die passive Gehbewegung relativ robust und vergleichbar naturlichwie die menschliche Beinbewegung ist.

9.2.6 Aktives Gehen

Die grundlegende Untersuchung des passiven dynamischen Gehprinzips wur-de zuerst an einfachen Modellen durchgefuhrt und diese dann schrittweise zukomplexeren passiven und aktiven Modellen erweitert. An einem einfachenebenen Modell bestehend aus zwei starren Beinen und einer Punktmasse alsHufte wurden die Kombination aus passiver und aktiver Gehbewegung zu-erst prinzipiell untersucht sowie der Einfluß von Federn als Energiespeicherbetrachtet.

Das einfache passive Modell ist zuerst um Knie und runde, in die Unter-schenkel integrierte Fuße erganzt und damit auf 6 Freiheitsgrade erweitertworden. Es besteht aus 4 Korpern und einer Punktmasse in der Hufte als Na-herung fur den Oberkorper, Abbildung 9.3 links. Eine passive Gehbewegungkann fur das Modell gefunden werden. Dieses Modell wurde dann um einenausgedehnten Oberkorper erweitert. Die Untersuchung der passiven Bewe-gung, sowie eine flachheitsbasierte Analyse, ROTHFUSS [26], dieses Modellsist bei LORENZ [22] beschrieben. Fur ein weiteres Modell mit punktformigenFußen wurde fur das Gehen in der Ebene eine Folgeregelung durch exakteZustandslinearisierung entworfen. Die Solltrajektorien entsprechen dabei denTrajektorien der passiven periodischen Gehbewegung desselben Modells aufeiner schiefen Ebene. Der Energieaufwand fur das aktive Gehen nach diesemKonzept erweist sich als sehr gering. Die beiden komplexeren Modelle sindebenfalls in Abbildung 9.3 dargestellt.

Abb. 9.3. Modelle mit Oberkorper

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154 Werner Schiehlen

Die Ausnutzung der passive Dynamik einer Gehmaschine durch einen”Po-

tential Energy Shaping“-Regler wurde untersucht, SPONG [34]. Dieser Reglerberuht auf einer Kompensation der Gewichtsmomente und dem Einfuhren ei-ner virtuellen Gewichtskraft ohne Trajektorienvorgabe. Die Gehmaschine ver-halt sich dann beim aktiven Gehen in der Ebene so wie im passiven Fall aufder schiefen Ebene. Simulationen zeigen, daß die so geregelte Gehbewegungenergieeffizient und robust gegenuber kleinen Storungen ist [16].

Das Modell mit Knien und Oberkorper wurde um Fuße erweitert. Da dieFuß/Boden-Kontakte die einzigen Kraftubertragungsmoglichkeiten zwischenMaschine und Umgebung darstellen, kann damit indirekt ihre Position ge-steuert werden. Fur eine realistische Simulation wurde deshalb einer exaktenModellierung der Kontakte besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die zeitva-riablen Bindungen der Fuß-Boden Kontakte wurden durch einseitige Bindun-gen mit Coulombscher Reibung modelliert. Dies fuhrt auf LCP-Probleme, zuderen Losung Routinen aus dem Programm FEMEX [24] zur Berechnung vonStoßen und Kontaktkraften zwischen starren Korpern modifiziert und in dasmodulare Simulationsmodell in NEWMOS implementiert wurden. Die kor-rekte Funktion der Routinen wurde an mechanischen Beispielen validiert. DieKontaktkinematik zwischen Fußen und Boden wird durch zwei Kontaktele-mente im Fuß modelliert. Abbildung 9.4 zeigt das Modell. Der Reglerentwurfbasiert auf dem inversen Systemmodell, wobei als Sollbewegung die Trajekto-rien der passiven Gehbewegung des reduzierten Modells ohne Fuße verwendetwerden [15], [18].

Aufbauend auf den Untersuchungen zur ebenen Gehbewegung ist ein raum-liches Modell einer Gehmaschine aus 12 Segmenten entwickelt worden, sieheAbbildung 9.5. Die Modellierung der Kontakte erfolgt ebenfalls durch ein-und zweiseitige zeitvariable Bindungen, SCHIPS [28], PFISTER und EBER-HARD [24]. Wahrend des Gehzyklus treten Kontakte zwischen den Fußen unddem Boden auf, wobei die Kontaktkrafte aufgrund der folgenden drei physi-kalischen Bedingungen begrenzt sind: Die Kontakte sind einseitig, die Rei-bungskrafte sind begrenzt und der Zero Moment Point (ZMP) muß innerhalbder Fußflache liegen [18]. Die Aufspaltung der Bewegung in die Longitudinal-,Lateral- und Gierkomponenten erlaubt deren entkoppelte Betrachtung undEinhaltung der physikalischen Bedingungen. Die Erzeugung von geeignetenSolltrajektorien erfolgt in lateraler Richtung durch ein Modell eines stehendenPendels, das eine analytische Losung erlaubt. Die so gefundenen Trajektoriengewahrleisten, daß der ZMP innerhalb der Fußflache liegt. Die longitudina-le Sollbewegung kann wahlweise ebenfalls durch das stehendes Pendelmodellerzeugt werden oder es werden die Trajektorien der passiven Gehbewegungdes ebenen Modells ohne Fuße verwendet. Die erste Moglichkeit erlaubt belie-bige Gehbewegungen wahrend die zweite zu energieeffizientem Gehen fuhrt.Durch die schwingende Armbewegung erfolgt eine Drallkompensation um dievertikale Achse, welche eine Gierbewegung verhindert, SCHIPS [28]. Eine Fol-geregelung mit exakter Zustandslinerisierung wurde entworfen, die eine stabileraumliche Gehbewegung gewahrleistet. Abbildung 9.6 zeigt den Regelkreis.

Page 175: Autonomes Laufen

9 Schwingungstilgung bei zweibeinigen Laufmaschinen 155

Abb. 9.4. Modell mit Fußen Abb. 9.5. Raumliches Modell

9.3 Ergebnisse, Diskussion, Anwendungsperspektiven

und denkbare Folgeuntersuchungen

In Simulationen zum menschlichen Gehen wurde gezeigt, daß die schwingen-de Armbewegung beim Gehen eine Drallkomponente um die vertikale Achsebewirkt. Diese ist der vertikalen Drallkomponente, die durch die Beinbewe-gung erzeugt wird, gerade entgegengerichtet, womit diese teilweise kompen-siert wird. Der vertikale Gesamtdrall des Korpers ist deshalb beim Gehen mitArmbewegung geringer und demzufolge mussen auch geringere Momente zwi-schen Fußen und Boden ubertragen werden. Beim Gehen mit verschranktenArmen entstehen eine deutliche Steigerung des Gesamtdralls sowie starkereDrallanderungen beim Standbeinwechsel. Dadurch sind auch die von den Fu-ßen zu ubertragenen Momente großer als beim normalen Gehen mit Armbe-wegung [11]. Wahrend der Entwicklung des aufrechten, zweibeinigen mensch-lichen Gangs wurde die Form und Funktion des Korpers an ausdauerndesGehen angepaßt. Mit der reduzierenden Funktion fur Drall und Moment kannbelegt werden, daß die schwingende Armbewegung eines der Resultate diesesAnpassungsvorganges ist, vgl. WITTE et al. [36].

Die vorgestellte Regelung, welche auf einer entkoppelten Betrachtung derLateral-, Longitudinal- und Gierbewegung beruht, gewahrleistet eine raum-liche Gehbewegung. Beim dynamischen Gehen von raumlichen zweibeinigenGehmaschinen sind die zwischen Fuß und Boden ubertragbaren Momente ein-geschrankt. Durch die Anwendung der drallreduzierenden Armbewegung kanndie geradlinige Fortbewegung jedoch gewahrleistet werden, SCHIPS [28].

Durch die Einfuhrung der Schrittfunktion zur Beschreibung der Gehbe-wegung und die Formulierung als Optimierungsaufgabe lassen sich mit demvorgestellten Verfahren passive Gehbewegungen auch fur komplexe Modellefinden. Diese Grenzzyklen lassen sich mittels der vorgestellten Regelung aufaktive Gehmaschinen ubertragen.

Page 176: Autonomes Laufen

156 Werner Schiehlen

Abb. 9.6. Regelkreis mit Folgeregelung durch Zustandslinearisierung

Die Energieeffizienz von Gehmaschinen kann nach GREGORIO et al. [8]durch den spezifischen Widerstand in Abhangigkeit von der Gehgeschwindig-keit beurteilt werden, d.h. durch das Verhaltnis von mechanischer Leistungund dem Produkt aus Gewicht und Geschwindigkeit

ε(ν) =P (ν)

m g ν.

Fur das ebene Modell mit Oberkorper, Knien und Fußen und einer Massevon m = 20kg ergibt sich fur eine mittlere Gehgeschwindigkeit von ν = 0.5m/sbei einem mittleren Verbrauch von Pschritt = 4.9W ein Wert von ε = 0.050.Im Vergleich mit Angaben zum spezifischen Widerstand von anderen Gehma-schinen aus der Literatur ist dieser Wert sehr gering, wodurch die Effizienzdes beschriebenen Konzepts bestatigt wird. Dies zeigt, daß die auf der pas-siven Dynamik beruhende aktive Gehbewegung wesentlich effizienter ist, alseine Bewegung durch eine anders generierte Trajektorie. Der Wert liegt nurknapp uber dem der passiven Gehmaschinen, fur die der spezifische Wider-stand nach ε = sin γ lediglich vom Winkel der schiefen Ebene γ abhangt.Werte des spezifischen Widerstands von verschiedenen Gehmaschinen sind inAbbildung 9.7 aufgetragen. Im Hinblick auf die Energieeffizienz sind die pas-siven Gehmaschinen dem Menschen und allen aktiven Maschinen uberlegen.Die entwickelte aktive Gehmaschine (Active Biped Model), die das Prinzipder passiven Dynamik ausnutzt, liegt sehr nahe bei den passiven Maschinen.Nur der Wert der zweidimensional gehenden Maschine Spring Flamingo, dieteilweise passive Prinzipien ausnutzt, hat eine ahnliche Großenordnung.

Die moglichen Anwendungsperspektiven dieses Konzepts aus einer Kom-bination von passiv dynamischem Gehen und aktiver Regelung liegen einer-seits im Bau von energieeffizienten und damit autonomen zweibeinigen Geh-maschinen andererseits aber auch im Einsatz fur Beinprothesen. Bei aktiven

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9 Schwingungstilgung bei zweibeinigen Laufmaschinen 157

0.01 0.1 1 10 100

0.01

0.1

1

10

Limiti

ngLin

e

(Gab

rielli

and

v.Kar

man

)Active Biped Model

ARL Monopod II

ARL Monopod

MIT Spring Flamingo

Knee−jointed Passive WalkerDynamite (McGeer)

Straight−legged Passive Walker(McGeer)

Human Walking

ASV

GE Quadruped

OSU Hexapod

Helios II

Electric Monpod(Papantoniou)

Hydraulic Quadruped(Raibert)

Speed v [m/s]

Spec

ific

Res

ista

nce

ε (v)

[−]

Abb. 9.7. Spezifischer Widerstand in Abhangigkeit der Geschwindigkeit

Beinprothesen treten ahnliche Probleme wie bei zweibeinigen Gehmaschinenauf: Die Beinbewegung soll in beiden Fallen moglichst energieeffizient und na-turlich sein. Das benutzte Konzept erfullte diese Forderung bei zweibeinigenGehmaschinen.

Eine denkbare Folgeuntersuchung im Anschluß an die bisherige Arbeitstellt die Realisierung einer nach dem passiven Gehprinzip arbeitende Maschi-ne dar. Dabei ist nach der Auswahl von geeigneten Aktuatoren und Sensorendie Konstruktion, Fertigung und experimentelle Erprobung eines einzelnennach diesem Prinzip funktionierenden Beins der Maschine denkbar. In diesemZusammenhang bietet sich die Untersuchung der Einsatzmoglichkeit eines sol-chen Beins als menschliche Beinprothese und ein Vergleich mit existierendenProthesen an.

Page 178: Autonomes Laufen

158 Werner Schiehlen

9.4 Zusammenfassung

Die Funktion der menschlichen Armbewegung beim Gehen besteht in einerSchwingungstilgung durch Drallausgleich um die vertikale Achse. Dies wur-de durch Experimente und anhand komplexer mechanischer Modelle nachge-wiesen. Die Ubertragung der schwingenden Armbewegung beim Gehen aufzweibeinige Gehmaschinen bestatigt diese Wirkung. Eine schwingende Arm-bewegung beim Menschen sowie bei der Gehmaschine reduziert die in derAufstandsflache zwischen Fuß und Boden auftretenden Momente und stelltsomit bei geringer Haftreibung sogar einen notwendigen Bestandteil der Fort-bewegung dar.

Fur verschiedene zweibeinige Gehmaschinen wurden Regelkonzepte entwi-ckelt, welche durch Ausnutzen der passiven Eigendynamik effizientes autono-mes Gehen ermoglichen. Die dynamische Gehbewegung ist fur eine Maschinebestehend aus zwei menschenahnlichen Beinen auf einer schiefen Ebene ei-ne naturliche, passive Bewegungsform. In dieser Arbeit wird das Prinzip despassiven dynamischen Gehens ausfuhrlich untersucht und auf Methoden zurBestimmung solcher passiver Bewegungen fur komplexe Maschinen erweitert.Das passive Gehprinzip wird dann mit aktiv geregelten Aktoren kombiniert,was ein Gehen auch auf einer horizontalen Ebene ermoglicht. Es konnte ge-zeigt werden, daß dieses Konzept zu einer sehr energieeffizienten Fortbewegungfuhrt und damit den Bau einer dauerhaft autonomen Gehmaschine, d.h. ei-ner Gehmaschine ohne externe Energiezufuhr mit kleineren Energiespeichernauf der Maschine, erlaubt. Beim Gehen auftretende kleine Stoße konnen beiVerwendung dieses Konzepts schon in der Entwurfsphase durch die Auswahleiner geeigneten passiven Gehbewegung reduziert werden.

Weitere mogliche Anwendungsgebiete dieser Kombination aus passiver Dy-namik und Aktorik liegen neben dem Einsatz bei zweibeinigen Gehmaschinenim Bereich der Medizintechnik/Orthopadie zur Versorgung von Menschen mitBeinprothesen. Da fur aktive Beinprothesen ebenfalls Energie benotigt wird,die in Form von Batterien mitgefuhrt werden muß, sind hier besonders energie-effiziente Konzepte erforderlich. Außerdem sind besonders weiche Bewegungs-ablaufe erwunscht. Gerade diese Anforderungen erfullt die nach der passivenDynamik erzeugte Gehbewegung, da sie sehr energieeffizient und dabei ver-gleichbar naturlich wie die menschliche Gehbewegung ist.

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10

Perzeptionsbasiertes humanoides Gehen

Gunther Schmidt

Lehrstuhl fur Steuerungs- und Regelungstechnik, Technische Universitat MunchenBearbeiter: Dipl.-Ing. J. Denk, Dipl.-Ing. O. Lorch, Dipl.-Ing. J. F. Seara

10.1 Zusammenfassung

Die Entwicklung humanoider Roboter ist seit Jahrzehnten eine Herausforde-rung fur Forscher- und Ingenieurgruppen auf der ganzen Welt. Vor allem japa-nische Institute und Firmen berichteten in jungster Zeit uber eindrucksvolleFortschritte bei der Konstruktion und Laufstabilisierung solcher kunstlichenZweibeiner. Dies lasst die Schlussfolgerung zu, dass die mechatronischen Pro-bleme der stabilen gehenden Lokomotion inzwischen weitgehend gelost sind.Dessen ungeachtet sind Roboter jedoch noch langst nicht fahig, autonom ge-hen oder sich gar frei und zielorientiert in naturlicher Umgebung bewegen zukonnen.

Eine dafur essentielle, allerdings bisher nur rudimentar behandelte Schlus-selfunktion ist die visuelle Perzeption der Umwelt und die Umsetzung derdabei gewonnenen Informationen in ein sicheres, zielorientiertes Gehen oderanders ausgedruckt, die Beherrschung des intelligenten Zusammenspiels zwi-schen Gehen und Sehen. Konkretes Ziel der Arbeiten im Rahmen dieses Pro-jekts war es deshalb, einem sehenden Laufroboter flussiges, autonomes Gehenin einer strukturierten Umgebung mit verschiedenen alltaglichen Hindernissenbeizubringen. Dabei nimmt der Roboter seine Umgebung uber ein technischesAugenpaar wahr, das aus einer aktiven Stereo-Kamera-Anordnung mit Blick-richtungssteuerung besteht. Die Bildinformation wird durch schnelle Bild-verarbeitungsalgorithmen in einem verteilten Computernetzwerk ausgewertetund zur situationsgerechten, reaktiven Anpassung von einzelnen Schritten undvon Schrittsequenzen wahrend des Gehens herangezogen.

Schwerpunktmaßig wurden Methoden zur aufgabenorientierten Blickrich-tungsadaption, zur robusten Erkennung und Klassifizierung von Hindernissen,zur realzeitfahigen Objektverfolgung und -rekonstruktion sowie zur voraus-schauenden Schrittsequenzplanung und deren Ausfuhrung entwickelt. Analy-sen entsprechender menschlicher Verhaltensmuster bei der Koordination vonSehen und Gehen inspirierten die Entwicklung spezifischer Algorithmen undeiner mehrschichtigen Fuhrungs- und Regelungsarchitektur. Biologische und

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162 Gunther Schmidt

technische Ansatze verschmolzen im entwickelten visuellen Fuhrungssystemzu einer optimierten Gesamtlosung.

Validiert wurden die entwickelten Konzepte und Algorithmen zunachst inHardware-in-the-Loop Experimenten unter Verwendung modernster Metho-den und Techniken der Virtuellen (VR) und Computer-Augmentierten Reali-tat (CAR). Ein solches Vorgehen erlaubt es, die entwickelte Methoden schnellund effizient zu bewerten und beschleunigt den Prozess der Integration destechnischen Augenpaars samt seiner Intelligenz auf eine reale Laufmaschi-ne. Die dynamische Kopfbewegung, die etwa beim Gehen einer Laufmaschineuber ein Burgersteig-Szenario mit verschiedenen Hindernissen entstehen wur-de, wird hierzu in Echtzeit berechnet und das reale technische Augenpaardementsprechend mit Hilfe eines mobilen Roboterarms in sechs Freiheitsgra-den bewegt. Entwickelte Bildverarbeitungsalgorithmen lassen sich so auf dieAuswertung realer Bildsequenzen der Laufszene anwenden und deren Ergeb-nisse zur Bewegungsfuhrung einer simulierten Laufmaschine einsetzen. Um je-doch das Verhalten des simulierten Laufroboters bereits in dieser Phase sicht-bar und bewertbar zu machen, wird ein virtuelles 3D-Modell des Robotersin ein reales Videobild der Szene eingeblendet und damit die Realitat aug-mentiert. Auf diese Weise lassen sich Kernprobleme und fundamentale Sach-verhalte der autonomen Fuhrung einer Laufmaschine entkoppelt analysierenund losen. Spezifische Bewegungseffekte des technischen Augenpaars konnenein- und Ausblendet werden, was die schrittweise Untersuchung konzipierterMethoden und die Auslegung notwendiger robuster Algorithmen unterstutztund beschleunigt. Das beschriebene Vorgehen hat die Forschungsarbeiten beiImplementierung und Test des entwickelten perzeptionsbasierten Fuhrungs-systems auf den realen Laufmaschinen BARt-UH, des Instituts fur Regelungs-technik (IRT) Universitat Hannover (Prof. Dr. W. Gerth), und JOHNNIE, desLehrstuhls fur Angewandte Mechanik (AMM) der TU Munchen (Prof. Dr. F.Pfeiffer), erheblich beschleunigt. Mit zahlreichen Experimenten konnte dabeibelegt werden, dass sich die Zweibeiner mit Hilfe des visuellen Fuhrungssys-tems in Test-Szenarien mit vereinzelten Hindernissen bewegen konnen. Zu-kunftsweisende Projektergebnisse wurden auf der Hannover Messe April 2003einem breiteren Publikum vorgestellt. Die Einbeziehung von flussiger nichtvorprogrammierter, also autonomer Hindernisuberwindung oder Treppenstei-gen in die Lokomotionsaufgabe eines visuell gefuhrten Laufroboters ist derzeitweltweit einzigartig.

Aufbauend auf den erzielten Ergebnissen mussen die erarbeiteten Algorith-men und Methoden in zukunftigen Arbeiten verallgemeinert werden, um eineLokomotion der Laufmaschine in einer fur Menschen geschaffenen Umgebun-gen zu ermoglichen und somit Aufgaben im Bereich von Serviceanwendungen,wie beispielsweise im Rahmen von Hol- und Bring-Diensten, zu erschließen.Der Anwendung von humanoiden Robotern bei Serviceaufgaben im Allge-meinen wird zukunftig große praktische Bedeutung zukommen. Zu weiterenpotentiellen Einsatzgebieten zahlen der Spiel- und Unterhaltungsbereich, dieTeleoperation sowie industrielle und nicht-industrielle Anwendungen, wie etwa

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10 Perzeptionsbasiertes humanoides Gehen 163

bei Wartungsarbeiten oder Katastropheneinsatzen. Auf Grund der Problem-komplexitat und der Vielzahl dabei noch zu losender Teilaufgaben aus denunterschiedlichen Fachdisziplinen wird dieses Ziel jedoch nur innerhalb einerumfassenderen interdisziplinaren Forschungsinitiative zu erreichen sein.

10.2 Ergebnisse der Forschungsarbeiten

10.2.1 Ausgangssituation

Ziel des Projekts ist die Entwicklung eines Fuhrungssystems fur die auto-nome, bildgestutzte und zielgerichtete gehende Lokomotion von zweibeinigenLaufmaschinen in einem strukturierten Szenario. Dabei sollen alltagsrelevan-te prototypische Hindernisse, wie Treppen, Balken oder Graben, deren La-ge selbstverstandlich auch variabel sein kann, uberwunden werden. Ein ein-faches Beispielszenario ist in Abb. 10.1 dargestellt. Zur Wahrnehmung derUmgebung, und damit der momentan relevanten Hindernissituation, wird einauf einem Schwenk-Neige-Kopf montiertes Stereokamerapaar mit Bildverar-beitungssystem eingesetzt.

Abb. 10.1. Einfaches Gehszenario mit prototypischen Hindernissen.

Der Anspruch bei der Entwicklung eines fur die genannten Zwecke ge-eigneten Fuhrungsregelungssystems beschrankt sich dabei nicht alleine aufdie Bereitstellung reinen Funktionalitat und damit der Fahigkeit, einzelneHindernisse uberhaupt kollisionsfrei zu uberwinden. Vielmehr steht wie beimMenschen die schnelle Umsetzung der visuell perzipierten Information mittelspradiktiver und reaktiver Planung in eine adaquate Schrittsequenz im Vorder-grund. Sie muss einen moglichst flussigen und sicheren Gang uber eine Folgevon Hindernissen, unter Vermeidung eines unnotigen Start-Stop-Betriebs, si-cher stellen. Die Losung dieser anspruchsvollen Lokomotionsaufgabe erfordertsomit eine enge Kopplung zwischen Sehen und Gehen, was letztendlich zueiner Erhohung der kognitiven Fahigkeiten eines Roboters fuhrt.

Page 184: Autonomes Laufen

164 Gunther Schmidt

Der in diesem Projekt verfolgte Losungsansatz zur Bereitstellung dieserFahigkeiten beruht auf 3 Hauptkomponenten: intelligente Blickwinkelsteue-rung, Bildverarbeitung fur Gehen, d.h. Methoden zur visuellen Hinderniser-kennung und Selbstlokalisierung, sowie Synthese von Schrittprimitiven undSchrittsequenzplanung. Dabei muss die Blickwinkelsteuerung den Kamera-blickwinkel des Roboters aufgabenorientiert und situationsabhangig so ein-stellen, dass sich relevante Objekte stets im beschrankten Blickfeld des Per-zeptionssystems befinden. Die gewonnenen visuellen Informationen uber dieUmwelt werden dann online fur eine vorausschauende und reaktive Anpassungder Schritte und Schrittsequenzen des Roboters an die aktuellen Gegebenhei-ten der Umgebung ausgewertet.

10.2.2 Ubersicht uber methodische Entwicklungen

Detailliertere Ausfuhrungen zu dieser Ubersicht konnen den im Verlauf derForschungsarbeiten entstanden und im Literaturverzeichnis aufgefuhrten ein-schlagigen Veroffentlichungen entnommen werden.

Das Zusammenspiel zwischen den im vorangegangenen Abschnitt genann-ten Hauptkomponenten geht aus der im Rahmen der Arbeiten entwickeltenund in Abb. 10.2 dargestellten Regelungsarchitektur hervor.

Bildverarbeitungfür Gehen

Blickwinkel-steuerung

Schrittplanungund -auswahl

ZielBew

egungsaufg

abe

Visuelle

Perzeption

Blick-winkel

Schritt-sequenz

Führungs-regelkreis

Karte

Abb. 10.2. Regelungsarchitektur des visuellen Fuhrungssystems.

So erfordert flussiges Gehen in einer Umgebung mit Hindernissen einepradiktive Klassifikation und Lageschatzung von Hindernissen auf dem Be-wegungspfad. Daruber hinaus ist zur Erhohung der Genauigkeit der Perzepti-onsergebnisse auch die Fahigkeit einer schritthaltenden Objektverfolgung vongroßer Bedeutung.

Dazu wurde im Rahmen der Teilaufgabe Bildverarbeitung fur das Geheneine kaskadierte Bildverarbeitungsarchitektur entwickelt [16, 21, 23]. Eine der

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10 Perzeptionsbasiertes humanoides Gehen 165

Szenenanalyse zur Objekterkennung dienende, zyklisch durchlaufene außereSchleife erfordert fur die Bildverarbeitungsalgorithmen keine Echtzeitfahig-keit. Folgen von Szenenbildern konnen in langsamen Zeittakt mittels aufwan-diger merkmalsbasierter Verfahren analysiert werden [1, 3–5, 25]. Die Ergeb-nisse der Szenenanalyse, wie Typ, Dimension und momentane Lage der er-fassten Objekte relativ zum Laufroboter, werden in eine Karte eingetragen.Gestutzt auf die Eintrage in dieser Karte ist es, bei geeigneter Vorausschauwahrend des Gehens, moglich, die Lage der Hindernisse relativ zur Laufma-schine in einer inneren schnellen Schleife zu bestimmen. Zu diesem Zwecklassen sich Hindernisse meist auf ein einziges markantes Merkmal, wie et-wa deren vordere Bodenkante, reduzieren. Die Verfolgung derartiger einfacherMerkmale erlaubt es, die Lage von Objekten wahrend der Schrittausfuhrungim Kameratakt mehrmals zu bestimmen [21, 22]. Durch Filterung sequentiellanfallender Einzelergebnisse lasst sich die Genauigkeit der Lageschatzung er-hohen [16, 24]. Eine hohe Qualitat der Lokalisierung ist entscheidend fur dieVermeidung von Kollisionen mit Hindernissen beim Daruber- oder Draufstei-gen, da eine ungewollte Beruhrung von Hindernissen aus Stabilitatsgrundenvermieden werden muss und Sicherheitsbereiche wegen beschrankt ausfuhrba-rer Schrittparameter, wie Schrittlange oder -hohe, nicht beliebig groß werdenkonnen. Die Anforderungen an die Genauigkeit der Objektlokalisierung sindbeim Uber- oder Besteigen von Hindernissen wesentlich hoher als im Fall derHindernisvermeidung durch Vorbeigehen, wie dies in konkurrierenden Arbei-ten anderer Forschungsgruppen untersucht wird. Die Ergebnisse beider Bild-verarbeitungsstrategien werden zyklisch fusioniert und in einer Umgebungs-karte zusammengefuhrt. Sie stehen damit der Blickwinkelsteuerung sowie denPfad- und Schrittsequenzplanungsverfahren zur Verfugung.

Da die Ressourcen fur die Bildverarbeitung beschrankt sind, ist es im All-gemeinen nicht moglich, alle Objektmerkmale gleichzeitig zu verfolgen undalle Aspekte einer Szene zu analysieren. Vergleichbar dem biologischen Seh-verhalten wird deshalb der Blickwinkel des visuellen Sensorsystems durch eineintelligente Blickwinkelsteuerung aktiv angepasst, um den Fokus auf aktuellrelevante Objekte zu richten und damit den Informationsgehalt aus der Bild-auswertung zu maximieren [11–15]. Die zentrale Vorgehensweise besteht dabeidarin, mit Hilfe (i) der gewonnenen Umgebungsinformation, (ii) der Kenntnisder momentanen Lage des Perzeptionssystems, (iii) der Bewegungsparameterdes Laufroboters und (iv) der momentan anstehenden Laufaufgabe die opti-male Ausrichtung des Perzeptionssystems fur die nachfolgende Blicksituation,z.B. ein Schritt spater, zu bestimmen. Dieses Vorgehen dient der Roboter-navigation, deren wichtigstes Ziel es ist, die Voraussetzungen dafur zu schaf-fen, dass der Roboter entlang eines beabsichtigten Bewegungspfades sicher indie Zielposition gelangt. Dazu ist es notwendig, Unsicherheiten bezuglich derSelbstlokalisierung so gering wie moglich zu halten. Diese Unsicherheiten be-ziehen sich auf die absolute Lage der Laufmaschine, die zur Pfadplanung und-korrektur, also eine der beiden wichtigen navigatorischen Teilaufgaben, not-wendig ist. Das Perzeptionssystem verfolgt deshalb primar diejenigen Objekte,

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166 Gunther Schmidt

deren Position in der Welt am genausten bekannt sind, d.h. bekannte Land-marken. Die zweite wichtige Teilaufgabe sicherer Fortbewegung besteht in derVermeidung von Kollisionen mit in der Umgebung befindlichen Hindernissen.Um beide Navigationsaufgaben in optimaler Weise zu losen wird die Frage

”Where and how to look next?“, durch gleichzeitige Minimierung einer neu de-finierten Selbstlokalisierungs- und der Hindernisvermeidungs-Incertitude be-antwortet. Die dabei vorliegende Entscheidungsaufgabe wird als ein actionselection-Problem aufgefasst, bei dem ein bestimmter Blickwinkel unter Be-rucksichtigung zweier unterschiedlich gearteter und moglicherweise konkurrie-render Zielstellungen ausgewahlt werden muss [11,13].

Die gewonnene Umgebungsinformation wird schließlich von einem Schritt-sequenzgenerator genutzt, um eine passende Schrittsequenz zu erzeugen unddie zugehorigen Referenztrajektorien bereitzustellen. Die Referenztrajektori-en dienen als Fuhrungsinformation fur das Gelenkregelungs- und Stabilisie-rungssystem der Laufmaschine, die im Idealfall fur eine stabile Fortbewegungdes Roboters entlang eines vorgegebenen lokalen Pfades vom Start in den(Zwischen-)Zielbereich sorgt. Als Folge der hohen Ordnung und Nichtlineari-tat der Roboterdynamik ist die Berechnung eines derartiger Trajektorien fureinen sich im 3D-Raum bewegenden Roboters jedoch im allgemeinen nicht inEchtzeit moglich. Eine alternative Losung hierfur ist die Offline-Bereitstellungeiner Datenbank mit Schrittprimitiven fur Einzelschritte mit verschiedenenParametern, wie etwa Schrittlange oder -hohe. Die Schrittprimitive werdendabei so erzeugt, dass sie sich zu einer physikalisch, d.h. vom Roboter, ausfuhr-baren Referenztrajektorie verknupfen lassen. Die Auswahl und Verknupfunggeeigneter Schrittprimitive erfolgt dann, unter Bezugnahme auf die aktuel-len Ergebnisse der Bildverarbeitung, zur Laufzeit durch einen Schrittsequenz-planer. Ein derartiges Gesamtkonzept zur echtzeitfahigen Bereitstellung vonSchrittsequenzen und Referenztrajektorien wurde im Rahmen der Teilaufga-be Synthese von Schrittprimitiven und Schrittsequenzplanung entwickelt [6].Zur Offline-Generierung der Schrittprimitive stutzt sich das ausgearbeiteteVerfahren auf Methoden der Optimalsteuerung [6, 8–10]; eine Systematik zurOnline-Auswahl situationsgerechter Schrittprimitive basiert auf Baumsuch-Verfahren [2, 7, 17].

10.2.3 Experimentalplattformen und experimentelle Ergebnisse

Hardware-in-the-Loop Emulationsumgebung

Eine Implementierung der gesamten Regelungs- und Steuerungsarchitekturaus Abb. 10.2 auf einer realen zweibeinigen Laufmaschine bietet die ohne Zwei-fel die beste Moglichkeit die Performanz des beschriebenen Gesamtsystems zudemonstrieren und evaluieren. Fur die Entwicklung der einzelnen Module wur-de jedoch zunachst ein neuer, alternativer Ansatz mit Schaffung einer Emu-lationsumgebung gewahlt. In der entwickelten Hardware-in-the-Loop Emu-lationsumgebung wird die Dynamik einer virtuellen Laufmaschine ViGVVaM

Page 187: Autonomes Laufen

10 Perzeptionsbasiertes humanoides Gehen 167

(Vision Guided Virtual Walking Machine), deren Struktur an die der rea-len Laufmaschine JOHNNIE angelehnt ist, in Software simuliert und die zuerwartenden Kamerabewegungen einem Bewegungsemulator zur Bewegung ei-nes realen Stereokamerakopfes eingepragt [16,18–22]. Die Bewegungsfreiheits-grade von ViGVVaM werden dabei gegenuber dem Original auf eine Bewegungin der Sagittalebene reduziert. Mit dem Emulationssystem werden die Soft-und Hardwareeigenschaften der stabilisierten Laufmaschine emuliert und dieEigenschaften der entwickelten Steuerungsarchitektur realitatsnah validiert.Diese Hardware-in-the-Loop-Umgebung erlaubt den effizienten Test und dieEvaluierung von sichtbasierten Fuhrungssystemen fur Laufmaschinen, wobeibereits in einer fruhen Entwicklungsphase des Fuhrungssystems der Regelkreisaus Sehen-und- Gehen geschlossen wird. Auf diese Weise konnen Kernproble-me des Fuhrungssystems isoliert von laufmaschinenspezifischen Fehlerursa-chen untersucht werden. Durch diese Vorgehensweise konnte das im Rahmendes Projekts entwickelte visuelle Fuhrungssystem mit allen seinen Schnittstel-len fur die spatere experimentelle Validierung auf den Laufmaschinen BARt-UH und JOHNNIE bereits fruhzeitig und zunachst unabhangig von der phy-sikalischen Laufmaschinenhardware vorbereitet werden.

Fur die Experimente mit realen Laufmaschinen wurde zusatzlich ein neuer,hochdynamischer aktiver Stereo-Kamerakopf entwickelt, der eine Anbindungan verschiedene physikalische Roboter ermoglicht und dessen Genauigkeits-und Geschwindigkeitseigenschaften den Anforderungen der Blickwinkelsteue-rung und Objektverfolgung genugen [11].

Experimentelle Evaluierung mit BARt-UH

Der zweibeinige Roboter BARt-UH der Universitat Hannover [2, 7, 17], sie-he Abb. 10.3 (links), diente als erste Experimentierplattform wahrend einesGemeinschaftsprojekts des Instituts fur Regelungstechnik (IRT), UniversitatHannover, und des Lehrstuhls fur Steuerungs- und Regelungstechnik (LSR),TU Munchen. Ziel der Experimente [7,17] war die Untersuchung der autono-men und reaktiven visuellen Fuhrung des Laufroboters uber ein Szenario mitprototypischen Hindernissen, wie Band (1), Schrittspur (2) oder Kiste (3) ge-maß Abb. 10.3. Dazu wurde das am LSR entwickelte visuelle Fuhrungssystemmit dem Zweibeiner gekoppelt. Obwohl BARt-UH nur einfaches Geradeaus-gehen erlaubt, lieferten die Experimente viele nutzliche Erfahrungen uber diezweckmaßige Gestaltung des Zusammenspiels von Gehen und Sehen.

Experimentelle Evaluierung mit JOHNNIE

Die mit dem Zweibeiner BARt-UH gesammelten Erfahrungen schufen die Vor-aussetzungen fur den zugigen und erfolgreichen Ablauf der Laborexperimen-te mit dem zweiten Zielsystem, JOHNNIE, und einer entsprechenden Publi-kumsprasentation auf der Hannover Messe 2003. Anders als bei BARt-UHerlauben die konstruktiven Eigenschaften von JOHNNIE hohere Mobilitat,

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168 Gunther Schmidt

1

23

Abb. 10.3. Zweibeiniger Roboter BARt-UH des IRT mit Stereo-Kamera-Kopf undFuhrungssystem des LSR (links). Beispiele fur prototypische Schwierigkeiten bei denLaufexperimenten (rechts).

wie etwa das Kurvengehen, das Uberschreiten hoherer Hindernisse oder dasflussige Treppensteigen. Das entwickelte perzeptionsbasierte Fuhrungssystemmit seinen verschiedenen Funktionalitaten ermoglichte in den durchgefuhrtenExperimenten die sichere, intelligente, zielgerichtete und teilautonome Loko-motion in 3D-Szenarien mit Treppen und verschiedenartigen Hindernissen,wie dies beispielhaft Abb. 10.4 zeigt [4, 5].

Unter http://www.lsr.ei.tum.de/~vigwam konnen Filme der Experi-mente und Prasentationen abgerufen werden.

Diskussion der Ergebnisse

Das zentrale Ergebnis der berichteten Forschungsarbeiten besteht in der Ent-wicklung und erfolgreichen experimentellen Uberprufung eines systematischenmethodischen Ansatzes fur visuell-gefuhrtes, zielorientiertes, teilautonomeszweibeiniges Robotergehen. Die Relevanz und Umsetzbarkeit der dazu ent-wickelten theoretischen Methoden und Ansatze auf reale technische Systemekonnte durch erfolgreiche Demonstration von einfachen Formen autonomenhumanoiden Gehens gezeigt werden. Das mit dem Zweibeiner JOHNNIE rea-lisierte intelligente Gangverhalten in durchaus anspruchsvollen realen Szena-rien mit Uberschreiten von Hindernissen oder Besteigen von Treppen ist bisdato einzigartig.

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10 Perzeptionsbasiertes humanoides Gehen 169

beabsichtigter

Weg

tatsächlicher

Weg

Abb. 10.4. Demonstrationsszenario mit perzeptionsbasierter Fuhrung von JOHN-NIE auf Hannover Messe 2003.

10.3 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Aufbauend auf den erzielten Ergebnissen sollten die erarbeiteten Algorith-men und Methoden in zukunftigen Arbeiten verallgemeinert werden, um dieLokomotion einer Laufmaschine auch in weniger strukturierten menschlichenUmgebungen zu ermoglichen und somit Aufgaben im Bereich von Servicean-wendungen, wie beispielsweise Hol- und Bring-Dienste, zu erschließen. Hierzuist das Fuhrungssystem um eine Mensch-Maschine-Schnittstelle zur Aufga-benspezifikation zu erweitern, die eine interaktive Kommunikation mit demRoboter erlaubt. Ferner fordert die autonome Ausfuhrung der spezifiziertenAufgaben in komplexeren Umgebungen zusatzliche Module zur Aufgabenauf-bereitung und globalen Pfadplanung, die teilweise durch Erweiterung von ausdem Gebiet radbasierter Serviceroboter bekannter Planungsstrategien erar-beitet werden konnen [1]. Das autonome Agieren in fur den Menschen kon-zipierten dynamischen Umgebungen erfordert schließlich, neben der visuel-len Erkennung allgemeinerer Objekte im Rahmen von Hindernisvermeidung,Selbstlokalisierung und Exploration, eine Erhohung der kognitiven Fahigkei-ten zur reaktiven Situationsanpassung. Hierzu sind insbesondere Strategien zuentwickeln, die eine gefahrenarme Bewegung des Zweibeiners in menschlicherUmgebung ermoglichen. Um Laufrobotern auch zu einfachen Serviceaufgabeneinsetzen zu konnen, ist es sicher unabdingbar, die Lokomotionsfahigkeitenmit Greif- und Manipulationsfahigkeiten zu kombinieren.

Dem Einsatz humanoider Roboter im Rahmen allgemeinerer Aufgabenstel-lungen wie der oben beschriebenen Servicetatigkeit durfte in nicht allzu fernerZukunft hohe praktische Bedeutung zukommen. Auf Grund der Problemkom-plexitat und der damit verbundenen großen Anzahl zu losender Teilaufgabenaus unterschiedlichen Fachdisziplinen wird dieses Ziel jedoch nur im Rahmeneiner umfassenderen interdisziplinaren Forschungsinitiative zu erreichen sein.

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170 Gunther Schmidt

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Teil III

Vierbeiniges Gehen

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11

Rechnerarchitektur, Sensorik und adaptive

Steuerung einer vierbeinigen Laufmaschine mit

dynamisch stabilem Gang

Rudiger Dillmann

Institut fur Rechnerentwurf und Fehlertoleranz, Fakultat fur Informatik,Universitat Karlsruhe

11.1 Zusammenfassung

11.1.1 Wesentliche Ergebnisse und erzielte Fortschritte

Die Ergebnisse in diesem Forschungsvorhaben sind in den Teilbereichen Steue-rung, Navigation und Konstruktion von biologisch motivierten vierbeinigenLaufmaschinen angesiedelt.

Im Bereich der Steuerung konnte gezeigt werden, dass mit Hilfe eines ver-haltensbasierten Steuerungsansatzes und Online-Lernverfahren eine reaktiveadaptive Steuerung einer vierbeinigen Laufmaschine moglich ist. Es wurdeeine Methode zur Problemmodellierung von Aufgaben der Haltungskontrollezum Einlernen wahrend der Bewegungsausfuhrung entwickelt. Durch den Ein-satz von Reinforcement Learning, Radial-Basis-Function Netzwerken und Me-chanismen zur Losung des Randwertproblems bei kontinuierlichen Zustands-und Aktionsraumen konnten Reflexe zur Stabilisierung des Roboters wahrenddes Laufens eingelernt werden. Dadurch ist eine Anpassung der Steuerungs-bausteine wahrend der Laufzeit an neue Umwelt- und Machinengegebenheitenmoglich. Zur Verschaltung der Reflexe und Verhalten zum Laufen und Ste-hen wurde eine Netzwerkarchitektur entwickelt. Diese basiert auf einer hier-archischen Anordnung der Verhalten in Form eines Netzwerkes. Damit eineeinheitliche Konstruktion eines solchen Netzwerkes moglich ist, wurde ausge-hend von einer homogenen Schnittstellenbeschreibung der Verhalten ein Ver-fahren zum Entwurf eines solchen Netzwerkes entwickelt und verifiziert. Dreizusatzliche semantisch besondere Ein- und Ausgange, die Motivation zum Ak-tivieren der Verhalten, die Reflektion oder Zustandsbewertung zur Bewertungder Situation des Roboters und die Aktivitat fur Aussagen uber die Arbeit ei-nes Verhaltensbausteines, ermoglichen eine schrittweise Abstraktion innerhalbder Netzwerkstruktur.

Da eine vorausschauende Auswahl von Verhalten und Reflexen fur dasdurchqueren von unstrukturiertem Gelande eine notwendige Voraussetzung

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176 Rudiger Dillmann

fur stabiles Laufen ist, wurde eine Umwelterfassung und -modellierung aufge-baut. Das entwickelte Modell basiert auf einem mehrschichtigem dreidimensio-nalen Interferenzgitter. Dieses Gitter wird mit durch die Sensoren und den Ma-schinenzustand uber die Umgebung gewonnen Informationen mit Werten ge-fullt. Gespeichert werden nicht nur geometrische Informationen sondern auchAussagen uber Beschaffenheit des Bodens (rutschig, weich, hart, etc.) undbesondere Merkmale wie zum Beispiel Landmarken. Eine zusatzliche Schichtspeichert die Zuverlassigkeit abhangig vom zur Erfassung verwendeten Sen-sor. Damit ist der schrittweise Aufbau einer Wissensreprasentation uber denvom Roboter zuruckgelegten Weg und die erfasste Umgebung moglich. Durchdie Koppelung dieses Modells mit der Verhaltenssteuerung war es moglich dieGeschwindigkeit beim ubersteigen von Hindernissen signifikant zu erhohen.

Zur Entwicklung der Hardware von Laufmaschinen konnte in zwei Be-reichen neue Ergebnisse erzielt werden. Die Entwicklung einer modularen,verteilten Hardwarearchitektur auf Basis von C167 Mikrocontrollern und ei-nes CAN-Bus hat sich als sehr leistungsfahig erwiesen. Dieser sehr flexibleAnsatz erlaubte eine schnelle und robuste Integration der Teilkomponentenin das Gesamtsystem. Die Konstruktion eines auf der Basis der Morphologievon Kleinsaugetieren aufbauenden Einzelbein mit einstellbaren passiven Elas-zitaten ist sehr vielversprechend. In ersten Versuchsreihen hat sich gezeigt,dass dieses Konstruktionsprinzip sehr leistungsfahig ist und die Verifikationvon Erkenntnissen aus der Biologie und Biomechanik beim Aufbau und derKontrolle von naturlichen Laufbewegungen ermoglicht.

11.1.2 Ausblick auf kunftige Arbeiten und mogliche Anwendungen

Die Arbeiten in diesem Projekt haben zweierlei gezeigt. So ist der Ansatzzur Kopplung eines Umweltmodells zur Verhaltensauswahl sehr leistungsfahig.Damit ein solches System aber vollstandig genutzt werden kann sind weiteretiefgreifendere Untersuchungen uber das Zusammenspiel von Verhaltensaus-wahl und Umweltmodell erforderlich. Die ersten Ansatze zur Verwendung vonmuskelahnlichen einstellbaren passiven Elastizitaten und die Ubertragung vonmorphologischen Eigenschaften aus der Natur sind sehr vielversprechend. DieAuswirkung der elastischen Antreibe auf die Steuerung von Laufbewegungenbedarf allerdings weitergehender Forschung. Insbesondere der Ubergang zwi-schen rein reaktiven und gezielten willkurlichen Bewegungen muss untersuchtwerden. Zusatzlich muss geklart werden ob die von Seiten der Biomechanikversprochenen Energie-Einsparungen auf ein technisches System ubertragenwerden konnen.

Anwendungen der Arbeit finden sich im Bereich von Inspektions- und Er-kundungsystemen in unwegsamen Gelande sowie in der

”Rescue Robotic“. Zur

Zeit wird der Einsatz von Laufmaschinen zur Erkundung und Vermisstensu-che in teileingesturzten Gebauden im Rahmen des Graduierten Kollegs GRK450

”Naturkatastrophen“ an der Universitat Karlsruhe untersucht. Durch ihre

hohe Flexibilitat und die geringen Auswirkungen auf die Umwelt durch die

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11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 177

kleinen Kontaktflachen der Beine bieten sich diese Robotersystem fur einesolche Aufgabe an.

11.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

11.2.1 Ausgangslage

Ziel dieses Forschungsvorhabens war die Untersuchung und Ubertragung fle-xibler saugetierartiger Bewegungsablaufe – statisch und dynamisch stabileBewegungen mit fließenden Gangubergangen – in verschiedenen Umweltsi-tuationen.

Daraus ergaben sich folgende zentrale Teilproblemstellungen:

• Ausfuhrung unterschiedlicher Gangarten, wobei aufgrund verschiedenerBeinstellungen und einer unterschiedlichen Anzahl von Beinen mit Bo-denkontakt verschiedenartige Stabilitatsprobleme zu bewaltigen sind.

• Die Bewegungsablaufe der Maschine in verschiedenen Umweltsituationenkonnen aufgrund der Komplexitat in der Regel nicht vollstandig beschrie-ben werden.

• Die Umgebung des Roboters kann nur teilweise und mit unterschiedlicherGenauigkeit und Zuverlassigkeit erfasst und verarbeitet werden.

Abb. 11.1. Bisam zu Begin und am Ende des Forschungsvorhabens

Um diese Problemstellungen losen zu konnen, musste zunachst eine Basisauf Hardwareebene mit einem umfangreichen Sensorsystem und einer Leis-tungsfahigen Computerarchitektur geschaffen werden. Auf diesem Systemmusste unter zuhilfenahme von biologischen Prinzipien eine verteilte, hier-achische und adpative Steuerungsarchitektur geschaffen werden. Die Para-metrisierung sollte weiterhin mit Hilfe von Online Lernverfahren ermoglicht

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178 Rudiger Dillmann

werden, um somit eine optimale Anpassungsfahigkeit an die verschiedenenGegebenheiten ohne direkte Modellierung zu ermoglichen.

Zu Anfang der Arbeiten stand bezuglich der Hardware die LaufmaschineBisam (Biological InSpired four-legged wAlking Machine) in Form der

”rei-

nen“ Mechanik (ohne Leistungselektronik, Sensorik und Rechnersysteme) zurVerfugung.

11.2.2 Beschreibung der durchgefuhrten Arbeiten

Hardware und Software-Architektur

Die im Rahmen dieses Projekts entwickelte Hardware besteht aus einemPC/104-Rechner und mehreren C167-Microcontrollern. Als Kommunikations-medium dient der CAN-Bus. Auf dem PC wird das Betriebsystem Linuxmit den Echtzeiterweiterungen RT-Linux oder RTAI eingesetzt. Jeder C167-Microcontroller ist in der Lage bis zu vier Motoren zu regeln und besitzt 12Analog-Digital-Kanale sowie ausreichend digitale I/Os. Auf Bisam werden 6dieser Controller eingesetzt: Ein Controller pro Bein und zwei zur Steuerungdes Zentralkorpers.

Abb. 11.2. (links) Das C167-Modul, (rechts) der neue Fusssensor mit Elektronik

In der letzten Phase wurden ein Teil der Sensoren uberarbeitet. Neueleistungsfahige Microcontroller der Atmel AVR Reihe ermoglichten bei denFusssensoren die Entwicklung eines Smart-Sensors, das heisst eines 6D-Fuß-kraftsensors mit integrierter Kalibrierung, Temperaturtriftkompensation undOffsetberechnung.

Das am FZI entwickelte und in allen Systemen verwendete Software-Framework MCA wurde auch in diesem Projekt verwendet und weiterent-wickelt. Die Neuerungen umfassen alle zum Online-Lernen notigen Mechanis-

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11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 179

men, Klassen zum Entwurf von Neuro-Oszillatoren und eine Bibliothek mitGrundelementen zur Laufmaschinensteuerung.

Grundlegende Steuerungskonzepte

Als erste Grundlage zur Generierung elementarer Bewegungen fur Bisam

dienten die Ergebnisse der Rontgen-Untersuchungen an dem Kleinsauger Tu-paia der Universitat Jena. Zur Ubertragung der Bewegungsablaufe wurdendiese Daten geglattet und in ein einfaches 3D-Modell ubertragen. Dieses Mo-dell entspricht hinsichtlich der Anordnung der Freiheitsgrade der Strukturvon Bisam, hinsichtlich der Segmentlangenverhaltnisse und Winkelbereicheahnelt es dem Tupaia. Ausgehend davon wurde im nachsten Schritt ein Netz-werk aus Matsuoka-Neuro-Oszillatoren eingelernt, das diese Bewegungsablau-fe auf der Bisam Bein-Kinematik ausfuhren kann. Zum Parametrisieren desNetzes wurde ein einfacher iterativer Gradientenabstieg benutzt. Als Bewer-tungsfunktion wurde die Gelenkwinkeldifferenz zwischen der generalisiertenTupaia-Trajektorie und der aktuellen Oszillatorausgabe verwendet.

Abb. 11.3. Das Tupaia Modell und das Neuro-Oszillator Netzwerk

Online-Lernverfahren fur Reflexe

Zur Stabilisierung des Laufens auf unregelmassigem Untergrund reichten dieelementaren Bewegungsablaufe nicht aus. Zur Stabilisierung des Robotersbeim Laufen wurde deshalb, gemaß dem Vorbild in der Natur, eine Reflexarchi-tektur entwickelt. Unter Reflexen sind in diesem Fall Einheiten zu verstehen,die nur eine Teilsicht auf das gesamte System haben und versuchen innerhalbdieses Teilbereichs zu agieren. Beispielsweise die gleichmaßige Verteilung desGewichts zwischen dem vorderen und dem hinteren Beinpaar.

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180 Rudiger Dillmann

Diese Reflexe wurden mit einer auf Radial-Basis-Function-Netzwerken(RBF) beruhenden adaptiven Steuerung implementiert. Zum Einlernen die-ser Netze wurde das Adaptive-Heuristic-Critic (AHC) Reinforcement LearningVerfahren verwendet. Um eine moglichst hohe Adaption an geanderte Prozess-und Umweltbedingungen zu ermoglichen, wurde dieses Lernverfahren onlineangewendet, das heisst es wird wahrend der Ausfuhrung von Bewegungsablau-fen gelernt. Die lokalen Felder des RBF-Netzes werden wahrend des Lernensaufgebaut. Um diesen Prozess zu unterstutzen wurden die Netze schrittweisein mehreren Phasen eingelernt. Damit konnte erreicht werden, dass am An-fang der Zustandsraum stark exploriert wurde und gegen Ende die Bereichemit guter Bewertung optimiert wurden. Es wurden Haltungsreflexe fur denStand, den Schritt und den Kreuzgang trainiert.

Verhaltensnetzwerke

Gegen Ende der zweiten Projektphase waren die Basisbewegungseinheiten unddie Haltungsreflexe vorhanden und ermoglichten das Laufen in verschiedenenGangarten. Allerdings existierten diese nur als

”Insellosungen“, das heisst es

war ein Operator notwendig, um das Umschalten zwischen den Gangarten,die Einstellungen fur verschiedene Bodenunebenheiten etc. zu ermoglichen.

Zur Kopplung dieser Komponenten bot sich ein verhaltensbasierter Lo-sungsansatz an. Entgegen der normalen Vorgehensweise, die Verhalten ineinem Ein-Schicht-Modell mit zentraler Arbitrierung anzuordenen, wurdeeine erfolgsversprechendere, hierachische Netzwerksturktur entworfen. Umeinen homogenen Aufbau des Netzwerkes und eine einfache Koordinationder Verhaltens- und Reflexbausteine zu ermoglichen, wurde eine einheitlicheSchnittstelle fur diese Bausteine entwickelt. Neben der eigentlichen Ubertra-gungsfunktion wurden zwei spezielle Ausgange, die Zustandsbewertung unddie Aktivitat, sowie ein spezieller Eingang, die Motivation, eingefuhrt. Damitist es moglich die Verhalten und Reflexe innerhalb der Hierachie als virtuelleSensoren und Aktoren zu verwenden und damit eine fliessende Abstraktionzu ermoglichen. Mit Hilfe der Ergebnisse der ersten Testimplementierungenauf Bisam wurde danach eine Entwurfsmethode zum Aufbau und der Er-weiterung solcher Verhaltensnetzwerke entwickelt. Mit dem Entwurf und derImplementierung einer freien Gangart konnte diese Methodik getestet undihre Anwendung demonstriert werden.

Perzeption und Navigation

Um vorausschauendes Laufen zu ermoglichen, wurde eine Methode zur geome-trischen Modellierung der naheren Umgebung einer Laufmaschine entwickelt.In einem so genannten dreidimensionalen erweiterten Inferenzgitter, einer Va-riante des von Elfes und Moravec eingefuhrten Belegtheitsgitters, werden alleuber die Umwelt zur Verfugung stehenden Sensorinformationen zusammen-gefuhrt. Aufgrund von Gewichtsbeschrankungen kamen zu diesem Zweck die

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11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 181

vorhandenen Fußkraftsensoren sowie ein eindimensionaler Distanzlaser zumEinsatz. In einem auf der Methode des Fuzzy Reasoning basierenden Bewer-tungsvorgangs wird aus deren Einzelmessungen neben einer Belegtheitswahr-scheinlichkeit auch eine Aussage uber die Zuverlassigkeit der jeweiligen Gitter-zelle des 3D-Grids ermittelt. Aus den Informationen dieses lokalen Umwelt-modells werden anschließend gunstige Fußaufsetzpunkte errechnet, die demRoboter ausreichende Unterstutzung fur dessen Vorwartsbewegung geben.

Saugetieratiges Einzelbein

Parallel zu den Arbeiten an der Steuerungsarchitektur fur Bisam wurde inenger Kooperation mit der Universitat Jena der Einzelbein-Prototyp Pan-

ter entwickelt. Bei diesem Bein wurden sowohl die kinematische Struktur alsauch die Segmentlangenverhaltnisse einem in Jena entwickelten, generischenSaugetier-Bauplan nachempfunden. In der ersten Phase wurde ein Prototyp,angetrieben durch Elektromotoren, aufgebaut und getestet. In der letzten Pro-jektphase wurde ein zweiter Prototyp angetrieben durch pneuamtische Mus-keln der Firma FESTO, gefertigt und in einem Versuchsstand getestet. Dader Muskel als antagonistischer Antrieb mit einstellbarer passiver Elastizi-tat benutzt wird, musste ein Modell zur Gelenkregelung entwickelt werden.Das Modell wurde zuerst auf einem reinen Muskelprufstand und danach aufdem Einzelbein-Prototypen verifiziert. Mit Hilfe dieses Muskel-Gelenk-Modellkonnte ein Verfahren zur Auslegung von solchen Antrieben entwickelt werden.Zur Steuerung der Beine als Gesamtsystem wurde die fur Bisam entwickelteStruktur eingesetzt.

Abb. 11.4. Die beiden Einzebein-Prototypen. Antrieb durch elektromotren (links)und mit pneumatischen Muskeln (rechts)

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182 Rudiger Dillmann

11.2.3 Darstellung der erzielten Ergebnisse

Die Entwicklung der Steuerung fur Bisam zeigt den schrittweisen Bottom-Up Entwurf einer adaptiven Steuerung nach biologischem Vorbild. Innerhalbjedes Entwurfsschrittes wurde der Einsatz sowohl von klassischen Methodenals auch von biologisch motivierten Verfahren evaluiert und erfolgreich derfur den Einsatz jeweils optimale Teil verwendet. Mit diesem Vefahren konntegezeigt werden, dass ein konsequenter Einsatz der Methode Bionik nicht nurbei der Konstruktion, sondern auch bei der Steuerung zu Erfolgen fuhrt.

Der Aufbau der Steuerung in Form von rhythmischen Elementarbewe-gungen, reaktiven Korrekturmechanismen und hoheren Auswahlverhalten hatsich bewahrt. Die implizite Integration eines Modells in den hierachischenAufbau der Steuerung ohne explizite Berechnung funktioniert in den Gren-zen der Hardware stabil und zuverlassig. Es wurde allerdings deutlich, dass inBezug auf die Ubertragung biologischer Steuerungsprinzipien die gegenseitigeAbhangigkeit zwischen dem Bewegungsapparat mit Sensorik und Aktuatorikund der Steuerung in der Biologie sehr stark ist. Der Transfer wird dadurch er-heblich erschwert und sollte sich, wie es die Bionik vorsieht, auf die Prinzipienbeschranken.

In den ersten beiden Phasen des Projektes wurde der entwickelte Steue-rungsansatz welteit nur in wenigen Arbeiten mit unflexibleren Ansatzen (keineautomatische Parameteradaption, teilweise fest kodierte Zustandsautomaten)verfolgt. Inzwischen hat sich die vorgehensweise bei der Programmierung undSteuerung von Laufmaschinen als moglicher Ansatz etabliert.

Im Besonderen sind folgende Ergebnisse in den einzelnen Teilbereichen derSteuerungsentwicklung zu erwahnen:

Basisbewegungen Die Ableitung der Basisbewegung aus den Tupaia-Gelenk-winkeldaten war erfolgreich. Sie entsprach allerdings fast genau den aufEnergieverbrauch minimierten durch eine Kubische-Spline-Interpolationerstellsten Trajektorien. Der Einsatz von Neuro-Oszillatoren hat sich aufEbene der Mustergeneratoren zur Erzeugung von Gangmustern bewahrt.Bei der Erzeugung von Gelenkwinkeltrajektorien konnten gegenuber denklassischen Verfahren keine Vorteile gewonnen werden. Dies kann durchdie, im Vergleich zur Biologie, nicht zur Verfugung stehenden Sensorinfor-mationen und durch die von den Aktuatoren bedingte ungunstige Model-lierungsebene der periodischen Bewegungsmuster erklart werden.

Online-Lernverfahren Die entwickelte Aktor/Kritiker-Architektur auf der Ba-sis konstruktiver neuronaler Netze eignet sich hervorragend fur den Ein-satz in mehrdimensionalen Zustands- und Aktionsraumen, wie sie imBereich der Reflexe zur Laufmaschinensteuerung vorkommen. Durch dieAufteilung der im gesammten notigen Korrekturmechanismen auf kleinerReflex-Einheiten reduziert sich die Komplexitat der Lernversuche. Da-durch sind die online Lernvorgange in realistischen Grenzen zu halten. Eshat sich gezeigt, dass es bei einer geeigneten Problemmodellierung undder vorgeschlagenen Einbettung in die Architektur moglich ist Reflexe

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11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 183

zur Haltungskontrolle einzulernen. In kontinuierlichen Ein- und Ausga-beraumen, wie sie bei einem Robotersystem vorkommen, ist es sinnvollein mehrstufiges Lernen durchzufuhren.

Verhaltensnetzwerke Die Anordnung der Verhalten und Reflexe in einer hier-achischen Netzwerkstruktur hat sich sehr gut bewahrt. Durch die ein-heitliche Schnittstelle der Verhaltensbausteine ist es sehr einfach moglichverschiedene, fur die jeweilige Aufgabe pradestinierte, Umsetzungsmog-lichkeiten transparent fur die Architekur als solche zu verwenden. DerEinsatz von den semantisch speziellen Ein- und Ausgangen Motivation,Aktivitat und Zustandsbewertung als virtuelle Sensoren und Aktoren ver-einfacht den Aufbau eines Verhaltensnetzwerkes enorm. Die entwickelteEntwurfsmethodik zum Aufbau solcher Netzwerke hat sich bewahrt undwurde in dieser Form inzwischen auf mehreren Systemen verwendet. DasSystem arbeitet robuster als zu Anfang erwartet und lasst sich insbesonde-re schnell und problemorientiert um zusatzliche Funktionalitat erweitern.

Perzeption und Navigation Autonome, mittelgroße Laufmaschinen bringenweder den notigen Platz noch die erforderliche Rechenleistung mit sich,um diese mit großvolumiger oder komplexer Sensorik zur Umwelterfas-sung auszusatten. Um diese Roboter trotzdem in die Lage zu versetzen,in Abhangigkeit der Umgebungsbedingungen noch rechtzeitig auf Umwelt-gegebenheiten reagieren zu konnen, wurde ein Umweltmodell entwickelt,das den speziellen Randbedingungen und Anforderungen dieser Laufma-schinen genugt. Es wurden geeignete Methoden entwickelt, um die spar-lichen, verrauschten und mit Unsicherheiten behafteten Sensordaten zueiner hinreichend detaillierten Beschreibung der naheren Umgebung zufusionieren. Anschließende Experimente zeigten, dass die Nutzung dieserUmweltinformationen es dem Roboter erlaubt, einen gunstigen Aufsetz-punkt fur den unmittelbar nachsten Schritt zu ermitteln, was schließlichzu einem robusten Laufverhalten fuhrt.

Die Entwicklung der modularen Hardware-Architetkur war erfolgreich.Das entwickelte System wird inzwischen auf samtlichen Robotersystemen derGruppe IDS mit großer Zuverlassigkeit eingesetzt. Die Schaltung des in derletzten Phase entwickelten Fusssensors wird weiterentwickelt und in ahnlicherForm fur 3D-Kraftsensoren sowie diverse Lagesensorsysteme eingesetzt.

Die Tests des neuen Panter-Beinprototyps sind erfolgreich Verlaufen. Eshat sich gezeigt, das der Drei-Segmentige Aufbau und der Einsatz der FESTOMuskeln eine naturliche Art der Bewegung bei sehr geringem Stereuerungs-aufwand ermoglicht. Die Verfikation des Muskel-Gelenk-Modells hat gezeigt,dass das Modell sehr gut ist. Damit ist zum Einen der Grundstein fur weiterePrototypen des Beines gelegt worden zum Anderen konnen hohere Kontroll-strukturen besser an die Moglichkeiten des Muskelgelenks angepasst werden.Das entwickelte Modell ist auch international bei anderen Gruppen die pneu-matische Muskeln einsetzen auf grosses Interesse gestossen.

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184 Rudiger Dillmann

11.2.4 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Die Resultate dieses Forschungsprojektes zeigen Forschungsbedarf sowohl inBereich der Konstruktion und Antriebe von Laufmaschinen als auch bei derenSteuerung.

Steuerung

Die Resultate hinsichtlich der adaptiven Steuerung haben auf den unterenEbenen sehr erfolgreiche Ergebnisse geliefert. Sie basieren allerdings beina-he ausschliesslich auf der lokalen Navigation und berucksichtigen damit nurden Bereich direkt um den Roboter. Wunschenswert ware es aber, wenn einLaufroboter auch in der Lage ware, seinen Weg durch ein, ihm bekanntes odervon ihm erfasstes, großeres Gelande selbstandig zu planen und auszufuhren.Hierbei ergaben die Arbeiten in diesem Vorhaben folgende in der Forschungnoch ungeloste Problemstellungen:

Umwelterfassung und Reprasentation Das bisher zur Verfugung stehende 3D-Umweltmodell beschrankt sich auf die nahe Umgebung des Roboters.Um Navigationsaspekte fur Laufmaschinen im globalen Kontext betrach-ten zu konnen, werden globale Karten unabdingbar. Da Volumenmodelleder Umwelt eine hohe Komplexitat aufweisen und einen extrem hohenSpeicherbedarf erfordern, kann ein 3D-Modell kaum fur alle von der Lauf-maschine besuchten Gebiete gehalten werden. Somit ist zu untersuchen,ob im Fernbereich eine 2D Hohenkarte fur Planungsaufgaben ausreichendist, so dass daruberhinaus auf eine komplexe und rechenaufwendige Pla-nung im 3D-Modell verzichtet werden kann. Hierbei ist zu untersuchen,wie die Menge der 3D Gitterzellen auf eine 2D Gitterzelle abgebildet wer-den soll, um moglichst wenig der fur die erfolgreiche Planung relevantenInformation zu verlieren. Des weiteren muss eine Aktualisierungsstrategiefur das 2D Umweltmodell entwickelt werden. In diesem Zusammenhangmuss ebenfalls die Synchronisation der Karten bei Bewegung der Laufma-schine betrachtet werden.Unabhangig von der Reprasentation der weitlaufigen Umwelt in einem 2DModell drangt sich weiterhin die Frage nach zusatzlicher fur die globa-le Navigation nutzlicher Information auf. Schließlich sollte zusatzliche furLaufmaschinen geeignete Sensorik zur Umwelterfassung wie beispielsweiseKamerasysteme ebenfalls Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

Lokalisierung und Navigation Das Simultanous Localisation und MappingProblem (SLAM) ist zwar fur radgetriebene Systeme schon sehr weit er-forscht, im Indoor-Bereich kann man von gelost sprechen, fur Laufma-schinen und ahnlich kinematisch komplexe Systeme aber weitesgehendunerforscht. Durch die hohe Flexibilitat dieser Roboter wird auf der einenSeite die Odometrie erheblich erschwert auf der anderen Seite stehen aberdurch das Messen und Vergleichen der Krafte und Momente in den Fußen

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11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 185

wesentlich mehr Informationen uber Art und Beschaffenheit des Unter-grundes zur Verfugung. Wird diese Information mit den Daten eines DG-PS und eines Inertialsystems fusioniert, konnte eine Positionsbestimmungmit ausreichender Genauigkeit ermoglicht werden. Problematisch hierbeiist die hohe Zahl an Daten verschiedener Herkunft, die eine klassischeFusion unmoglich machen. Zu untersuchen waren hier Ansatze mit hier-achischen Modellen und erweiterten Kalman-Filtern. Neben der Lokalisa-tion wird die Navigation fur Laufmaschinen ein weiteres zentrales Themader Forschung sein mussen. Auch hier erhoht die Komplexitat und diegegenuber Radfahrzeugen erweiterten Moglichkeiten dieser Roboter dieAnforderungen an eine Navigation.

Verhaltenscodierung und Verhaltensauswahl Die bis jetzt entwickelten und indie Steuerung integrierten Reflex- und Verhaltensbausteine umfassen diezur Fortbewegung und zur Adaption an unebenem Untergrund notigenreaktiven Komponenten. Davon nicht abgedeckt ist der Bereich der ge-planten und gezielt durchgefuhrten Bewegungen. Je mehr Wissen uberdie Umgebung des Roboters vorhanden ist, desto interessanter werdensolche Bewegungen. Sie umfassen zum Beispiel das gezielte Setzen vonFußen beim Uberwinden von großeren oder instabilen Hindernissen, odertastende Bewegungen der Beine und Sensoren zum Erkennen der Umge-bung. Das elementare Abfahren dieser Bewegung stellt hierbei nicht dasKernproblem dar, sondern die Integration in die reaktive Architektur. Esmuss ein Mechanismus gefunden werden, der es ermoglicht solche geziel-ten Bewegungen auszufuhren ohne dabei von den reaktiven Komponentengestort zu werden, sondern vielmehr mit deren Unterstutzung zu arbeiten.Als Beispiel sei hier das Halten des Gleichgewichts wahrend einer geziel-ten Bewegung genannt. In der Natur werden die gewollten Bewegungenmit den unbewussten, reaktiven Bewegungen auf den so genannten Py-ramidenbahnen zusammengefuhrt. Von Interesse ware, ob sich ein solcherMechanismus auch auf einem Robotersystem verwirklichen lasst. Ein ahn-liches Problem stellt die Auswahl der Grundverhalten auf hoheren Ebenendar. Beispiele hierfur sind die Auswahl einer Gangart abhangig vom Ge-lande, das Auslosen von Tastbewegungen auf instabilem Untergrund oderdas Umgehen von Hindernissen. Ein System, das eine solche Verhaltens-auswahl erlaubt muss in der Lage sein, die vielfaltigen Moglichkeiten dieeine Laufmaschine aufgrund ihrer Kinematik besitzt auszunutzen. Die-ser Auswahlprozess muss außerdem schnell arbeiten und die Aktivierungder notigen tiefer liegenden Reflexe und Grundverhalten beinhalten. Allebis jetzt auf mobilen Systemen eingesetzten Systeme dieser Art benutz-ten entweder Robotersysteme mit eingeschrankteren Moglichkeiten oderagierten in einer stark vereinfachten Umgebung.

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186 Rudiger Dillmann

Antriebe und Konstruktion

Die Art der Antriebe von Bisam stellte sich im Laufe des Forschungsvorhabensund insbesondere bei der Betrachtung biologisch motivierter Steuerungsprin-zipien in zunehmenden Maße als kritischer Aspekt heraus. Das Antriebsystemmuss aktiv weich geregelt werden und bringt von sich aus keine elastischenEigenschaften mit sich. Zieht man den Vergleich zum biologischen Antrieb,dem Muskel, stellt man fest, dass in der Natur eine einstellbare passive Elas-tizitat in den Antrieben existiert. Zusatzlich hat die Forschung im Bereich derBiomechanik, so zum Beispiel die Arbeiten der Gruppe Blickhan an der Uni-versitat Jena, gezeigt, dass diese passive Elaszitat insbesondere bei schnellerLokomotion in der Biologie stark verwendet wird. Dies legt die Verwendungvon Aktuatoren die solche Eigenschaften besitzen, wie zum Beispiel der pneu-matische Muskel der Firma FESTO, fur neue Konstruktionen nahe.

Einstellbare passive Elastizitaten in den Antrieben bedeuten neben dererschwerten Basisregelung auch hohere Anforderungen an die gesamte Steue-rungsarchitektur. Da es nicht sinnvoll ist einen Roboter zu bauen, der ausch-liesslich schnell rennen kann, muss entschieden werden, wann und wie stark einGelenk elastisch sein darf. Daraus resultiert unter Umstanden eine komplettneue Klasse von Verhalten und Reflexen. Insbesondere die Unterscheidungzwischen prazisen und geplanten Bewegungen und rein reaktiven Korrekturenmuss hierbei starker beachtet werden.

Hardware-Architektur

Die Entwicklung im Bereich der Microcontroller und digitalen Signalprozes-soren (DSP) hat erwartungsgemaß in den letzten Jahren große Fortschrittegemacht. Selbiges gilt fur Bussysteme. Folglich ist eine Uberarbeitung dermodularen Architektur notwendig. Hierfur bietet sich ein Hybridsystem auseinem leistungsfahigen DSP und einem programierbaren Logikbaustein an.Als Bus konnten schnellere Systeme wie IEEE 1394 (Firewire) und FlexRayals Ersatz fur den CAN-Bus zum Einsatz kommen. Dies wurde eine hohereLeistung architektonisch naher an den Aktoren erlauben und damit nebendem schon erwahnten Smart-Sensor auch einen Smart-Aktor erlauben. DieMoglichkeiten die ein solches System bietet mussen durch geeignete Softwa-restrukturen evaluiert und getestet werden.

11.2.5 Interdisziplinare Weiterentwicklung

Die Arbeiten im Bereich des Panter-Einzelbeins sind fur die Biomechanikund die Biologie von erhohtem Interesse. Mit diesem Bein ist es moglich, diein der Simulation anhand von Messungen an Tieren aufgestellten Modelleauf einer realen Hardware zu verifizieren. Insbesondere der Einsatz von ein-stellbaren passiven Elastizitaten bei der Kontrolle der Beinlange birgt großesPotential.

Page 206: Autonomes Laufen

11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 187

11.2.6 Anwendung

Die Arbeiten in diesem Forschungsvorhaben sind im Moment noch der Grund-lagenforschung zu zuordnen. Aus diesem Grund werden mogliche konkrete An-wendungen fur den Einsatz von Laufmaschinen im Moment noch untersucht.Das Ziel sind in erster Linie autonome Transport- und Inspektionsaufgabenin Umgebungen, in die ein Mensch aus Gefahrengrunden fur sich oder seineUmgebung nicht eindringen kann oder soll. Das Szenario

”Vermisstensuche in

teileingesturzten Gebauden nach Erdbeben“ wird im Graduiertenkolleg GRK450

”Naturkatastrophen“ an der Universitat Karlsruhe untersucht.

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11 Eine vierbeinige Laufmaschine mit dynamisch stabilem Gang 189

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12

Autonomes hydraulisch angetriebenes

Schreitfahrwerk ALDURO

Manfred Hiller

Institut fur Mechatronik und Systemdynamik, Universitat Duisburg-EssenBearbeiter: Dr.-Ing. Jorg Muller, Dipl.-Ing. Detlef Schroter, Derek Ward, M.S.,Dipl.-Ing. Daniel Germann, Jorge Audrin Morgado de Gois, M.S.

12.1 Zusammenfassung

12.1.1 Wesentliche Ergebnisse und erzielte Fortschritte

Ziel dieses Forschungsvorhabens ist es, das hydraulisch getriebene autono-me Schreitfahrwerk Alduro (Anthropomorphically Legged and WheeledDuisburg Robot) mit einer dem Menschen nachempfundenen Beinkinema-tik zu entwerfen, konstruktiv zu realisieren und intelligent zu regeln. Dabeisoll ein Betrieb sowohl als Schreitfahrwerk – als

”Kreuzung“ zwischen einem

Fahrzeug und einer Gehmaschine – moglich sein, als auch eine Nutzung alsvierbeinige Gehmaschine erfolgen. Bei dem Schreitfahrwerk werden die beidenhinteren Beine der Gehmaschine mit Radern ausgestattet.

Als Erstes wurden geeignete Beinkonzepte fur den Alduro entwickelt. EinPrototyp eines Beins ist vollstandig konstruiert und im Maßstab 1:1 aufgebautworden. Zur Untersuchung dieses Prototypen ist ein hydraulischer Prufstandentstanden, welcher dynamische Tests des Beins unter Belastungen ermoglicht.An diesem Prufstand sind die nichtlinearen, kraftbasierten Regelungskonzeptegetestet worden.

Von dem gesamten Alduro ist ein Simulationsmodell erstellt worden,welches neben der Kinematik des Schreitfahrwerks auch ein Modell des hy-draulischen Antriebs und ein einfaches Modell des Bodenkontakts enthalt.Anhand dieses Modells wurden die zu erwartenden Belastungen einzelner Bau-teile wahrend des Betriebs ermittelt, welche als Grundlage fur die Auslegungeinzelner Bauteile und die Konstruktion der Plattform gedient haben. Dieser

”Virtuelle Prototyp“ wurde am Einzelbeinprufstand validiert.

Untersuchungen der nichtholonomen Rad-Boden Kontakte haben zu ver-schiedenen Strategien gefuhrt, wie die Rader zu Bewegen sind, um die Ein-schrankung der Bewegungsfreiheit moglichst gering zu halten.

Eine der anspruchsvollsten Aufgaben ist die koordinierte Generierung vonBewegungen, vor allem beim Gehen in unwegsamen Gelande. Um diese Aufga-be nicht immer fur jeden Vierbeiner neu losen zu mussen wurde ein Modulares

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Page 211: Autonomes Laufen

192 Manfred Hiller

Regelungskonzept entwickelt, welches die Bewegungsgenerierung abstrahiertund von der jeweiligen Beingeometrie lost. Die beiden Module der MotionGeneration und des Roboters (sei es die Schnittstelle zum realen Modell oderdas virtuelle Modell) tauschen nicht mehr direkt Daten untereinander aus,sondern es werden Module dazwischengeschaltet, welche die Daten umrechen,von roboternahen Gelenkgroßen zu allgemeineren Fußgroßen. Dabei kommtdie roboterspezifische Geometrie nur in den Zwischenmodulen vor, die dar-uber gelagerte Bewegungsgenerierung ist durch das Arbeiten mit Fußgroßentransparenter und soll auch fur andere Quadrupeden eingesetzt werden kon-nen.

Die Bewegungsgenerierung wird aufgespalten in mehrere Verhalten (Re-flexe). Diese Verhaltensmodule konnen parallel oder hierarchisch angeordnetwerden. Die Vorteile vom ersteren sind einfache Austauschbarkeit und besse-re Ubersicht. Da es aber auch Module gibt, welche notwendigerweise anderedirekt beeinflussen/blockieren mussen, kommt ein hybrides Konzept zum Ein-satz. Als Module implementiert werden die Uberwachung und Einhaltung derstatischen Stabilitat, die Haltung des Zentralkorpers, das Um- oder Uber-schreiten von Hindernissen und naturlich die Gangmustergenerierung. DieAusgange dieser Module werden fusioniert und dem Regler zugefuhrt.

Gangmusteruntersuchungen haben gezeigt, dass sich optimierte, vorausbe-rechnete Gangmuster gut fur eine schnelle Fortbewegung auf ebenem Unter-grund eignen, wogegen unebener Untergrund eine situationsbedingte online-Berechnung des Gangmusters notwendig macht. Dazu wurde ein

”Free-Gait“

Gangmustergenerator entwickelt und implementiert.Zur Zeit wird am Institut der reale Prototyp fertiggestellt und die Regelung

implementiert.

12.1.2 Ausblick auf kunftige Arbeiten und mogliche Anwendungen

Alduro soll in Zukunft zur Bearbeitung anderer Fragestellungen, etwa derNutzung biomechanischer Konzepte beim Entwurf großer Maschinen fur Ar-beiten in unwegsamen Gelande, eingesetzt werden kann. Dabei sollen auchbestehende Kontakte zu Schreitbaggerherstellen wiederaufgenommen werden,um die Verwendbarkeit von Konzept und Komponenten abzuklaren. Weiterhinsoll der Alduro als Versuchstrager in unterschiedlichen Projekten Verwen-dung finden. Genannt seien hier zukunftige Projekte gemeinsam mit Kolle-gen aus den Ingenieurswissenschaften und der Biologie aus dem auslaufendenSchwerpunktprogramm

”Autonomes Laufen“ heraus. In der Planung befindet

sich auch ein deutsch-franzosisches Graduiertenkolleg, bei dem der Alduro

als Arbeitsplattform eingesetzt werden soll.

Page 212: Autonomes Laufen

12 Autonomes hydraulisch angetriebenes Schreitfahrwerk ALDURO 193

12.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

12.2.1 Ausgangslage

Innerhalb des Forschungsvorhabens sind zwei Schwerpunkte hervorzuheben:zum einen wird ein funktionstuchtiger Versuchstrager entwickelt und reali-siert, der sowohl als Schreitfahrwerk (siehe Abb. 12.1) als auch als vierbeinigeGehmaschine eingesetzt werden kann. Der zweite Schwerpunkt liegt im Be-reich der Modellbildung, der Analyse, der Simulation und der Regelung dieseskomplexen Gerats. Durch eine parallele Bearbeitung und enge Verzahnungdieser beiden Schwerpunkte wird ein virtuelles Prototyping erreicht, das zueiner Optimierung des Systems genutzt wird.

Abb. 12.1. Alduro als Schreitfahrwerk

Eine der zentralen Aufgaben bei der Auslegung des Schreitfahrwerks Al-

duro ist es, sowohl fur den Schreitfahrbetrieb als auch fur den reinen Gehbe-trieb eine optimale Anpassung des Gerats an so unterschiedliche Anforderun-gen wie die schnelle Bewegung auf weitgehend ebenem Untergrund als auchdas sichere Bewegen im unwegsamen bis gebirgigen Gelande zu erreichen. Derpraktische Nutzen eines Schreitfahrwerks ist aus heutiger sicht hoher einzu-stufen als der einer reinen Gehmaschine.

Grundsatzlich kann immer von einer Fuhrung durch einen Bediener aus-gegangen werden, da das Gerat hauptsachlich wie ein Fahrzeug bzw. wie eineBau- oder Arbeitsmaschine eingesetzt wird. Deshalb ist auch beim Alduro inerster Linie an eine kartesische Fuhrung durch den Menschen gedacht, wobeidie Umsetzung der Bedienervorgabe in eine autonome Bewegung ebenso wie

Page 213: Autonomes Laufen

194 Manfred Hiller

die Bodendetektion automatisch durchgefuhrt und auch die Standsicherheitautomatisch uberwacht werden soll. Dabei werden neben vorausberechnetenstatisch stabilen Gangmustern auch free gait-Gangmustergeneratoren einge-setzt, welche auf beliebigen Untergrunden ein statisch stabiles Gehen erzeugenkonnen.

Das Gesamtmodell des Alduro muss sowohl die Modellbildung des me-chanischen Teils als komplexes Mehrkorpersystem als auch die Modellierungder Antriebshydraulik und insbesondere die Kopplung dieser beiden Teilsys-teme beinhalten. Ein zusatzliches Ziel stellt also die Weiterentwicklung derVerfahren zur Modellbildung und Regelung des hier vorliegenden mechanisch-hydraulisch-elektronischen Systems dar – einem typischen Beispiel fur ein me-chatronisches System.

12.2.2 Durchgefuhrte Arbeiten

Virtual Prototyping

Um alle relevanten Großen der Schreitmaschine simulieren zu konnen, wurdenim virtuellen Prototypen die Dynamik der Mechanik, der Hydraulik und desBodenkontaktes vereinigt. Dies erlaubte

• die Geometrie der Beine und ihrer Anlenkung,• die Große und Positionierung der Antriebe,• den modellbasierten Regler, sowie• Gangmuster und reflexartige Bewegungen

zuerst am Computer auszutesten und zu optimieren, bevor zur Realisierungubergegangen wurde.

Versuchsstand

Mit den Vorgaben aus dem Simulationsmodell ist ein hydraulisch betriebe-ner Prufstand fur ein anthropomorphes Bein des Alduro im Maßstab 1:1aufgebaut worden (Abb. 12.2). Das Bein hat bei einer Lange von 1,7 m einGesamtgewicht von ca. 140 kg (inkl. Hydraulikkomponenten). Der Prufstandist so konzipiert, dass sich das Bein uber eine vertikale Linearfuhrung aus ei-gener Kraft hochstemmen kann, um daruber die spateren Belastungen an denAnlenkpunkten des Rumpfes der Gehmaschine bei Schreitzyklen erproben zukonnen. Sowohl die verwendeten hydraulischen Komponenten als auch daselektronische System sind identisch mit dem im Prototypen verwendeten.

Mit dem Versuchsstand war es moglich, den virtuellen Prototypen zu va-lidieren und die modellbasierte Regelung (siehe unten) zu testen.

Page 214: Autonomes Laufen

12 Autonomes hydraulisch angetriebenes Schreitfahrwerk ALDURO 195

Abb. 12.2. Einzelbeinprufstand mit Rad

Steuerung/Regelung

Bevor die Steuerung/Regelnung am realen Prototypen eingesetzt wird, soll sieam virtuellen Prototypen getestet und optimiert werden. Dazu ist eine modu-lare Struktur der Software von großem Vorteil, da sie es erlaubt, Simulationund reales Modell ohne strukturelle Anderungen an der Software auszutau-schen. Weiter ist die Modularitat auch beim Entwickeln der Gangnmuster-generierung bzw. Reflexbewegungen notwendig, um diese Teile einzeln ent-wickeln und testen zu konnen. Da die Software auch Echtzeitanforderungengenugen muss, fiel die Wahl auf die am FZI in Karlsruhe entwickelte ModularController Architecture MCA2.

Die Steuerung ist in vier Hauptgruppen aufgeteilt: dem realen/virtuellenPrototypen, der Sensordatenverarbeitung, der Bewegungsgenerierung unddem Regler. Die Wahl des Zentralkorpers und der vier Fuße als Endeffek-toren und somit als Arbeitskoordinaten erlaubt es, auf der Ebene der Bewe-gungsgenerierung unabhangig von Morphologie und Geometrie des Roboterszu arbeiten. Das macht diese Modulgruppe auch benutzbar fur andere Qua-drupeden. Die Umrechnung zwischen Maschinenkoordinaten (wie Zylinderlan-gen, Servoventilstellungen) und allgemeinen Koordinaten (wie Fußposition, -geschwindigkeit und -kraft) ubernehmen die Sensordatenverarbeitung auf dereinen und der Regler auf der anderen Seite.

Durch die Integration der Dynamikbibliothek M � �

� �

BILE in MCA2 wur-den die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, das Simulationsmodell, dieVorwartskinematik in der Sensordatenverarbeitung, sowie das inverse Dyna-mikmodell im modellbasierten Regler zu implementieren.

Page 215: Autonomes Laufen

196 Manfred HillerPSfrag replacements

Bew

egungsg

ener

ieru

ng

Reg

ler

Sen

sord

ate

nver

arb

eitu

ng

Zylinder-end-

anschlage

Vorwarts-kinematik

Different-iation

Aktuator-kraft

InverseKinematik

PID

PID

PID

Inverse Dynamik

Virtuelles Modell / Interface zum Roboter

Fusion

Gelenkan-schlage

Korper-haltung

Free GaitHindernis-vermeidung

Stabilitat

Benutzereingabe

F a

a, a

a

b, f

a

ba

ba

bb,

bf

bb,

bf

bb,

bf

a, a bF a

Abb. 12.3. Modulare Struktur der Software

Prototyp

Um beim Bau des Zentralkorpers die beim Gehen hauptsachlich diagonal auf-tretenden Belastungen aufzunehmen und trotzdem moglichst leicht zu bleibenwurde die Fachwerkbauweise gewahlt. Die Grundform besteht dabei aus derUberlagerung eines

”X“ (zur Aufnamhe der diagonalen Belastungen) mit ei-

nem Kasten (zur Unterbringung des Antriebs) mit einem draufsitzenden Kafig(zum Schutz des Bedieners). Zur Gewahrleistung der Unabhangigkeit von ex-

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12 Autonomes hydraulisch angetriebenes Schreitfahrwerk ALDURO 197

ternen Energiequellen wird als Antrieb eine mit einem leichten, leistungsfahi-gen Verbrennungsmotor (turbogeladener Benzinmotor des Smart Automobils)angetriebene Hydraulik gewahlt.

Bei der Fertigstellung des Prototypen sind große Verzogerungen aufgetre-ten. Ursachen waren die Evaluierung mehrerer Konzepte fur die Konstrukti-on des Zentralkorpers, Schwierigkeiten bei der Ubernahme von CAD-Datenins Festigkeitsberechnungsprogramm, die aufwendige Fertigung der Knoten-elementen des Korpers sowie die Inbetriebnahme des Motors, fur den unterAnderem ein modifiziertes Steuergerat fur den Betrieb außerhalb des Autosnotwendig ist. Grundsatzlich lasst sich das alles auf die knappen personellenRessourcen zuruckfuhren.

Die hydraulischen Antriebe und die Konstruktion sowie Anlenkung derBeine konnte hingegen eins zu eins vom Prufstand ubernommen und gefertigtwerden.

Der Prototyp wird voraussichtlich Anfang 2005 mechanisch fertiggestelltsein. Danach folgt die Inbetriebnahme, erste Versuche im Labor sowie an-schließend die Versuche im Gelande.

12.2.3 Erzielte Ergebnisse

Die Bearbeitung dieses Forschungsprojekts hat zu folgenden Erkenntnissenbei der Entwicklung, Konstruktion und Simulation großer, hydraulisch betrie-bener Gehmaschinen gefuhrt:

• Das Projekt zeigt, dass das Konzept des virtual prototyping unter Verwen-dung geeigneter Simulations- und Konstruktionssoftware gut geeignet ist,ein komplexes System wie das Schreitfahrwerk Alduro zu entwickeln undzu konstruieren.

• Fur die Simulationsmodelle ist es von großter Wichtigkeit, die Kopplungder unterschiedlichen Teilsysteme untereinander korrekt zu beschreiben.Dabei muss die gegenseitige Ruckwirkung in die Modellbeschreibung uber-nommen werden. Unterschiedliche Arten der Kopplung von Teilsystemensind untersucht worden.

• Die exakte Auslegung und Modellierung des hydraulischen Systems istschon zu einem fruhen Zeitpunkt der Konstruktion notwendig, da die Dy-namik des Gesamtsystems wesentlich von dem Verhalten des hydraulischenTeilsystems mitbestimmt wird.

• Die Untersuchung vorausberechneter statisch stabiler Gangarten habengezeigt, dass damit eine zugige Fortbewegung einer vierbeinigen Gehma-schine oder eines Schreitfahrwerks mit zwei Radern anstelle der hinterenFuße nur auf relativ ebenem Untergrund moglich ist. Daher ist ein freegait-Gangmustergenerator entwickelt worden, welcher auf einem beliebi-gem Untergrund selbstandig die Gangmuster generiert.

• Positionsbasierte, lineare Regelungskonzepte scheiden zur Regelung der be-trachteten stark nichtlinearen Systeme aus, so dass hier eine kraftbasierteRegelung eingesetzt wird.

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198 Manfred Hiller

• Das eingesetzte Echtzeitbetriebssystem und die darauf aufbauende Steue-rung ermoglichen es, trotz der hohen Dynamikanforderung des Systemsein deterministisches Zeitverhalten zu erreichen. Weiterhin ist es durchdas modulare Konzept jederzeit moglich, neue Sensor-/Aktorkonzepte zuimplementieren. Das Konzept ist erfolgreich am Einzelbeinprufstand ge-testet worden.

• Durch den modularen Aufbau der Steuerungssoftware und der Trennungzwischen maschinenspezifischen (Ebene der Zylinder) und allgemeinenGroßen (Ebene des Zentralkorpers und der Fusse) konnte die Aufgabe inubersichtliche und verstandliche Einheiten aufgeteilt werden. Das gleicheKonzept wurde auch an dem am FZI in Karlsruhe entwickelten kleinerenVierbeiner Bisam ausgetestet.

12.2.4 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Durch seine Große und energetische Unabhangigkeit stellt der Alduro eineideale Plattform fur weitere Versuche an mobilen Schreitmaschinen dar. So istes z. B. weder gewichtsmaßig noch von der Energieversorgung her ein Problemzusatzliche Sensoren wie Kameras, taktile oder Ultraschallsensoren anzubrin-gen um dadurch einen erhohten Grad an Autonomie (selbstandiges Erkennenund Umgehen von Hindernissen) zu erreichen.

12.2.5 Interdisziplinare Weiterentwicklung

Die Bereitstellung von funktionierenden virtuellen oder realen Prototypen vonQuadrupeden erlaubt es, von Biologen durch Beobachtung an lebenden Qua-drupeden gefundene Modelle und Ideen am Modell zu untersuchen. Bei Tierennicht mogliche Vereinfachungen und Isolierung einzelner Komponenten sindam Modell durchaus moglich und erfolgversprechend.

12.2.6 Anwendung

Alduro soll in Zukunft zur Bearbeitung anderer Fragestellungen, etwa derNutzung biomechanischer Konzepte beim Entwurf großer Maschinen fur Ar-beiten in unwegsamen Gelande, eingesetzt werden kann. Dabei sollen auchbestehende Kontakte zu Schreitbaggerherstellen wiederaufgenommen werden,um die Verwendbarkeit von Konzept und Komponenten abzuklaren. Weiterhinsoll der Alduro als Versuchstrager in unterschiedlichen Projekten Verwen-dung finden. Genannt seien hier zukunftige Projekte gemeinsam mit Kolle-gen aus den Ingenieurswissenschaften und der Biologie aus dem auslaufendenSchwerpunktprogramm

”Autonomes Laufen“ heraus. In der Planung befindet

sich auch ein deutsch-franzosisches Graduiertenkolleg, bei dem der Alduro

als Arbeitsplattform eingesetzt werden soll.

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12 Autonomes hydraulisch angetriebenes Schreitfahrwerk ALDURO 199

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200 Manfred Hiller

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13

Kinematisches Modell und Dynamiksimulation

vierbeinigen Laufens von Saugetieren

Martin S. Fischer1 und Hartmut Witte2

1 Institut fur Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie,Friedrich-Schiller-Universitat Jena

2 Fachgebiet Biomechatronik, Fakultat fur Maschinenbau, Technische UniversitatIlmenau

13.1 Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts

In vorausgehend geforderten Projekten (Fi 401/1 bis 3, DFG-Innovationskolleg

”Bewegungssysteme“) wurden wesentliche Prinzipien oligopedaler Lokomoti-

on (Fortbewegung mit bis zu vier Beinen) insbesondere der Theria (Beutel-tiere und plazentale Saugetiere) aufgeklart. Im Grundmuster aller Mammalia(Saugetiere) sind die Extremitaten (Arme und Beine) abduziert (annaherndrechtwinklig zur Korpermittelebene gestellt) und bestehen funktionell aus zweiSegmenten (Oberarm und Unterarm, Oberschenkel und Unterschenkel). DieExtremitaten der Theria haben dagegen vorne wie hinten drei Segmente. Vornwird ein Element des Schultergurtels - die Scapula (Schulterblatt) - zum pro-ximalen (korpernahen) Segment, hinten wird im Wesentlichen der Fuß umge-baut. Kinematische und dynamische Prinzipien des federnden Pantographen-beins bei der Lokomotion der Theria konnten aufgeklart werden und die not-wendige evolutive Umgestaltungen des Korperstammes und der Extremitatenwurden auf dieser Grundlage verstanden (Abb. 13.1).

Wichtiges Vorwissen fur das Projekt sind die Kenntnisse uber die Domi-nanz proximaler Extremitatenabschnitte beim Rumpfvortrieb, insbesondereder Scapula an der Vorderextremitat (Tabelle 13.1). Der Ertrag der Scapulaan der Schrittlange variiert bei den einzelnen Tierarten von 50 % bis 80%.Die Sagittalbewegungen der Wirbelsaule (vertikale Biegeschwingungen) tra-gen in synchronen Gangarten wie Galopp und Halfbound (Hinterextremitatenwerden annahernd synchron, Vorderextremitaten mit großerem Phasenversatzplaziert) bis zu 50 % zur Schrittlange bei. Die distalen (korperfernen) Extre-mitatenabschnitte fuhren vorrangig Hohenausgleichsbewegungen durch.

Der Bau polypedaler, insbesondere sechsbeiniger Laufmaschinen war schonmit der Computertechnik der 1970er und 1980er Jahre moglich. Je großer aberdie Beinzahl, desto hoher ist wegen des ungunstigeren Strukturbelastungsko-effizienten das Leistungsgewicht, desto mehr Eigengewicht des Antriebs istzu transportieren, desto mehr Kontrollaufwand ist erforderlich. Unter der

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202 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

Abb. 13.1. Pantographenkonstruktion des Beines kleiner Saugetiere Die Kennt-nis der Anatomie des Tieres (oben) liefert die Moglichkeit zur Bewegungsanalysedes Starrkorpersystems Skelett und zur Identifikation der die Bewegungen antrei-benden Muskeln (2. Zeile). Kinematische und dynamische Daten zur Modellbildungdes

”Pantographenbeines“ (Zentrum) in Kombination mit Topographischen EMG-

Messungen und 3D-Analysen der Muskelfaser-Achitektur (3. Zeile) erlauben die art-ubergreifende Modellbildung (unten).

Forderung”Autonomes Laufen“ (energetisch und informationstechnisch) er-

scheinen also oligopedale Laufmaschinen sinnvoll. Mit dem Fortschreiten derRechnerkapazitaten gemaß dem Mooreschen Gesetz und angesichts der zwi-schenzeitlichen Fortschritte der Mechatronik erscheinen nunmehr derartigeMaschinen nach biologischen Vorbildern realisierbar. Die am Institut fur Spe-zielle Zoologie der Friedrich-Schiller-Universitat Jena durchgefuhrten Studi-en sollen hierzu durch Identifikation artubergreifender biologischer Bau- undFunktionsprinzipien (Kinematik und Dynamik) und darauf aufbauenden bio-nischen Transfer Grundlagen beisteuern.

Die Grunde fur die bisherige Umsetzung der bei polypedalen Invertebratenidentifizierten Lokomotionsprinzipien in zumeist sechsbeinige Laufmaschinen

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 203

Tabelle 13.1. Beitrag der Schulterblattdrehung (Scapularotation) zum Bewegungs-fortschritt des Tieres

Taxon Untersuchte Arten Scapularotation Effekt

Marsupialia Monodelphis domestica (Beutelratte) 59◦± 6◦ 53 %

Dasyuroides byrnei (Kowari) 44◦± 9◦ 58 %

Rodentia Galea musteloides (Wieselmeerschwein) 60◦± 4◦ 73 %

Rattus norvegicus (Ratte) 60◦± 5◦ 57 %

Acomys cahirinus (Stachelmaus) 54◦± 5◦ 71 %

Lagomorpha Ochotona rufescens (Pfeifhase) 37◦± 9◦ 66 %

Scandentia Tupaia glis (Spitzhornchen) 59◦± 7◦ 43 %

Primates Microcebus murinus (Mausmaki) 48◦± 5◦ 46 %

Eulemur fulvus (Brauner Maki) 49◦± 9◦ 63 %

Saguinus oedipus (Lisztaffe) 49◦± 9◦ 63 %

Saimiri sciureus (Totenkopfaffe) 56◦± 7◦ 52 %

Artiodactyla Capra hircus (Hausziege) 41◦± 7◦ 73 %

Hyracoidea Procavia capensis (Klippschliefer) 53◦± 9◦ 63 %

Proboscidea Loxodonta africana (Elefant) ca.20◦± 5◦ ca.55%

Perissodactyla Equus przewalski f. caballus (Hauspferd) ca.20◦± 5◦ ca.50%

Carnivora Canis lupus f. domestica (Haushund) 35◦± 4◦ 62 %

(Hexapoden) waren zwar pragmatisch (vgl. die Vorarbeiten zum und Arbeitenim Projekt Cruse, Abschnitt 16), zeigen aber die bei Wunsch nach bionischinspirierten oligopedalen Laufmaschinen (Vier- und Zweibeiner nach Wirbel-tiervorbild) zu bewaltigenden methodischen Probleme auf:

• Mit sechs Beinen sind in jeder Bewegungsphase Dreibeinstutzen moglich,die Gleichgewichtsregelung kann auf (quasi-)statischen Prinzipien aufbau-en. – Oligopedale Systeme nutzen als Vierbeiner nur fur die langsamsteGangart

”Schritt“ ausgedehntere Dreibeinstutzphasen, Zweibeiner uber-

haupt nicht: Bewegungsmodelle oligopedaler Lokomotion mussen dynami-sche Stabilitatsbetrachtungen berucksichtigen.

• Insekten haben einen weitgehend starren Rumpf, der nicht in den An-trieb einbezogen ist und maschinenanalog einfach als Nutzlast (payload)betrachtet werden kann. – Wirbeltiere zeichnen sich durch einen nachgie-bigen Rumpf mit (namensgebender!) Wirbelsaule aus, deren Beitrag zurLokomotion nicht vernachlassigt werden darf.

• Die Gelenke von Insektenbeinen sind gut sichtbar, Bewegungsanalysen sindeinfach. – Insbesondere kleine Saugetiere (

”Fellknauel“) lassen bei außerli-

cher Betrachtung die Bewegungen des Endoskeletts nur erahnen, fur kine-matische Analysen ist die Anwendung rontgenvideographischer Technikenunabdingbar. Hingegen sind bei großen Saugetieren nur oberflachenbasier-te Analysetechniken anwendbar, und fur mittelgroße Tiere (Ziege, Hund)muß die synchrone Verwendung beider Techniken realisiert werden.

• Die Nervensysteme von Arthropoden bestehen aus im Vergleich zu Ver-tebraten nur wenigen Neuronen (106 vs. 1012). – Die Verfugbarkeit von

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204 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

Informationen uber die neuronale Bewegungssteuerung bei der Lokomoti-on von Vertebraten ist stark begrenzt. Die Konzepte mechanischer Selbst-stabilisierung (s. Dissertation Hackert [10]) lassen aber erhoffen, dass sichviele Phanomenata zyklischer Lokomotion (als

”Routineaufgabe“) bei Wir-

beltieren aus”intelligenter Mechanik“ erklaren lassen, der neuronale Kon-

trollmechanismen uberlagert sind.

Die zentrale biologische Fragestellung im Projekt”Vierbeiner“ des DFG-

Schwerpunktprogramms”Autonomes Laufen“ war die weitere Ausdifferenzie-

rung der aus Lokomotionsanalysen kleiner, mittelgroßer und großer Saugetierepostulierten Funktionsprinzipien. Transdisziplinare Aufgabe war die Kommu-nikation der Ergebnisse an die Gruppe Prof. Dillmann in Karlsruhe, sowie inden ersten beiden Forderzeitraumen an Prof. Wittenburg ebenfalls in Karlsru-he. Im dritten Forderzeitraum erfolgte eine ubernahme der Aufgaben Witten-burg durch die Gruppe Prof. Hiller in Duisburg. Durch diese Kooperationensollten die in der Biologie identifizierten Prinzipien in Rechenmodelle undvierbeinige Laufmaschinen implementiert werden.

Durch den Austausch konnten auf der Basis von Stabilitats- und invers-dynamische Analysen die Voraussetzungen geschaffen werden, einer vorhan-denen vierbeinigen Maschine (BISAM) symmetrische Gangarten wie Trab zuermoglichen. Durch Neugestaltung der Beine nach biologischem Vorbild alselastische Pantographen (wie bei kleinen Saugetieren) sollte das Nachfolgemo-dell BISAM II in der Lage sein, auch dynamisch stabile synchrone Gangartenzu realisieren. Das gemeinsam erstellte generische Rechenmodell

”Vierbeiner“

dient der allometrischen Skalierung verschiedener Kenngroßen der Bewegungs-apparate naturlicher und technischer Vierbeiner und erlaubt so die Quantifi-zierung mechanischer Restriktionen fur unterschiedliche Konstruktionen undihre lokomotorische Nutzung.

13.2 Auswahl der Vorbilder

Oligopedale (vier Beine oder weniger) biologische Laufer sind Bilateria, zurVertikalebene annahernd symmetrisch gebaute Organismen mit einer geradenAnzahl von Beinen. Unter dem Aspekt biologischer Inspiration mussen da-her Vor- und Nachteile gerader und ungerader Beinzahl hier nicht diskutiertwerden, es sind nur Vorbilder fur Vier- und Zweibeiner auszuwahlen.

Alle rezenten (derzeit noch lebenden) Vorbilder fur Vierbeiner (Amphibi-en, Reptilien, Saugetiere) und Zweibeiner (Mensch, zeitweilig bipede Prima-ten, Vogel, zeitweilig bipede Reptilien) sind Tetrapoda, Wirbeltiere mit vierExtremitaten (Beine, Arme, Flugel). Vor etwa 140 Millionen Jahren kam esan der Basis des allen Gruppen gemeinsamen Stammbaumes zu einer Auftei-lung, die unter dem hier relevanten Aspekt der Lokomotion (Fortbewegung)grob pauschalisierend zwei Auspragungen der terrestrischen (erdgebundenen)Lokomotion zur Folge hatte: den amphibo-reptilen und den mammalen Ty-pus [5].

Page 224: Autonomes Laufen

13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 205

• Die Fortbewegung von Amphibien und Reptilien nutzt uberwiegend hori-zontale Biegeschwingungen des Korperstammes (Kopf, Hals, Rumpf undSchwanz). Dieser Antrieb wird mit dem Boden uber zweisegmentige Ex-tremitaten mit großer Spurbreite gekoppelt (sprawled posture).

• Saugetiere (Mammalia) nutzen ihre Wirbelsaule bei der Lokomotion vor-rangig fur vertikale Biegeschwingungen, die Ankoppelung an den Bodenerfolgt uber dreisegmentige Extremitaten. Die gegenuber dem ursprungli-chen amphibo-reptilen Typus zusatzlichen Langsegmente entstehen durchStreckung und Umorientierung bereits vorhandener Skelettelemente: vornedes Schulterblattes (Scapula), hinten des Mittelfußes (Metatarsus).

Diese Neukonstruktion hat wahrscheinlich ihre Ursache nicht in einem Op-timierungsdruck auf die terrestrische Lokomotion, sondern stellt eine Anpas-sung an die arboreale (baumkletternde) Lokomotion dar oder ist der Idiomo-tion (auf das Lebewesen selbst bezogene Bewegungen) geschuldet. Saugetieresind im Gegensatz zu ihren Vorgangern gleichwarme (homoiotherme) Orga-nismen, bedurfen eines Fells und der dadurch bedingten Ganzkorperfellpflege,welche mit dem Bauplan der Amphibo-Reptilien nicht realisierbar ware [6,8].Daher darf die Entwicklung des mammalen Typus terrestrischer Lokomotionkeineswegs a priori als Optimierung postuliert werden. Vielmehr konnen wirallenfalls annehmen, dass innerhalb eines Typus Optimierungstendenzen be-stehen, sobald er erst einmal, evtl. durch nicht-lokomotorische Anforderungen,strukturell und funktionell etabliert wurde.

Aus Sicht der Technik ware der amphibo-reptile, ursprungliche Bewegungs-und Bautypus mit seiner geringeren Anzahl an Struktur- und Funktions-elementen das naheliegende Vorbild. Im Schwerpunktprogramm

”Autonomes

Laufen“ fiel aber bereits vor Aufnahme der Studien die Entscheidung fur dieSaugetiere als Vorbild vierbeiniger Maschinen, vorrangig aus zwei Grunden:

• Der im gleichen Programm gebaute Zweibeiner (”Johnnie“) sollte anthro-

pomorph sein. Menschen sind Saugetiere, ihr Bau und ihre mechanischenFunktionen sind aus den ursprunglichen Prinzipien quadrupeder Sauge-tiere abgewandelt. Zur ergebnisorientierten Sicherung eines wechselseiti-gen Erkenntnisaustausches hinsichtlich des Ziels einer anthropofunktionel-len Maschine schien daher die schwerpunktmaßige Auseinandersetzung der

”Vierbeinergruppe“ (Jena, Karlsruhe, Duisburg) ebenfalls mit Saugetierengeraten.

• Der Bau saugetierahnlicher Laufmaschinen erscheint schwieriger als je-ner amphibo-reptiloider. Das Schwerpunktprogramm sollte im technischenBereich die Grenzen des heute Machbaren ausloten und den weiteren For-schungsbedarf identifizieren. Daher wurde seitens der technischen Partnerbewusst die großere Herausforderung gewahlt, mit der klaren a priori-Einsicht, dass nicht alles biologisch Identifizierte bereits heute technischumsetzbar sein wird.

Page 225: Autonomes Laufen

206 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

13.2.1 Betrachtungsgegenstande

Analog der Vorgehensweise bei der bionischen Inspiration des Baus sechsbeini-ger Laufmaschinen aufbauend auf der strukturellen und funktionellen Analysevon Insekten, sollte in diesem Projekt gepruft werden, ob es auch bei Sauge-tieren beobachtbare Prinzipien der Mechanik und der Kontrolle der Lokomo-tion gibt, die bei technischer Umsetzung das Bewegungsverhalten vierbeinigerLaufmaschinen verbessern konnen.

”Laufen“ ist Fortbewegung und somit me-

chanisch dominiert, Grundlage des Projektes ist demgemaß die artubergrei-fende Analyse der Anatomien der zu betrachtenden Arten (Morphologie) undihre Verknupfung mit der lokomotorischen Funktion: Funktionelle Morpho-logie. Diese deckt schwerpunktmaßig den Bewegungsapparat ab und nur inminderem Maße (als Anregung fur zukunftige Entwicklungen) die neuronaleAnsteuerung, da von den technischen Partnern das bereits etablierte Control-Inventar benutzt wird und vorrangig die Mechanik der Laufmaschinen bionischoptimiert werden sollte. Als Betrachtungsgegenstande der Untersuchung er-geben sich damit:

• Anatomien der zu untersuchenden Arten unter Einbezug der– Morphometrie (Langen-, Massen- und Massenverteilungsmaße)

• Biomechanik der Lokomotion der zu untersuchenden Arten– Metrik (raumliche und zeitliche Beschreibungsmaße der Periodik zykli-

scher Lokomotion)– Kinematik– Dynamik aus Inverser Dynamik und Vorwartssimulation– Stabilitat zyklischer Lokomotion

• Entwicklung dieser Großen in– Phylogenese (stammesgeschichtliche Entwicklung)– Ontogenese (Individualentwicklung)

• Allometrie (Skalierung von Eigenschaften in Abhangig von Langen undMassen)

Die technische Umsetzung der im Weiteren dargestellten biologischen Prin-zipien ist Berichtsgegenstand der Gruppen Dillmann (Karlsruhe) und Hiller(Duisburg).

13.2.2 Entwicklung der durchgefuhrten Arbeiten

Da sich wahrend der Untersuchungen herausstellte, dass es nicht nur wie an-fangs vermutet ubertragbare Prinzipien innerhalb einzelner Großenklassen vonSaugetieren, sondern insbesondere gegenuber Nicht-Saugetieren abgrenzbarePrinzipien fur gesamte Gruppen von Saugetieren gibt, wurden im Berichts-zeitraum 16 Arten, untersucht, in der Korpermasse von 60 g (Stachelmaus)bis 1 800 kg (Elefant) reichend (Tabelle 13.2). Alle Tierversuche wurden dengesetzlichen Vorschriften entsprechend der Tierschutzkommission des LandesThuringen angezeigt und, soweit erforderlich, von dieser genehmigt.

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 207

Tabelle 13.2. Im Projekt untersuchte Arten und deren Korpermassen

Taxon Untersuchte Art Korpermasse [g]

Marsupialia Monodelphis domestica (Beutelratte) 100Dasyuroides byrnei (Kowari) 150

Rodentia Galea musteloides (Wieselmeerschwein) 300Rattus norvegicus (Ratte) 350Acomys cahirinus (Stachelmaus) 60

Lagomorpha Ochotona rufescens (Pfeifhase) 250Scandentia Tupaia glis (Spitzhornchen) 180Primates Microcebus murinus (Mausmaki) 100

Eulemur fulvus (Brauner Maki) 2 500Saguinus oedipus (Lisztaffe) 500Saimiri sciureus (Totenkopfaffe) 100

Artiodactyla Capra hircus (Hausziege) 47 000Hyracoidea Procavia capensis (Klippschliefer) 1 200Proboscidea Loxodonta africana (Elephant) 1 800 000Perissodactyla Equus przewalski f. caballus (Hauspferd) 55 000Carnivora Canis lupus f. domestica (Haushund) 35 000

13.2.3 Habituation und Haltung der Tiere

Die Haltung der Tiere erfolgte jeweils in der Nahe der Versuchsorte:

• Kleine Tiere wurden im Tierhaus des Institutes fur Spezielle Zoologie ge-halten und von Mitarbeitern des Institutes habituiert.

• Mittelgroße Tiere mit Ausnahme von Hunden wurden im Tierexperimen-tellen Zentrum (TEZ) der FSU Jena gehalten und von Mitarbeitern habi-tuiert. Die

”ausgebildeten“ Hunde wurden von den Eignern jeweils an den

Versuchtagen beigestellt und betreut.• Pferde wurden im fzmb Bad Langensalza gehalten und von Mitarbeitern

dieses Kooperationspartners habituiert.• Elefanten wurden im Zoo Erfurt gehalten und von Mitarbeitern dieses

Kooperationspartners habituiert.

13.2.4 Versuchsdurchfuhrung Kinematik und Dynamik

Die Bewegungsanalysen an den Tieren wurden mehrheitlich im Bewegungs-labor des Tierexperimentellen Zentrums (TEZ) der FSU Jena durchgefuhrt.Die Tiere liefen auf speziell angefertigten Laufbandern oder Laufstrecken miteingebauten Kraftmessplatten, wobei sowohl große Standard-Kistler-Platten,zwei kleine spezialgefertigte Kistler-Platten (120 × 200mm2) als auch Ei-genbauten zum Einsatz kamen. Metriken und Kinematiken wurden nicht-invasiv mit Kombinationen von synchronisierter Oberflachenmarkerverfolgung(Qualisys r©) und Highspeed-Video (MikroMak r©) sowie paralleler Videodoku-mentation bestimmt. Soweit in Erganzung Rontgenkinematographie (bis 150

Page 227: Autonomes Laufen

208 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

F/s) zur Anwendung kam, fanden die Versuche am Institut fur den Wissen-schaftlichen Film in Gottingen (IWF) statt.

Abb. 13.2. Typische Versuchssituationen. Links oben: Pfeifhase auf Kraftmessplat-te vor Rontgenkamera (IWF Gottingen). Rechts oben: Ziege mit Reflexmarkern vorder Treppe im Lauflabor Jena. Links unten: Fohlen auf Laufband (fzmb Bad Lan-gensalza), rechts im Bild die Mutterstute, vorne im Bild eine Qualisys r©-Kamera.Rechts unten: Elefanten auf Laufstrecke im Zelt (Erfurter Zoo)

Das oberflachenbasierte Bewegungsanalysesystem Qualisys r© erwies sichdabei als

”Ruckgrat“ aller Experimente, da es bei allen mittelgroßen und

großen Tieren und dem Menschen Anwendung fand und die Zeit- und Da-tenformatbasis der anderen kinematischen Analysegerate wie der Kraftmess-platten definierte. Die relative Unempfindlichkeit dieses Infrarotsystems neuerGeneration erlaubte Messungen an Pferden, Ziegen und Hunden auf einemLaufband in einer Scheune wie an Elefanten in einem Zelt. Dabei wurden imExtrem Residuen der Ortsaulosung von 0,3 mm erreicht, in der Routine von1,2 mm. 240 fps (frames per second) Erfassungsfrequenz sind ebenfalls stabilerreichbar, 1 000 fps waren nicht verlasslich bei deutlich geringerer raumlicherAuflosung, so dass Frequenzen uber 240 fps nur im Ausnahmefall der Kon-trolle von Messsetups durch das Nyquest-Shannon-Theorem genutzt wurden.Die Datenaquisition in 3D und die unmittelbare Darstellmoglichkeit der Da-

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 209

ten in Pseudo-3D und beliebigen Projektionen erwies sich als unschatzbarerFortschritt fur die Bewegungsstudien. Wir konnten an der Ziege in Kombinati-on von Rontgenvideographie und Qualisys r© erstmals ubertragungsfunktionenzwischen Haut- und Skelettbewegungen zeitlich und raumlich hochauflosendbestimmen und absichern. Die Untersuchungen wurden zudem auf kleine Pri-maten (Mausmaki) und Reptilien (Chamaleon) ausgedehnt. Die begleitendenStudien am Zweibeiner Mensch, teilweise in Kooperation mit den GruppenBlickhan (Jena), Mohl (Saarbrucken) und Schiehlen (Stuttgart) konnten sichaufgrund dieser Vorerfahrungen bei weitgehend routinemaßiger Anwendungder Messtechnik auf die Fragestellungen konzentrieren.

Das Grundproblem fehlerhafter Abbildung der skeletalen Bewegungen inoberflachenbasierten Analysen (und damit der fehlerhaften Anwendung derStarrkorpermechanik auf nachgiebige Mechanismen) kann somit zwar nichtbeseitigt, aber in seinen quantitativen Auswirkungen begrenzt werden.

13.2.5 Anatomie, Morphologie, Morphometrie und Allometrie

Die institutionelle Einheit des Institutes fur Spezielle Zoologie mit dem Phyle-tischen Museum erlaubte es, in der Literatur nicht eindeutig geklarte Detailszur makroskopischen Anatomie der untersuchten Arten durch eigene Studienzu erganzen. Dabei fanden klassische Praparationsmethoden Einsatz, fur dieVermessung von Skelettelementen fand die direkte Morphometrie Anwendung,vgl. [13]. Volumetrische Messungen erfolgten im Rontgen-CT, Kernspinreso-nanztomographen oder an Abgussen von Korpersegmenten mit Oberflachen-analytischen Verfahren unter Nutzung strukturierten Lichtes, vgl. [15]). Dietopo-funktionellen Beziehungen zwischen Ruckenmark und Muskulatur wur-den an Ratten durch Praparation der nervalen Plexus in Kombination mitImmuno-Tracing-Methoden detailliert [1].

13.2.6 Bionischer Transfer

Die ermittelten kinematischen Daten und die daraus abgeleiteten Bewegungs-prinzipien wurden unter Perspektive der Zero Moment Point Hypothesis nachVucobratovic fur die Optimierung des Bewegungsverhaltens von BISAM ver-wendet, wodurch diese Laufmaschine erstmals zum Trab befahigt wurde.Durch den Ausfall des Kooperationspartners Wittenburg in der Mitte derProjektlaufzeit konnte der initiierte Bau elastischer Pantographenbeine fur BI-SAM in der Projektlaufzeit nicht komplettiert werden, die Entwicklung gediehbis zum Test von Einzelbeinen als Hardware-in-the-loop auf einem Laufband.

Das ursprunglich als anthropomorph bezeichnete Bein von ALDUROkonnte in der sich abzeichnenden Konfiguration und Nutzung als reptilien-ahnlich gekennzeichnet werden, womit die ubertragbarkeit der Ergebnisse von(auch eigenen: Chamaleon-) Studien an Reptilien in die Technik gebahnt wur-de.

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210 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

Die Ergebnisse der gemeinsamen Bewegungsstudien an Menschen mit denGruppen aus Saarbrucken und Stuttgart fanden uber diese Eingang in dieAuslegung der zweibeinigen Maschine JOHNNIE (Munchen). Die Vorschlageder Gruppen Blickhan und Fischer zur Nutzung von nachgiebigen Mecha-nismen und Rumpfverdrehungen mit der Perspektive Energieokonomie undSelbststabilisierung fanden keine Anwendung.

13.3 Ergebnisse und Diskussion

Abb. 13.3. Pantographenbein: kinematische Nutzung durch verschiedene Artenkleiner Saugetiere

Als generelles Prinzip des mammalen Lokomotionstypus lasst sich bei klei-nen Saugetieren die Nutzung von

”Pantographenbeinen“ identifizieren [7]. Ein

dreisegmentiges Zick-zack wird wahrend der Standbeinphase unter Einstau-chen um ca. 90◦ verschwenkt (Abb. 13.3).

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 211

Abb. 13.4. Pantographenbein: dynamische Nutzung wahrend einer Standbeinphasedes Pfeifhasen (Quelle: Witte et al. 2002)

Abb. 13.5. Pantographenbein: einfaches Ersatzmodell

Mit großerer Korpermasse erfolgt aufgrund des Missverhaltnisses zwischenKorpergewicht (wachst mit der dritten Potenz der Korperlange) bzw. Massen-tragheitsmoment (funfte Potenz) und der verfugbaren Muskelkraft (propor-tional zum Muskelquerschnitt, also dem Quadrat der Lange) eine zunehmendeStreckung der Extremitaten, aber auch diese Tiere ziehen den großten Anteilan Raumgewinn aus den Bewegungen der proximalen (korperstammnahen)Gelenke: Aufhangung des Schulterblattes (vgl. Tabelle 13.1) und Huftgelenk.In schnellen Gangarten bewirkt die von sagittalen Bewegungen der Wirbel-saule bedingte Beckenschwenkung zusatzlichen Raumgewinn [4,5, 9, 12].

Um die Wechselwirkungen zwischen Bewegungen des Ruckens und derExtremitaten weiter einzugrenzen, wurden die Kinematiken dieser Korper-

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212 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

elemente bei sieben gesunden und zehn lahmen Pferden simultan analysiert,wobei die untersuchten Pferde unterschiedliche Lahmheitsgrade und -ursachenzeigten [3]. Erwartungsgemaß zeitigten Storungen einzelner Elemente Effektein der gesamten kinematischen Kette, wobei (vermutlich aufgrund der klei-nen, inhomogenen Stichprobe) keine eindeutigen Beziehungen zwischen Scha-digungsort und Lokalisation der Storung der Kinematik zu belegen waren.

Ahnlich wie beim Menschen und seinen Haustieren beobachtet [17, 18],steigern auch kleine Saugetiere ihre Geschwindigkeit vorrangig durch Schritt-verlangerung und nur in geringerem Maße durch Schrittfrequenzsteigerung [9].Allerdings konnen diese kleinen Tiere einen großen Geschwindigkeitsbereich(beim Pfeifhasen Ochotona rufescens beispielsweise 0,14 m/s bis 1,4 m/s, Fak-tor zehn) in einer einzigen Vorzugsgangart realisieren, wahrend große Tierezwischen den klassischen (hippomorph definierten) Gangarten wechseln. DieErklarung der Schrittfrequenzbegrenzung aus dem mit der dritten Potenz derFrequenz wachsenden Leistungsbedarf der Zwangserregung der Beinpendelgilt nur unter der Restriktion der Leistungsbedarfsminimierung als Fuhrungs-große, also vorrangig bei Ausdauerlaufern und unter hoher Nahrungskonkur-renz: Elefanten erreichen nach unseren Beobachtungen hohe Geschwindigkei-ten ohne sichtbare Limitierung der Schrittfrequenz, bei ihnen scheint die Ma-ximierung der Geschwindigkeit im Sprint Fuhrungsgroße zu sein [14].

Fur das Pferd Equus caballus wurde zusatzlich die Ontogenese der Extre-mitatenbewegungen im ersten Lebensjahr quantitativ dokumentiert (Diplom-arbeit Hochbach; im Druck). In der Literatur gibt es bisher wenige longitudi-nale Studien zur Bewegungsentwicklung beim Pferd. Im Gegensatz zu diesenArbeiten, in denen die Tiere fruhestens ab einem Alter von vier Monatenund zumeist nur im Trab untersucht wurden, sind in unserer Studie schonab dem dritten Lebenstag des Pferdes Daten erhoben worden. Dabei wurdenalle Gangarten mit verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen berucksichtigt.Hierbei zeigt sich eine fruhzeitige Annaherung an die von adulten Tieren ge-wahlten Gangparameter. Fohlen mussen kurz nach der Geburt mit der Herdemithalten konnen. Erleichtert wird ihnen dieses durch die bei den adulten Tie-ren beider Arten ahnlichen Beinpendellangen (bei deutlich kurzerem Rumpf:

”Hochrahmigkeit“).

Die Vorgehensweise zur Bestimmung der Inversen Dynamik großer Extre-mitatengelenke bei kleinen und mittelgroßen Saugetieren wird im Detail inWitte et al. 2002 beschrieben. Fur vier Arten kleiner Saugetiere (Spitzhorn-chen Tupaia glis, Pfeifhase Ochotona rufescens, Wieselmeerschweinchen Galeamusteloides, Ratte Rattus norvegicus) wurden beim Laufen auf flachem Grunddie Nettokrafte und Nettomomente in den großen Extremitatengelenken be-stimmt. Die ermittelten Muster sind artubergreifend stereotyp, Unterschiedeergeben sich in Abhangigkeit vom Vorhandensein eines Schwanzes nur in denKnie- und Huftgelenken (Abb. 13.6 und Abb. 13.7).

Dabei konnten erstmals auch Momente in der Aufhangung des Schulter-blattes bestimmt werden, und es konnte gezeigt werden, dass diese von derGewichtskraft dominiert werden (

”Antigravity-Wirkung“), siehe Abb. 13.7.

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 213

Abb. 13.6. Nettomomente in den Haupt-Gelenken der Vorder- und Hinterbeine vonSaugetieren. Standbeinphasen hohengleicher, unbeschleunigter Fortbewegung. Posi-tive Werte reprasentieren streckende Momente. links: Vorderextremitat (wrist joint:Handgelenk; elbow joint: Ellenbogengelenk; Shoulder joint: Schultergelenk) rechts:Hinterextremitat (intratarsal joint: Mittelfußgelenk; ankle joint: Sprunggelenk; kneejoint: Kniegelenk; hip joint: Huftgelenk) (Quelle: [15])

Beschleunigung und Verzogerung der Tiere außert sich nur in einer Ver-schiebung des Momentenstereotyps (in Bezug auf Amplitude und Zeitschema:Abb. 13.8).

An diesen dynamischen Bewegungsstereotypen andert sich auch mit zu-nehmender Korpergroße nichts: Hund und Ziege zeigen das schon bei denkleinen Tieren beobachtete Verhalten eines Tieres mit Schwanz (Abb. 13.9).

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214 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

Abb. 13.7. Nettomomente in der Aufhangung des Schulterblattes. Standbeinphasenhohengleicher, unbeschleunigter Fortbewegung. Positive Werte reprasentieren stre-ckende Momente. Links: Einzelkurven fur das Wieselmeerschweinchen Galea muste-loides. Rechts: Vergleich einer experimentell ermittelten Einzelkurve (durchgezogeneLinie) mit der Vorhersage aus Hebelarm (aus Kinematik) und Bodenreaktionskraft(gestrichelte Linie) fur den Pfeifhasen Ochotona rufescens (Quelle: [15])

Abb. 13.8. Veranderung des Nettomoments (Standbeinphase) in der Aufhangungdes Schulterblattes beim Wieselmeerschweinchen Ochotona rufescens durch Be-schleunigung oder Verzogerung des Tieres (Quelle: [16])

13.3.1 Rechnerische Modellbildung

Die Partnergruppe Hiller in Duisburg hat fur die gesamte Vierbeinergruppe(Jena, Karlsruhe, Duisburg) die Programmierung eines generischen Vierbei-nermodells ubernommen, so dass uber die Modellbildung durch Mehrkorper-systeme (MKS) an anderem Orte berichtet wird.

Im Mittelpunkt unserer Darstellungen soll die Auseinandersetzung mit denMechanismen der Selbststabilisierung (robustness) bei vierbeinigen Saugetie-ren stehen [10].

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 215

Abb. 13.9. Nettogelenkmomente im Hinterlauf eines mit Fußgangergeschwindigkeitgehenden Schaferhundes wahrend der Standphase (Durchgezogene Linie: Huftgelenk,strichpunktiert: Kniegelenk, gestrichelt: Sprunggelenk, gepunktet: Mittelfußgelenk)

Das Konzept der Selbststabilisierung (robustness) nach den Ljapunov-Kriterien wurde zuerst fur die menschliche Fortbewegung ausgearbeitet. Ineiner Vorzugsrichtung gestauchte Mehrhebel-Feder-Massen-Systeme wie dasBein als Feder in Interaktion mit der Korpermasse (spring-mass-system, ma-thematische Beschreibung in [2]) sind in bestimmten Konstellationen vonGeometrie, Steifigkeiten und Kinematik in der Lage, zyklische Beinhupfbe-wegungen ohne außeren Kontrollaufwand dauerhaft zu unterhalten. [10] hatdas Konzept auf den

”halfbound“ des Pfeifhasen Ochotona rufescens ange-

wendet. Sein Modell sagt die vom Tier tatsachlich gewahlten Gangparameteruberraschend gut vorher und kann den Nutzen von Rumpfbewegungen fur dieStabilitat des halfbound plausibel machen (Abb. 13.8).

13.4 Biologisch identifizierte Prinzipien

• Pantograph mit 90◦-Schwenkung• Zentraler Schwenkantrieb des Pantographen• Uberlagerung translatorischer Bewegungen der korpernahen Beinaufhan-

gung Scapulabewegung: Die Ergebnisse der Untersuchungen des Bewe-gungsablaufes der Ziege haben ergeben, dass die Scapula als propulsivesElement nicht nur bei kleinen Saugetieren einen erheblichen Anteil amVortrieb der freien Vorderextremitat beitragt. Der Bewegungsablauf diesesproximalen Elementes der Vorderextremitat der Ziege ahnelt denen kleinerSaugetiere. Der Humerus und die weiter distal gelegenen Gelenke hingegen

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216 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

Abb. 13.10. Selbststabilisierung im Halfbound von Pfeifhasen und von den Tierendafur genutzte Effekte

verhalten sich wahrend des Bewegungsablaufes eher wie die des Pferdes.Allerdings ist die Auslenkung der Scapula beim Pferd nicht durch Ront-genkinematographie ermittelt worden, so dass man ihren genauen Verlaufwahrend eines Schrittes nicht kennt. Die Unterschiede der Auslenkung derScapula bei der Ziege waren, je nach angewendetem Analysesystem, nichtunerheblich.

• Maschinenahnliche Dynamik• Uberwiegende Komponente Antigravity• Anpassung an Beschleunigung und Verzogerung durch graduelle und kon-

tinuierliche uberformung durch Zeitverlaufe der Gelenkmomente in Am-plitude und Phase

• Intensive Nutzung selbststabilisierender Mechanismen (Minimierung desRegelungsbedarfs)

•”Mechanische Plastizitat“ kompensiert

”Neuronalen Konservativismus“

• Rumpf- und Wirbelsaulennutzung

13.4.1 Technische Umsetzung

Die erhobenen Befunde zu Struktur, Elektrophysiologie, Kinematik und Dy-namik kleiner Saugetiere haben in Diskussion mit den technischen Partnernals Kompromiss zwischen Wunschenswertem und derzeit Machbarem zu fol-genden ersten Empfehlungen fur die biologisch inspirierte Konstruktion vonLaufmaschinen gefuhrt [16]:

1. Die Beine sind als Pantographen zu gestalten.

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 217

2. Die Fuhrung der Parallelkurbeln kann starr sein, die Kopplung benach-barter Hebel sollte elastisch erfolgen.

3. Der Antrieb der Beinkonstruktion erfolge zentral.4. Den Hohenausgleich ubernehmen die korperfernsten Elemente.5. Vorder- und Hinterbeine konnen gleich gestaltet sein.6. Solange an die Konstruktion adaptierte Strategien zur mechanischen Re-

aktion auf veranderte Umgebungsbedingungen noch nicht entwickelt sind,kann die Standard-Dynamik aller Beine gleich ausgelegt sein.

7. Die Leistungsfahigkeit der Beinkonstruktion sollte bei starrem”Zentral-

korper“optimiert werden.8. Bei Freigabe weiterer Freiheitsgrade der Rumpfbewegung ist

”Wirbelsau-

lenbeugung“ in der Senkrechten um rumpf-quere Achsen vorzusehen.9. Zur Erhohung der Wendigkeit kann dem rumpfnahen Segment des Vorder-

beins eine Langsverschiebung zugestanden werden (”Scapulatranslation“).

10. Nutze Eigenschwingungen!

Der Konstruktion des Beins von BISAM II wird entsprechend ein starkvereinfachtes Strukturbild des Beines von Saugetieren zugrunde gelegt (Abb.13.11 links). Das von den technischen Kollegen bisher als starr konzipier-te Koppelglied zwischen rumpfnahem und rumpffernem Langsegment (Abb.13.11 rechts) sollte u. E. langeneinstellbar und von veranderlicher Steifig-keit sein. Diese Variantenkonstruktion ist bei dem geplanten pneumatischenAktorprinzip relativ einfach umzusetzen und auszutesten. Zudem bietet diekonzipierte Beinkonstruktion ebenfalls die Moglichkeit, den in Entwicklungbefindlichen

”kunstlichen Muskel“ auf Polymerbasis als bereits begonnenes

Gemeinschaftsprojekt in der Nachlaufphase des DFG-Innovationskollegs”Be-

wegungssysteme“ unter Praxisbedingungen zu testen.

Abb. 13.11. Technische Umsetzung des Pantographenbeines. Links: reduktionisti-sches Strukturbild Tier, rechts: Beinkonstruktion BISAM II

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218 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

Fur die Optimierung der Bewegungskontrolle der Laufmaschine konnte ei-ne Beobachtung hilfreich sein, die wir beim Pfeifhasen (Ochotona rufescens)gemacht haben: das Tier stellt im Half-bound wahrend der Stutzphase den Un-terarm mit max. 5◦ Abweichung in die Verbindungslinie Bodenkontaktpunkt– Gesamtkorperschwerpunkt (Abb. 13.12; Details s. [11]). Es ist zu testen, obsich mit dieser Strategie die Regelung der im Feder-Masse-Schwinger gesetz-maßig verkoppelten Kraft- und Weggroßen vereinfachen lasst.

Abb. 13.12. Ausrichtung des Unterarms und des Unterschenkels auf die Ver-bindungslinie BodenkontaktpunktKorperschwerpunkt im Halfbound des PfeifhasenOchotona rufescens. Links oben: Winkel Segment gegen Verbindungslinie proxima-les Gelenk – Schwerpunkt (180◦, entspricht Ausrichtung des Segmentes auf denSchwerpunkt). Links unten: Bodenkontakt der Extremitaten, rechts: Veranschauli-chung anhand eines rontgenkinematographischen Bildes (nach [11])

Im Half-bound sagt ein Feder-Masse-Modell fur die a priori beliebigeraumlich-zeitliche Koordination der Fußung Vorzugsbereiche mit Selbststa-bilisierung und Attraktion zyklischer Bewegungen voraus. Nach unseren ex-perimentellen Beobachtungen liegen die tatsachlich genutzten Arbeitsbereichegenau in den Zonen selbststabilisierender, energie-autonomer Parametrierungmit konsekutiver Minimierung des Regelungsbedarfs [10], wobei die Tiereals minimale Geschwindigkeit der freiwilligen Nutzung des Half-bound jene1,4m/s wahlen, ab denen sich die stabilen Bereiche erstmals rechnerisch iden-tifizieren lassen.

13.5 Denkbare Folgeuntersuchungen

Derzeit ist ein Antrag auf Einrichtung einer DFG-Forschergruppe (Fo 554 ;

”Bewegung und Beweglichkeit“) anhangig. Kurzfassung des Antrags: Gemein-

sames Ziel der Forschergruppe ist ein grundlegendes Verstandnis des Zusam-menhanges von Beweglichkeit und Bewegung bei Saugetieren. Beweglichkeit

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 219

(”mobility“) ist die in einem oder mehreren Gelenken mogliche Bewegung und

Bewegung (”motion“) ist der wahrend einer spezifischen Aktion tatsachlich

genutzte Umfang der Beweglichkeit. Die begriffliche Trennung thematisiertbewusst eine stillschweigend implizite Annahme, dass aus der Beweglichkeit(Gelenktopographie) auf die Bewegung geschlossen werden konnte und umge-kehrt. Die weit verbreitete Ansicht ist, man konne aus der Form und Beschaf-fenheit des postcranialen Skeletts und insbesondere auch der Gelenke auf dieLokomotion schließen. Sie ist erstaunlicherweise niemals getestet worden undzieht ihre Plausibilitat aus dem Vergleich von Konvergenzen. Um die

”Kno-

chen zum Reden zu bringen“, mussen wir aber erst ihre Sprache erlernen. Sohaben Untersuchungen zur Kinematik, Dynamik und Stabilitat der Lokomo-tion von Saugetieren gezeigt, dass die wahrend der Fortbewegung genutzteBeweglichkeit in der Regel die Form der Gelenke nur in begrenztem Umfangerklaren kann.

Innerhalb der Bewegung unterscheiden wir zwischen Lokomotion und Idio-motion, ohne dabei eine strikte Trennung der dabei ausgefuhrten Bewegungenanzunehmen. Idiomotion beschreibt alle Bewegungen eines Organismus, diein der Ausfuhrung auf ihn selbst oder auf Artgenossen gerichtet sind (z.B.Putzen, Objektmanipulation). Auch wenn es ubergange zwischen lokomotori-schen und nicht-lokomotorischen Bewegungen gibt, ist eine Trennung beiderBewegungen wegweisend. Die Projekte konzentrieren sich auf die vertiefte Un-tersuchung von Teilsystemen des Bewegungsapparates – Axialskelett, Schulterund Huftgelenk. Die Untersuchungen werden im wesentlichen an Ratten undKatzen durchgefuhrt. Erstmals sollen auch gesunde und im primar motori-schen Cortex lasionierte Ratten einem breiten Spektrum von Untersuchungenzur Funktion des Bewegungsapparates unterzogen werden.

Die experimentellen Rahmenbedingungen sind entscheidend fur Forschun-gen auf internationalem Niveau. Die Bedingung fur die Durchfuhrung aller hiergeplanten Forschungsprojekte ist die Genehmigung der gemeinsam beantrag-ten hochfrequenten, biplanaren Rontgenvideo-Anlage. Die Siemens AG ent-wickelte entsprechend unseren Anspruchen an die Rontgenvideographie undgemaß den Empfehlungen der Gutachter eine weltweit einzigartige Versuchs-anlage mit einer in Orts- und Zeitauflosung neuen Qualitat. Durch die Schlie-ßung der Gottinger Anlage vor drei Jahren ist ein zentrales Standbein unsererArbeit weggebrochen. Die Fortsetzung der Bewegungsforschung in Jena undIlmenau hangt entscheidend von der Verfugbarkeit rontgenvideographischerTechnik ab.

13.6 Wirtschaftliche Verwertbarkeit

Wesentliche Erkenntnisse unserer Arbeiten werden derzeit bereits in Japanund den USA verwertet:

• Prof. Hiroshi Kimura (Tokio) hat die Prinzipien”Pantographenbein“ und

”elastischer Rumpf als Antrieb“ in die Konstruktion seiner Familie qua-

Page 239: Autonomes Laufen

220 Martin S. Fischer und Hartmut Witte

drupeder Roboter (”TEKKEN“ = Hund) einfließen lassen. (Die japanische

Regierung investiert in die Forderung der biologisch inspirierten Robotikalleine fur die humanoiden Systeme uber zehn Jahre 37,7 Milliarden US-$.Hierin sind die Investitionen der Firmen Honda, Sony, Fujitsu und Toyotanicht enthalten).

• Im Auftrag der DARPA wurden wir von Prof. Dan Koditschek (Michi-gan) zur Prasentation unserer Konzepte eingeladen. In diesem Kontextwurde durch einen Doktoranden von Prof. Koditschek (William Schwind)bei einem mehrwochigen Besuch unter Nutzung unserer Daten in der An-wendung auf selbststabilisierende Mechanismen der vierbeinigen Fortbe-wegung das Konzept

”Templates and Anchors“ untermauert.

13.7 Zusammenfassung

Die Ergebnisse der biologischen Studien aller drei Forderzeitraume seien stich-wortartig zusammengefasst.

13.7.1 Elastisches Pantographenbein

• Kinematik– Fast ideal rechtwinklig genutzt von kleinen Saugetieren, gestreckt findet

es sich auch bei mittelgroßen und großen Saugetieren.– Zwar erfolgt diese Streckung als Zugestandnis an das Missverhaltnis

zwischen mit zunehmender Korpermasse relativ abnehmender Muskel-kraft und zu bewegenden Lasten gemaß der Vorhersage von Hildebrand1985, aber es ist eine relative Langenzunahme des proximalen Segmentsohne eine entsprechende Reduktion des Winkelausschlags zu beobach-ten. Bei großen Tieren gewinnen damit Schulterblatt und Oberschenkelsowie die sie bewegende Muskulatur eine uberproportionale funktio-nelle Bedeutungszunahme. Diese Beobachtung korrespondiert mit demvorbekannten Phanomen proximaler Massenkonzentration zum Erzie-len schneller Pendelschwingungen.

– Strukturell und funktionell ist kein qualitativer Sprung in Aufbau undNutzung der Muskulatur mit zunehmender Korpermasse beobachtbar.

• Dynamik– Kleine und mittelgroße Saugetiere agieren kinematisch und dynamisch

ahnlich ohne qualitativen Sprung.– Keine qualitativen Veranderungen von Kinematik und Dynamik der

Extremitaten bei Beschleunigung und Verzogerung, nur Verzerrung derGroßen-Zeit-Verlaufe.

– Dreisegmentige Extremitaten werden in allen Großenklassen zur Selbst-stabilisierung der Bewegungen genutzt.

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 221

13.7.2 Rumpf

• Interaktion: die Bewegungen des Rumpfes mit Massenverschiebungen desWeichteilkontinuums innerhalb des korpereigenen Koordinatensystems ver-langern nicht nur die Schrittweiten, sondern optimieren das Auffußver-halten der Extremitaten unter dem Aspekt der Selbststabilisierung undverringern so den neuronalen Kontrollaufwand auf unstrukturiertem Sub-strat.

13.7.3 Allometrie

• Da die Scapula im mammalen Lokomotionstypus zentrale Bedeutung furdie lokomotorische Funktion der freien Vorderextremitat hat, muss sie auchin Proportionsanalysen berucksichtigt werden. Demzufolge wurde eine der-artige, bisher nicht verfugbare allometrische Analyse fur die Saugetiergrup-pe mit der großten Gewichtsspanne (150 g bis 1 500 kg) der in ihr vertrete-nen Arten, die Paarhufer (Artiodactyla) durchgefuhrt. Es ergab sich, dasseine Veranderung der Extremitatenproportionen eher auf der Phylogenieberuht als habitatsabhangig ist. Die Scapula ist das einzige Element derExtremitaten, welches in beiden großen Familien der Artiodactyla gleichskaliert, und zwar oberhalb der geometrischen ahnlichkeit. Dies konnte einHinweis auf eine gewisse Konservativitat des Schulterblattes sein, die auchin einem einheitlichen Bewegungsmuster Ausdruck findet.

13.7.4 Methodisch

• Erfolgreiche synchrone Kombination von Bodenreaktionskraftmessungenund mehreren bewegungsanalytischen Verfahren (Qualisys r©, Highspeed-Video, Rontgenkinematographie).

• Es konnte belegt werden, dass in den invers-dynamischen Analysen der dis-talen Extremitaten die Tragheitskrafte gegenuber den Gravitationskraftenmit Fehlern < 5% vernachlassigbar sind. Damit sind fur qualitativ bereitshochwertige Abschatzungen einfache graphische Verfahren einsetzbar.

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13 Dynamiksimulation des vierbeinigen Laufens von Saugetieren 223

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Page 243: Autonomes Laufen

14

Mechanische Modellbildung quadrupeder

Lokomotion

Manfred Hiller

Institut fur Mechatronik und Systemdynamik, Universitat Duisburg-EssenBearbeiter: Dipl.-Ing. Oliver Lenord

14.1 Zusammenfassung

14.1.1 Wesentliche Ergebnisse und erzielte Fortschritte

Im Rahmen des Projektes wurde ausgehend von dem Programmpaket M � �

� �

BILEzur objektorientierten Modellbildung von Mehrkorpersystemen [2], im weite-ren als MKS-Kern bezeichnet, ein Zusatzpaket MoLocomotionLib geschaffen,das speziell fur die mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion ent-wickelt wurde. Dieses Zusatzpaket setzt auf die bestehenden objektorientier-ten Strukturen, die in M � �

� �

BILE bereits angelegt sind und erweitert diese umspezielle Klassen, die sich sehr konkret an den Erfordernissen von Bewegungs-apparaten orientieren. Diese Grundelemente in Form von Gelenken, Verbin-dungen (Knochen) und Aktuatoren sind durch eine hohe interne Variabilitatgekennzeichnet, so dass es fur den Benutzer in einfacher Weise moglich ist seinModell den konkreten Erfordernissen anzupassen. Diese konfigurierbaren Ei-genschaften betreffen z. B. die Anzahl der Freiheitsgrade in den Gelenken, dieBerucksichtigung moglicher Arbeitsraumgrenzen durch Anschlage oder ver-schiedenartige Antriebsmodelle.

Diese Grundelemente finden sich in ubergeordneten großeren Korperteilenwie Rumpf, Schulter, Bein oder Fuß wieder. Diese Korperteile verfugen ihrer-seits uber eine variable interne Struktur, die fur unterschiedliche Spezies, z.B.Bisam, Ochotona invers oder Mammal, vordefiniert ist. Auf diese ubergeord-neten Korperteile wird zuruckgegriffen um gemaß einer festgelegten Topolgieeinen dynamischen Bewegungsapparat zu erzeugen. Von der zugehorigen Ba-sisklasse wurden zwei Klassen abgeleitet, welche der Topolgie eines Quadrupe-den bzw. eines Einzelbeins entsprechen. Die dynamischen Bewegungsapparatekonnen durch Signalein- und ausgange angesteuert bzw. uberwacht werden.Mit Hilfe eines Integrationsalgorithmus erfolgt dann die Simulation im Zeit-bereich. Fur die Anwendung komplexer Regelungskonzepte ist die Integrationdes dynamischen Modells in die modulare Reglerarchitektur MCA2 [5] moglichund wurde im Fall des BISAM Modells bereits angewendet.

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226 Manfred Hiller

Dieses generische Modell quadrupeder Bewegungsapparate stellt in seinervariablen Struktur ein leistungsfahiges Werkzeug dar um die Analyse undSynthese naturlicher und technischer Bewegungssysteme voranzutreiben. Umdie Einsatzmoglichkeiten aufzuzeigen und die Funktionsfahigkeit zu belegensind innerhalb des generischen Modells bereits drei Grundtypen implemen-tiert. Als Abbild eines technischen System wurde ein virtueller Prototyp dervierbeinigen Laufmaschine BISAM entwickelt, der mit der bestehenden ver-haltensbasierten Reglerarchitektur interagiert und angesteuert werden kann.Daruber hinaus wurde ein fur die invers dynamische Analyse geeignetes Mo-dell kleiner Sauger, am Beispiel des Pfeifhase implementiert, sowie des weitereein zur vorwartsdynamischen Bewegungsanalyse gedachtes vereinfachtes Mo-dell des Half-Bound.

14.1.2 Ausblick auf kunftige Arbeiten und mogliche Anwendungen

Das generische Modell stellt ein sehr variables Grundgerust dar das dem Be-nutzer erlaubt mit den bereits implementierten Modellen zu arbeiten, diese freizu parametrieren, innerhalb der vordefinierten Grenzen mit minimalem Auf-wand anzupassen oder die gegebene Struktur zu nutzen um eigene ganz neueGrundtypen zu implementieren bzw. neue Eigenschaften zu berucksichtigen.Aus den bereits implementierten Grundtypen und der zugehorigen In-Text-Dokumentation, ist dem mit der objektorientierten Programmierung vertrau-ten Benutzer schnell ersichtlich wie eine Erweiterung vorzunehmen ist.

Konkrete Anwendungen sind denkbar auf dem Gebiet der Entwicklung vonRegelungskonzepten, die mit Hilfe des virtuellen Prototypen getestet werdenkonnen. Daruber hinaus sind Parameterstudien der Laufmaschine moglich, dadas Modell der Maschine in ihren mechanischen und elektrischen Eigenschaf-ten frei parametrierbar ist. Das invers dynamische Modell kann fur weitereAnalysen von Quadrupeden genutzt werden, auch wenn hier die Anwendungnoch nicht so weit fortgeschritten ist wie im Fall des virtuellen Prototypen.Das vereinfachte Modell kleiner Saugetiere im Half-Bound bietet großes Po-tenzial um zu weiteren Erkenntnissen selbststabilisierender Eigenschaften na-turlicher Bewegungsapparate zu kommen. Das Modell bietet die MoglichkeitSchritt fur Schritt weitere Details zu berucksichtigen und bis hin zu einemsehr realistischen Modell zu gelangen, dass daruber hinaus direkt verwertbareInformationen fur eine technische Umsetzung liefert.

14.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

14.2.1 Ausgangslage

Zum Zeitpunkt der Antragstellung des Projektes befand sich das Schwer-punktprogramm

”Autonomes Laufen“ bereits im funften Forderungsjahr. Die

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14 Mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion 227

bis dahin gesammelten Erfahrungen insbesondere auf dem Gebiet der inge-nieurwissenschaftlichen Arbeiten zeigte, dass noch ein zusatzlicher Handlungs-bedarf besteht um die Erkenntnisse auf dem Gebiet der Biologie noch starkerbeim konstruktiven Entwurf und der Steuerung der Laufmaschinen zu beruck-sichtigen. So wurde angestrebt die bestehenden Kontakte zwischen dem For-schungszentrum Informatik in Karlsruhe (Prof. Dillmann) und dem Institutfur spezielle Zoologie an der Friedrich-Schiller-Universitat Jena (Prof. Fischer)durch ein Projekt zu erganzen, dass mit Hilfe der Methode der Modellbildungden Wissenstransfer zu neuen Einsichten bezuglich dynamischer Gangartengelangt und diese fur die konstruktive Umsetzung aufschließt. Auf Grundder fundierten Kenntnisse auf dem Gebiet der Modellbildung mechatronischerSysteme einschließlich der Erfahrungen beim Entwurf des Schreit-/ FahrwerksALDURO, wurde das Projekt

”Mechanische Modellbildung quadrupeder Lo-

komotion“ vom Lehrstuhl fur Mechatronik der Universitat Duisburg-Essen(Prof. Hiller) beantragt und bearbeitet.

Als Basis fur die folgenden Arbeiten galt es ein allgemeines generischesModell vierbeiniger Bewegungsapparate zu entwerfen, dass grundsatzlich so-wohl biologische als auch technische Systeme abbilden kann. Dieses objektori-entierte Modell setzt sich aus abstrakten Basisklassen zusammen von denenentsprechend der konkreten Anforderung weitere Klassen abgeleitet werdenkonnen, um schließlich Instanzen von Bewegungsapparaten zu erhalten, diefur weitergehende Untersuchungen und Berechnungen genutzt werden kon-nen.

Konkret galt es den bestehenden Prototypen BISAM moglichst realistischabzubilden und mit einer Schnittstelle zur verwendeten Reglerarchitektur zuversehen. Die Ansteuerung des virtuellen Prototypen sollte derjenigen des rea-len Versuchstragers BISAM gleichen, so dass in einfacher Weise verhaltens-basierte Regelungskonzepte am virtuellen Prototyp getestet und entwickeltwerden konnen und direkt auf die reale Maschine ubertragbar sind.

Des weiteren galt es parametrische Modelle der naturlichen Lokomotionkleiner Saugetiere von dem abstrakten Modell abzuleiten, die es ermoglichendie im Experiment ermittelten Daten hinsichtlich Geometrie, Massenvertei-lung und Gelenksteifigkeiten in die Modelle einfließen zu lassen. Diese Modelleunterschiedlicher Detaillierung dienen zum einen der Berechnung der inversenDynamik, zum anderen vorwarts dynamischer Simulationen unter definiertenRandbedingungen und Modelleigenschaften, zur Untersuchung der dynami-schen Stabilitat der naturlichen Lokomotion.

Basierend auf den an den Saugermodellen gewonnenen Kenntnissen uberdie konstruktiven Voraussetzungen dynamischer Gangarten sollte schließlichdie Neukonstruktion eines elastischen Einzelbeines fur die Laufmaschine BI-SAM durch ein entsprechendes Modell des Einzelbeins unterstutzt werden.

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228 Manfred Hiller

14.2.2 Durchgefuhrte Arbeiten

Entsprechend dem Arbeitsplan wurde zunachst eine allgemeine Modellstruk-tur entworfen, die als Grundlage fur das zu entwickelnde generische Modelldiente. Die Modellstruktur (Abb. 14.1) orientiert sich maßgeblich am Skelettder Saugetiere, weist jedoch auf Grund der geforderten Anwendbarkeit auchauf technische Bewegungssysteme einen relativ hohen Abstraktionsgrad auf.

Rotation

Tra

nsl

atio

n

Sch

ult

erg

ürt

el

Bec

ken

Bei

n

Bei

n

Rumpf

Bodenkontakt

Bei

n

Bei

n

Bodenkontakt

globale Referenz

lokale Referenz

Verbindung

Körperteil

Abb. 14.1. Struktur des abstrakten Vierbeinermodells

Basierend auf der dargestellten Modellstruktur wird ein Bewegungssystemerstellt, das den Benutzereingaben entsprechende Spezifikationen aufweist undderen geometrischen Eigenschaften in einer automatisch generierten Parame-terdatei individuell angepasst werden konnen. In Tabelle 14.1 sind die mog-lichen Spezifikationen aufgelistet, die bei der Initialisierung gesetzt werdenkonnen.

Es werden verschiedene Grundtypen unterschieden, die eine jeweils ver-gleichbare kinematische Struktur aufweisen. Innerhalb dieser gibt es je nachTyp unterschiedliche weitere Eigenschaften, der jeweils verwendeten Grun-delemente beziehen. Diese Grundelemente aus denen das Gesamtsystem je-weils zusammengesetzt wird sind von einer gemeinsamen Basisklasse abgelei-tet, die das grundsatzliche Verhalten und die Eigenschaften eines Korperteilsbeschreibt. Weitere Details sind in [3] ausgefuhrt. Die uberschaubare Anzahl

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14 Mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion 229

Tabelle 14.1. Spezifikationen des generischen Bewegungssystems

Grundtyp Beschreibung

BISAM Virtueller Prototyp der Laufmaschine BISAMMAMMAL INVERS Modell fur die Berechnung der inversen Dynamik

eines SaugersMAMMAL SIMPLE Vereinfachtes Modell der Vorwartsdynamik des

Half-BoundMAMMAL Saugermodell mit idealisierten Gelenken in 16

Freiheitsgraden

an Grundelementen ermoglicht es dem Benutzer in einfacher Weise ganz neueTypen von Bewegungssystemen zu kreieren und in das generische Modell zuintegrieren. Eine Auflistung der Grundelemente findet sich in Tabelle 14.2. Ei-ne eigene Programmbibliothek MoLocomotionLib als Erganzung zu dem Kernder M � �

� �

BILE-Software steht zur Verfugung und beinhaltet die dokumentiertenKlassen in Form von C++ Code.

Tabelle 14.2. Grundelemente des generischen Modells

Klassenbezeichnung Beschreibung

MoBone Starrkorper mit TragheitseigenschaftenMoSynovialJoint passives Gelenk mit bis zu drei rot. und/oder

transl. FreiheitsgradenMoMonoArticularActuator Auf ein Gelenk wirkender Antrieb, direkt oder

uber zwei KrafteinleitungspunkteMoFootGround Kontaktelement fur Punkt, zwei Punkte oder Ku-

gel mit jeweils ebenem Untergrund

Aus Tabelle 14.1 geht bereits hervor, dass konkrete Modelle der Lauf-maschine BISAM aus dem generischen Modell erzeugt werden konnen. EineInstanz dieses Modells wurde als sogenanntes Modul in die verhaltensbasier-te Regler Architektur der Laufmaschine BISAM eingebunden, die auf demSoftwarepaket MCA2 (Modular Controller Architecture) basiert. Die Vali-dierung des Modells hinsichtlich kinematischer und dynamischer Eigenschaf-ten hat nicht zuletzt auch wegen der raumlichen Trennung wesentlich mehrZeit in Anspruch genommen als erwartet. Ein weiteres unterschatztes Pro-blem war die Rechenintensitat des zunachst sehr detaillierten Modells derSpindelantriebe. Die in dieser Art der Anwendung neuartige Beschreibungdes herkommlich als kinematische Schleife beschriebenen Umlenkmechanis-mus mit Hilfe einer einfachen Bindung fuhrte schließlich zu einer drastischenReduktion des Rechenaufwandes auf etwa 30%. Hinzu kommt die Berucksich-tigung von Optimierungen im Zusammenhang der numerischen Aufstellung

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230 Manfred Hiller

der Bewegungsgleichungen, die zusatzlich eine Einsparung von etwa 50% desRechenaufwandes bewirkt haben.

Auf Grund des bis zur Fertigstellung des Modells der Laufmaschine BISAMbereits weit fortgeschrittenen konstruktiven Entwicklungsstandes wurde aufeine Modellbildung des elastischen Einzelbeines verzichtet.

Die Tauglichkeit der Modellstruktur zur Behandlung invers dynamischerBerechungen wurde exemplarisch fur einen Datensatz des rontgenkinemato-graphisch vermessenen Pfeifhasen gezeigt. Dazu wurde eine spezielle Topo-logie implementiert, die eine kinematische Reproduktion eines Bewegungszy-klus ermoglicht und unter Berucksichtigung zusatzlicher Messdaten der Kraft-messplatten fur die Berechnung der inversen Dynamik herangezogen werdenkann. Auf Grund des fehlenden Interesses an der Auswertung konkreter Da-tensatze und deren notwendigen Aufbereitung wurde keine vollstandige inversdynamische Analyse durchgefuhrt, sondern lediglich das Werkzeug zur Ver-fugung gestellt. Eine weitere Topologie wurde implementiert, die abgesehenvon Hand und Zehen alle echten Gelenke einer Saugerextremitat berucksich-tigt und zusatzlichen einen translatorischen Freiheitsgrad des Schulterblattessowie rotatorische Freiheitsgrade im Bereich der Lendenwirbelsaule und derHalswirbelsaule berucksichtigt. Dieses Modell steht exemplarisch fur biolo-gisch motivierte dynamische Modelle von Bewegungsapparaten und kann furentsprechende Untersuchungen angepasst und parametriert werden.

Abb. 14.2. Virtueller Prototyp BISAM im Free Gait (links); vereinfachtes parame-trisches Modell des Half-Bound am Beispiel des Pfeifhasen (rechts)

Ein Modell mit dem sich eine konkrete Anwendung auf die Analyse des so-genannten Half-Bound kleiner Saugetiere verbindet, ist das durch Federn undMassen abstrahierte Modell des Pfeifhasen. Die teleskopischen Beine verfugenuber elastische Eigenschaften mit nichtlinearer Kennlinie und besitzen jeweilseinen rotatorischen Freiheitsgrad gegenuber dem starren Zentralkorper. Mit-tels Phasenbeziehungen werden die Bewegungen der Beine vorgesteuert. DieParametrierung beruht auf den im Rahmen der Vermessung des Pfeifhasen

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14 Mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion 231

erhobenen Daten. Mit Hilfe der dynamischen Simulation ist nun moglich so-genannte Return-Maps [6] fur unterschiedliche Anfangsbedingungen und Pa-rametrierungen der Vorsteuerung bzw. der Beinsteifigkeiten zu erstellen unddaruber Ruckschlusse auf selbststabilisierende Eigenschaften zu gewinnen.

14.2.3 Erzielte Ergebnisse

Der aus dem generischen Modell erzeugte virtuelle Prototyp der LaufmaschineBISAM wurde hinsichtlich seiner kinematischen und dynamischen Eigenschaf-ten mit Messungen am realen System validiert. Dazu wurden die Antriebe desfrei hangenden Systems mit Spannungen von +/- 3, 6 und 12 Volt beauf-schlagt und die Motorwinkelverlaufe aufgezeichnet. Aus dem Vergleich derMessungen mit den Simulationsergebnissen des reibungsfreien Modells ließensich die Koeffizienten des Reibungsmodells mit geschwindigkeitsproportiona-lem und konstantem Anteil identifizieren. Die Berucksichtigung der Reibungfuhrt zu den in Tabelle 14.3 aufgefuhrten mittleren Abweichungen von 3 -9% des Motorwinkels bezogen auf den gesamten Arbeitsbereich des jeweiligenMotors. Wie aus Abb. 14.2 fur sechs Messreihen ersichtlich wird damit dasZeitverhalten der Antriebe im Rahmen der Messgenauigkeit und der schwerprognostizierbaren Reibkrafte recht gut wiedergegeben. Uberdurchschnittlichgroße Abweichungen bestehen teilweise jedoch bei kleinen Spannungen von3V, da hier der Anteil der Reibkrafte im Verhaltnis zu den Antriebskraftenbesonders schwer wiegt.

Tabelle 14.3. Mittlere Abweichungen der Motorwinkel bezogen auf den Arbeitsbe-reich

Fehler bei Motorspannung [%]

Gelenk -12V -6V -3V +3V +6V +12V Mittel [%]

α 5,65 9,25 19,67 3,09 3,95 2,39 7,33β 4,14 3,92 13,52 21,63 6,76 4,99 9,16γ 1,88 5,47 1,63 12,23 8,56 6,39 6,03δ 1,49 5,42 3,19 2,40 1,89 2,42 2,80σ 4,14 4,70 6,95 3,52 3,41 1,94 4,11π 1,74 3,68 10,25 13,47 3,06 0,78 5,50

Das die realen Verhaltnisse wiederspiegelnde Modell ist wie bereits er-wahnt in das verhaltenbasierte Regelungskonzept eingebunden, so dass mitHilfe des bereits realisierten freien Schrittmuster, dem sogenannten Free Gait,Schrittfolgen simuliert werden konnen.

Zur Analyse der naturlichen Lokomotion wurde ein vereinfachtes para-metrisches Modell entwickelt und gemaß der im Rahmen der kinematogra-phischen Untersuchungen am Pfeifhasen erhobenen Daten [8] parametriert.Gegenuber anderen ahnlich gearteten Untersuchungen in [4] liegt das Modell

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232 Manfred Hiller

0 0.5 1 1.5 2 2.5 30

100

200

300

400

φ [r

ad]

γ−Gelenk +/−6V

reibungsfreireibungsbehaftetMessung

0 0.5 1 1.5 2 2.5 30

100

200

300

φ [r

ad]

σ−Gelenk +/−6V

reibungsfreireibungsbehaftetMessung

0 0.5 1 1.5 2 2.5 30

100

200

300

400

Zeit [s]

φ [r

ad]

π−Gelenk +/−6V

reibungsfreireibungsbehaftetMessung

Abb. 14.3. Vergleich der Motorwinkelverlaufe von Messung und Simulation

wesentlich naher an den realen Verhaltnissen in Bezug auf Massenverteilung,Fuß-Boden Interaktion und Aktivierung der Beinbewegung. Neben der Mas-se des Zentralkorpers konnen die Drehtragheiten der Oberschenkel und Fußeberucksichtigt werden. Der Fuß-Boden-Kontakt ist als regularisiertes Punkt-Ebene Kontaktmodell realisiert und kann dadurch auch kontaktdynamischeEffekte, wie Kraftspitzen, Reibverhaltnisse und Plastizitat des Stoßes abbil-den, sofern erwunscht. Die rotatorische Bewegung der Vorder- und Hinterex-tremitaten im zylindrisch dargestellten Gelenk (s. Abb. 14.3 erfolgt mittelselastisch angekoppeltem Oszillator. Eine Studie der energetischen Verhaltnis-se von Vortrieb und dissipativen Elementen ist daher moglich. Die Kennlinieder teleskopischen Federn in den Beine kann wahlweise linear oder exponenti-ell gewahlt werden, neben zusatzlichen Dampfungseigenschaften. Das Systemkann dynamisch simuliert werden unter Variation der Anfangsbedingungenund samtlicher Parameter.

14.2.4 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Der aktuelle Stand in Bezug auf die Bewegungssteuerung fur BISAM ist so,dass mit dem Free Gait als Teil des verhaltenbasierten Regelungskonzeptes,

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14 Mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion 233

eine funktionsfahige Steuerung existiert, die einen statisch stabilen Gang inunebenem Gelande ermoglicht. Daruber hinaus bestehen bereits implementier-te Konzepte fur die Realisierung dynamischer Gangarten, die jedoch schwierigzu testen sind, da sie den realen Prototypen mechanisch enorm belasten undzum anderen ein erhohtes Risiko hinsichtlich der Stabilitat mit sich bringen,die einen zu vermeidenden Sturz des Roboters zur Folge haben konnten. Dervirtuelle Prototyp weist in dieser Hinsicht den Vorteil auf, das mechanischeBeanspruchungen keine Abnutzung oder Schadigung des Systems bewirkenund daher die Grenzen der Stabilitat bedenkenlos ausgetestet werden konnen.Zu dem konnen neben den am realen System sensorisch erfassten Systemgro-ßen alle weiteren physikalischen Systemgroßen in einfacher Weise abgegriffenwerden, ohne sich vorab mit den dazu erforderlichen Sensorik auseinandersetzen zu mussen. Ein weiterer Vorteil besteht in der wesentlich hoheren Re-produzierbarkeit der Experimente, als Voraussetzung fur eine systematischeOptimierung. Die Anwendung von numerischen Optimierungsverfahren undLernstrategien eroffnet an dieser Stelle ein weites Feld, um uber die Formu-lierung von Gutekriterien automatisiert zu optimierten Einstellungen fur di-verse Regler- und/oder Systemparameter zu kommen. Die Tatsache, dass dasRechnermodell unbeaufsichtigt bleiben kann wiegt den Nachteil der langerenRechenzeit gegenuber der Echtzeit auf. Dies erfordert allerdings eine geeig-nete Ausnahmebehandlung innerhalb des Rechnermodells, um bei numerischbedingtem Abbruch des Experimentes dennoch zu einer Bewertung und zurFortsetzung des Optimierungsalgorithmus zu gelangen.

Erste Voraussetzungen fur ein derartiges Vorgehen wurden bereits geschaf-fen. Der verwendete MKS-Kern M � �

� �

BILE, auf dem das generische Modell in-nerhalb des Zusatzpaketes MoLocomotionLib basiert, wurde bereits um einZusatzpaket MoOptimize erweitert, das neben gangigen Gradientenverfahrenseit neuestem auch einen Algorithmus zur Anwendung evolutionarer Strategi-en beinhaltet. Letztere eigenen sich insbesondere fur einen vieldimensionalenSuchraum mit mehreren lokalen Minima.

Handlungsbedarf auf dem Gebiet der Modellbildung besteht in Bezug aufdas Umgebungsmodell. Bisher erfolgt die Interaktion mit dem Untergrunduber Kontaktmodelle die lediglich die Falle Punkt-Ebene bzw. Kugel-Ebeneabdecken. Erweiterungen der bestehenden Ansatze fur Punkt- und Kugel-kontakte mit freien geschlossenen Oberflachen beschrieben durch Splines sinddenkbar und im Realisierungsaufwand uberschaubar.

Die Anwendung des generischen Modells auf neue zu entwerfender Ma-schinen stellt ein weitere Anwendungsfeld dar. Die Objektorientierte Kon-zeption ermoglicht in einfacher Weise die Veranderung bestehender Modellebzw. die Erweiterung um zusatzliche Kinematiken und Antriebe. In Bezugauf neue Ansatze unter Berucksichtigung elastischer Elemente innerhalb derKonstruktion stehen bereits einige passive Elemente zur Verfugung. Die Be-rucksichtigung neuer Antriebskonzepte wie das der pneumatischen Muskel,die ein ausgepragt nichtlineares Verhalten aufweisen, wurde eine eingehen-de Untersuchung der physikalischen Zusammenhange erfordern, um zu einem

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234 Manfred Hiller

validierten Zustandsmodell zu gelangen. Zusammen mit dem erforderlichenModell des pneumatischen Schaltkreises ware damit ein erheblicher Aufwandverbunden. Unter diesen Voraussetzungen ware zu uberprufen inwiefern ei-ne Approximation durch Kennlinien in Abhangigkeit von mechanischen undpneumatischen Großen sowohl was den Modellbildungsaufwand als auch denRechnezeitaufwand betreffend zielfuhrender ware.

Neben diesen auf eine technische Anwendung zielenden Arbeiten sind auchauf Seiten der Anwendung als Analysetool biologischer Systeme Erweiterun-gen denkbar und sinnvoll. Mit Hinblick auf die Auswertung rontgenkinema-tographischer Daten im Rahmen einer invers dynamischen Rechnung wareinsbesondere das Preprozessing zu verbessern. Es existieren zwar Programme,die eine Umrechnung von Punkten in Gelenkwinkel ermoglichen und gleich-zeitig Mittelwerte fur die Knochenlangen bestimmen, jedoch ware eine engereKoppelung an das bestehende System zur Digitalisierung der Rontgenaufnah-men sicherlich sinnvoll. Eine Berucksichtigung statistischer Fehler, sowie dieGlattung des ermittelten Gelenkwinkelverlaufs und dessen zeitlicher Ablei-tungen sollte moglichst automatisiert unter Verwendung spezieller Methodenerfolgen. Gleiches gilt fur Fußkraftmessungen, die in geeigneter Weise mit denGelenkwinkelverlaufen zu Synchronisieren sind.

In Bezug auf die Analyse und Synthese selbststabilisierender Mechanismenbei der Lokomotion von Vierbeinern ware von Interesse ein ereignisgesteuer-tes Bewegungsschema an Stelle des zeitlich festgelegten Zyklus zu implemen-tieren. Dies wurde realen Verhaltnissen naher kommen. Die Retraktion dervorderen Gliedmaßen konnte mit dem Erreichen des Apex gekoppelt werden,da dies die Selbststabilisierung fordert [7]. Die Gegenbewegung innerhalb derSchwingphase wurde nach dem Abfußen erfolgen. Die Infrastruktur fur dieBehandlung von Ereignissen ist bereits im Rahmen der Implementierung derKontaktelemente geschaffen worden.

Die innerhalb dieser Analyse gewonnenen Erkenntnisse konnten schließ-lich in ein umfassendes Regelungskonzept einfließen, dass seinerseits an einemModell getestet werden kann. Dieses Modell kann schließlich die konstrukti-ven Kriterien fur einen neuen Bein- bzw. Laufmaschinenentwurf liefern. Diesumfasst neben den in den Gelenken erforderlichen Arbeitsraumen, die zu rea-lisierenden Beinsteifigkeiten und der dazu erforderlichen dynamischen Eigen-schaften der Antriebe. Weiterhin konne bereits erste Erkenntnisse uber die zuerwartenden mechanischen Beanspruchungen gewonnen werden, die fur eineleichte, aber ausreichend robuste Konstruktion von entscheidender Bedeutungsind.

14.2.5 Interdisziplinare Weiterentwicklung

Die in den bisherigen und zukunftigen Arbeiten durchgangige gleichwertigeBetrachtung biologischer als auch technischer Aspekte der vierbeinigen Loko-motion, macht den mit dem generischen Modell verfolgten interdisziplinarenAnsatz deutlich. Die Arbeiten anderer Autoren zeigen, dass die Modellbildung

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14 Mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion 235

sehr hilfreich ist, um mit Hilfe einfacher, in der Regel konservativer Feder-Masse Systeme, zu sehr grundlegenden Erkenntnissen der Stabilitat naturli-cher Bewegungsvorgange zu kommen. Die Einfachheit der Modelle begrundetsich darin, dass die Uberschaubarkeit der Variablen als notwendige Voraus-setzung fur die Beherrschung des Systems und damit fur den gesicherten Ge-winn an Erkenntnissen angesehen wird. Diese grundsatzliche Uberlegung giltauch in Bezug auf die Realisierung von Laufmaschinen, die nicht selten mitder Beherrschung ihrer vielen Freiheitsgrade so beschaftigt sind, dass wenigKapazitat fur die Losung der eigentlichen Aufgabe ubrig bleibt. Bei der Be-obachtung eines naturlichen Bewegungsapparates wird man stets feststellen,dass die jeweils betrachteten Tiere naturlich von allen moglich Gelenken Ge-brauch machen, damit ist aber noch nicht der Beweis erbracht, dass dies sosein muss, denn je nach Anwendung kann ein linear elastisches, teleskopischesBein wesentlich zielfuhrender sein als ein dreisegmentiges mit nichtlinearenDrehfedern. Daher ist eine Abstraktion des Problems im Rahmen einer Mo-dellbildung sowohl vor biologischem als technischem Hintergrund sinnvoll.

Ausgehend von den in Bezug auf notwendige Randbedingungen der Selbst-stabilisierung gewonnen Kenntnissen anhand abstrakter Modelle, lasst sich je-doch in zweierlei Hinsicht festhalten, dass diese sehr weit von realen Verhalt-nissen entfernt sind und damit die Allgemeingultigkeit mancher abgeleitetenThese, sowie die Ubertragbarkeit auf technische System fraglich bleibt. Zumeinen betrifft dies die in der Realitat stets auszugleichende Dissipation, zumanderen die i. A. als im Schwerpunkt konzentriert angenommene Masse. DieMasse der unteren Gliedmaßen kleiner Saugetiere sind mit 3% des Gesamtge-wichts [8] tatsachlich vernachlassigbar klein, was in einem technischen Systemjedoch kaum zu realisieren sein wird. Daruber hinaus legt die fur Saugetiere ge-radezu charakteristische Bewegung im Bereich der unteren Wirbelsaule einenZusammenhang zwischen Schwerpunktslage und Wirbelsaulenkrummung na-he, die durch ein einfaches Feder-Masse Modelle nicht abgebildet werden kann.

Das entwickelte generische Modell quadrupeder Lokomotion, welches einedem Anwendungsfall angepasste Komplexitat vom abstrakten Modell mit reinpassiven Federbeinen bis hin zum komplexen virtuellen Prototypen erlaubt,stellt damit einen wichtig Beitrag zur Erschließung weiterer Erkenntnisse imHinblick auf die naturliche Lokomotion und eine technische Umsetzung. Dasses grundsatzlich moglich ist, auch mit Modellen hoherer Komplexitat zu greif-baren Ergebnissen zu kommen, zeigen die Arbeiten von [1], die sich mit derModellbildung der Katze beschaftigen. Als Beispiel dafur wie das entwickel-te generische Modell diese Mittlerrolle erfullen kann, sei auf das vereinfachteModell des Half-Bound verwiesen, dass durch die Parametrierung sehr naheam biologischen System des Pfeifhasen ist und gleichzeitig durch eine Erweite-rung um ein Antriebsmodell mit zugehoriger Ansteuerung sehr leicht zu einemvirtuellen Prototypen einer Laufmaschine im Stil des Vierbeiners Scout II [4]umgeformt werden kann.

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236 Manfred Hiller

14.2.6 Anwendung

Konkrete Anwendungsmoglichkeiten des generischen Modells und der enthal-tenen Modellvarianten bestehen dort, wo die bereits erlauterten Moglichkeitenzu Forschungszwecken genutzt werden konnen.

Auf dem Gebiet der ingenieurmaßigen Anwendung steht ein voll funktions-fahiger virtueller Prototyp der Laufmaschine BISAM zur Verfugung, der sichals Testumgebung fur die verhaltensbasierte Steuerung eignet. Voraussetzungist allerdings die Fortsetzung entsprechender Forschungsprojekte.

Hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Forschung sind nach wie vor Be-rechnungen der inversen Dynamik naturlicher Bewegungen Bestandteil aktu-eller Forschungsvorhaben. Fur die Erfassung und Digitalisierung von Bewe-gungen stehen mit Motion Capture Systemen wie QualisysTM leistungsfahigeProdukte zur Verfugung, die den Forscher bei der Datenerfassung und Auf-bereitung unterstutzen. Die Auswertung der inversen Dynamik geht jedochuber den Leistungsumfang dieser Pakete hinaus, so dass in der Regel eigeneRechnerprogramme genutzt werden. Aktuelle Arbeiten haben zum Ziel, denReptiliengang des Chamaleon zu analysieren. Die Besonderheit des sich in derRegel auch auf Asten fortbewegenden Reptils ist die zangenformige Auspra-gung der Klauen. Zwischen dem dritten und vierten Strahl der Klauen wirdder Ast fest umschlossen. Die Fußpunkte liegen damit zwangslaufiger Weiseauf einer Linie was fur den Spreizgang der Reptilien untypisch ist. Von Interes-se ist ob die durch die Umklammerung mogliche Ubertragung von Momentenim Fußpunkt zu gleichen Nettogelenkmomenten fuhrt, wie dies von terrestri-schen Reptilien bekannt ist. Die Berechnung der inversen Dynamik gestaltetsich insofern anders als das neben den Fußkraften auch Momente zu beruck-sichtigen sind. Fur das im generischen Modell verankerte invers dynamischeModell stellt dies keine zusatzliche Anforderung dar, da die internen Zustand-sobjekte ohnehin auf raumlichen Koordinaten in Rotation und Translationbasieren. Nach ggf. erforderlicher Anpassung des Modells des invers dynami-schen Pfeifhasen auf die kinematischen Verhaltnisse des Chamaleons, ist esalso grundsatzlich direkt anwendbar. Eine Anbindung oder Integration in einMotion Capture System stellt somit eine interessante Erweiterung dar.

Literaturverzeichnis

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Page 256: Autonomes Laufen

14 Mechanische Modellbildung quadrupeder Lokomotion 237

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Teil IV

Sechsbeiniges Gehen

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15

Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung

bei Einzelbeinbewegungen von Insekten

Ansgar Buschges

Lehrstuhl II/Tierphysiologie, Zoologisches Institut, Universitat zu KolnBearbeiter: Dipl. Biol.: A.Borgmann, T. Akay, J. Gabriel, D. HessCand. Biol.: M. Blumel

15.1 Zusammenfassung

15.1.1 Allgemeinverstandliche Darstellung der wesentlichenErgebnisse

Die Fortbewegungsform”Laufen“ resultiert aus der koordinierten Bewegung

mehrerer, in der Regel mehrgelenkiger Extremitaten. Die Anzahl der Extremi-taten reicht von ca. 350 bei Tausendfußern, mehreren Zehn bei Hundertfußern,acht bei Krustazeen, sechs bei Insekten, bis zu vier, bzw. zwei Beinen bei Sau-getieren. Obwohl uber die neuronale Kontrolle motoneuronaler Aktivitat zurFortbewegung viele Detailergebnisse von unterschiedlichen Systemen vorlie-gen, waren die neuronalen Grundlagen der Generierung koordinierter Aktivi-tat in den Motoneurongruppen mehrgelenkiger Extremitaten zu Beginn desProjekts weitgehend unbekannt.

In dem vorliegenden Projekt des Schwerpunkts wurde zwei Fragen nach-gegangen:

1. Wie wird die motoneuronale Aktivitat im Laufzyklus erzeugt, d.h. welchesynaptischen Eingange auf die Motoneurone und welche intrinsischen Ei-genschaften der Motoneurone tragen zur rhythmischen Aktivitat im Lauf-zyklus bei?

2. Welche sensorischen Signale tragen zur Koordination der Aktivitat vonMotoneuronen der Muskeln zur Bewegung der drei Hauptbeingelenke bei?

Wir konnten zeigen, dass die rhythmische Aktivitat in den Beinmotoneuro-nen beim Laufen auf einer tonischen Depolarisation der Motoneurone, begin-nend mit dem Start einer Laufsequenz, mit darauf aufgesetzter alternierendersynaptischer Erregung und Hemmung beruht. Die im Schrittzyklus zeitlichgestaffelte Aktivierung der langsamen, mittelschnellen und schnellen Moto-neurone - schnelle Motoneurone werden, wenn uberhaupt erst zur Mitte derStemmphase hin uberschwellig aktiviert - ist offensichtlich nicht das Resultatim Laufzyklus unterschiedlich auftretender synaptischer Eingange, denn die

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242 Ansgar Buschges

Membranpotentialmodulation in den verschiedenen Motoneuronen ist im zeit-lichen Verlauf, wie auch in der Amplitude sehr ahnlich. Die unterschiedlicheAktivierung lasst sich vielmehr mit signifikanten Unterschieden im Ruhemem-branpotential der Neurone begrunden. Schnelle Motoneurone verfugen in derRegel um ein etwa 12 mV negativeres Ruhemembranpotential als langsameMotoneurone. Belastungsabhangige Rekrutierungen oder Aktivitatsanderun-gen von schnellen, mittelschnellen und langsamen Motoneuronen waren im-mer simultan und etwa gleich stark. Man muss deshalb annehmen, dass inden meisten Laufsituationen ein pramotorisches Netzwerk die verschiedenenBeinmotoneurontypen gemeinsam ansteuert.

Wie wird die Aktivitat der Beinmotoneurone einzelner Gelenke eines Beinsuntereinander koordiniert? Hinweise auf einen wesentlichen Beitrag sensori-scher Signale an der zeitlichen Strukturierung motoneuronaler Aktivitat wa-ren schon fruher fur einzelne Gelenke beschrieben worden. Welche sensorischenSignale fur die Koordination der Aktivitat der Beinmotoneurone der verschie-denen Gelenke genutzt werden, also ob Bewegungs- oder Belastungssignalehier eine Rolle spielen, und in welcher Form diese vermittelt werden und uberwelche neuronalen Bahnen, war unbekannt.

Es wurde daher zunachst der Einfluss von verschiedenen belastungs- undbewegungsmessenden Sinnesorganen des Mittelbeins der Stabheuschrecke aufdie Aktivitat der Motoneurone der drei Haupt-Beingelenke dieses Beins unter-sucht. Im ersten Antragszeitraum stand der Einfluss von Bewegungssignalenvom Kniegelenk, d.h. vom Femur-Tibia Gelenk auf die Nachbargelenke imVordergrund, im zweiten und dritten Antragszeitraum wurde die Fragestel-lung auf Bewegungssignale vom Thorax-Coxa- und Coxa-Trochanter-Gelenkund auf Belastungssignale vom Bein erweitert. Der Einfluss der Signale derverantwortlichen Sinnesorgane auf die Aktivitat der einzelnen Motoneuron-pools der drei Hauptbeingelenke wurde zum einen durch Ausschaltversuche,zum anderen durch spezifische mechanische Stimulation dieser Sinnesorganeim ruhenden und aktiven Versuchstier bei gleichzeitiger extra- und intrazellu-larer Untersuchung der involvierten Informationswege studiert.

Folgende wesentliche Ergebnisse wurden erzielt:

1. Bewegungs- und Belastungssignale konnen direkt die Aktivitatsphase vonEinzelgelenknetzwerken determinieren und tragen dadurch zur Koordina-tion der Aktivitat der Muskelgruppen benachbarter Gelenke bei.

2. Die Wirkungen der dargestellten Einflusse sind richtungsspezifisch. Sokann ein Strecken der Tibia das Umschalten auf Depressoraktivitat imNetzwerk des Coxa-Trochanter-Gelenks induzieren, ein Beugen der Tibiadas Umschalten auf Levatoraktivitat.

3. Die sensorischen Einflusse zwischen Gelenken sind nicht symmetrisch furdie einzelnen Bewegungsparameter. So haben Bewegungs- und Positi-onssignale vom Femur-Tibia-Gelenk Einfluss auf das benachbarte Coxa-Trochanter Gelenk, aber nicht auf das Thorax-Coxa-Gelenk und nicht um-

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15 Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung bei Insekten 243

gekehrt. Alle Ergebnisse sind mit Referenzen aus Arbeiten zum Antrag inTabelle 1 aufgelistet.

4. Die heute bekannten Einflusse sind hinreichend zur Erklarung der Um-schaltvorgange motoneuronaler Aktivitat, wie sie beim Vorwartslaufen desMittelbeins auf ebenem Untergrund gefunden werden. Dies wurde mittelseiner 3D-dynamischen Simulation verifiziert.

5. Es wurden die senso-motorischen Informationswege von Belastungssigna-len, die die Aktivitat der tibialen Motoneurone kontrollieren identifiziertund analysiert.

Eine genaue Darstellung und funktionelle Einordnung der Ergebnisse findetsich in den folgenden Abschnitten.

15.1.2 Ausblick auf zukunftige Arbeiten und Beschreibungmoglicher Anwendungen

Nach Abschluss der Versuche stehen nun insbesondere vier Fragen im Vorder-grund, deren Beantwortung zur Aufklarung der neuronalen Mechanismen derLaufmustererzeugung fur ein 6-beiniges Tier wesentlich sind:

1. Wie tragen sensorische Signale zur Anpassung der Aktivitatsstarke derMotoneuronpools der Einzelgelenke zur Erzeugung des Laufmusters bei?

2. Sind die Prinzipien der Laufmustererzeugung segmentspezifisch? Die dreiBeinpaare eines laufenden Insekts erfullen unterschiedliche Funktionenund zeigen, entsprechend ihrer Stellung entlang des Korpers und in Ab-hangigkeit von ihrer Morphologie, sehr stark voneinander abweichendeKinematik bei der Erzeugung von Laufbewegungen.

3. Welche neuronalen Signale werden zur Koordination der Einzelbeingenera-toren verwandt, um die maßgeblich von Cruse und Mitarbeitern (Univer-sitat Bielefeld) auf der Verhaltensebene dargestellten Koordinationsregelnzu erzeugen?

4. Wie werden die gefundenen Interaktionen fur die Erzeugung adaptiverLaufmuster, wie zum Beispiel beim Kurvenlauf, oder fur das Laufen uberunebenen Untergrund modifiziert?

Fur den erzielten Kenntnisstand kann wegen seiner Komplexitat nichtmehr durch das Erstellen von Interaktionsschemata die Frage getestet werden,ob er zur Erklarung der Vorgange bei der Laufmusterzeugung hinreichend istund welche zusatzlichen Informationen benotigt werden. Daher wurde in derEndphase des Projekts mit einer Arbeitsgruppe kooperiert, die in der Lageist, komplexe dynamische Simulationen durchzufuhren, auf Basis derer die ge-wonnen Ergebnisse bezuglich ihres Erklarungswertes gepruft werden konnten.Dies geschah in Zusammenarbeit mit dem Labor von Prof. Dr. Orjan Ekeberg,KTH Stockholm. Zunachst wurde eine einfache 3D-dynamische Simulationdes Laufsystems der Stabheuschrecke entwickelt, die von einem

”neuronalen

Controller“ kontrolliert wird, in den die identifizierten Mechanismen der Lauf-mustererzeugung implementiert wurden.

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244 Ansgar Buschges

Die Ergebnisse zur neuronalen Kontrolle der Einzelbeinlaufbewegung kon-nen fur die Entwicklung einer biologiebasierten Konstruktion von

”Control-

lern“ fur Laufmaschinen genutzt werden. Dies gilt insbesondere, als dass zu-kunftige Projekte sich mit der Erzeugung adaptiver Bewegungsmuster, wieder Erzeugung unterschiedlicher Laufrichtungen, Kurvenlauf, oder das Lau-fen uber unebenen Untergrund befassen sollen.

15.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

15.2.1 Ausgangslage

Untersuchungen zur neuronalen Basis der Erzeugung und Steuerung von Lauf-bewegungen werden seit langer Zeit an Vertebraten (vor allem an Katzen undMenschen) und an Invertebraten (vor allem an decapoden Krebsen, Schaben,Wander- und Stabheuschrecken) durchgefuhrt. Die bisher vorliegenden Er-gebnisse weisen darauf hin, dass die Prinzipien der Laufmustererzeugung undSteuerung bei allen untersuchten Tieren auf dem bis jetzt erreichten Analy-seniveau sehr ahnlich sind, z. B. [28, 29]. Neuere Arbeiten an Laufsystemenvon Katze, Ratte, Krebs und Mensch haben weiter die breite Vergleichbarkeitder neuronalen Mechanismen offen gelegt, die zur Erzeugung von Laufbewe-gungen selbst in phylogenetisch weit auseinander angesiedelten Organismen(”Modellsystemen“) eingesetzt werden. Verglichen mit anderen Organismen,

ist das Verstandnis der Erzeugung von Laufbewegungen bei Stabheuschreckensehr weit fortgeschritten. Fur das Laufsystem der Stabheuschrecke sind nichtnur die Funktion und Rolle peripherer und zentraler neuronaler Komponentender Laufmustererzeugung untersucht und beschrieben worden [6,16], sondernes sind heute auch sehr detaillierte Informationen uber identifizierte Neuroneder beteiligten neuronalen Netzwerke verfugbar, Motoneurone, wie Interneu-rone (Zusammenfassungen in [6,13]). Weitgehend unklar war jedoch, wie daskoordinierte Aktivitatsmuster einer einzelnen mehrgelenkigen Laufextremitaterzeugt wird. Das beantragte Projekt sollte insbesondere der Frage nachge-hen, welche Rolle propriozeptive Signale fur die Koordination der Aktivitatder verschiedenen Motoneuronpools der mehrgelenkigen Insektenlaufextremi-tat spielen.

Zu Beginn des Projektzeitraums war bekannt, dass die Aktivitat ein-zelner Motoneurongruppen eines Beines, z.B. der Motoneurone des Femur-Tibia-Gelenks durch die Interaktion zentraler neuronaler Netzwerke mit sen-sorischen Signale generiert wird (Ubersicht in [12, 28]). Untersuchungen anrhythmisch aktiven, deafferentierten Praparaten hatten daruber hinaus ge-zeigt, dass im segmentalen Zentralnervensystem der Stabheuschrecke zentraleneuronale Rhythmusgeneratoren fur jedes der drei Hauptgelenke eines Beinesvorliegen (Abb. 15.1A; [7, 14]). Diese neuronalen Rhythmusgeneratoren ah-neln in ihrer Funktion bistabilen Systemen, d.h. sie konnen bei Aktivierungalternierende Aktivitat in den antagonistischen Motoneurongruppen eines Ge-lenks erzeugen. Fruhere Ergebnisse von Bassler [4, 5] wiesen darauf hin, dass

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15 Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung bei Insekten 245

die Aktivitat dieser Einzelgelenk-Netzwerke durch weitere zentrale, vor al-lem aber sensorische (periphere) Elemente in Form von, in Abhangigkeit vomVerhaltenszustand und dem motorischen Programm gebildeten, funktionel-len Modulen koordiniert wird [5]. Diese Erkenntnisse zum modularen Aufbaudes Laufsystems der Stabheuschrecke zeigen Parallelen zu Befunden an ande-ren Vertebraten- und Invertebratensystemen [8]. Die ursprungliche Idee einesmodularen Aufbaus von Laufsystemen stammte dabei von Grillner und Mit-arbeitern [22,31].

Untersuchungen zu neuronalen Mechanismen einzelner dieser Module hat-ten sich weitgehend auf die Einzelgelenkkontrolle konzentriert, wie zum Bei-spiel auf die Reflexumkehr in den Motoneuronen des Femur-Tibia-Gelenks,dem funktionellen Kniegelenk des Heuschreckenbeins, die sogenannte

”Akti-

ve Reaktion“ [3, 4]. Neben einzelnen Ergebnissen zur Topologie neuronalerInformationswege zwischen Sinnesorganen einzelner Beingelenke und den Mo-toneuronen benachbarter Gelenke, z. B. [10, 23, 27] stand bisher also weitge-hend die Mechanismen zur Kontrolle des Einzelgelenkes im Vordergrund. Dievorliegenden Daten ließen keine Erklarung der bei aktiven Beinbewegungenbeobachteten Kopplungen der motoneuronalen Aktivitaten der verschiedenenBeingelenke zu.

Sensorische Signale konnen die Erzeugung motoneuronaler Aktivitat prin-zipiell auf zwei Arten beeinflussen (siehe hierzu [12,29], siehe hierzu auch Abb.15.5): (i) Sensorische Signale konnen, vermittelt durch parallele mono- wie po-lysynaptische Informationswege zwischen Sinnesorganafferenzen und Beinmo-toneuronen, die Starke motoneuronaler Aktivitat modulieren (Abb. 15.1 C),wobei fur ein gegebenes Gelenk ein solcher Einfluss fur die antagonistischenMotoneurongruppen gegenlaufig sein kann. (ii) Sensorische Signale konnendurch direkte Wirkung auf die segmentalen, zentralen neuronalen rhythmus-generierenden Netzwerke deren Aktivitat zwischen zwei Zustanden hin- undherschalten, also Einfluss auf den Status der Netzwerke, bzw. das

”Timing“

motoneuronaler Aktivitat nehmen (Abb. 15.1 B). Uber diese grundsatzlichenEinsichten hinaus war jedoch nicht bekannt, wie und welche sensorischen Si-gnale im einzelnen und mittels welcher Wirkung diese zur Erzeugung des koor-dinierten Aktivitatsmusters der mehrgelenkigen Stabheuschreckenextremitatbeitragen konnen. Dieser Frage sollte sich unter anderem das beantragte Pro-jekt im SPP widmen.

15.3 Darstellung des Vorhabens und der erzielten

Ergebnisse

Im Rahmen des Projekts wurde am Beispiel der Stabheuschrecke untersucht,wie die Aktivitat der Motoneurone einer mehrgelenkigen Laufextremitat ge-neriert wird. Es wurde insbesondere untersucht,

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246 Ansgar Buschges

Abb. 15.1. Schematische Darstellung zentraler und peripherer Elemente des Lauf-systems der Stabheuschrecke. A Darstellung der bistabilen Netzwerke, die die dreiHauptbeingelenke des Mittelbeins kontrollieren. Diese Netzwerke sind, da ihre To-pologie unbekannt ist, vereinfacht als bistabile Netzwerke zweier Neurone mit re-ziproker Interaktion angenommen und dargestellt. Motoneurone und Muskeln sindzusammengefasst und als Rechtecke dargestellt. Untereinander scheinen die Netz-werke nur uber sehr schwache zentrale Kopplungen zu verfugen (gestrichelte Lini-en). B Darstellung zur Verdeutlichung, wie Signale von Sinnesorganen (SO) direktEinfluss auf die Aktivitatsphase eines zentralen rhythmus-generierenden Netzwerkseines Einzelgelenks haben konnen. Aktive Elemente sind ausgefullt gezeichnet, inak-tive Elemente offen. C Darstellung zur Beschreibung der Wirkung eines sensorischenEinflusses auf motoneuronale Aktivitat, welche nicht die Aktivitatsphase, sonderndie Starke der Aktivitat kontrolliert (aus [18]).

1. durch welche synaptischen Eingange Motoneurone fur die Erzeugung vonLaufbewegungen rekrutiert werden und ob intrinsische Eigenschaften dazubeitragen,

2. welche sensorischen Signale einen Beitrag zur Koordination der motoneu-ronalen Aktivitat der Hauptbeingelenke leisten und

3. durch welchen der beiden oben beschriebenen Einflusse diese Wirkungvermittelt wird.

Die Aktivitatskontrolle der Motoneurone wahrend Laufbewegungen wur-de am Einbeinpraparat des Mittelbeins untersucht, d.h. in einer Praparation,in der das Versuchstier mit einem einzelnen Mittelbein, unter weitgehendemAusschluss koordinierender Signale von den Nachbarsegmenten, Laufbewegun-gen ausfuhrt. Diese Praparation wurde ursprunglich von Bassler [5] fur dasVorderbein entwickelt und von uns fur die anderen Beine, zunachst fur dasMittelbein, adaptiert [19]. Dazu gehorte auch die Weiterentwicklung zu einem

”aktiven Laufband“, mit dem definiert die zur Bewegung aufzuwendende Kraft

des Versuchstiers variiert werden konnte ( [21]; Abb. 15.2).Wir konnten am Beispiel der Flexor tibiae Motoneurone, die maßgeblich an

der Erzeugung der Stemmphase des Laufbeins beteiligt sind, zeigen, dass dierhythmische Aktivierung durch alternierende, erregende und hemmende syn-

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15 Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung bei Insekten 247

Abb. 15.2. Schematische Darstellung des aktiven Laufbands zur Untersuchung vonSchreitbewegungen bei der Stabheuschrecke (aus [21]).

aptische Eingange auf die Motoneurone erzeugt wird ( [30]; Abb. 15.3). Diesgilt fur alle Typen der Motoneurone: schnelle (fast), semi-schnelle (semi-fast),wie auch langsame (slow) Motoneurone. Beide Gruppen von Motoneuronenwerden zu typischen, sehr unterschiedlichen Phasen des Laufzyklus aktiviert( [21]; Abb. 15.4 B). Abweichend von fruheren Annahmen zeigen unsere Da-ten, dass schnelle (fast) und langsame (slow) Motoneurone im Schrittzykluszeitlich sehr ahnlich strukturierte synaptische Eingange erhalten, wobei, beigleichem Schwellenwert zur Aktionspotentialserzeugung, das Ruhemembran-potential (RMP) den Zeitpunkt der Aktivierung determiniert (RMP fast: -64.6+/-6.5mV; RMP slow: 52.9+/-5.4mV). Dies fuhrt in den schnellen Moto-neuronen zur spateren Aktivierung wahrend der Stemmphase. Schnelle Moto-neurone werden bei gleichem Belastungsniveau bei etwa 50% der Stemmphaseaktiviert, wahrend langsame Motoneurone schon mit dem Beginn der Stemm-phase aktiv sind. Hinweise fur einen Beitrag anderer intrinsischer, also zellula-rer Eigenschaften der Motoneurone konnte nur in einzelnen schnellen Flexor-Motoneuronen gefunden werden, die einen hyperpolarisations-aktivierten Ein-wartsstrom, einen so genannten

”sag-Strom“ erzeugen konnen. Anderungen

der Belastung beim Laufen wirken sich auf alle Gruppen der Motoneuronegleichermaßen aus, d.h., dass zum Beispiel bei erhohtem Kraftaufwand sowohl

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langsame, wie schnelle Motoneurone gleichermaßen starker aktiviert werden(Abb. 15.4C).

Abb. 15.3. Schematische Darstellung der Mechanismen der Aktivitatskontrolle inFlexor tibiae Motoneuronen im Laufzyklus bei der Stabheuschrecke. Das Membran-potential der Motoneurone wird, auf einer tonischen Depolarisation fußend, durchalternierende, erregende und hemmende synaptische Eingange moduliert, welche ei-ne rhythmische Aktivierung der Motoneurone bewirken. Drei pramotorische

”Neuro-

ne“ sind symbolisiert (links): erregende Synapsen dieser Neurone sind durch gefullteDreiecke sympolisiert, hemmende Synapsen durch gefullte Kreise. A1 und A2 mar-kieren grob die Amplituden der tonischen und phasischen Eingange.

Wie wird nun die Aktivitat der Beinmotoneurone einzelner Gelenke unter-einander koordiniert? Dazu wurde der Einfluss von verschiedenen belastungs-und bewegungsmessenden Sinnesorganen des Mittelbeins der Stabheuschreckeauf die Aktivitat der Motoneurone des Thorax-Coxa- (TC-), Coxa-Trochanter-(CT-), und Femur-Tibia-Gelenks untersucht. Folgende bewegungsempfindli-che Propriozeptoren des Mittelbeins wurden untersucht: am TC-Gelenk dasventrale coxale Borstenfeld (vcxHP) und die coxalen Haarreihen (cxHR); amCT-Gelenk das trochanterale Borstenfeld (trHP) und das Levator-Rezeptoror-gan (LevSR), am FT-Gelenk das femorale Chordotonalorgan (fCO). Folgendebelastungsmeldende Sinnesorgane wurden untersucht: die drei anterioren undposterioren Teilfelder der trochanteralen campaniformen Sensillen (trCS), diefemoralen campaniformen Sensillen (fCS). Der Einfluss der Signale dieser Sin-nesorgane auf die Aktivitat der einzelnen Motoneuronpools der drei Haupt-beingelenke (TC-, FT- und FT-Gelenk) wurde zum einen durch Ausschalt-versuche analysiert, anschließend durch spezifische mechanische Stimulationdieser Sinnesorgane im ruhenden und aktiven Versuchstier, bei gleichzeitigerextra- und intrazellularer Untersuchung der involvierten Informationswege,studiert.

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Abb. 15.4. Mechanismen der Aktivierung und Rekrutierung von Flexor tibiae Mo-toneuronen im Laufzyklus bei der Stabheuschrecke (aus [21]). A: Intrazellulare Ab-leitung (untere Spuren) eines langsamen (A(i)) und schnellen (A(ii)) Motoneuronsbei Laufbewegungen (obere Spur: Laufbandgeschwindigkeit; mittlere Spur: EMGdes Flexormuskels). Bitte beachten Sie, dass beide Motoneurone uber die gesamteStemmphase kontinuierlich depolarisiert werden, jedoch das schnelle Motoneuronvon einem negativeren Membranpotential aus startet. B: Ableitung eines langsa-men Flexormotoneurons bei unterschiedlicher Vorlast des aktiven Laufbandes ((i)1.5mN, (ii) 6.5mN). Beachten sie die starkere Aktivierung des langsamen Motoneu-rons. C: Abhangigkeit der Flexormotoneuronaktivitat, von der Vorlast des Laufban-des fur langsame (slow), semi-schnelle (semi-fast) und schnelle (fast) Motoneuroneaufgetragen als Anzahl der Aktionspotentiale (Spikes)/Stemmphase und als mittlereAktivitatsrate. Die Fehlerbalken geben die Standardabweichung an, die Sterne dasSignifikanzniveau.

Als Modell zum Studium der Rolle propriozeptiver Signale fur die Koor-dination motoneuronaler Aktivitat zweier Gelenke wurde zunachst detailliertder Einfluss von Bewegungssignalen des femoralen Chordotonalorgans (fCO)vom FT-Gelenk auf die Motoneurone des CT-Gelenks untersucht. Dabei konn-te die Identitat der Informationswege fur den durch fCO vermittelten Einflussauf das nachst proximale CT-Gelenk im Detail bis auf die Ebene der beteilig-ten Interneurone beschrieben werden (Abb. 15.5).

Zusammenfassend hat sich bisher folgendes Bild fur den Einfluss von Sin-nesorganen auf dem Bein fur die Koordination der motorischen Aktivitat be-nachbarter Beingelenke gezeigt (Abb. 15.6).

Es wurden sehr spezifische Einflusse von sensorischen Signalen gefunden,die bei rhythmisch aktivem Laufsystem den Status der Rhythmusgeneratoren,d.h. das

”Timing“ motoneuronaler Aktivitat determinieren, also Umschalt-

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250 Ansgar Buschges

Abb. 15.5. Schematische Darstellung der Einflusse vom femoralen Chordotonal-organ (fCO) des FT-Gelenks auf die Aktivitat der Motoneurone des CT-Gelenks(MNe): 1.Pfeil 1: Parallele direkte und polysynaptische senso-motorische Informa-tionswege verarbeiten im ruhenden Tier Bewegungs- und Positionsinformation desfCO und erzeugen Zwischengelenksreflexe [23]. Die gestrichelten Linien deuten dieParallelitat der Bahnen an. 2.Pfeil 2: Die Informationsverarbeitung wird im akti-ven Tier, d.h. wenn das lokomotorische System (CRG, central rhythm generator)aktiv ist, in einzelnen identifizierten Bahnen statusabhangig so verandert, dass zumBeispiel bei Beugesignalen vom fCO die induzierte Reizantwort erhoht wird [24].3.Pfeil 3: Im aktiven Tier haben Bewegungssignale vom fCO zudem direkt Zugriffauf die pramotorischen rhythmus-generierenden Netzwerke des Nachbargelenkes [25].Durchgezogene Pfeile beschreiben die Richtung von Einflussen; offene Dreiecke stel-len erregende Synapsen dar; ausgefullte Kreise stellen hemmende Synapsen dar. Dergestrichelte Pfeil mit Fragezeichen zwischen dem CRG und den Motoneuronen weistdarauf hin, dass es noch nicht klar ist, ob die Einflusse des CRG auf die Motoneuroneauch direkt vermittelt werden.

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Abb. 15.6. Schematische Darstellung der Einflusse sensorischer Signale auf das Ti-ming der Aktivitat der Motoneurone benachbarter Beingelenke. Dargestellt sind nurErgebnisse zu Einflussen sensorischer Signale auf die Aktivitat zentraler rhythmus-generierender Netzwerke. Diese Netzwerke sind, da ihre Topologie unbekannt ist,vereinfacht als bistabile Netzwerke mit reziproker Inhibition angenommen und dar-gestellt. Die Dicke und Art der Pfeile markiert die Starke der beschriebenen Einflus-se.

vorgange in den einzelnen Rhythmusgeneratoren der Einzelgelenke induzierenkonnen. Es handelte sich sowohl um Signale, die Position und Bewegung einesBeinsegments melden, als auch um Belastungssignale von der Kutikula desBeins. Bewegungssignale vom fCO des FT-Gelenks beeinflussen das

”Timing“

der motoneuronalen Aktivitat des nachst proximal benachbarten Gelenks, desCT-Gelenks, aber sie hatten keinen Einfluss auf die Aktivitat der Motoneu-rone des TC-Gelenks [23,25].

Belastungssignale von den campaniformen Sensillen auf Trochanter (trCS)und Femur (fCS) determinierten den Status der Rhythmusgeneratoren, d.h.das

”Timing“ der motoneuronalen Aktivitat des nachst proximal benachbarten

Gelenks, des TC-Gelenks und des nachst distal benachbarten Gelenks, des FT-Gelenks. Funktionell war eine Segregation der Einflusse nachweisbar: Signalevon den fCS konnten das Timing der Aktivitat in den tibialen Motoneuronenbeeinflussen. Ebenso konnten Signale von den trCS die Aktivitat der coxalenMotoneurone determinieren [1,2]. Jeweils auf das andere Gelenk gab es keinensignifikanten Einfluss.

Alle Ergebnisse sind mit Referenzen aus Arbeiten zum Antrag in Tabel-le 1 aufgelistet. Ebenso sind Einflusse aufgelistet, die aus fruheren Arbeitenbekannt waren. Derzeit wird der Einfluss von Belastungssignalen vom Beinauf die Aktivitat der trochanteralen Motoneurone untersucht (zusammen mitJ. Schmitz, Univ. Bielefeld), sowie der Einfluss von coxalen Bewegungssigna-

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len von Sinnesorganen am TC-Gelenk, wie den coxalen Haarreihen und dencoxalen Borstenfeldern auf die Aktivitat der distalen CT- und FT-Gelenke.Insbesondere die Untersuchung des Einflusses von coxalen Bewegungssignalenauf das Timing der Aktivitat der Motoneurone der distalen Beingelenke stehtdabei im Vordergrund des Interesses, da von Cruse [15] gezeigt wurde, dassder Ubergang von der Stemm- zur Schwingphase im Einzelbein unter Beteili-gung von Positionssignalen induziert werden kann. Erste Experimente sollendaruber hinaus

”zentrale“ Beitragen zur Kopplung der Aktivitat benachbarter

Beingelenke untersuchen [14].

Tabelle 15.1. Tabelle der Sinnesorgane mit Zuordnung der gemessenen Bewegungs-parameter des Gelenknetzwerks, das beeinflusst wird, die Art der Beeinflussung(”Statuskontrolle“,

”Amplitudenkontrolle“) und die Richtung des Einflusses (

”AN“,

”AUS“; aus Ekeberg et al. 2004). Referenzen: [1] Akay et al. 2001; [2] Akay et al.

2004; [3] Bassler, 1988; [4] Bucher et al. 2003; [5] Cruse, 1985; [6] Hess & Buschges,1999; [7] Schmitz, 1986.

Eine Zusammenfassung der gefundenen Einflusse sensorischer Signale aufdas

”Timing“ der Einzelgelenk-Rhythmusgeneratoren ist in Tabelle 15.1 dar-

gestellt (siehe auch [2, 18]). In dieser Abbildung sind die einzelnen identi-fizierten Einflusse so zusammengefasst, dass sie eine Sequenz ergeben, dieder Erzeugung des Schrittmusters eines Mittelbeins beim Lauf zum einen als

”Einbeinpraparat“ (Abb. 15.7A), und zum anderen als frei vorwarts laufen-

des Mittelbeins dienen konnen (Abb. 15.7B). In diese Darstellung wurdenebenfalls sensorische Einflusse aufgenommen, wie sie fur einzelne Gelenke,z.B. das FT-Gelenk und das CT-Gelenk, in Hinblick auf die Anpassung derAktivitatsstarke der Motoneurone von einzelnen Bewegungsparametern, wiezum Beispiel Position und Bewegung der FT-Gelenks, gefunden wurden (z. B.:aus [4, 23]). Die im Projekt beschriebenen Grundlagen der neuronalen Kon-trolle des motorischen Programms zur Bewegung mehrgelenkiger Extremita-ten sind Gegenstand einer aktuellen Ubersichtsarbeit, wo sie mit Ergebnis-sen an Wirbeltieren in Bezug gesetzt werden [11]. Wie aus der Darstellung

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15 Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung bei Insekten 253

ersichtlich, konnte das dargestellte Prinzip der Laufmustererzeugung, beste-hend aus zentralen Rhythmusgeneratoren pro Einzelgelenk, die durch sensori-sche Ruckkopplung koordiniert und geschaltet werden konnen, in Form eines

”neuronalen Controllers“ fur einen Laufroboter dienen. Dies wurde auf Basis

einer 3d-dynamischen, neuro-mechanischen Simulation der Stabheuschreckegetestet. Die Simulationsplattform wurde von Prof. O. Ekeberg (KTH Stock-holm) gemeinsam mit mir wahrend eines Aufenthalts am Wissenschaftskollegzu Berlin in dem akademischen Jahr 2001/2002 entwickelt (siehe [18]). DieUntersuchung ergab, dass tatsachlich die Implementierung der gefundenenInteraktionen hinreichend fur die Erzeugung von Laufbewegungen des Mittel-beins der Stabheuschrecke auf ebenem Untergrund sein konnen.

15.3.1 Ausblick auf zukunftige Arbeiten

Durch die Bearbeitung des Projekts haben wir Interaktionen zwischen Sinnes-organen auf den Beinen und zentralen neuronalen Netzwerken aufzeigen kon-nen, die, wie unsere Simulationen gezeigt haben, hinreichend sind, um einfacheLaufbewegungen eines Insektenmittelbeins auf ebenem Untergrund zu erzeu-gen. Nach Abschluss der Versuche stehen nun vier Fragen im Vordergrund,die zur Aufklarung der neuronalen Mechanismen der Laufmustererzeugungfur ein 6-beiniges Tier wesentlich sind:

1. Wie tragen sensorische Signale zur Anpassung der Aktivitatsstarke derMotoneuronpools der Einzelgelenke wahrend der Erzeugung des Laufmus-ters bei?

2. In welcher Form sind die Mechanismen der Laufmustererzeugung segment-spezifisch? Die drei Beinpaare eines laufenden Insekts erfullen unterschied-liche Funktionen und zeigen entsprechend ihrer Stellung entlang des Kor-pers und in Abhangigkeit von ihrer Morphologie sehr stark voneinanderabweichende Kinematik bei der Erzeugung von Laufbewegungen.

3. Welche neuronalen Signale werden zur Koordination der Einzelbeingenera-toren verwandt, um die maßgeblich von Cruse und Mitarbeitern (Univer-sitat Bielefeld) auf der Verhaltensebene dargestellten Koordinationsregelnzu erzeugen?

4. Wie werden die gefundenen Interaktionen fur die Erzeugung adaptiverLaufmuster, wie zum Beispiel beim Kurvenlauf, oder fur das Laufen uberunebenen Untergrund modifiziert?

15.3.2 Interdisziplinare Weiterentwicklung

Bezuglich der interdisziplinaren Weiterentwicklung sind zwei Aspekte von be-sonderer Bedeutung:

1. Die beschriebenen Interaktionen konnen, bzw. konnten wegen ihrer Kom-plexitat nicht mehr durch das Erstellen von Interaktionsschemata in Bezug

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A

B

Abb. 15.7. Schematische Darstellung der Sequenz sensorisch-zentraler Interaktio-nen in zwei Situationen: (oben) fur die Erzeugung der motorischen Aktivitat imEinbeinpraparat; (unten) fur ein Vorwartslaufmuster eines Mittelbeins (aus [18]). Inbeiden Diagrammen schreitet die Zeit von links nach rechts fort. Vertikale gestrichel-te Linien zeigen die Zeitpunkte an, an denen durch sensorische Signale Ubergangezwischen Strichzeichnung der mechanischen Situation des Beines, Pfeile zeigen dieRichtung der Bewegungen an und die Kreise markieren den Ursprung der sensori-schen Information auf dem Bein. Unten befindet sich jeweils die Information uberdie verantwortliche Sinnesmodalitat und das Sinnesorgan. Die Pfeile, die uber diesenkrechten gestrichelten Linien verlaufen, zeigen durch ihre Pfeilspitzen, wie dieGelenknetzwerke durch die sensorischen Signale beeinflusst werden. Bitte beachtensie, dass die Einflusse von den Rechtecken ausgehen, die die Motoneurone und Mus-keln symbolisieren sollen. Durchgezogene Linien der Pfeile weisen auf nachgewieseneEinflusse hin, gestrichelte Linien weisen auf Einflusse hin, die nur auf verhaltensphy-siologischer Ebene beschrieben wurden.

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auf ihre Fahigkeit, ihre Aufgabe, d.h. die Erzeugung einer Laufbewegung,zu erfullen, beurteilt werden. Daher wurde in der Endphase des Projektsmit einer Arbeitsgruppe kooperiert, die in der Lage ist, komplexe dynami-sche Simulationen durchzufuhren, auf Basis derer die gewonnen Ergebnis-se bezuglich ihres Erklarungswertes gepruft werden konnten. Dies geschahin Zusammenarbeit mit dem Labor von Prof. Dr. Orjan Ekeberg, KTHStockholm (siehe oben). Zunachst wurde eine einfache 3D-dynamische Si-mulation des Laufsystems der Stabheuschrecke entwickelt. Dieses basiertauf einer wirklichkeitsnahen morphologischen Simulation des Tieres, des-sen Beine mittels eines relativ einfachen

”neuronalen Controllers“ gesteu-

ert werden, der derzeit, außer der Hohenkontrolle [17] fur die Einzelbeine,nur die oben aufgefuhrten neuronalen Interaktionen zur Kontrolle des Ti-mings motoneuronaler Aktivitat umfasst. Diese Simulation arbeitet mitrealistischen Maßen, Gewichten und Schwerpunktlagen der Einzelsegmen-te, sowie auch des Gesamttieres (siehe [18]). Diese einfache Simulationwird derzeit durch ein in meinem Labor empirisch erhobenes Muskelm-odell (Guschlbauer, Scharstein & Buschges, in Vorbereitung) verfeinert.

2. Das fur die Stabheuschrecke vorliegende Detailverstandnis zur Laufmus-tergenerierung lasst es nur begrenzt zu, auf Allgemeingultigkeit der gefun-denen Mechanismen in Bezug auf andere Laufsysteme zu schließen. Aufoperationaler Ebene sind mehrere gemeinsame Prinzipien zwischen Lauf-systemen der unterschiedlichen Tiergruppen bekannt. Dazu gehoren zumBeispiel die Prasenz von zentralen Rhythmusgeneratoren oder bistabi-len Systemen in allen gut untersuchten Fortbewegungssystemen, oder dieRolle von sensorischen Signalen fur die Kontrolle motorischer Aktivitat,hier insbesondere bei der Bewegungskontrolle durch Nutzung bewegungs-, bzw. belastungsbezogener positiver Ruckkopplung (zur Ubersicht sie-he [20, 28, 29]). Jedoch ist die Moglichkeit des Mechanismenvergleichsdurch einen ausschliesslich qualitativen Zugriff nur beschrankt moglich.Daher wurde in den letzten 3 Jahren parallel zu der Arbeit an der Stabheu-schrecke zusammen mit O. Ekeberg und K.G. Pearson eine vergleichbareneuromechanische Simulation einer Katze entwickelt. Fur die neuronaleBasis der Laufmustererzeugung der Katze liegt ebenso ein hinreichenddetailliertes Wissen vor. Im Gegensatz zur sehr leichten Stabheuschrecke(600 mg - 850 mg) zeichnet sich die Katze durch eine erheblich hohereMasse aus (2 kg - 4 kg). Der direkte Vergleich der neuronalen Kontrollebeider Laufssysteme wird die Frage beantworten, inwieweit sich die dy-namisch weit voneinander abweichende Situation bei den Laufsystemenvon Stabheuschrecke und Katze in unterschiedlichen Kontrollstrategienniederschlagt.

15.3.3 Anwendung

Die erzielten Ergebnisse zur neuronalen Kontrolle der Einzelbeinlaufbewegungkonnen fur die Entwicklung einer biologiebasierten Konstruktion eines

”Con-

Page 274: Autonomes Laufen

256 Ansgar Buschges

trollers“ fur Laufmaschinen genutzt werden. Dies gilt insbesondere, als dasszukunftige Projekte sich mit der Erzeugung adaptiver Bewegungsmuster, wiedie Erzeugung unterschiedlicher Laufrichtungen, Kurvenlauf, oder das Lau-fen uber unebenen Untergrund befassen sollen. Bisher haben die Ergebnissezur Entwicklung der ersten echten 3D-dynamischen, neuro-mechanischen Si-mulation eines Insektenlaufsystems beigetragen, welche als biomechanischeTestplattform fur eine Vielzahl von weiteren Projekten genutzt werden soll.

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15 Neuronale Mechanismen der Gelenkkopplung bei Insekten 257

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16

Hexapodes Laufen, von der Biologie zur

Simulation und zuruck

Holk Cruse und Josef Schmitz

Biologische Kybernetik/Theoretische Biologie, Fakultat fur Biologie, UniversitatBielefeldUnter Mitarbeit von Bettina Blasing, Bernd Diederich, Volker Durr, ThomasKindermann, Christian Linder, Thorsten Roggendorf, Michael Schumm, SaschaZiehn

16.1 Einfuhrung

Das Ziel neurobiologischer Studien besteht letztlich darin, zu verstehen, in wel-cher Weise das Gehirn an der Kontrolle des Verhaltens beteiligt ist. Gehirne,insbesondere Saugergehirne, werden gelegentlich als die komplexesten Syste-me dieser Welt bezeichnet. Es ist deshalb sicher keine leichte Aufgabe, diesesZiel zu erreichen. Selbst die

”einfachen“ Gehirne, etwa die von Insekten, sind

keineswegs verstanden. Wichtige Erkenntnisse bei der Aufklarung einzelnerFragestellungen wurden, und werden auch weiterhin, mit Hilfe hochst erfolg-reicher reduktionistischer Methoden, wie etwa der Verhaltensphysiologie undder Elektrophysiologie, erzielt. Wesentliche Fortschritte beim Verstandnis desGesamtsystems sind aber nur dann zu erwarten, wenn diese Methoden durchdas synthetische Werkzeug der Simulation erganzt werden. Solche Modellie-rungsstudien machen es moglich, das in einzelne Bestandteile zerlegte Systemversuchsweise wieder zusammenzusetzen, um auf diese Weise die Systemei-genschaften betrachten zu konnen, die sich nur aus dem Zusammenwirken derEinzelelemente ergeben. Hierbei werden in erster Linie Computersimulationeneingesetzt. Da viele Eigenschaften der Systeme, aber auch der Umwelt, in dersie agieren sollen, nur mit sehr großem Aufwand, wenn uberhaupt, im Com-puter simuliert werden konnen, werden

”Hardwaresimulationen“ in Form von

Robotern verwendet. Diese Simulationen interessieren die Biologen als Test-bett fur ihre Hypothesen. Fur die Ingenieure stellen sie Studien mit Blick aufmogliche Anwendungen dar.

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260 Holk Cruse und Josef Schmitz

16.2 Laufen in naturlicher Umgebung erfordert

”motorische Intelligenz“

Bei der Steuerung von Verhalten tritt ein zentrales Problem auf, dessen Bedeu-tung leicht ubersehen wird. Die Zahl der Freiheitsgrade, die dem System zurVerfugung stehen, ist meist großer als die, die notig waren, um die anstehendeAufgabe zu losen. Die Aufgabe ist in diesem Falle, wie man sagt, unterbe-stimmt. Dies bedeutet, dass das System, das die Verhaltensweisen kontrolliert,zwischen verschiedenen Alternativen auswahlen muss. Es muss also in einemgewissen Grade autonom handeln. Wenn man von den ublicherweise starkeinschrankenden Laboruntersuchungen absieht, bei denen z. B. der Druck aufeine Taste oder die Reflexbewegung in einem Gelenk betrachtet wird, so istdiese Situation bei nahezu allen naturlicherweise vorkommenden, selbst ganzeinfachen Verhaltensweisen gegeben. Schon die Aufgabe, ein Objekt, z. B. ei-ne Tasse, zu ergreifen, lasst recht verschiedene mogliche Endstellungen desArmes zu, ganz abgesehen von den verschiedenen Bewegungstrajektorien, diezwischen der Startstellung und dem Ziel moglich sind. Noch deutlicher ist diesbei einer an sich einfach erscheinenden Verhaltensweise, namlich der Kontrol-le des Laufens bei Insekten. Auch dieses Problem ist unterbestimmt. Jedesder sechs Beine besitzt ublicherweise drei Gelenke, so dass gleichzeitig dieBewegungen von 18 Gelenken kontrolliert werden mussen. Diese 18 Gelenkemussen sinnvoll aufeinander abgestimmt sein, und dies in einer Umwelt, de-ren Eigenschaften sich von einem Augenblick auf den anderen drastisch andernkonnen. Das System muss also einerseits adaptiv auf diese Storungen reagie-ren, und trotz der unvorhersehbaren Storungen ein Ziel, wie z. B. aufrechtesGeradeauslaufen, verfolgen konnen. Entsprechende Probleme treten auch beimenschlichen Arm- und Beinbewegungen auf. Sie sind uns aber deshalb kaumbewusst, weil wir normalerweise nicht uber die Bewegungen nachzudenkenbrauchen. Sie laufen

”von selbst“ ab und erscheinen deshalb

”problemlos“.

Wie schwierig die Probleme aber doch sind, wird spatestens dann deutlich,wenn man versucht, einen entsprechenden Roboter zu bauen; und sei es auchnur ein Roboter, der lediglich uber horizontalen, nur moderat unregelmaßigenUntergrund laufen soll. Trotz weltweiter Anstrengungen gibt es diesen Robo-ter bis heute noch nicht annahernd in einer Perfektion, wie man sie bei Tieren,selbst den einfachen Insekten findet.

Die biologischen Systeme mussen also eine gewisse”motorische Intelligenz“

besitzen. Dies macht die Untersuchung solcher Systeme einerseits sehr reizvoll.Andererseits ist es naturlich schwierig, ein derartiges System experimentell zuuntersuchen, da man, eben gerade wegen seiner Autonomie, als Experimenta-tor meist keinen direkten Einfluss auf das Verhalten hat. Solche Systeme sinddeshalb fur eine klassische Input-Output Analyse nur wenig geeignet.

Die Ergebnisse einer großen Zahl verhaltensphysiologischer und elektro-physiologischer Untersuchungen legen nahe, dass die Flexibilitat des Systems,das das Laufen der Insekten kontrolliert, darauf beruht, dass die Kontroll-strukturen weitestgehend dezentralisiert sind. Diese Dezentralisierung hat zu-

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16 Kunstliche neuronale Netze zur Kontrolle eines autonomen Schsbeiners 261

gleich die angenehme Eigenschaft, dass zwei wichtige Fragen zunachst gedank-lich getrennt betrachtet werden konnen, namlich die Frage nach der Steuerungdes einzelnen Beines und die Frage nach der raumlich-zeitlichen Koordinationder Beine untereinander.

16.3 Verschiedene lokale Mechanismen sorgen dafur,

dass die Beine sinnvoll miteinander koordiniert

werden

Schon seit den fruhen Untersuchungen von v. Holst [15] und Wendler [29]ist bekannt, dass jedes Bein sein eigenes Kontrollsystem besitzt. Die einzelnenBeine konnen, wie spater Chasserat und Clarac (1980) auch fur Krebse gezeigthaben, in ihrem eigenen Rhythmus schwingen. Sie sind dabei je nach Bedin-gungen mehr oder weniger schwach aneinander gekoppelt, was sich in einemVerhalten ausdruckt, das v. Holst mit relativer Koordination bezeichnet hat.Weitere Untersuchungen, vor allem von Wendler und Bassler (s. Review [14]),zeigen, dass das Gesamtsystem, also das Bein und das zugehorige neuronaleKontrollsystem, das Verhalten eines Kippschwingers aufweist. Das Bein be-wegt sich wahrend der Stemmbewegung, in der es sich am Boden befindet,- beim Vorwartslauf - nach hinten, bis eine bestimmte Schwelle erreicht ist.Der hintere Umkehrpunkt, meist mit PEP (fur posteriore Extremposition)bezeichnet, kann u. a. durch die Position des Beines bestimmt sein. Dort wirdvon der Stemmbewegung auf die Schwingbewegung umgeschaltet. Wahrendder Schwingbewegung wird das Bein vom Boden abgehoben und es schwingtnach vorne, um eine neue Stemmbewegung beginnen zu konnen. Obwohl dieBeine grundsatzlich unabhangig voneinander kontrolliert werden, beobachtetman bei normal laufendem und nicht zu stark gestortem Tier eine recht genaufestgelegte Schrittfolge. Als insektentypische Gangart wird meist der tripodeGang beschrieben - Vorder- und Hinterbein einer Seite schwingen gleichzeitigmit dem Mittelbein der anderen Seite. Graham [14] hat allerdings in ausfuhr-lichen Untersuchungen an Stabheuschrecken gezeigt, dass insbesondere beimlangsamen Lauf oder unter Belastung der tetrapode Gang typisch ist (Abb.16.1). Dies scheint auch fur andere Insekten zu gelten. Der tetrapode Gangkann dadurch beschrieben werden, dass eine Welle von Schwingbewegungenvon hinten nach vorne uber den Korper zu laufen scheint.

Wie kann diese Koordination zustande kommen und auch trotz Storungbeibehalten werden? Untersuchungen an Stabheuschrecken und Flusskrebsenweisen daraufhin, dass es relativ einfache Regeln gibt, die jeweils zwischen zweiipsilateral bzw. kontralateral benachbarten Beinen wirken. Fur Stabheuschre-cken werden insgesamt sechs verschiedene Mechanismen beschrieben, die inAbb. 16.2 schematisch dargestellt sind (Einzelheiten siehe [8]). Die Wirkungs-weise der Mechanismen 1 bis 3 sind in Abb. 16.2 b etwas genauer erlautert.Die beiden Mechanismen Nr. 5 und 6 werden nur in besondern Situationenaktiviert. Sie sind deshalb in der Simulation nicht berucksichtigt. Wie in der

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262 Holk Cruse und Josef Schmitz

Abb. 16.1. Das Schrittmuster eines tripoden und eines tetrapoden Laufes, aufge-tragen uber der Zeit (Abszisse). Die schwarzen Balken markieren die Schwingbe-wegungen der Beine. Die Beine sind von vorne nach hinten numeriert. R steht furrechtes, L fur linkes Bein (siehe auch Abb. 16.2). Beim tripoden Gang schwingenstets drei Beine zur gleichen Zeit (markiert sind R2, L1 und L3). Beim tetrapodenGang scheint eine Welle von Schwingbewegungen (markiert sind L3, L2 und L1) vonhinten nach vorne uber den Korper zu laufen.

Abb. 16.2 gezeigt, wirken die Mechanismen 2 und 3 auch zwischen kontrala-teral benachbarten Beinen. Unsere Computersimulationen zeigen, dass diesein den Experimenten gefundenen Mechanismen in der Tat ausreichen, auchgegenuber Storungen stabile Laufe der tripoden und der tetrapoden Gangartzu erzeugen. Dies bedeutet, dass die Gangarten also nicht explizit berechnetwerden, sondern sich als emergente Eigenschaften aus dem Zusammenwirkendieser lokalen Regeln ergeben.

16.4 Die Kontrolle der quasi-rhythmischen Bewegung

des Einzelbeins

Ein Insektenbein hat typischerweise drei Gelenke, von denen zwei, das Femur-Tibia Gelenk (γ-Gelenk) und das Coxa-Trochantergelenk (β-Gelenk) als Schar-niergelenke ausgebildet sind. Das Subcoxalgelenk (α-Gelenk), durch welchesdas Bein mit dem Korper verbunden ist, besitzt mehr Freiheitsgrade. SeineFunktion kann aber ebenfalls durch ein Scharniergelenk angenahert werden.Die Bewegung eines Beines kann, wie gesagt, in zwei einander abwechselndePhasen zerlegt werden, die ganz verschiedene Aufgaben und Eigenschaftenbesitzen, namlich die Stemm- und die Schwingbewegung.

Oft wurde angenommen, dass die rhythmischen Beinbewegungen von zen-tralen Oszillatoren gesteuert werden. Wir konnten jedoch zeigen [9], dass diehierbei zur Begrundung angefuhrten Befunde auch anders erklart werden kon-nen. Nach der von uns in Simulationen getesteten Hypothese werden die

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16 Kunstliche neuronale Netze zur Kontrolle eines autonomen Schsbeiners 263

Abb. 16.2. (a) Zwischen je zwei Beinen konnen sechs verschiedene Koordinations-mechanismen wirken: 1. Solange das hintere Bein eine Schwingbewegung ausfuhrt,darf das vordere Bein keine Schwingbewegung beginnen. 2. Wenn das hintere Beinmit der Stemmbewegung beginnt, wird die Wahrscheinlichkeit erhoht, dass das vor-dere Bein eine Schwingbewegung beginnt. 3. Je weiter sich das vordere Bein nachhinten bewegt, desto hoher wird die Wahrscheinlichkeit, dass das hintere Bein eineSchwingbewegung beginnt. Mechanismus 4 beeinflusst den vorderen Umkehrpunkteines Beines so, dass dieser der Position des nachst vorderen Beines folgt (Zielbe-wegung). Mechanismus 5 bewirkt, dass auch im Nachbarbein eine starkere Krafthervorgerufen wird, wenn das Bein selbst eine erhohte Kraft erzeugt. Mechanismus6 lost einen kleinen Zwischenschritt aus, wenn das Bein auf das nachst vordere Beingetreten ist. Einige Mechanismen wirken, wie angedeutet, entsprechend zwischenkontralateralen Beinen. (b) - (d) illustrieren die Wirkungsweise der Mechanismen 1,2 und 3 etwas genauer. Es sind jeweils zwei ipsilateral benachbarte Beine in Aufsichtdargestellt, rechts daneben verschiedene Bewegungsspuren (Abszisse: Zeit, Ordina-te: Position des Fußpunktes relativ zum Korper). Eine nach oben verlaufende Spurbedeutet eine Schwingbewegung, nach unten eine Stemmbewegung. Fur das Bein,das die Information sendet, ist jeweils nur ein Schritt gezeigt. Fur das empfangen-de Bein sind, um die Wirkungsweise illustrieren zu konnen, mehrere Phasenlagendargestellt. Die Dauer und Intensitat der Wirkung ist durch Balken verschiedenerBreite angedeutet.

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264 Holk Cruse und Josef Schmitz

antagonistischen Muskeln eines Gelenkes uber sich wechselseitig dynamischhemmende Strukturen verknupft. Bei Zerstorung der Sensorik erzeugt diesesSystem die in den entsprechenden Experimenten beobachteten, sehr langsa-men Schwingungen. Bei realen Laufbewegungen des intakten Tieres sorgendiese Mechanismen jedoch fur ein prononciertes Umschalten zwischen denAntagonisten. Auf diese Weise lassen sich verschiedene adaptive Verhaltens-muster ohne die Annahme zusatzlicher neuronaler Strukturen erklaren. Dieantagonistischen Strukturen wirken nach dieser Hypothese, die gut zu neuro-physiologischen Befunden passt [6], nur auf der Ebene der einzelnen Gelenke.Zur Kontrolle des Zustandes des ganzen Beines verwenden wir in unseremSimulationssystem WalkNet ein diesen Strukturen ubergeordnetes Netz, dasso genannte SelektorNet. Dieses entscheidet daruber, welche der beiden alter-nativen Verhaltensweisen, Schwing- oder Stemmbewegung, ausgefuhrt werdenkann. Fur deren genaue Realisierung sind in WalkNet zwei

”Module“ verant-

wortlich, das Schwingnetz und das Stemmnetz.

16.5 Welche Probleme treten bei der Kontrolle der

Stemmbewegung auf?

Die Kontrolle der Stemmbewegung scheint schwieriger zu sein als die derSchwingbewegung, da nicht nur die Bewegungen der drei Beingelenke so kon-trolliert werden mussen, dass, wie bei der Schwingbewegung, eine bestimmteTrajektorie eingehalten wird, sondern es mussen daruberhinaus diese Gelen-ke mit den Bewegungen der andern am Boden befindlichen Beine, maximalalso mit 15 anderen Gelenken, sinnvoll koordiniert werden, so dass zum Bei-spiel keine unnotigen Querkrafte uber den Korper wirken. Hierbei taucht eineReihe von Problemen auf. Die Aufgabe ist schon deshalb grundsatzlich einnichtlineares Problem, da es sich hier um Drehbewegungen handelt. Sie wirdaber noch zusatzlich dadurch kompliziert, dass die Lage der Drehgelenke imRaum nicht orthogonal, sondern schiefwinklig angeordnet ist. Eine weitereNichtlinearitat ist dadurch gegeben, dass die Zahl und die Kombination derjeweils am Boden befindlichen Beine dauernd wechseln. Beim Geradeauslaufkonnte man vielleicht noch vereinfachend davon ausgehen, dass die Trajekto-rien der Beinendpunkte durch Geraden parallel zur Korperlangsachse gegebensind. Spatestens beim Kurvenlauf kommt jedoch hinzu, dass sich jedes Beinentlang einer anderen Trajektorie mit dazu noch unterschiedlicher Geschwin-digkeit bewegen muss. Allen diesen Schwierigkeiten uberlagert sich noch daseingangs genannte Problem, dass bei einem System mit einer großen Zahl vonFreiheitsgraden auch eine große Zahl von moglichen Losungen denkbar ist. DasKontrollsystem muss daher, etwa auf Grund von Optimalitatskriterien, einedieser Losungen auswahlen. Fur alle diese Probleme gibt es im Prinzip analy-tische Losungen. Diese setzen aber einen hohem Rechenaufwand voraus und esist nicht leicht einsichtig, wie sie mit dezentralen Systemen behandelt werdenkonnten, wobei daruber hinaus die biologischen im Vergleich zu elektronischen

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16 Kunstliche neuronale Netze zur Kontrolle eines autonomen Schsbeiners 265

Systemen noch sehr viel ungenauer sind und eine um viele Großenordnungenniedrigere Rechengeschwindigkeit besitzen.

Es gibt aber noch weitere, und schwierigere, Probleme. Eine noch ver-gleichsweise einfache Situation liegt vor, wenn das Tier auf nachgiebigem Un-tergrund, etwa einem weichen Blatt, lauft. Hierbei ist die Geschwindigkeit derBewegung nicht kontrollierbar, da sie auch von den Eigenschaften des Un-tergrundes abhangt. Unlosbar fur einen zentralen Rechner wird die Aufgabe,wenn sich die Geometrie des Systems andert. Dies kann deshalb leicht passie-ren, weil die Gelenke, insbesondere das Subcoxalgelenk, nicht sehr starr sindund sich deshalb die Lage der Drehachsen unter geanderten Belastungssitua-tionen, z. B. bei unterschiedlicher Darmfullung oder Laufen unter verschie-denen Winkeln zur Schwerkraft, deutlich andern kann. anderungen der Geo-metrie konnen auch durch Wachstumsvorgange hervorgerufen werden oder,sehr abrupt, durch die Einwirkung eines Raubers, etwa eines Vogels, der einTeil des Beines abbeißt. Trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten und derscheinbaren Unlosbarkeit dieser Probleme werden sie aber von Insekten mitihrem vergleichsweise einfachen Nervensystem gelost. Dies ist umso erstaunli-cher, wenn man die erwahnten Nachteile neuronaler gegenuber elektronischerSysteme bedenkt. Es muss also eine Losung geben, die einfach genug ist, umdies trotz der schlechteren Voraussetzungen schaffen zu konnen.

16.6 Lokale positive Ruckkopplung, eine mogliche

Losung?

Was ist das Problem? Man stelle sich vor, dass ein Insekt mit allen sechsBeinen am Boden steht. Nun soll ein beliebig ausgewahltes Gelenk um einenkleinen Winkelbetrag aktiv bewegt werden. Um dies moglich zu machen, mus-sen auch alle anderen Gelenke um den jeweils richtigen, und fur jedes Gelenkanderen Betrag geandert werden. Wie erhalt man die Werte fur die 17 ande-ren Gelenke? Man muss sie gar nicht explizit berechnen. Wenn namlich dieseGelenke elastisch sind, was z. B. wegen der Muskeleigenschaften gegeben ist,so bewegen sich diese anderen Gelenke aufgrund der mechanischen Kopplunguber den Korper und den Untergrund passiv an eine richtige, d.h. geometrischmogliche Position. uber die Sinnesorgane in den einzelnen Gelenken konntealso die Information erhalten werden, ohne dass im Zentralnervensystem ex-plizit

”gerechnet“ werden muss. Diese Rechnung wird sozusagen durch die

Mechanik besorgt.Eine passive Bewegung ist jedoch nicht das eigentliche Ziel. Um eine aktive

Bewegung der Beine zu erreichen, muss die in jedem Gelenk gemessene Positi-onsanderung in eine aktive Bewegung dieses Gelenkes umgesetzt werden. Diesentspricht, mit anderen Worten, einer positiven Ruckkopplung auf der Ebenedes einzelnen Gelenkes. Nun wurde in der Tat fur das Femur-Tibia Gelenkschon von Bassler [2] eine Reflexumkehr beschrieben und spater ausfuhrlichuntersucht, die als positive Ruckkopplung interpretiert werden kann. Andere

Page 284: Autonomes Laufen

266 Holk Cruse und Josef Schmitz

Interpretationsmoglichkeiten wurden durch die Experimente von [23] ausge-schlossen. Er erschien deshalb nahe liegend, zu untersuchen, ob eine positiveRuckkopplung tatsachlich eine Losung der beschriebenen Probleme darstellt.Hierzu wurden Modellrechnungen durchgefuhrt, deren Details in [18] und [19]beschrieben wurden. Insbesondere wurden ausfuhrliche

”computerethologi-

sche“ Untersuchungen zum Kurvenlauf und zum Laufen uber verschiedeneHindernisse durchgefuhrt und, wo immer moglich, mit den Ergebnissen vonExperimenten mit Insekten verglichen. (z. B. Abb. 16.3)

Abb. 16.3. Simulation eines Geradeauslaufes (a) und eines Kurvenlaufes (b). DieBewegung erfolgt von links nach rechts (Pfeil). Aus Darstellungsgrunden ist nurjedes sechste Bild gezeigt. Außerdem sind nur die Beine dargestellt, die sich in einerStemmbewegung befinden. Die untere Spur zeigt die Seitenansicht, die obere dieAufsicht.

Eher zufallig wurde eine weitere Eigenschaft dieses Systems entdeckt.Bringt man das Laufsystem durch simulierte Gewalteinwirkung zum Umfal-len – dies ist moglich, indem man drei Beine wahrend des Laufens solange amBoden festhalt, bis es sturzt – so richtet es sich von selbst wieder auf und lauftweiter. Dies geschieht selbst dann, wenn man durch langes Festhalten der Bei-ne erreicht hat, dass Korper und Beine eine sehr verquere Stellung einnehmen(Abb. 16.4). Dies bedeutet, dass kein gesonderter

”Aufrichteagent“ notwendig

zu sein scheint, sondern dass diese Fahigkeit bereits ein Nebenprodukt diesesLaufsystems sein konnte.

Die Kontrolle der Beine beim stehenden Tier bzw. der Gelenke des in derStemmphase befindlichen Beines eines laufenden Tieres wurden bisher mitwiderspruchlichen Ansatzen interpretiert. Einige experimentellen Resultatedeuten auf den Einsatz negativer Ruckkopplung unter Verwendung eines D-Reglers hin, andere auf positive Ruckkopplung des Geschwindigkeitssignals.Unsere aktuellen Untersuchungen erlauben eine vollig neue und einheitlicheInterpretation. Die Ergebnisse lassen sich mit dem Vorliegen eines I-Reglerserklaren, der sich aber mit seiner Fuhrungsgroße der Situation anpasst, wennder Untergrund steif genug ist [12].

Page 285: Autonomes Laufen

16 Kunstliche neuronale Netze zur Kontrolle eines autonomen Schsbeiners 267

Abb. 16.4. Das Laufmodell kann sich selbstandig aufrichten. Drei Bilder aus ei-ner Laufsequenz. (a) Der Sechsbeiner im normalen Lauf. Durch Festhalten von dreiBeinen (Dreiecke) wird er zum Umfallen gebracht. (b) zeigt eine verquere Korperstel-lung. Nach einer Zeit, die etwa 1 - 2 Schritten entspricht, hat sich der Sechsbeinerwieder aufgerichtet (c) und lauft normal weiter. Die untere Darstellung zeigt dieSeitenansicht, die obere die Aufsicht. Laufrichtung von links nach rechts.

16.7 Die Kontrolle der Schwingbewegung

Die Schwingbewegungen werden in diesem Simulationssystem mit Hilfe eineseinfachen feedforward Netzes, SwingNet, erzeugt, das keine explizite Trajekto-rie berechnet. Stattdessen werden momentane Bewegungsanderungen auf derBasis der aktuellen sensorischen Signale erzeugt. Dies hat den Vorteil, dass dieSchwingbewegungen nur wenig anfallig gegenuber Storungen sind. Auf dieseWeise konnen auch die bei den Insekten beobachteten Hindernisvermeidungs-reflexe durch einfache, additive uberlagerung der von den entsprechenden sen-sorischen Eingangen kommenden Signale simuliert werden.

Neuere Verhaltensuntersuchungen konnten allerdings zeigen, dass die vonden Tieren durchgefuhrten Schwingbewegungen im Detail anders aussehenkonnen als die durch SwingNet erzeugten. Beim Lauf entlang einer schiefenEbene werden die bergauf weisenden Beine auf andere Weise nach vorne ge-schwungen als die talwarts weisenden Beine [13]. Es wird vermutet, und konntein Simulationen qualitativ gezeigt werden, dass dies durch die oben erwahntenantagonistischen Strukturen erklart werden kann. Die in diesen Experimentenebenfalls beobachtete Drehung der Korperhochachse hin zum Hang kann rechtgut auf die Wirkung der in den Gelenken vermuteten Regelsysteme zuruck-gefuhrt werden. In einer ganzen Serie neuer Versuche wurde gezeigt, dass dieForm der Schwingbewegung auch beim horizontalen Lauf stark von der Form,insbesondere der Breite, des Untergrundes und auch von der relativen Hoheder Abfußposition abhangt (Schumm und Cruse, in prep). Auch hier vermu-ten wir, dass all diese unterschiedlichen Schwingformen auf die Eigenschaftender antagonistischen Verschaltung der Muskeln innerhalb eines Gelenkes inKombination mit einer geringfugigen Abanderung der Struktur des SwingNetzuruckgefuhrt werden konnen.

Page 286: Autonomes Laufen

268 Holk Cruse und Josef Schmitz

16.8 Selbststabilisierung bei neuronalen Netzen

Die in WalkNet eingebauten Module bestehen aus kunstlichen neuronalen Net-zen, deren Gewichte (∼ Synapsen), wie zumeist ublich, off-line trainiert unddann in das Simulationssystem eingesetzt werden. Damit wird ein zentralesProblem umgangen, das reale biologische Systeme losen mussen: Wie wer-den diese Gewichte im lebenden System, dessen Korpergeometrie sich durchWachstum andern kann, immer wieder neu eingestellt und wie werden siegegen dauernd auftretende Storungen stabilisiert? Fur ein ausgewahltes Mo-dell, das fur die Kontrolle der Schwingbewegung zustandige SwingNet, habenwir Mechanismen entwickelt, die in der Lage sind, selbstorganisierend, d.h.ohne Eingabe von Informationen uber einen externen Lehrer, eine geeigneteNetzstruktur mit entsprechenden Gewichten einzustellen und diese auch ge-genuber Storungen stabil zu halten. Fur diese Simulation wurden biologischplausible Annahmen gemacht. Insbesondere wird berucksichtigt, dass die Ar-chitektur biologischer neuronaler Netze aus antagonistischen Strukturen auf-gebaut zu sein scheint [6] Diese Annahme war eine wichtige Voraussetzungfur den Erfolg der Simulation. Durch den Einsatz von in biologischen Sys-temen erst kurzlich nachgewiesenen neuronalen Mechanismen [28] konnte ineiner intensitatskodierten Architektur gezeigt werden, dass Selbstorganisati-on unter sehr allgemeinen Annahmen moglich ist [20]. In den verwendetenNeuroiden andern sich die Synapsenstarken nach lokalen Regeln, wodurch daslangerfristige Aktivitatsmittel des Neuroids konstant gehalten wird. In einemzweiten Ansatz konnte gezeigt werden, dass in einem durchgehend ortskodier-ten System Selbstorganisation in noch allgemeinerem Falle erreicht werdenkann [21].

16.9 Klettern uber große Lucken

Zur Untersuchung einer Verhaltensweise, die in der Lage sein muss, auch mitkomplexen Situationen umgehen zu konnen, war es sicher sinnvoll, zunachstdie oben beschriebenen, eher einfachen Probleme zu betrachten wie Laufenuber kleine Hindernisse, und Laufen auf unterschiedlich breitem oder geneig-tem Untergrund. In einem weiteren Schritt sollten dann aber die Grenzen desSystems getestet werden. Um dies zu erreichen, mussten Stabheuschrecken derArt Aretaon asperrimus uber Lucken klettern, die sich zwischen zwei horizon-talen Laufstegen auftat, wobei die Breite der Lucken variiert wurde. Dabeiergab sich, dass die Tiere selbst Lucken uberwinden, die so breit sind wie ihreigener Korper lang ist. Die detaillierten Verhaltensanalysen [4,5] zeigen, dasssich das Verhalten zum großen Teil mit den bisher fur das Laufen auf horizon-talen Flachen bekannten Mechanismen erklaren lasst, dass das zugrunde lie-genden kunstliche neuronale Netz aber auch um bestimmte Verhaltensmoduleerweitert werden muss. Dazu gehoren vor allem Module fur Suchbewegungen,die auftreten, wenn ein Bein keinen Bodenkontakt findet, sowie fur die so

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16 Kunstliche neuronale Netze zur Kontrolle eines autonomen Schsbeiners 269

genannten short steps, Schritte mit sehr kleiner Amplitude, die offenbar da-zu dienen, das Tier besser relativ zum Hindernis zu positionieren. Besonderswichtig ist die Fahigkeit, die Laufgeschwindigkeit zu reduzieren, wenn eineLucke entdeckt wurde. Als besonders interessanter Aspekt zeigte sich dabei,dass die Tiere wahrend der Schwingbewegung des Vorderbeines eine Erwar-tung bezuglich der Lage des Untergrundes besitzen. Dies gilt offenbar abernur fur Suchbewegungen mit den Beinen, nicht fur solche mit den Antennen.Zur Zeit sind wir dabei, Module fur diese Verhaltenselemente in das Simu-lationssystem WalkNet einzubauen [3]. In ersten Simulationen konnte dieseErweiterung mit Erfolg getestet werden. Die simulierten Tiere waren sogar inder Lage, etwas großere Lucken zu uberwinden als dies den Tieren moglichist.

16.10 Korpermodelle

Die Interpretation der bisher beschriebenen experimentellen Befunde erfolgteunter der Annahme, dass das zugrunde liegende System reaktiver Natur ist.Das bedeutet, dass Informationen von Sinnesorganen direkt in beobachtbaresVerhalten umgesetzt werden, dass also keine neuronalen Systeme vorliegen,die ein internes (mentales) Durchspielen von Verhaltensweisen erlauben. Dieletztere, von S. Freud mit Probehandeln bezeichnete Fahigkeit wurde Voraus-planung und damit sehr viel flexibleres Verhalten ermoglichen als dies reinreaktiven Systeme konnten. Sollte ein derartiges inneres Modell des eigenenKorpers vorliegen, so ist davon auszugehen, dass diese nicht nur fur die Vorstel-lung von Bewegung, sondern auch zur Kontrolle realer Bewegungen verwendetwird [10,16]. In [10] wird argumentiert, dass derartige Modelle die Grundlageauch hoherer kognitiver Eigenschaften sein konnten.

Da nicht bekannt ist, ob Insekten solche Fahigkeiten besitzen (siehe aller-dings die Befunde von Blasing), Menschen dies aber zugesprochen wird, habenwir eine Versuchsreihe mit Versuchspersonen durchgefuhrt, in denen das Vor-handensein und die moglichen Eigenschaften eines internen Korpermodellsuntersucht wurde. Versuchspersonen wurden an verschiedenen Korperstellentaktil gereizt und sollten dann diese Stelle so schnell wie moglich mit einerder beiden Hande erreichen. Dabei wurde die Lage der Beine und Arme inverschiedener Weise variiert [17]. Die Resultate konnten mit der Annahme er-klart werden, dass zwei Arten von Korpermodellen vorliegen: eines, das dieabsolute Geometrie berucksichtigt und ein zweites, das sich nur auf jeweilseine Korperhalfte bezieht. Da, wie gesagt, vollig offen ist, ob Insekten einsolches Korpermodell besitzen, wird in Simulationsstudien untersucht, welcheEigenschaften solche inneren Modelle haben mussten, um sinnvoll eingesetztwerden zu konnen.

Bereits in fruheren Arbeiten [27] hatten wir ein rekurrentes neuronalesNetz entwickelt, das sich gut als Korpermodell eignet, da es (fur beliebig kom-plexe Geometrien) einerseits alle geometrisch moglichen Korperstellungen re-

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270 Holk Cruse und Josef Schmitz

prasentieren kann, andererseits aber auch nur diese. Damit kann dieses relativeeinfache Modell gut als manipulierbares Korpermodell verwendet werden, alsoals ein Modell, mit dem beliebige Korperpositionen intern (

”mental“) simuliert

werden konnen. In einem parallelen Ansatz (Cruse, 2003a) wurde erfolgreichuntersucht, ob mit diesem Netztyp auch außere geometrische Situationen re-prasentiert werden konnen. Dies wurde am Beispiel der Landmarkennaviga-tion durchgefuhrt, die sowohl bei verschiedenen Insekten als auch an Nagernausfuhrlich untersucht worden war (Review in [25]). Zur Zeit wird in einemSimulationsansatz gepruft, wie dieses Prinzip fur ein sechsbeiniges Laufsystemeingesetzt werden konnte [22].

16.11 Neurophysiologie

Neben den Verhaltens- und Simulationsstudien zur Kontrolle von Bewegungarbeiten wir auf einer ganz anderen Beschreibungsebene, namlich dem neu-rophysiologischen Ansatz. Zwar besteht naturlich das langfristige Ziel darin,alle drei Ebenen miteinander zu verknupfen, doch ist dies in den konkretenUntersuchungen nur selten moglich. Eine Reihe wichtiger Erkenntnisse konn-te jedoch in den letzten Jahren gewonnen werden, welche jetzt anstehen, imWalkNet umgesetzt zu werden. Dazu gehoren die Ergebnisse zum Einfluss derBelastungsinformation auf das Timing des Stemm-Schwing-ubergangs [1], zurgegenseitigen Beeinflussung der Belastungs- und Stellungssensoren [26] sowiezum Feintuning der Kontraktionsamplituden der Beinmuskeln ( [24], Reviewsiehe [30]).

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17

Neuronale Bewegungskoordination und

-steuerung fur autonome Laufmaschinen

Martin Frik

Lehrstuhl fur Technische Mechanik, Gerhard-Mercator-Universitat DuisburgBearbeiter: Dipl.-Ing. Martin Guddat, Dipl.-Ing. Michael Karatas, Dipl.-Ing. DirkLosch

17.1 Zusammenfassung

Das Forschungsprojekt befaßte sich mit der Entwicklung von Methoden zurRealisierung autonomer Mobilitat von Gehmaschinen in unbekanntem, un-ebenem Gelande mit Hindernissen. Hierfur wurde zunachst ein allgemein ver-wendbares, objektorientiertes Programmsystem entwickelt, mit dem fur Geh-maschinen mit zwei oder mehr Beinpaaren beliebige Gangarten durch Gangpa-rameter definiert und die zugehorigen Winkelverlaufe der Beingelenke berech-net werden konnen. Dies schließt den Ubergang zwischen Gangarten, beliebigeGelandestrukturen sowie den technischen Ausfall von Gelenken oder Beinenein. Ein Gittersuchalgorithmus gestattet die Optimierung der Gangarten undder geometrischen Daten der Gehmaschinen z.B. bezuglich der Kippstabilitat.Als Experimentierplattformen entstanden in mehreren Entwicklungsschrittendie sechsbeinigen Gehmaschinen Tarry mit modularer, objektorientierter Soft-warearchitektur. Die Elemente der Steuerung sind zu einem großen Teil vonbiologischen Vorbildern direkt oder indirekt inspiriert. Die fur typische Gang-arten analytisch berechneten Gelenkwinkelverlaufe dienen als Trainingsdatenfur neuronale Netze, die es aufgrund ihrer Generalisierungsfahigkeit gestatten,ein großes Spektrum unterschiedlichster Gangarten mit hoher Ausfuhrungs-geschwindigkeit und hinreichender Genauigkeit zu generieren und die Aktua-toren der Beingelenke anzusteuern. Die Anpassung der Bewegungen an dasGelande erfolgt durch Kombination der verfugbaren Bewegungsmuster in Ver-bindung mit Reflexen, die im wesentlichen durch den Kontakt beziehungsweiseKontaktverlust mit der Umgebung initiiert werden. Mit den durch diese Refle-xe ausgelosten Bewegungen konnen Unebenheiten im Gelande ausgeglichen,Hindernisse uberstiegen beziehungsweise umgangen und Absturze vermiedenwerden. Ein Kurzzeitgedachtnis ubermittelt die von den Vorderbeinen detek-tierten Gelandeinformationen an die nachfolgenden Beinpaare.

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274 Martin Frik

17.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

17.2.1 Ausgangsfragen und Zielsetzung

Der Wunsch nach großtmoglicher Mobilitat hat die Menschheit seit jeher ver-anlaßt, immer neue Transportsysteme zu entwickeln und zu optimieren. Furdie Fortbewegung auf dem Lande spielen bis heute Fahrzeuge mit Raderndie zentrale Rolle. Im Gegensatz hierzu hat die Natur Lebewesen mit Beinenversehen und das Laufen mit großer Vielfalt ausgebildet und vervollkommnet.Bezuglich der Mobilitat in unwegsamem Gelande ist diese von der Natur prak-tizierte Fortbewegungsart den radergetriebenen Fahrzeugen, die in der Regelauf praparierte Fahrbahnen angewiesen sind, deutlich uberlegen.

Die hohe Flexibilitat und Mobilitat laufender Tiere beruht ganz wesentlichauf ihrer Fahigkeit zu koordinierten und der Umgebung angepaßten Bewe-gungen ihres Bewegungsapparates, der eine große Anzahl mechanischer Frei-heitsgrade umfaßt. Tiere besitzen hierfur eine hochparallele Informationsver-arbeitung, die in der Lage ist, aus Sensordaten in Echtzeit Stellsignale furdie Muskeln zu generieren. Daruber hinaus zeichnet sich die Bewegungssteue-rung laufender Lebewesen durch Fehlertoleranz, Generalisierungsfahigkeit undLernfahigkeit aus. Fur die technische Realisierung von Laufmaschinen mitderen großer Anzahl von Freiheitsgraden ist die komplexe Generierung undKoordination der Beinbewegungen, die fur eine ausreichend große Mobilitatin unwegsamem Gelande erforderlich ist, mit einem hohen Rechenaufwandverbunden, der in Echtzeit bewaltigt werden muß.

Im Gegensatz zu bisher in der Literatur veroffentlichten Arbeiten, die sichi.a. auf eine spezielle Gehmaschine beziehen, sollte eine allgemeine Vorgehens-weise zur Gangerzeugung, zur Optimierung von Gangarten und zur Optimie-rung der Gehmaschinenstruktur fur Gehmaschinen mit 2 oder mehr Beinpaa-ren entwickelt werden. Modifikationen der Gehbewegungen beim Ausfall vonGelenken und Beinen sowie Methoden zur Visualisierung sollten implemen-tiert werden. Die Adaption der Bewegungen in unwegsamem Gelande unddas Ubersteigen von Hindernissen sollte unter Einbeziehung biologischer undingenieurmaßiger Ansatze ermoglicht und experimentell nachgewiesen werden.

17.2.2 Durchgefuhrte Arbeiten und Darstellung der erreichtenErgebnisse

Gangmustererzeugung

Die im Forschungsprojekt entwickelte Methode zur Bewegungskoordination inunwegsamem Gelande beruht auf einer Modifikation und Kombination einfa-cher Gangmuster. Zur Charakterisierung periodischer Bewegungen von Geh-maschinen wurden hierzu 16 Gangparameter eingefuhrt, die im wesentlichenTranslations- und Rotationsgeschwindigkeit des Zentralkorpers, Zentralkor-perhohe und -orientierung, Phasenlagen, Duty-Faktoren und Schwingbewe-gungen der Beine, Schrittbreiten und Zyklusdauer festlegen. Ferner konnen

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17 Neuronale Bewegungskoordination und -steuerung 275

rhythmische Schwingbewegungen des Zentralkorpers definiert werden, die derErhohung der Stabilitat und der Reduzierung von Beinbelastungen dienen.

Zur Berechnung der Gangmuster (darunter wird der zeitliche Verlauf derGelenkwinkel verstanden), mit denen ein durch die Gangparameter definier-ter Gang realisiert wird, wurde die in C++ geschriebene ProgrammbibliothekWALKINGLIB entwickelt. Sie ist fur beliebige Gehmaschinen mit einem star-ren Zentralkorper und mit zwei oder mehr symmetrischen Beinpaaren mitweitgehend beliebiger Kinematik anwendbar. WALKINGLIB bietet die Mog-lichkeit, kinematisch korrekte Gangmuster fur Gehmaschinen vorgegebenerStruktur zu erstellen. Die Ergebnisse dieser Berechnung konnen in verschie-denen Formaten, z.B. in Form der zugehorigen Gelenkkoordinaten oder alsDatensatze zur Realisierung von Animationen , ausgegeben werden.

Fur die Bewegung in unwegsamem Gelande ist es erforderlich, daß dasWechseln von Gangarten, zum Beispiel bei Anderung der Laufrichtung oderbeim Ausweichen an Hindernissen, kinematisch sauber und einem flussigenBewegungsablauf moglich ist. Die im Forschungsprojekt entwickelte Losungs-strategie beruht darauf, daß die Gangparameter in drei Gruppen unterteiltwerden: solche, die kontinuierlich geandert werden konnen, in unstetig ver-anderliche Parameter und in Parameter, welche die Abhebe- und Aufsetz-zeitpunkte der Fuße beeinflussen und damit nur zu bestimmten Phasen derBewegung geandert werden durfen. Bei erforderlichen Parameteranderungender letzten Gruppe werden geeignete Gangartenubergange generiert [11].

Fur die Zuverlassigkeit einer Gehmaschine ist es bedeutsam, ob sie auchdann noch funktionsfahig ist, wenn einzelne Beingelenke ausfallen. Aufgrundder zahlreichen Freiheitsgrade von Gehmaschinen und der damit zusammen-hangenden Bewegungsredundanz war es moglich, eine Vorgehensweise zu ent-wickeln, bei der durch eine geeignete Anpassung der Gangart der betreffendeGelenkausfall kompensiert wird. Der Fall, daß ein Bein komplett ausfallt, istaus Stabilitatsgrunden nur dann behandelbar, wenn die Maschine mindes-tens 5 Beine besitzt. Das entwickelte allgemeine Ausfallkonzept wurde fureine 6-beinige Gehmaschine exemplarisch demonstriert. Es verwendet einenWellengang in Verbindung mit geeigneten Zentralkorperbewegungen, um dieMobilitat und die Stabilitat zu gewahrleisten [11].

Optimierung der Gangmuster und der Struktur der Gehmaschine

Die Kippstabilitat von Gehmaschinen ist fur einen kommerziellen Einsatz vonentscheidender Bedeutung. Bei Gehmaschinen mit sechs oder mehr Beinen istdiese Anforderung relativ leicht zu gewahrleisten. Bei vierbeinigen Gehma-schinen, fur die kommerzielle Anwendungen z.B. bei Befestigungsarbeiten inbergigem Gelande angestrebt werden, ist das Stabilitatsproblem jedoch au-ßerst kritisch . Man ist daher bestrebt, die Stabilitat durch geeignet gewahlteGangarten zu optimieren.

In diesem Forschungsprojekt wurde ein Optimierungsverfahren entwickelt,das es gestattet, unter Verwendung des Programmsystems WALKINGLIB die

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Gangparameter so zu bestimmen, daß das wahrend eines Schrittzyklus auf-tretende Minimum der Kippenergie moglichst groß wird [10]. Die Kippenergiegibt dabei die Energie an, die notwendig ware, um die Maschine in einen insta-bilen Zustand zu bringen. Hierbei werden auch dynamische Einflusse beruck-sichtigt. Die fur die Optimierung der Gangart hauptsachlich in Frage kommen-den Parameter sind die Duty-Faktoren, die Phasenlagen der Beine im Schritt-zyklus, die Referenzlagen der Beinpaare und die Zentralkorperschwingungen.Das Optimierungsverfahren beruht auf einem Gittersuchalgorithmus im dis-kretisierten Parameterraum. Fur die Gehmaschine ALDURO, die im Rahmendes Schwerpunktprogramms Autonomes Laufen von der Arbeitsgruppe vonProf. Hiller in Duisburg entwickelt wird, konnte mit diesem Verfahren eineganz wesentliche Stabilitatss teigerung erreicht werden.

Auch die im Forschungsprojekt durchgefuhrte Verallgemeinerung diesesOptimie-rungsverfahrens, bei der auch Strukturmaße der Gehmaschine, z.B.Einbaulagen und Einbauwinkel der Beine, Verhaltnis von Oberschenkel- zuUnterschenkellange, als variable Parameter betrachtet wurden, fuhrte zu be-achtlichen Verbesserungen der Stabilitat [10].

Einsatz neuronaler Netze bei der Gangmustererzeugung

Die online-Generierung von Gangmustern mit Hilfe des ProgrammsystemsWALKINGLIB hat den Nachteil einer relativ geringen Ausfuhrungsgeschwin-digkeit. Daher wurde ein Verfahren entwickelt, bei dem typische Gangmustervorab analytisch berechnet werden. Diese dienen dann als Trainingsdaten furneuronale Netze. Aufgrund der Generalisierungsfahigkeit neuronaler Netz istes moglich, die Gangmuster fur ein großes Spektrum unterschiedlicher Gang-arten mit hoher Ausfuhrungsgeschwindigkeit und hinreichender Genauigkeitzu generieren.

Im Forschungsprojekt wurden bei der exemplarischen Ausfuhrung und Ve-rifikation fur die Gehmaschine Tarry feedforward Netze und zum Training derbackpropagation Algorithmus verwendet. Fur die Gangmustergenerierung ei-nes jeden Beines wurde ein getrenntes neuronales Netz eingesetzt. TypischeEingangsgroßen waren die Geschwindigkeitskomponenten des Zentralkorpersin Langs- und Querrichtung, die Drehgeschwindigkeit um die Hochachse, dervertikale Abstand des Fußaufsetzpunktes vom Zentralkorper und ein Schritt-machersignal als Taktgeber. Dieses Schrittmachersignal wurde als rotierenderZeiger implementiert und liefert die Zeitmarken im Schrittzyklus und die Zy-klusdauer. Es gewahrleistet die Koordination der Beinbewegungen unterein-ander. Die Ausgange des neuronalen Netzes entsprechen den Gelenkwinkelndes betreffenden Beines. Die Berechnung der Beinwinkel dauert unter Ver-wendung der neuronalen Netze weniger als 1 ms und ist damit etwa um denFaktor 10 schneller als die Berechnung mit WALKINGLIB. Unter Verwen-dung dieser Netze sind Bewegungen der Gehmaschine in beliebiger Richtung,mit beliebigen Kurvenradien und im Rahmen der konstruktiven Gegebenheitmit beliebiger Korperhohe moglich. Auf die Moglichkeit, durch Kombination

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17 Neuronale Bewegungskoordination und -steuerung 277

und Modifikation dieser Gangarten auch unebenes Gelande mit Hindernissenzu bewaltigen, wird unten eingegangen.

Realisierung mit den Gehmaschinen Tarry

Fur den technischen Einsatz von Gehmaschinen kommen aus Stabilitats- undSicherheitsgrunden in erster Linie sechsbeinige Gehmaschinen in Frage. Die imFachgebiet Mechanik in mehreren Entwicklungsstufen realisierten Gehmaschi-nen Tarry, Tarry II, Tarry IIa und Tarry IIb lehnen sich in ihrer Geometrie undBewegung an das biologische Vorbild der Stabheuschrecke carausius morosusan, uber dessen Bewegungsverhalten umfangreiche Forschungsergebnisse derArbeitsgruppe von Prof. Cruse, Biologische Kybernetik, Universitat Bielefeld,vorliegen. Da bei Gehmaschinen die aufwendige und vielfaltige Aktorik undSensorik der Tiere nicht nachgebaut werden konnen, kommt es darauf an, dieGrundprinzipien ihrer Bewegungssteuerung zu erkennen und umzusetzen. Zielwar es, mit den Gehmaschinen Tarry eine weitgehend autonome Bewegung inunbekannter, unebener und unstrukturierter Umgebung mit einem moglichstgeringen Aufwand kostengunstig und effektiv zu realisieren.

Die Gehmaschinen Tarry besitzen pro Bein drei Rotationsgelenke, diedurch Servomotoren aus dem Flugmodellbau angetrieben werden. Die Ma-schinen sind aus Aluminiumprofilen aufgebaut und auf geringes Gewicht beihoher Tragfahigkeit optimiert. Zur Erkennung der Umwelt sind verschiedeneSensoren implementiert: Fußkontaktsensoren erfassen binar den Kontakt desBeines mit dem Boden. Zur Erkennung der Kollisionen eines Beines dient dieLeistungsmessung an den Servomotoren der Huftgelenke. Auf dem Zentralkor-per ist ein Inklinometer installiert, das Abweichungen von der Horizontalebe-ne erfaßt. Dehnungsmeßstreifen in den Beinsegmenten messen die aktuellenBelastungen und ein schwenkbarer Ultraschallsensor detektiert großere Hin-dernisse in Laufrichtung.

Zum Betrieb der Gehmaschinen ist eine reibungslose Kommunikation al-ler beteiligten Komponenten erforderlich. Auf der untersten Ebene der Da-tenubertragung steht das Messen und Versenden elektrischer Großen zwi-schen der Gehmaschine und den entsprechenden Hardwarekomponenten wieAnalog/Digital-Wandler, digitale Input/Output-Karten und Einrichtungenzur Erzeugung pulsweitenmodulierter Signale zur Ansteuerung der Servomo-toren. Dieser Ebene nachgeordnet befindet sich die Kommunikation der je-weiligen Rechner mit den genannten Hardwarekomponenten. Diese Rechnerermitteln auf Nachfrage die entsprechenden Meßwerte oder versenden die ge-wunschten Stellgroßen. Daruber ist das Koordinationssystem angesiedelt. DieKernelemente der Koordination befinden sich ublicherweise auf einem einzigenRechner. Einzelne, besonders zeitaufwendige Aufgaben, wie z. B. Visualisie-rungen, konnen auch auf andere Rechner ausgelagert werden, um die Ausfuh-rungszeit des koordinierenden Rechners nicht zu stark zu b eeinflussen. NahereEinzelheiten sind in [8] enthalten.

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278 Martin Frik

Das Steuerungskonzept der Gehmaschinen Tarry ist dem biologischen Vor-bild direkt nachempfunden: Im ungestorten Lauf wird die Bewegung der Stab-heuschrecke von einem rhythmischen Pattern-Generator erzeugt. Wenn es zueinem unvorhergesehenen Ereignis kommt, greifen Reflexe korrigierend ein.Bei großeren Storungen wird eine Einzelbeinsteuerung eingesetzt. Bei denGehmaschinen Tarry handelt es sich beim ungestorten Lauf analog um dieRealisierung eines trainierten Gangmusters mit Hilfe von neuronalen Netzen.Als Reaktion auf ein

”unnormales“ Sensorsignal wird in der Steuerung ein

Reflex ausgelost. Dabei gibt es verschiedene Hierarchiestufen, welche die Zu-standigkeit bei mehreren gleichzeitig auftretenden Reflexen regeln. Bei dendurch Reflexe ausgelosten Maßnahmen wird zwischen lokalen und globalenMaßnahmen unterschieden. Eine lokale Maßnahme wirkt sich lediglich auf eineinzelnes Bein aus, z.B. das Absenken eines Fußes zum Ausgleich einer Ver-tiefung. Globale Maßnahmen betreffen die ganze Maschine. Hier mussen alleBeine synchronisiert in Aktion treten, z.B. bei einer Richtungsanderung.

In Tarry wurden folgende Reflexe implementiert [8]:

Aufstandsreflex: Dieser beruht auf einem Vergleich der Fußaufstandsmustermit denen des ungestorten Gehens. Hierfur wird ein neuronales Netz trai-niert, das die Schrittmachersignale als Eingangs- und die aufgezeichnetenAufstandsdaten als gewunschte Aufstandsmuster verwendet. Bei einemverfruhten beziehungsweise verspateten Aufsetzen wird die lokale Hohedes betreffenden Beines entsprechend verandert. Bei kleineren Erhebun-gen oder Vertiefungen im Boden wirkt dieser Reflex als lokaler Reflex.Bei großeren Abweichungen wird eine globale Maßnahme ausgelost, dieFortbewegung wird gestoppt, das korrekte Aufstandsmuster durch Kor-rekturen an der Beinhohe wiederhergestellt, bevor die Bewegung fortge-setzt werden kann. Findet das Bein keinen Aufsetzpunkt, wird durch eineglobale Maßnahme die Korperhohe erhoht bzw. verringert, um doch nochBodenkontakt zu ermoglichen.

Lagekorrekturreflex: Unter Verwendung des Inklinometers wurden Methodenzur Horizontierung des Zentralkorpers implementiert. Diese konnen kon-tinuierlich durch globale Anderungen an den Beinhohen erfolgen. Auchkonnen plotzliche Anderungen, z. B. beim Uberschreiten einer Wippe oderbeim Abrutschen detektiert und entsprechend kompensiert werden.

Levator-Reflex: Dieser wird bei Kollisionen mit Hindernissen ausgelost undsoll das Ubersteigen ermoglichen. Um die Bewegungsfreiheit des kollidier-ten Beines wieder herzustellen, wird die gesamte Maschine etwas zuruck-bewegt. Dann wird das betreffende Bein noch weiter zuruck- und an denKorper herangezogen. Mit einer hoheren Fußpunktbahn wird dann ver-sucht, die Schrittmacherposition zum Zeitpunkt der Kollision zu erreichenund die Bewegung der Maschine fortzusetzen. Erfolgt eine weitere Kolli-sion, so wird diese Prozedur wiederholt.

Page 297: Autonomes Laufen

17 Neuronale Bewegungskoordination und -steuerung 279

Kurzzeitgedachtnis.

Um ein Kollidieren der mittleren und hinteren Beine mit Hindernissen zu ver-meiden, mit denen die vorderen Beine bereits kollidiert sind, wurde versucht,Informationen uber das Gelande unter der Gehmaschine zu gewinnen. Hierzuwurde die Kenntnis der Gelenkwinkelpositionen und der aufgesetzten Beineunter Verwendung von WALKINGLIB zum Aufbau einer lokalen Karte aus-genutzt . In dieser werden Informationen uber die Gelandehohen unter denFußaufsetzpunkten gespeichert. Die Karte bewegt sich wahrend des Laufensunter der Maschine hindurch und gibt Informationen uber bereits erkannteHindernisse an nachfolgende Beine weiter. Hiermit wird ein wesentlich flussi-geres Durchqueren hindernisbehafteter Umgebungen ermoglicht.

17.2.3 Stellungnahme zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit

Das Forschungsprojekt hat sich mit grundlegenden Problemen der autono-men Mobilitat von Gehmaschinen in unbekanntem und unwegsamem Gelandebefaßt und die Ergebnisse erfolgreich an Labormodellen uberpruft. Fur einewirtschaftliche Nutzung mußten noch umfangreiche technische Entwicklungs-arbeiten an einer fur einen speziellen Einsatz zu konzipierenden Gehmaschinedurchgefuhrt werden.

17.2.4 Kooperationspartner

Eine intensive Kooperation bezuglich biologischer Prinzipien der Bewegungs-steuerung fand mit der Arbeitsgruppe von Prof. Cruse, Biologische Kyberne-tik, Universitat Bielefeld, statt. Eine experimentelle Uberprufung der von die-ser Arbeitsgruppe erforschten Bewegungssteuerung der Stabheuschrecke ca-rausius morosus scheiterte zunachst an der nicht hinreichenden Genauigkeitder Gelenkwinkelmessung der Gehmaschine Tarry II. Inzwischen wurde furdiese Arbeitsgruppe die Gehmaschine Tarry II b gebaut und geliefert und istdort im Einsatz.

Fur die Arbeitsgruppe von Prof. Hiller, Mechatronik, Gerhard-Mercator-Universitat Duisburg, wurden Untersuchungen zur Generierung und Optimie-rung von Gangarten der vierbeinigen Gehmaschine ALDURO durchgefuhrt.

Der Arbeitsgruppe von Dr. Schmucker, Fraunhofer Institut fur Fabrikbe-trieb und Fabrikautomatisierung, Magdeburg, wurde die Moglichkeit gegeben,Gangmuster fur die sechsbeinige Gehmaschine Katharina mit Hilfe des Pro-grammsystems WALKINGLIB zu generieren und zu optimieren.

Literaturverzeichnis

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18

Multisensorielle Verfahren zur

Bewegungssteuerung sechsbeiniger

Schreitroboter

Ulrich Schmucker

Fraunhofer Institut Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF), MagdeburgBearbeiter: Dr.-Ing. A.Schneider, M.Sc. V.Rusin, M.Sc. Y.Zavgorodniy

18.1 Zusammenfassung

Die Arbeit macht sich zum Ziel, die theoretischen Grundlagen zur Multisenso-rik in Laufmaschienen zu erarbeiten und die experimentellen Untersuchungenmit Hilfe des am IFF entwickelten sechsbeinigen Schreitroboters KATHARI-NA (Abb. 18.1) durchzufuhren. Der Hauptteil der Forschung betrifft die Ent-wicklung von Verfahren und Algorithmen zur Vergroßerung der Relief- undBodenanpassbarkeit mit Hilfe multisensorischer Signale und der Nutzung desKorpers als adaptive Plattform fur Handhabungs- und Manipulationsopera-tionen mit montierten technologischen Ausrustungen.

Abb. 18.1. Schreitroboter KATHARINA

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282 Ulrich Schmucker

Die Forschungsarbeiten wurden auf die folgenden Themenbereiche fokus-siert:

Kraftsensibilisierung des Schreitroboters

Die Anwendungen der Schreitrobotern sind im Gegensatz zu traditionellenkontaktfreien Aufgaben der industriellen Robotersystemen weitaus kompli-zierter und fordert eine Gewahrleistung der gewunschten Interaktion mit derUmgebung. Deswegen sind die Schreitroboter ahnlich wie der Mensch auf eineumfangreiche Sensorik zur Erfassung seiner Umwelt angewiesen. Die mecha-nische Interaktion mit der Umgebung ist von besonderem Interesse. DurchMessung der ausseren einwirkenden Krafte konnen dem Schreitroboter neuemechanische Eigenschaften wie regelbare mechanische Nachgiebigkeit verlie-hen werden. Ziel dieser Aufgabe liegt in der Kraftsensibilisierung der Beinenbzw. des Korpers eines Schreitroboters sowie auch in der Untersuchung undWeiterentwicklung von Methoden zur Kraft-/Impedanzregelung von Roboternmit berlagerten mechanischen Kopplungen mit dem Ziel, die Kraftwechselwir-kung des gekoppelten Systems intelligent zu regeln.

Autonome Anpassung an Relief- und Bodenunebenheiten

Mit Beinen ausgestattete Laufmaschienen sind besonders manovrierfahig undbeweglich. Sie konnen Hindernisse uberwinden, die etwa so hoch sind wieihre Beine, konnen Treppen steigen, enge Durchbruche durchqueren und ste-hen selbst in stark zerklufteten Gelande nicht still. Auch Untergrunde mitunbekannter und wechselnder Tragfahigkeit sind kein Problem, denn Laufma-schienen stellen sich darauf ein. Entwicklung der modifizierbaren, an die Ge-landeform anpassungsfahigen Schreitzyklen bzw. Gangarten fur eine erhohteManovrierfahigkeit und Gangbarkeit des Schreitroboters bilden den Schwer-punkt dieser Aufgabe. Die Prinzipien der Multisensorintegration und Kraftre-gelung werden zur Entwicklung neuer Algorithmen zur Bewegungssteuerungvon Schreitroboter in unbekannter Umgebung benutzt.

Adaptive Plattform fur Serviceoperationen

Aber Transport alleine nutzt nicht die ausserordentliche Moglichkeiten derSchreitroboter. Sie konnen ausserdem als universelle Arbeitsplattform furMontagearbeiten, Reparaturen, Sicherungsarbeiten und andere Vorhaben ge-nutzt werden. Die erforderliche Positionierung und Orientierung der Plattformkann durch die Steuerung der Bewegung der auf dem Boden stehenden Bei-ne erreicht werden. So kann die gesteuerte Plattform als Handhabungsgeratverstanden werden, auf dem ein Kameramanipulator, Werkzeug, Instandset-zungsgerate o.a. montiert werden konnen. Entwicklung der Grundlagen ei-ner Steuerungstheorie fur verschiedene Serviceoperationen unter Nutzung der

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18 Bewegungssteuerung sechsbeiniger Schreitroboter 283

Korperbewegung des Schreitroboters und erganzenden technologischen Aus-rustungen sowie die experimentelle Prufung von entwickelten Algorithmen zurSteuerung des Roboterkorpers insbesondere fur Serviceoperationen mit uber-lagerten mechanischen Kopplungen stellen das Hauptziel dieser Aufgabe dar.

18.2 Arbeits- und Ergebnisbericht

18.2.1 Ausganglage

Die Hauptziele der Forschungsarbeiten im DFG-Projekt lassen sich in zweiGruppen teilen: Ingenieurtechnische Aufgaben und wissenschaftliche Grund-lagenforschung.

Ingenieurtechnische Aufgaben

• Entwicklung einer optimierten mechanischen Konstruktion eines Schreitro-boters fur Serviceaufgaben;

• Multisensorielle Integration inklusive Kraftsensibilisierung der Roboterbei-ne und der technologische Ausrustung;

• Entwicklung eines neuen Steuerungssystems, welches die Datenerfassungund -auswertung von Multisensorsystem im Echtzeitbetrieb erlaubt.

Wissenschaftliche Grundlagenforschung

• Entwicklung von Basisalgorithmen fur Roboterbewegung, koordinierteKorperbewegung, automatische Anpassung an die Umgebung;

• Erarbeitung der theoretischen Grundlagen zur Sensorintegration und zurBewegungsregelung mehrbeiniger Schreitroboter,

• Regelung der mechanischen Wechselwirkung mit dem Umgebung,• Realisierung und Untersuchung einer Reihe von Serviceoperationen, die

mit Hilfe von kraftgefuhrter Regelung der Korperbewegung durchgefuhrtwerden konnen.

18.2.2 Beschreibung der durchgefuhrten Arbeiten

Hierarchische Steuerungssystem

In den letzen Jahrzehnten wurden große Anstrengungen in der Erforschung derBewegungsphysiologie von Mensch und Tier unternommen. Viele Erkenntnisseder Biologen sind sehr bedeutend bei der Konstruktion der Schreitroboter.Grundprinzipien dieser Steuerungsorganisation sind:

• das Steuerungssystem ist als Hierarchie organisiert;

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284 Ulrich Schmucker

• auf hochster Ebene gibt es ein zentrales Bewegungsprogramm, welches un-ter Verwendung peripherer Bewegungs- und Sensorsysteme realisiert wird;

• sowohl die”senkrechte“ Wechselwirkung zwischen den Ebenen, als auch die

”horizontale“ zwischen Elementen einer Ebene spielen eine wichtige Rolle;

• es gibt verschiedene Typen der Wechselwirkung zwischen den Ebenen. Ins-besondere sind das:– Wechselwirkungen hoherer Ebenen, die die Beziehungen der Elemente

innerhalb niedrigerer Ebenen modifizieren,– unmittelbare Steuerung

”von oben“ unter Umgehung von Elementen

der dazwischenliegenden Ebenen;• jede Ebene kann

”selbstandig“ funktionieren. Das druckt sich dadurch aus,

dass der Vorrat von Wirkungen in einer Ebene bedeutend großer ist, alsdie Kombinationen der auf diese Ebene

”von oben“ einwirkenden Befehle.

Unter strikter Einhaltung ihrer Unterordnung arbeiten die niedrigerenEbenen normalerweise autonom, d.h. die von niedrigeren Ebenen normalerwei-se auszufuhrenden Aktionen sind nur unter den Bedingungen moglich, dass sieden

”von oben“ kommenden Befehlen nicht widersprechen. Diese Vorstellun-

gen wurden bei der Entwicklung des Steuerungssystems fur den SchreitroboterKatharina (Abb. 18.2) zugrunde gelegt.

Nach untersuchten hierarchischen Prinzipien wurde eine neue Strukturdes Steuerungssystems mit skalierbarer Rechenleistung auf der Basis von mo-dernen Signalprozessoren (DSP) entwickelt, welches die Datenerfassung und-auswertung von Multisensorsystem im Echtzeitbetrieb erlaubt. Das Steue-rungssystem befindet sich auf dem Roboter und hat Kommunikationsschnitt-stellen fur Datenaustausch zwischen dem Roboter und der Steuerungseinheit;als Struktur des Steuerungssystems wurde eine hierarchische Baumstrukturgewahlt, die das Abstrahieren verschiedener Ebenen der mechanischen undelektrischen Strukturen des Schreitroboters erlaubt.

Schreitzyklusgenerator

Eine zentrale Rolle in der Steuerungsstruktur des Schreitroboters spielt derSchreitzyklusgenerator. Ihm kommt die Aufgabe zu, koordinierte Laufbewe-gungen fur die Roboterbeine zu generieren, um eine Fortbewegung mit derAdaptation zu kleinen Bahnunebenheiten zu ermoglichen. Fur das statischstabile Laufen ist zunachst wichtig, dass durch das Laufmuster sichergestelltwird, dass das Stutzpolygon eine ausreichende Konfiguration hat. Das heißt,dass seine Flache einerseits groß genug ausfallt und andererseits das aufge-spannte Stutzpolygon ausreichend Stabilitatsreserve bietet.

Weil der Roboter sich im Allgemeinen auf der unebenen Oberflache bewe-gen soll, ist diese Aufgabe der Generierung von Schreitzyklen selbstverstand-lich ohne jede Information uber die Oberflache, d.h. folglich ohne Auswahl derStutzpunkte zu losen. Die Organisation der Fortbewegung von Schreitrobo-ter auf der Oberflache mit kleinen Bahnunebenheiten ist naturlich, mit Hilfe

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18 Bewegungssteuerung sechsbeiniger Schreitroboter 285

Abb. 18.2. Hierarchisches Steuerungssystem

regularer Gangarten zu realisieren, wobei die Roboterbeine eine rhythmischeBewegung durchfuhren. Dabei mussen die Beine einerseits den Roboter stut-zen und somit Bodenkontakt haben, andererseits in eine neue Stutzpositi-on bewegt werden. Das setzt voraus, dass zunachst der Bodenkontakt gelostwird, dann das Bein uber den neuen Aufsetzpunkt bewegt wird, um danneinen neuen Bodenkontakt zum Stutzen herzustellen. Zur Konstruktion desSchreitzyklus (Abb. 18.3) wurde davon ausgegangen, dass beim Auftritt undbei der Ablosung eines Fußes moglichst kleine Querkrafte eingebracht werdensollen. Damit wird die Beruhrung der kleinen Unebenheiten vermieden unddie Bewegung in den Reibungskegeln garantiert. Damit wird gewahrleistet,daß immer mindestens drei Fuße auf dem Boden stehen. Aus der Bedingungfolgt, daß die Bewegungsgeschwindigkeit in der Transferphase großer als in derSupportphase ist. Die Maximalgeschwindigkeit des Roboters wird also von derMaximalgeschwindigkeit in der Transferphase bestimmt.

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286 Ulrich Schmucker

Abb. 18.3. Schematischer Aufbau eines adaptiven Schreitzyklus

Schreitzyklustransformationen

Im Schreitzyklusgenerator wurden zunachst Schreitzyklenmuster erzeugt. Sieenthalten exemplarisch die notwendigen Bewegungen der Fuße. Die Schreit-zyklusmuster werden fur jeweils eine Beingruppe erzeugt. Unter einer Bein-gruppe werden alle Beine verstanden, die sich entsprechend des gewahltenLaufmusters gleichartig bewegen. Das konnen fur den Dreifußgang zwei Bein-gruppen sein, in einem anderen Fall konnen es auch sechs Beingruppen sein,wenn sich jedes Bein individuell bewegen muss.

Abb. 18.4. Transformationen der Schreitzyklen

Die Methode der Abbildung der Schreitzyklen auf die Beinenden kannnicht nur fur einfache Laufoperationen (Abb. 18.4) genutzt werden. DurchVeranderung der Transformation lassen sich die Schreitzyklen kippen oder

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18 Bewegungssteuerung sechsbeiniger Schreitroboter 287

verschieben, so dass eine gezielte Anpassung an die Gelandeform vorgenom-men werden kann. Durch die Verlagerung der Schreitzyklen wird es moglich,die Beinstellungen beim Laufen so zu manipulieren, daß sich der Roboterin engen Umgebungen bewegen kann oder durch vertikales Verschieben derSchreitzyklen sich der Roboter entweder stark aufrichtet oder zu kriechenscheint. Die Anpassungen der Schreitzyklen konnen durch Einfuhren weitererParameter vorgenommen werden. Das Verschieben der Schreitzyklen erfolgtlediglich durch eine Addition eines Verschiebungsvektors auf das Beinende.Dabei konnen fur jedes Beinende individuelle Verschiebungen vorgenommenwerden. Das Kippen der Schreitzyklen erfolgt durch Rotation des Muster-schreitzyklus.

Kraftsensibilisierung von Schreitrobotern

Abb. 18.5.

EingebauterKraftsensor

Die kinematische Bewegungsregelung eines Schreitrobotersbasiert auf Informationen von Positions- und Geschwindig-keitssensoren, die sich im Korper und in den Beinen befin-den. Jedoch ist es bei Wechselwirkung des Roboters mit demUntergrund oder mit anderen externen Objekten erforderlich,Informationen uber die Reaktionskrafte zu besitzen. Diese las-sen sich mittels Kraft/Momentsensoren (Abb. 18.5) gewinnen.Damit erhalt man Informationen uber:

• Stutzkrafte;• Kontakt der Beine mit externen Objekten;• Stabilitatsreserve wahrend der Roboterbewegung;• mechanischen Eigenschaften des Untergrunds sowie uber

dessen Tragfahigkeit;• resultierenden Kraft- und Momentenvektoren, die am Kor-

per angreifen.

Konzepte zur Steuerung/Regelungder Roboterbewegung im Kontakt

Die meiste Anwendungen der Robotersysteme gehoren zuschnellen Transportaufgaben, fur die nur die Anfangs- undEndkonfiguration des Roboters wichtig ist. Die Kontaktauf-gaben gehoren dagegen zu langsameren prazisen Aufgaben, die sich durchkleine prazise Bewegungen auszeichnen, bei denen die Lage und die Ge-schwindigkeit des Robotersystems von seinem Regelungssystem gut uber-wacht und kontrolliert werden. Folglich konnen die Algorithmen zur Regelungder Roboterbewegung im Kontakt anhand der Information uber die Kon-taktkraft durch die entsprechende Anpassung der Algorithmen zur Positions-/Geschwindigkeitsregelung aufgebaut werden.

Page 306: Autonomes Laufen

288 Ulrich Schmucker

Das wachsende Bedurfnis an den fortgeschrittenen Roboter hat das starkeInteresse zur Entwicklung verschiedener Konzepten und Schemen zur Rege-lung der Roboterbewegung im Kontakt mit der Umgebung im Lauf der letztenzwei Jahrzehnte aufgeweckt. Aus der Literatur ist eine Vielzahl von Methodenzur Regelung der

”Roboterbewegung im Kontakt“ bekannt.

Viele entwickelte Methoden zur Regelung der Roboterbewegung im Kon-takt konnen anhand verschiedener Kriterien klassifiziert werden. Das wich-tigste Klassifikationsmerkmal bezieht sich auf die Zielsetzung bzw. Aufgaben-stellung des Robotersystems im Kontakt. Dementsprechend konnen auch dieKonzepte zur Steuerung/Regelung der Roboterbewegung im Kontakt aufge-teilt werden:

• Bei Aufgaben mit ausgepragtem Kontakt, wobei neben den Anforderungenan den Geschwindigkeits- und/oder Positionsverlauf zusatzliche Bedingun-gen hinsichtlich der prozessdefinierten Interaktionskraft zu erfullen sind,handelt es sich um die hybride Kontaktkraft-/Positionsregelung.

• Bei Aufgaben mit potentiellem Kontakt, wobei neben den Anforderungenan den Geschwindigkeits- und/oder Positionsverlauf zusatzliche Bedingun-gen hinsichtlich des Wertes der Nachgiebigkeit des Robotersystems zu er-fullen sind, handelt es sich um Nachgiebigkeitsregelung (Impedanz- bzw.Admittanzregelung).

Betrachtet man die Art und Weise, wie die Interaktionskrafte ins Steuerungs-/Regelungskonzept einbezogen werden, unterscheidet man zwischen:

• den passiven Steuerungsmethoden. Die Position des Roboters (des Endef-fektors, des Fußes) wird an die Kontaktkraft infolge der Nachgiebigkeit derStruktur oder des Reglers selbstandig angepasst.

• den aktiven Regelungsmethoden. Die Kraftruckkopplung wird mit der Ab-sicht verwendet, die gewunschte Kontaktkraft oder aufgabenspezifischeRoboternachgiebigkeit zu erzeugen. Unter der Kraft werden die Kraft undder Moment und, entsprechend, unter der Position werden die ausgelegtePosition und die Orientierung verstanden.

Bemerkung: Gemaß der Anforderungen der hybriden Kraft- bzw. Positions-regelung sollen nicht nur den gegebenen Geschwindigkeits- und/oder Posi-tionsverlauf sondern auch die zusatzliche Bedingungen hinsichtlich der Kon-taktkraftverlauf garantiert werden. D.h. fur die erfolgsreiche Durchfuhrung derKontaktaufgabe soll die Kontaktkraft gemessen und geregelt werden. Dement-sprechend kann die hybride Kraft-/Positionsregelung nur den aktiven Rege-lungsmethoden zugeordnet werden.

Von Gesichtspunkt der Regelungstheorie konnen die Methoden zur Synthe-se des Regelungs-/Steuerungssystem in zwei großen Gruppen geteilt werden:

• stationare Methoden. Die Reglerstruktur/-parameter bleiben unverander-lich wahrend der Durchfuhrung der Prozessaufgabe (z.B. optimale oderrobuste Regler).

Page 307: Autonomes Laufen

18 Bewegungssteuerung sechsbeiniger Schreitroboter 289

• adaptive Methoden. Die Reglerstruktur/-parameter andern sich wahrendder Durchfuhrung der Prozessaufgabe anhand der Information ber die Sys-temzustande und die außere Einflusse.

Trotz der Vielfaltigkeit der existierenden Konzepten zur Steuerung/Rege-lung der Roboterbewegung im Kontakt kann die grobe Klassifikation folgen-dermaßen dargestellt werden (Tabelle 18.1).

Tabelle 18.1. Gesamte Klassifikation der Konzepte zur Interaktionsregelung vonRobotersystemen

hybride Kraft- undPositionsregelung

Regelung/Steuerung der Roboternachgiebigkeit

Aktive Regelung Aktive Regelung Passive Steuerung

Direkte Regelung derRoboterposition undder Kontaktkraften

Modifikation derSollposition als Antwortauf die gemessenenKontaktkrafte

Nachgiebigkeit alsAntwort auf dieentstehendenKontaktkrafte

pure hybride Kraft-/Positionsregelung(stationare/adaptive)positionsbasierteKraftregelung(stationare/adaptive)

pure Impedanzregelung= Steifigkeits-,Dampfungs- undallgemeineImpedanzregelung(stationare/adaptive)Impedanzregelung mitVorgabe desKraftsollwertes =paralleleKraft-Positionsregelung= Kraft-/Impedanzregelung(stationare/adaptive)

Elastizitat in derRoboterkonstruktion =elastische Gliederund/oder Gelenken(stationare) RCC -Element = speziellenachgiebigeVorrichtungen(stationare/adaptive)Reglerparameteranpas-sung = Anpassung derKoeffizienten desPositionsreglers(stationare/adaptive)

Kraftverteilung zwischen den Roboterbeinen

Die Regelung der Auflagerreaktion ist eine der Schlusselprobleme bei der Be-wegungsgenerierung eines Schreitmechanismus. Grundlegend fur die Erstel-lung verschiedener Regelungsalgorithmen ist dabei der Umstand, dass dermehrbeinige Roboter ein mechanisches unbestimmtes System darstellt, wennsich auf der Stutzflache mehr als drei Beine befinden. Dass bedeutet, dass einevorgegebene Bewegung des Roboters mit unendlich vielen verschiedenen Vari-anten der Verteilungen von Reaktionskraftkomponenten verwirklicht werdenkann. Die Verteilung der Stutzreaktionen ist notwendig fur:

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290 Ulrich Schmucker

• die Roboterbewegung uber einen Untergrund mit unbekannten mechani-schen Eigenschaften, so dass das Einsinken der Beine korrigiert werdenkann;

• die Minimierung des Energieverbrauchs des Roboters;• die Bewegung der Roboterbeine im Reibungskegel (Verhinderung von Weg-

rutschen)

Es wurde eine Methode zur Optimierung der Kraftverteilung zwischen denRoboterbeinen entwickelt. In Algorithmen zur Berechnung der Sollkraftver-teilungen wurd eine

”energetische“ Optimierung zugrunge gelegt. D.h. der

Energieaufwand zur Kompensation der Gewichtskraft des Roboters wird mi-nimiert.

Kraftgefuhrte Serviceoperationen

Die meisten Service- bzw. technologischen Operationen, wie Montage, Repara-tur, mechanische Bearbeitung, sind dadurch gekennzeichnet, dass die mecha-nischen Kopplungen den Bewegung der zu handhabenden Objekte (Werkzeug,Manipulator) berlagert sind. Steuerung dieser Operationen erfolgt durch vor-handene Information uber die angreifenden Kraft- und Momentvektoren underfordert eine Kraftregelung. In unseren Experimenten fur die Berechnungenvon angreifenden Karft- und Momentvektoren wird einen auf dem Korper desRoboters montierte Kraftsensor genutzt. Dadurch sind zusatzliche Transfor-mationen der Koordinatensysteme nicht erforderlich. Fur die Kraftregelungwerden die o.g. Methoden zur aktive Regelung der Roboternachgiebigkeit ge-nutzt.

Die Grundlage der Algorithmen zur Durchfuhrung der Serviceoperationenbildet eine komplexe Uberlagerung einfacher Bewegungen wie z.B. Bewegun-gen senkrecht oder tangential zur Oberflache. Folgende Serviceoperationenwurden untersucht:

Korperbewegung als adaptive Plattform

Die Steuerung der Korperbewegung kann mit Hilfe der Informationen uber dieam Korper anliegenden Hauptkraft- und Hauptmomentvektoren gelost wer-den. Wenn die Sollvektoren der translatorischen und rotatorischen Korperbe-wegung linear von den wirkenden Kraften und Momenten abhangen, bewegtsich der Korper nach dem

”generalisierten Dampfungskonzept“ (

”accommo-

dation“,”generalized damping“). In der Untersuchungen (Abb. 18.6) wird die

außere Kraft an den Korper mit Hilfe der Federwaage angelegt.

Bohren eines Loches mit Hilfe einer auf dem Korper montiertenBohrmaschine

Der Bohrer wird zunachst automatisch in Normalenrichtung zur Oberflacheausgerichtet. Zur Orientierung des Bohrers, der die Werkstuckoberflache be-ruhrt, ist es notwendig, die Korperbewegung so zu steuern, dass die Langsachse

Page 309: Autonomes Laufen

18 Bewegungssteuerung sechsbeiniger Schreitroboter 291

Abb. 18.6. Experiment mit adaptiver Korperbewegung

des Bohrers parallel zur Normalen der Werkstuckoberflache zeigt. Der Kon-taktpunkt darf sich nicht bewegen. Die Berechnung der Normalenrichtung derWerkstuckoberflache wird dabei mit Hilfe des Kraftsensors ermittelt. Wah-rend der Bohrer die Oberflache beruhrt, werden die drei Kraftkomponentengemessen. Die Ausrichtung des Bohrers in Normalenrichtung der Werkstucko-berflache kann gesteuert werden, indem mit Hilfe dieser Daten die Querkom-ponenten des Kraftvektors gegen null geregelt werden. Die Langskomponenteder Kontaktkraft muss parallel zur Bohrerachse und konstant im Wert sein.Die Orientierung der Bohrmaschine geschieht durch Einstellung der richtigenKorperneigung. Das Bohren (Abb. 18.7) erfolgt unter Kontrolle einer Impe-danzregelung.

Abb. 18.7. Experiment mit dem Bohren

Einsetzen einer Rohre, die auf dem Roboterkorper befestigt ist, in eineOffnung

Wahrend des Kontaktes der Rohre mit der trichterformigen Oberflache werdendie wirkenden Reaktionskraftkomponenten erfaßt. Durch eine Impedanzrege-lung (Dampfungsregelung), die den Roboter in Richtung einer Minimierung

Page 310: Autonomes Laufen

292 Ulrich Schmucker

der seitlichen Kraftkomponenten verschiebt, wird die Druckkraft entsprechenddes gewunschten Wertes aufrechterhalten. Die experimentellen Ergebnisse ha-ben gezeigt (Abb. 18.8), daß die Steuerungsmethode eine gleichmaßige Be-wegung der Rohre entlang der trichterformigen Oberflache erzeugt und diegemessenen Werte der Kraftkomponenten sehr nahe an den Sollwerten liegen.

Abb. 18.8. Experiment zum Einsetzen eines Rohres

Drehung eines Handhebels

Operationen wie Drehen eines Handrades bzw. Handhebels oder Griffes, dasAuf- und Zuschrauben von Ventilen oder Klappen sind verbreitete Ablaufebei Serviceoperationen. Solche Operationen lassen sich mittels adaptiver Kor-perbewegungen durchfuhren. In Experimenten wird das Drehen eines Hebelsdurch ein aufgestecktes Rohr mittels eines Kraftsensors realisiert, der in derVerbindung zwischen Rohr und dem Roboterkorper angebracht ist. Die Auf-gabe, den Handhebel zu drehen, besteht in einer Rotation des Rohrs entlangder Kreislinie. Das Kreiszentrum und der Radius sind dabei a priori unbe-kannt(Abb. 18.9).

18.2.3 Darstellung der erzielten Ergebnisse

Die Arbeitsergebnisse bestehen im Folgenden:

• Es wurde ein optimierter Laborprototyp des sechsbeinigen Roboters”Ka-

tharina“ mit einem sechseckigen Korper entwickelt. Der Roboter kann einegroße Klasse von Bewegungen realisieren und besitzt eine hohe Manovrier-fahigkeit. Der Roboter ist in der Lage, eine zusatzliche auf dem Korperinstallierte Ausrustung zu transportieren;

• Ein neues Steuerungssystem mit skalierbarer Rechenleistung auf der Basisvon modernen Signalprozessoren wurde entwickelt. Dieses erlaubt die Da-tenerfassung und -auswertung von Multisensorsystem im Echtzeitbetrieb.

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Abb. 18.9. Experiment mit dem Hebeldrehen

• Die Roboterbeine und der technologischen Ausrustung wurde mit Mehr-komponenten-Kraftsensoren ausgestattet. Basierend auf den eigenen Er-fahrungen wurden Kraftsensoren fur andere Forschergruppen entwickelt(FZI, Karlsruhe; Uni-GH, Duisburg; Uni Brussel) und die entsprechendenAlgorithmen zur Kraftregelung ubergeben.

• Verschiedene Methoden und Algorithmen zur Regelung der Roboterbeine,des Roboterkorpers und der technologischen Einrichtung wurden unter-sucht und weiterentwickelt:– ein modifizierbares, an die Gelandeform anpassungsfahiges Schreitzy-

klus’ und seine Transformationsalgorithmen fur eine erhohte Mano-vrierfahigkeit und adaptives Schreitverhalten des Schreitroboters unterVerwendung der Informationen multisensorieller Systeme (insbesonde-re die Informationen von Kraft- und Lagesensoren, Entfernungssenso-ren);

– energetisch optimale Kraftverteilung der Stutzkraftreaktionen der Ro-boterbeine;

– Steueungsalgorithmen der typischen Serviceoperationen mit berlager-ten mechanischen Kopplungen, insbesondere zur Montage und Hand-habung;

– analytischer Vergleich der bekannten Regelungskonzepte des Schreitro-boters im Kontakt mit der Umgebung sowie die Kraft- bzw. Nachgie-bigkeitsregelung des elektromechanischen Systems.

Es wurde nachgewiesen, dass die Anwendung entwickelter Algorithmen zurKraft- bzw. Impedanzregelung:– vergroßern die Anzahl der losbaren Aufgaben,– vereinfachen eine ganze Reihe von Steuerungsalgorithmen,– konnen neue mechanische Eigenschaften den Beinen verleihen,– ermoglichen eine Regelung von Feinbewegungen,

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294 Ulrich Schmucker

– optimieren den Energieverbrauch bei unbestimmten Systemen mit ber-lagerten mechanischen Kopplungen.

18.2.4 Ausblick auf kunftige Arbeiten und Beschreibung moglicherAnwendungen

• Entwicklung eines neuen optimierten sechsbeinigen Schreitroboters mit zu-satzlichen geregelten Freiheitsgraden im Korper, um ein zum Klettern undUberwinden großer Hindernisse zu realisieren.

• Methodenentwicklung zur raumlichen Navigation, Kartierung und Para-metrierung mittels maschinellen Stereosehens.

• Entwicklung eines Multisensorsystems, basierend auf internen und exter-nen Sensoren (insbes. Stereovision) zur autonomen Regelung der Roboter-bewegung fur die Orientierung im Raum, einschließlich berwindung bzw.Umgehung von Hindernissen.

• Erweiterung der Klasse der Aufgaben von”Serviceoperationen“. Mogliche

Anwendungen von mehrbeinigen Schreitrobotern in der Industrie, Bauwe-sen, Landwirtschaft und anderen Bereichen basieren auf folgenden Eigen-schaften:– Hohe Beweglichkeit und Manovrierfahigkeit;– Uberwindung von Hindernissen bis etwa der Beingroße;– Moglichkeit der Auswahl von Aufsetzpunkten der Beine auf dem Un-

tergrund;– Moglichkeit der Arbeit in stark strukturiertem (z.B. zerklufteten) Ge-

lande;– Fahigkeit zum Treppensteigen, Durchqueren enger Durchbruche;– Nutzung einzelner Beine als

”Arbeitsorgan“ (z.B. mit zusatzlichem

Werkzeugtrager);– Adaptionsfahigkeit an Untergrunde mit unbekannter und wechselnder

Tragfahigkeit.

18.2.5 Interdisziplinare Weiterentwicklung:

Die Materialien, die im Laufe der Arbeit am Projekt veroffentlicht sind, kon-nen auch fur Spezialisten auf anderen Gebieten der Robotik von Interessesein:

• DSP-basiertes Echtzeit-Steuerungssystem fur eine große Anzahl von Frei-heitsgraden und der Moglichkeit einer online-Umprogrammierung;

• Mathematische Methoden zur Stabilitatsuntersuchung von Robotersyste-men;

• Allgemeine Vorschriften zur Parametrierung und Optimierung der Reglerbei robotergestutzten Serviceoperationen mit uberlagerten mechanischenKopplungen;

• Methoden zur Berechnung und Auslegung von Mehrkomponenten-Kraft-sensoren,

Page 313: Autonomes Laufen

18 Bewegungssteuerung sechsbeiniger Schreitroboter 295

18.2.6 Anwendung

• Die Erfahrungen im Entwurf und der Konstruktion von Sensoren (in ersterLinie Mehrkomponenten-Kraftsensoren) und Algorithmen zur Verteilungder Stutzreaktionen wurde anderen Forschungsgruppen ubergeben (FZI,Karlsruhe, Uni-GH, Duisburg, Uni. Libre, Bruxelles ); Sensoren wurdenfur die Forschergruppen gebaut und ubergeben;

• Im Auftrag der Universitat Magdeburg wird ein sechsbeiniger Labor-schreitroboter (Abb. 18.10) mit zusatzlichen Freiheitsgraden im Korpererstellt.

Abb. 18.10. Labor-Schreitroboter “Slair” mit flexiblem Korper

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[9] Schmucker, U.: Der sechsbeinige Schreitroboter Katharina. In: Spektrum derWissenschaft 4 (1998), S. 44–47

[10] Schmucker, U.: Sensoren. In: Heimann, B. (Hrsg.) ; Gerth, W. (Hrsg.) ;Popp, K. (Hrsg.): Mechatronik. Leipzig : Fachbuchverlag, 1998

[11] Schmucker, U. ; Schneider, A. ; Ihme, T.: Force control for legged robots.In: Preprints of the Fifth IFAC Symp. on Robot Control. Nantes, France, 1997,S. 105–110

[12] Schmucker, U. ; Schneider, A. ; Ihme, T.: Force control for Legged Robots.In: ICAR’97 - 8th Intern. Conf. on Advanced Robotics. Workshop 11 ”New Ap-proaches on Dynamic Walking and Climbing Machines”. Monterey, USA, 1997,S. 38–43

[13] Schmucker, U. ; Schneider, A. ; Ihme, T.: A walking chassis to performservice operations. In: Proc. International Symposium on Climbing and WalkingRobots (CLAWAR). Brussel, Belgien, 1998

[14] Schmucker, U. ; Schneider, A. ; Ihme, T.: A walking chassis to performservice operations. In: 4. Magdeburger Maschinenbau-Tage. Magdeburg, 1999,S. 191–198

[15] Schneider, A.: Control algorithms of interaction between walking robot legsand soft soil. In: Proc. 2nd International Symposium on Climbing and WalkingRobots (CLAWAR). Pothsmouth, UK, 1999, S. 473–481

[16] Schneider, A. ; Schmucker, U.: Force control of six-legged robot for serviceoperations. In: Proc. 2nd International Symposium on Climbing and WalkingRobots (CLAWAR). Pothsmouth, UK, 1999, S. 231–238

[17] Schneider, A. ; Schmucker, U.: Adaptive six-legged platform for mountingand service operations. In: Proc. 3rd International Conference on Climbing andWalking Robots (CLAWAR). Madrid, Spanien, 2000, S. 193–200

[18] Schneider, A. ; Schmucker, U.: Force legged Platform“Katharina”for ServiceOperations. In: Proc. 4th International Conference on Climbing and WalkingRobots (CLAWAR). Karlsruhe, 2001

[19] Schneider, A. ; Zeidis, I. ; Zimmermann, K.: Comparison of body shapes ofwalking machines in regards to stability margins. In: Proc. 3rd InternationalConference on Climbing and Walking Robots (CLAWAR). Madrid, Spanien,2000, S. 275–281

[20] Sklijarenko, Y.: Anwendung neuronaler Netze zur Regelung von nichtlinearenRoboterantrieben. Magdeburg, Otto-von-Guericke-Universitat, Diss., 2001