dioxine – eine aufgabe für die umwelttechnik

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Chemie lngenieur Technik (70) 5. 1517-1525 @> WILEY-VCH Verlag GrnbH, D-69469 Weinheim. 1998 0009-286X/98/1212-1517 $17.50+.50/0 12 I98 Dioxine - Eine Aufgabe fur die Umwelttechni k HElNZ KOSER* 20 Jahre Umweltgeschichte der Di- oxine, d. h. der PCDD und PCDF, werden beleuchtet, wobei der Schwerpunkt der Betrachtungen auf den Entwicklungen in Deutschland liegt. Nachdem kurz auf wichtige umweltrelevante physiko-chemische Eigenschaften der Dioxine einge- gangen wird, steht der Ablauf der Betriebsstorung in Seveso im Jahre 1976 im Mittelpunkt der Betrach- tung. Die in Seveso aufgetretenen Umwelteinwirkungen der Dioxine fanden weltweite Publizitat. In den Folgejahren wurden die Kenntnisse uber die Analytik und Toxizitat die- ser Stoffgruppe erheblich vertieft und die Dioxinproduktion in der Aromatenchemie drastisch verrin- gert. In den achtziger Jahren kon- zentrierte sich die Diskussion auf die Dioxinbildung bei der Abfallver- 1 Einleitung brennung. Die in dieser Zeit erar- beiteten Kenntnisse haben dazu ge- fuhrt, dad in Deutschland die Ab- fallverbrennung heute keine we- sentliche Quelle fur Dioxinemissio- nen mehr ist. Derzeit werden in Deutschland die grodten bekannten Dioxin-Massenstrome von der Me- tallindustrie emittiert. Emissions - mindernde Verfahren werden in diesem Industriezweig derzeit in Demonstrationsanlagen erprobt. Bis zum Jahre 2000 diirften auch diese Dioxinquellen weitgehend versiegt sein. Dioxins - Task for Environmental Engineering Two decades of the environmental history of dioxins, i.e. of PCCDs and PCDFs, are examined, with the main emphasis being placed on develop- ments in Germany. After a brief consid- eration of the important, environmen- tally relevant properties of dioxins, interest is focussed on the course of the Seveso incident of 1976. The envi- ronmental effects of dioxins observed in Seveso received global publicity. In the following years our knowledge of the analysis and toxicology of this group of substances greatly improved and the production of dioxins in the aromatics sector of the chemical industry was drastically reduced. In the 1980s. dis- cussions concentrated on the formation of dioxins in waste incineration. The results obtained during this period led to the present situation in which waste incineration is no longer a significant source of dioxin emission in Germany. The greatest known source of dioxins in Germany is in the metallurgical industry. By the year 2000 this dioxin source will also have been largely eliminated. Die Umwelteinwirkungen der industriellen Produktion und der industriell hergestellten Produkte sind das Arbeitsgebiet des Umwelttechnik-Ingenieurs. Ziel seiner Tatigkeit ist es, diese Umwelteinwirkungen auf ein Ma8 zu begrenzen, das langfristig tragbar ist. Entsprechend diesem Ziel gestal- tet er die eingesetzte Technik und die begleitenden organi- satorischen MaRnahmen. Das konkrete Vorgehen kann dabei recht unter- schiedlich sein. Wahrend z. B. der Umwelttechnik-Ingenieur im Krafhverk JanschwaldelCottbus taglich aus Abgasen SO, in Form von 3300 t Gips abscheidet, befafit sich sein Kollege im Mullheizkraftwerk Augsburg mit dem Entfernen von 0,8 mg Dioxinen aus den dortigen Abgasstromen. 3300 t Gips fullen mehrere Sale, wahrend 0.8 mg Dioxin lediglich einige Staubkornchen auf der Handflache ausmachen. Fur die SO,/Gips-Abscheidung sind Grofitechnologien heran- zuziehen, wahrend den Dioxinen nur beizukommen ist, wenn Mikrotechnologien eingesetzt werden. Dieses Ar- beitsgebiet des Umwelttechnik-Ingenieurs, die Mikrotech- nik zur Minderung von Dioxinemissionen, wird im folgen- den naher vorgestellt. Dabei sol1 am Beispiel Dioxin gezeigt werden, wie Schadstoffe zum Thema fur die Umwelttechnik werden kon- nen und wie die Umwelttechnik im Zusammenwirken mit den Fachwissenschaften technologische Losungen konzi- piert und umsetzt. 2 Stoffeigenschaften Im allgemeinen Sprachgebrauch werden unter den Dioxi- nen zwei Verbindungsklassen zusammengefafit, die poly- chlorierten Dibenzo-p-dioxine (PCDD) und die Dibenzofu- rane (PCDF) Ihre Strukturformeln sind in Abb. 1 wiederge- geben. ..................................... ................ .. ................ ... ........ * Prof. Dr.-Ing. habil. H. KOSER, Martin-Luther- Universitat Halle-Wittenberg, Fachbereich Verfahrenstechnik, D-06099 Halle (Saale).

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Page 1: Dioxine – Eine Aufgabe für die Umwelttechnik

Chemie lngenieur Technik (70) 5. 1517-1525 @> WILEY-VCH Verlag GrnbH, D-69469 Weinheim. 1998 0009-286X/98/1212-1517 $17.50+.50/0

1 2 I 9 8

Dioxine - Eine Aufgabe fur die Umwelttechni k

H E l N Z K O S E R *

20 Jahre Umweltgeschichte der Di-

oxine, d. h. der PCDD und PCDF,

werden beleuchtet, wobei der

Schwerpunkt der Betrachtungen auf

den Entwicklungen in Deutschland

liegt. Nachdem kurz auf wichtige

umweltrelevante physiko-chemische

Eigenschaften der Dioxine einge-

gangen wird, steht der Ablauf der

Betriebsstorung in Seveso im Jahre

1976 im Mittelpunkt der Betrach-

tung. Die in Seveso aufgetretenen

Umwelteinwirkungen der Dioxine

fanden weltweite Publizitat. In den

Folgejahren wurden die Kenntnisse

uber die Analytik und Toxizitat die-

ser Stoffgruppe erheblich vertieft

und die Dioxinproduktion in der

Aromatenchemie drastisch verrin-

gert. In den achtziger Jahren kon-

zentrierte sich die Diskussion auf

die Dioxinbildung bei der Abfallver-

1 Einleitung

brennung. Die in dieser Zeit erar-

beiteten Kenntnisse haben dazu ge-

fuhrt, dad in Deutschland die Ab-

fallverbrennung heute keine we-

sentliche Quelle fur Dioxinemissio-

nen mehr ist. Derzeit werden in

Deutschland die grodten bekannten

Dioxin-Massenstrome von der Me-

tallindustrie emittiert. Emissions - mindernde Verfahren werden in

diesem Industriezweig derzeit in

Demonstrationsanlagen erprobt. Bis

zum Jahre 2000 diirften auch diese

Dioxinquellen weitgehend versiegt

sein.

Dioxins - Task for Environmental Engineering

Two decades of the environmental history of dioxins, i.e. of PCCDs and PCDFs, are examined, with the main emphasis being placed on develop- ments in Germany. After a brief consid- eration of the important, environmen- tally relevant properties of dioxins, interest i s focussed on the course of the Seveso incident of 1976. The envi- ronmental ef fects of dioxins observed in Seveso received global publicity. In the following years our knowledge of the analysis and toxicology of this group of substances greatly improved and the production of dioxins in the aromatics sector of the chemical industry was drastically reduced. In the 1980s. dis- cussions concentrated on the formation of dioxins in waste incineration. The results obtained during this period led to the present situation in which waste incineration i s no longer a significant source of dioxin emission in Germany. The greatest known source of dioxins in Germany i s in the metallurgical industry. By the year 2000 this dioxin source wil l also have been largely eliminated.

Die Umwelteinwirkungen der industriellen Produktion und der industriell hergestellten Produkte sind das Arbeitsgebiet des Umwelttechnik-Ingenieurs. Ziel seiner Tatigkeit ist es, diese Umwelteinwirkungen auf ein Ma8 zu begrenzen, das langfristig tragbar ist. Entsprechend diesem Ziel gestal- tet er die eingesetzte Technik und die begleitenden organi- satorischen MaRnahmen.

Das konkrete Vorgehen kann dabei recht unter- schiedlich sein. Wahrend z. B. der Umwelttechnik-Ingenieur im Krafhverk JanschwaldelCottbus taglich aus Abgasen SO, in Form von 3300 t Gips abscheidet, befafit sich sein Kollege im Mullheizkraftwerk Augsburg mit dem Entfernen von 0,8 mg Dioxinen aus den dortigen Abgasstromen. 3300 t Gips fullen mehrere Sale, wahrend 0.8 mg Dioxin lediglich einige Staubkornchen auf der Handflache ausmachen. Fur die SO,/Gips-Abscheidung sind Grofitechnologien heran- zuziehen, wahrend den Dioxinen nur beizukommen ist, wenn Mikrotechnologien eingesetzt werden. Dieses Ar-

beitsgebiet des Umwelttechnik-Ingenieurs, die Mikrotech- nik zur Minderung von Dioxinemissionen, wird im folgen- den naher vorgestellt.

Dabei sol1 am Beispiel Dioxin gezeigt werden, wie Schadstoffe zum Thema fur die Umwelttechnik werden kon- nen und wie die Umwelttechnik im Zusammenwirken mit den Fachwissenschaften technologische Losungen konzi- piert und umsetzt.

2 Stoffeigenschaften Im allgemeinen Sprachgebrauch werden unter den Dioxi- nen zwei Verbindungsklassen zusammengefafit, die poly- chlorierten Dibenzo-p-dioxine (PCDD) und die Dibenzofu- rane (PCDF) Ihre Strukturformeln sind in Abb. 1 wiederge- geben.

..................................... ................ .. ................ ... ........ * Prof. Dr.-Ing. habil. H . K O S E R , Martin-Luther-

Universitat Halle-Wittenberg, Fachbereich Verfahrenstechnik, D-06099 Halle (Saale).

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Abbildung 1. PCDD/PCDF-Strukturformel und Kongere.

Polychlorierte Polychlorierte Dibenzodioxine (PCDD) Di benzofurane ( P C W

9 Struktur ?

6 4 6 4 Chlorhomologe und Anzahl der Stellungsisomere

Anzahl der ChlDratDme Anzahl der CDD-lsomeren Anzahl der CDF-lsomeren 1 MDCDD 2 MOCDF 4 2 DiCDD 10 DiCDF 16 3 TriCDD 14 TriCDF 28 4 TCDD 22 TCDF 38 5 PeCDD 14 PeCDF 28 6 HxCDD 10 HxCDF 16 7 HpCDD 2 HpCDF 4 8 OCDD 1 OCDF 1

Summe PCDD 75 PCDF 135

Es handelt sich um tricyclische, weitgehend pla- nare aromatische Ether. Zwischen einem bis acht Wasser- stoffatome am Grundkorper konnen durch Chloratome er- setzt werden. Neben der Anzahl ist die Stellung der Chlor- atome fur die Einzelverbindungen entscheidend. Die einzel- nen Vertreter des jeweiligen Grundkorpers bezeichnet man als Kongenere. Es gibt 75 verschiedene Kongenere des PCDD und 135 des PCDF

Diese insgesamt 210 Mitglieder der Dioxinfamilie sind kristalline Festkorper, die bei 300 'C schmelzen und bei ca. 450 "C sieden. Ihre Wasserloslichkeit liegt im Bereich von Mikrogramm bis Nanogramm pro Liter. Sie sind demzufolge als sehr wenig wasserloslich zii bezeichnen, wenn man sie z. B. rnit dem allgemein als schwerloslich bezeichneten Ba- riumsulfat vergleicht, dessen Loslichkeit im Milligramm/Li- ter-Bereich liegt. Die Dioxine sind sehr hydrophobe und da- mit stark lipophile Substanzen. Die Loslichkeit in gangigen organischen Losungsmittel erreicht den GramdLiter-Be- reich.

3 Die Betriebsstorung in Seveso " .

Die Entwicklung neuer Ziele fur den technischen Umwelt- schutz wird haufig durch spektakulare, singulare Ereignisse angestogen. So hat eine Betriebsstorung in der Nahe von Se- veso im Jahre 1976 eine derartige Initialzundung bewirkt

Ein heiRer Samstag im Juli des Jahres 1976 sollte in Oberitalien, in der Nahe von Mailand, Geschichte ma- chen. Hier betrieb eine Tochterfirma des HOFFMAN- LAROCHE-Konzerns, die Firma ICMESA, eine kleine chemi- sche Fabrik in dem Dorf Medea. In einem der Ruhrkessel- reaktoren lief die Synthese des Trichlorphenols (TCP), einer Vorstufe des Desinfektionsmittels Hexachlorophen. Dazu wurde Tetrachlorbenzol mit NaOH in den Losungsmitteln Ethylenglycol und Xylol umgesetzt. Etwa 7 t Reaktions- masse reagierten in einem dampfbeheizten 14-m3-Reaktor. Die Reaktion wurde bei Normaldruck durchgefuhrt. Zur Mittagszeit unterbrach der Anlagenfahrer die Reaktion, stellte den Riihrer ab und verlieR das Produktionsgebaude.

11,21.

Gegen 12.37 Uhr sprach die auf 3.5 bar ausgelegte Berstscheibe des Reaktors an. Fliissigkeitsabscheider waren nicht vorhanden, so daR der Reaktorinhalt ungehindert di- rekt in die Atmosphare austrat. Es hatte sich offenbar ein Uberdruck im Reaktor aufgrund einer exothermen Zerset- zungsreaktion aufgebaut. Es wurde spater vermutet, daR hierfiir die Zersetzung des Natriumglycolids unter Abspal- tung von Wasserstoff verantwortlich gewesen sein konnte.

Ein Vorarbeiter wurde durch die AbblaRgerau- sche auf die Betriebsstorung aufmerksam. Er eilte in das Produktionsgebaude, beaufschlagte den Mantel des fragli- chen Reaktors rnit Kiihlwasser. 20 Minuten nach diesem Eingreifen konnte der Austritt der Chemikalienwolke ge- stoppt werden.

Bei der TCP-Synthese entstehen in einer Neben- reaktion Spuren an Dioxinen, vor allem das 2,3,7,8-TCDD. Diese Spurenverunreinigungen im ppm-Bereich wurden mit der Chemikalienwolke ausgetragen.

Der Betriebsunfall bei der ICMESA war nicht der erste dieser Art im Rahmen der TCP-Produktion. So ereig- nete sich z. B. bereits 9 Jahre zuvor, im Jahre 1968, im Betrieb der Firma COALITHE in England ein vergleichbarer Unfall. Dort entzundete sich die austretende Chemikalienwolke je- doch im Betriebsgebaude. Infolge der Explosion wurden ein Mitarbeiter getotet und weitere sieben verletzt.

Der Unfall in England blieb in der Offentlichkeit unbeachtet. Die ICMESAwunte davon und hatte vorsorglich ProzeRumstellungen vorgenommen, insbesondere an der Beheizung des Reaktors. Die Berstscheibenabgange wurden nach augerhalb des Betriebsgebaudes verlegt.

Die Betriebsstorung bei der ICMESA fiihrte zu keiner Explosion, auch wurde kein Mitarbeiter verletzt. Die austretende Chemikalienwolke wurde lediglich in die umgebende Atmosphare abgeleitet. Sie blieb zunachst un- beachtet. Der Wind trieb sie dann in Richtung auf die Stadt Seveso mit 17 000 Einwohnern ab. In der Chemikalienwolke befanden sich, wie bereits envahnt, ca. 2 kg Dioxine.

Ein Notfallplan wurde nur schleppend umgesetzt. In der Woche nach dem Unfall litten 447 Men-

schen unter Hautveratzungen, die vermutlich auf die Alka- lien in der Chemikalienwolke zuriickzufiihren waren. Etwa 3300 Tiere, vor allem in der unmittelbaren Umgebung, ver- starben kurz nach dem Unfall.

2 1 Tage nach dem Ungluckbegann sich Chlorakne unter der betroffenen Bevolkerung zu enhvickeln. Bei der Chlorakne handelt es sich um Vereitemngen im Bereich der Talgdriisen der Haut. Hautpartien konnen grogflachig anschwellen. Chlorakne gilt als auffalligstes Symptom bei Menschen, die erhohten Dioxindosen ausgesetzt waren. Ins- gesamt wurden 193 Falle von Chlorakne gezahlt.

Inzwischen war das Notfallprogramm der Regie- rung angelaufen. 736 Personen wurden evakuiert und etwa 37 000 Einwohner in dem betroffenen Gebiet von 18 km2 un- ter medizinische Uberwachung gestellt. Die landwirtschaft- liche Nutzung wurde fur 6 Jahre eingestellt. Die italieni- schen Behorden ordneten die vorsorgliche Notschlachtung von 77000 Tieren an, s. Abb. 2.

Alle Produktionsanlagen der ICMESA und 40 Hauser in der Umgebung wurden abgerissen und mit dem

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Abbildung 2. Betriebsstorung bei der ICMESA in Seveso am 1O.Juli 1976.

A) Riihrkessel mit Trichlorphenol Synthese Tetrachlorbenzol Natronlauge Ethylenglykol, Xylol Nebenprodukt 2, 3, 7, 8-TCDD (ca. 2 kg)

B) Auswirkungen 447 Menschen: 193 Menschen:

3300 Tiere: 77000 Tiere:

736 Menschen: Fabrik und 40 Hauser: 18 krn2 Landwirtschaft: 37000 Menschen:

Hautveratzungen Chlora kne verstarben Notschlachtung evakuiert a bgerissen 6 Jahre eingestellt medizinische Uberwachung

starker belasteten Boden aus dem Nahbereich (groRer 150 ng/kg 2,3,7,-8-TCDD) in zwei riesigen Erdwannen in der Nahe des Betriebsgelandes deponiert.

Die betroffenen Bewohner stehen auch heute noch unter arztlicher Ubenvachung. Das Ungluck hat entge- gen allen Befurchtungen keine direkten Todesopfer unter den Menschen gefordert. Alle Falle von Chlorakne sind in- zwischen ausgeheilt. Bei 19 Menschen sind Narben zuriick- geblieben. Eine Studie aus dem Jahre 1993, also 17 Jahre nach dem Vorfall, zeigt, daR die Krebshaufigkeit insgesamt nicht zugenommen hat. Jedoch wird ein leicht erhohter Pro- zentsatz einiger seltener Krebsarten wie Gallenblasen- und Weichteilkrebs festgestellt. Bisher gab es keine Erhohung der Raten von Friihgeburten, Migbildungen oder totgebore- nen Kindern.

Die Zahlungen der Firma HOFFMANN-LAROCHE fur Entschadigungen und Wiedergutmachungen werden auf insgesamt 300 Millionen DM beziffert.

Die Betriebsstorung in Seveso hat dazu gefuhrt, daR von der EG-Kommission die sogenannte Seveso-Richt- linie erlassen wurde und in Deutschland die Storfallverord- nung. In diesen Richtlinien oder Verordnungen werden er- hohte Sicherheitsstandards fur bestimmte verfahrenstech- nische Anlagen gefordert.

Ein weiteres Resultat der Ereignisse in Seveso ist, daR seitdem die Kenntnis uber Dioxine zum Standardwissen eines Ingenieurs gehort, der sich mit industriellem Umwelt- schutz befaRt. Seit dieser Zeit wird das 2,3,7,8-TCDD auch als Seveso-Dioxin bezeichnet.

'

4 Die Jahre nach Seveso Der Vorfall in Seveso lenkte die Aufmerksamkeit der Welt- offentlichkeit auf die Dioxine. In der Folge von Seveso wur- den betrachtliche finanzielle Ressourcen fur die Erfor- schung der Dioxinthematik bereitgestellt, wodurch unser Verstandnis uber die okologische Bedeutung dieser Stoff- gruppe ganz entscheidend voran gebracht wurde.

Es wurde bald deutlich, daR es sich hier um Sub- stanzen handelt, die ganz iibenviegend anthropogenen Ur- sprungs sind. Ihnen ist zu keiner Zeit eine praktische Be- deutung zugekommen. Sie sind daher nie gezielt von der chemischen Industrie hergestellt worden [3 -51.

Seveso hatte der Welt vor Augen gefiihrt, daR die Chloraromatenchemie eine ganz wesentliche Dioxinquelle sein kann. Begunstigt durch hohere Reaktionstemperatu- ren, Alkalitat und UV-Licht entstehen hier Dioxine als Ne- benverbindungen im ppm- bis Promille-Konzentrationsbe- reich.

Wichtige Dioxintrager oder Dioxinvorlaufersub- stanzen unter den industriell hergestellten Chloraromaten sind die Chlorphenole (PCP), die als Fungizide, Herbizide und Konservierungsmittel eingesetzt wurden, und die in Transformator- und Kondensatorfullungen anzutreffenden Polychlorbiphenyle (PCB). Folglich ist die Produktion und Anwendung dieser Chloraromaten in den Jahren nach Seve- so erheblich eingeschrankt worden. Heute ist in Deutsch- land in der Chemikalien-Verbotsverordnung die Produktion und Anwendung von Erzeugnissen, die mehr als 5 mg/kg PCP oder mehr als 50 mg/kg PCB enthalten, verboten. Bei vielen anderen Produkten, wie z.B. den als Herbizid und Entlaubungsmittel eingesetzten Chlorphenoxyessigsauren (2,4,5-Tund 2,4-D) hat die Industrie die Produktion auf frei- williger Basis eingestellt.

4.1 Dioxinanalytik

Ganz wesentlich fur unseren Erkenntniszuwachs in Sachen Dioxine in den Post-Seveso Jahren war die Enhvicklung der DioxinmeRtechnik [6-81. Dank des Fortschritts auf diesem Gebiet konnen wir heute in jeder Umweltprobe Dioxine nachweisen. Dioxingehalte bis in den fg/kg sind meRtech- nisch zuganglich. Die Messungen an den verschiedenen Umweltproben zeigten, Dioxine sind, wenn auch im Spuren- konzentrationsbereich, ein standiger Begleiter in der Um- welt.

Die MeRtechnik fur gasformige Emissionen ist fur die Beurteilung des Ausbreitungsverhaltens von besonderer Bedeutung. Dieser wichtige Teilbereich der Dioxin-MeR- technik ist eng mit dem Betrieb von Abfallverbrennungsan- lagen verkniipft. Hier konnten in einer Reihe von For- schungsvorhaben die erheblichen Schwierigkeiten, insbe- sondere bei der Probenahme, weitgehend ubenvunden wer- den, wie: - das gleichzeitige Vorkommen in der Staub- und Gas-

phase der Abgase. die Gefahr der Neubildung und des Abbaus in der Pro- benahmeapparatur, die moglichen Sekundarkontaminationen aufgrund des teilweise sechs Zehnerpotenzen uberspannenden Kon- zentrationsbereiches der Dioxine in Gasproben.

Heute liegen, wie Abb.3 zeigt, mehrere VDI- Richtlinien (Entwiirfe) der Reihe 3499 zur Dioxinprobenah- me vor. Unlangst ist der dreiteilige Enhvurf einer europa- ischen Norm veroffentlicht worden, der Mindestanforde- rungen von der Probenahme bis zur Ermittlung der Resul- tate festgelegt.

In Validierungsuntersuchungen sind die Verfah- renskenngrogen dieser Europanorm bestimmt worden. Es zeigte sich, daR die externe Variabilitat oder Reproduzier- barkeit der Dioxinbestimmung in Abgasen, bestimmt als zu envartende maximale Differenz zwischen den Ergebnis-

-

-

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Abbildung 3. Dioxinanalytik in Abgasstromen.

A) Probenahme nach VDI 3499, Blatt 1-3 - Verdunnungsrnethode - Filterkondensationsrnethode - Cekuhlte Sondenrnethode

B) DIN-EN 1948, Teil 1-3 - Probenahme - Extraktion und Reinigung - ldentifikation und Quantifizierung

C) Externe Reproduzierbarkeit - 0,05 ng TEQ/m3

sen von mehreren MeBinstituten, rnit einer statistischen Si- cherheit von 95 % im Konzentrationsbereich von 0,l bis 1 ng/ m3 bei 50 pg/m3 TEQ liegt [7].

4.2 Toxikologie

Zahlreiche Untersuchungen zur Toxikologie der Dioxine seit Seveso fuhrten zu der Erkenntnis, daB das 2,3,7,8- TCDD, das sogenannte Seveso-Dioxin, der wirksamste und daher heute auch der am besten untersuchte Vertreter der Dioxinfamilie ist, s. Abb. 4.

Die mittlere letale Toxizitat des 2,3,7,8-TCDD fallt recht unterschiedlich fur die einzelnen Tierarten aus. Die akute Dosis reicht von 1 pg bis zu 5000 pg pro Kilogramm Korpergewicht. In jedem Fall ist das 2,3,7,8-TCDD also eine sehr giftige Substanz im Sinne der Definition des Che- mikaliengesetzes. Nach Verabreichung einer akut toxischen Dosis zeigt sich nach einigen Tagen im Regelfall eine drasti- sche Gewichtsabnahme, verbunden rnit einer starken Appe- titlosigkeit. Die Tiere sterben an Auszehrung.

Beim Menschen sind bisher keine Todesfalle be- schrieben, die auf die akute Toxizitat der Dioxine zuruckge- fuhrt werden konnen.

Tierexperimentelle Studien zur chronischen To- xizitat zeigen ein breites Wirkungsspektrum von Teratoge- nitat, Kanzerogenitat sowie immuntoxischen Effekten. Das

Abbildung 4. Akute und subchronische Toxizitat des 2.3.7.8-TCDD.

A) Akute Toxizitat im Tiewersuch:

- Meerschwein 0,6-2 pg/kg Korpergewicht - Syrischer Goldharnster - Tod nach rnehrwochiger Latenzperiode mit hohernCewichtsverlust

6) Chronische und subchronische Effekte - Chlorakne:

- VergroRerung der Leber - im Tierversuch MiBbildungen (Teratogenitat) - in Versuchen an Nagetieren turnorprovozierende Wirkung

(Karzinogenitat) festgestellt, jedoch keine lnitiatorwirkung

C) Metabolismus - Halbwertszeit

oral-LD50

1000-5000 pg/kg Korpergewicht

cjia ist haufigste Wirkung beirn Menschen Tritt auf bei Dosen von ca. 100 pg ,1111

Sehr Ciftig

Mensch 5 - 10 Jahre Ratte wenige Wochen

D) Allgemein akzeptiert: Abstand zwischen tatsachlicher Exposition und toxikologisch relevanter Konzentration ist schrnal

2.3.7.8-TCDD ist rnit hoher Wahrscheinlichkeit ein Human- kanzerogen.

Es ist nicht einfach, von den tierexperimentellen Befunden auf den Menschen zu schliefien. So zeigen sich zwischen dem Menschen und beispielsweise der Ratte in der Halbwertszeit und der Verteilung des 2,3,7,8-TCDD er- hebliche Unterschiede. Die Halbwertszeit in der Ratte be- tragt 17 Tage, wahrend Selbstversuche am Menschen eine Halbwertszeit von 7 Jahren ergaben. Fur die Ratte zeigt sich eine Anreicherung des 2,3,7,8-TCDD in der Leber, beirn Menschen treten die hochsten Konzentrationen im Fettgewebe auf [7,9].

Unter Toxikologen wird jedoch heute allgemein akzeptiert, da8 der Abstand zwischen der tatsachlichen Ex- position und der toxikologisch relevanten Konzentration klein ist. Mit anderen Worten: Wir sind gut beraten, wenn wir die Dioxingehalte in der Umwelt absenken.

4.3 Toxizitatsaquivalente

In Umweltproben treten die PCDD/PCDF nur als Gemische auf. Die toxische Wirkung der einzelnen Vertreter ist sehr unterschiedlich. Die vergleichende Bewertung des toxi- schen Potentials verschiedener Umweltproben ist also nicht uber die Konzentration moglich.

Die toxischen Effekte der verschiedenen Konge- nere sind qualitativ ahnlich, die fur eine biologische Wir- kung nohvendige Dosis variiert jedoch stark. Daher kann eine relative Toxizitat ermittelt werden. Durchgesetzt haben sich die erstmals 1988 von einem NATO-Komitee vorge- schlagenen Toxizitatsaquivalentfaktoren, die auch als inter- nationale Aquivalentfaktoren (I-TEF) bezeichnet werden. Hier wird die Toxizitat in Relation zum 2,3,7,8-TCDD als Re- ferenzkomponente gesetzt, dem ein Aquivalentfaktor von 1 zugewiesen wird. Es sind im wesentlichen 12 Vertreter der PCDD/PCDF-Familie, das sogenannte ,,schmutzige Dut- zend, die die Toxizitat der Dioxine verursachen. Durch Mul- tiplikation des Gehaltes rnit dem Toxizitatsaquivalentfaktor der einzelnen Kongeneren und anschlienende Addition der Einzelbetrage wird die Toxizitatsaquivalentkonzentration (I-TEQ) einer Umweltprobe erhalten.

Die coplanaren polychlorierten Biphenyle (PCB) uben eine ahnliche toxische Wirkung aus wie die Dioxine. Im Jahre 1994 wurden von einer WHO-Kommission ent- sprechende, auf das Z3.7.8,-TCDD bezogene Aquivalentfak- toren auch fur diese Verbindungsfamilie - rnit 209 Einzelver- tretern - aufgestellt. Heute mu8 daher beim Vergleich von TEQ-Konzentration von Umweltproben im Einzelfall nach- gefragt werden, inwieweit die Belastung durch PCB bereits berucksichtigt ist oder nicht [8].

Fur die Umwelttechnik hat sich das Verfahren, eine komplexe Vielstoffbelastung durch Aquivalentfaktoren addierbar zu machen, d. h. die Dioxinwirksamkeit auf einen Zahlenwert zuriickzufuhren, als aufierordentlich nutzlich enviesen. Diese pragmatische Vereinfachung ist naturlich vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet nur moglich gewesen unter Inkaufnahme von verschiedenen Vereinfachungen.

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Abbildung 5. P DD/PCDF-Gehz 1988.

te in gasformigen Umweltproben - Stand

P m ' (TE) A) AuBenluft

Land I uft Stadtluft

< 0,04 < 0,l - 0,4

B) Kohlefeuerungen Steinkohlen/Braun kohlen Stau b/WS < 1

C) A b f a I Ive r b re n n u ng Rohgas, konventionell 8.000 - 30.000 Reingas, konventionell < 100 - 15.000

5 Dioxine in der Abfall- verbrennung

In den ersten 5 bis 10 Jahren nach den Seveso-Vorfall kon- zentrierten sich die wissenschaftlichen Untersuchungen auf Analytik und Toxikologie und die Minderungsmahahmen auf die Chloraromaten herstellende Industrie und die chlor- aromatenhaltigen Produkte

Zwei Jahre nach Seveso wurde zum ersten Ma1 in der Literatur uber Untersuchungen berichtet, die belegten, daR Dioxine in Abfallverbrennungsanlagen auftraten Qua- litativ wurden sie in den Filterstauben aus Abfallverbren- nungsanlagen nachgewiesen

In den Folgejahren gelang es der Analysentech- nik, Dioxingehalte von pg/m3 in Luft und Abgasstromen quantitativ zu bestimmen Em Vergleich der Gehalte in der AuRenluft und der in Abgasen der Abfallverbrennungs- anlagen der 80er Jahre 1st in Abb 5 gezeigt Die Konzentra- tionen in den Abgasen der Abfallverbrennung lagen funf Zehnerpotenzen uber denen der Umgebungsluft Die Di- oxingehalte der Kohlefeuerungen fielen dagegen deutlich niedriger aus

Abbildung 6. Jahrliche Publikationen zum Vorkommen von Dioxinen bei der Verbrennung.

c 4 m n A

Bilanzrechnungen ergaben, dal3 uber die Abpro- dukte und Abgase der Abfallverbrennungsanlagen in Deutschland im Jahr ehva 2 kg TEQ emittiert wurden, also in einer Menge, wie sie in Seveso ebenfalls austraten.

In der Folge wurden in Deutschland Abfallver- brennungsanlagen als Dioxinschleudern bezeichnet, wur- den die Genehmigungsverfahren fur neue Abfallverbren- nungsanlagen ausgesetzt und stellten einzelne Abfallver- brennungsanlagen ihren Betrieb ein.

Dieses groJ3e offentliche Interesse an Dioxinen im Verbrennungs-, besonders im Abfallverbrennungsbereich fuhrte ab 1985 zu einem starken Anstieg der entsprechen- den wissenschaftlich-technischen Untersuchungen. An einer Auswertung der jahrlich zu dieser Thematik von den Chemical Abstracts referierten Veroffentlichungen, die in Abb. 6 dargestellt ist, laRt sich diese Enhvicklung bei- spielhaft ablesen. Ab 1990 wird im Durchschnitt jeden zwei- ten Tag eine neue Veroffentlichung in diesem Bereich regi- striert. Unser Wissen um Dioxine in der thermischen Abfall- behandlung hat sich folglich in den vergangenen zehn Jah- ren grundlegend verandert.

5.1 Der heiRe Teil der Abfallverbrennung

In der Ruckschau auf die Ergebnisse von zehn Jahren Ent- wicklungs- und Forschungsarbeiten zum Auftreten von Di- oxinen in Abfallverbrennungsanlagen lassen sich die ver- schiedenen Einzelbefunde heute zu einem logischen Ge- samtbild zusammenfugen.

Zunachst ist nach dem Dioxineintrag mit dem Mull zu fragen. 20pg TEQ durften mit jeder Tonne Haus- halts- und Gewerbe-Mull dem Feuerraum der Anlage zuge- fuhrt werden. Uber das Schicksal dieser Dioxine gibt Abb. 7 Auskunft. Fur verschiedene Dibenzodioxine sind die Zer- fallsgrade bei Reaktionstemperaturen von 800 und 900 C gegeben. Bei 900 "C werden die betrachteten Kongenere be- reits nach einer Sekunde Verweilzeit zu mehr als 90 % abge- baut. Der Abbaugrad wird in Gegenwart von Sauerstoff noch weiter erhoht. Aus diesen experimentellen Befunden laRt sich der SchluR ziehen, daJ3 unter den Bedingungen der Feu- er- und Nachverbrennungsraume der Abfallverbrennung die mit dem Aufgabeabfall eingetragenen Dioxine weitge- hend zerstort werden.

Dieses Ergebnis laRt die Frage offen nach den Quellen fur die letztendlich in den abgekuhlten Abgasen aus Mullverbrennungsabgasen auftretenden Dioxine.

Abbildung 7. Thermischer Zerfall von PCDD.

Nr. Verbindung Atmosphare in 1 Sekurde zerfallen bei 0 2 (rest-Nz) 8OOOC 900'C

/vOl-~/0/ / O h / /Oh/

1 2,3,7,0 - TXDD < 0,001 21 74 2 OCDD < 0,001 36 95 3 1,2,3,4 - TCDD < 0,001 18 90 4 1,2,3,4 - TCDD 2,1 66 5 1,2,3,4 - TCDD 7.5 75 6 1,2,3,4 - TCCD 15 84

Quelle. Chemical Absttlrfs Quelle: 8. F. Rordorl. E Mart,, 1985

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1522 Chemie lngenieur Technik (70) 12 I 9 8

Abbildung 8. PCDD/PCDF-MassenfluB in dem heiOen Teil einer Mullver- brennungsanlage.

ma., 1989

Abbildung 9. PCDDIPCDF-Abscheidecharakteristik von Staubabscheidern als Funktion der Temperatur in Abfallverbrennungsanlagen.

Abb. 8 gibt zu diesem scheinbaren Widerspruch eine Erklarung. Es ist der Dioxinmassenflua in mg/h fur eine Mullverbrennungsanlage, getrennt nach PCDD und PCDF, wie er aus zwei MeRserien ermittelt wurde. aufgetra- gen. Die Messungen wurden am Ende des Feuerraums uber den Weg durch den Dampferzeuger bis zum Elektrofilter-Entstauber, d. h. im heiRen Teil der thermischen Behand- lungsanlage, durchgefuhrt. Am Ende der Feuerung lassen sich nur ver- gleichsweise niedrige Dioxingehalte messen. Auf dern Weg der Abgase durch den Dampferzeuger, d. h. beim Abkiih- len, steigt die PCDF-Fracht kontinuier- lich an, wahrend die PCDD-Zunahme beim Ubergang ins Elektrofilter beson- ders ausgepragt ist. Insgesamt 1st eine Zunahme der Dioxingehalte um den Faktor zehn zu beobachten.

In Abb.9 sind erganzende MeRergebnisse zur Dioxinabscheide- charakteristik in Elektrofiltern als Funktion der Temperatur gezeigt. Es ist das Verhaltnis der Gehalte im Rein-

gas zum Rohgas aufgetragen. Es wird deutlich, bei Arbeits- temperaturen von 200 bis 500 "C wirken die Staubabscheider als Brutstatten fur Dioxine.

Wodurch ist nun diese erhebliche Dioxinneubil- dung bedingt? Nach allem, was wir heute wissen, handelt es sich um einen komplexen ProzeB, zu dem rnehrere Me- chanismen beitragen. Ein Weg zur Neubildung von Dioxinen geht von chlorierten Verlauferverbindungen aus. Zu diesen Pradioxinen gehoren die Chlorphenole und Chlordiphe- nylether, die im Temperaturbereich von 300 bis 700°C in Gasphasenreaktionen Dioxine bilden. Die Pradioxine kon- nen im pg/m3-Konzentrationsbereich in den Abgasen von Abfallverbrennungsanlagen auftreten, d. h. das Bildungspo- tential fur diese Route ist erheblich.

Insbesondere das Kupferchlorid, aber auch ande- re Metallchloride konnen unter Kesselbedingungen in Ge- genwart von Sauerstoff reaktives Chlor bilden, das in der so- genannten De-novo-Reaktion organische Kohlenstoff-Ver- bindungen in Dioxine zu uberfiihren vermag. Die De- novo-Synthese der Dioxine lauft an der Oberflache von Flugstaubpartikeln ab. Das Temperaturoptimum fur diese Reaktion liegt bei 300'C

5.2 Abgasseitige Mafinahmen

Ende der 80er Jahre war abzusehen, dal3 sich allein durch MaRnahmen auf der Feuerungs-, Dampferzeuger- und Staubabscheiderseite nicht die gewiinschte Dioxinminde- rung erreichen lie8 (s. Positionen 1 bis 4 der Abb. 10). Zu- satzliche abgasseitige Maanahmen waren notwendig, urn den von der 17. Verordnung zur Durchfuhrung des Bun- des-Immissionsschutzgesetzes (17. BImSchV) seit dem Jah- re 1990 geforderten Grenzwert von 0,l ng TEQ/m3 im Rein- gas einhalten zu kiinnen.

Zur damaligen Zeit war die Mehrzahl der Abfall- verbrennungsanlagen mit Waschern ausgerustet. Die Mes- sungen bestatigten d a m auch nach einigen Schwierigkeiten die Vermutung, daR wasserige Waschflussigkeiten keine nennenswerte Minderung der Dioxine im Abgas bewirken. Speichereffekte fur Dioxine in der Gummierung der Wa-

Abbildung 10. Verfahrenskette einer Mullverbrennungsanlage.

Kessel+ Quenche Staub- Saurer Neutral- XR-DeNh- A-Kohle Kamin SNCR-DeNOx abscheider Waxher Waxher Oxidation Adsober

I I

NaCI/HCI/CaCI,: r ' I % Hydroxid- Cips:

Vemeaung Filterkuchen + VeWerlUng Salzkonzentrat:

Schlacke: Lleponle/Verwertung

Aufbereitung Deponie

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scher konnen allerdings zu komplexen Ad- und Desorpti- onsvorgangen fuhren. Die Beurteilung der Dioxinabschei- dung in Waschern kann dadurch sehr erschwert werden.

Der Gedanke lag nahe, der Waschfliissigkeit ein hydrophobes Adsorptionsmittel zur Dioxinbindung beizu- geben. Es konnte dann auch gezeigt werden. daR durch Zu- gabe von Pulveraktivkohle sich unter optimalen Bedingun- gen ein Dioxin-Abscheidegrad von 90 % in Waschern errei- chen lafit.

Neue Anlagen und die meisten Nachrustmaflnah- men greifen heute jedoch auf die wirksameren Adsorptions- reaktoren (Position 7 in Abb. 10) und/oder katalytische Ver- fahren (Position 6) zur Dioxinfeinabscheidung zuruck.

Als Adsorptionsmittel werden uberwiegend Ak- tivkohlen eingesetzt. Erst in jungster Zeit wird der Einsatz von Zeolithen fur diese Zwecke in einer Demonstrationsan- lage erprobt. Als Adsorber werden mit granulierten Aktiv- kohlen beschickte Wanderbettreaktoren, die im Gegen- strom- oder Querstrombetrieb arbeiten, eingesetzt. Die be- ladene Aktivkohle wird anschlieRend in speziellen Bren- nern im Feuerraum der Verbrennungsanlage entsorgt. Ne- ben den Wanderbettreaktoren wird haufig auch auf Flug- stromreaktoren zuriickgegriffen. Hier wird im Regelfall Ca(OH),-Pulver rnit einem Zusatz von ca. 5 % Aktivkohle- pulver als Adsorbens eingesetzt. Dies Gemisch wird nach dem Einblasen in den Abgasstrom meist in einem nachge- schalteten Schlauchfilter abgeschieden und mehrmals rezy- kliert. Dabei wird eine Dioxinminderung von 98 % und hoher erzielt.

Die technologische Einfuhrung der katalytischen Dioxinminderung erfolgte mehr zufallig. Ausgangspunkt war die selektive Reduktion der Stickoxide mittels Ammo- niak an V,O,-dotierten WO, -TiO, -Formkatalysatoren. Als diese Technologie aus dem Kraftwerksbereich auch in Ab- fallverbrennungsanlagen eingesetzt wurde, kam der Ver- dacht auf, daI3 die Katalysatoren als Dioxinbrutstatten wir- ken konnten. Entsprechende Messungen belegten dann zur allgemeinen Uberraschung, daR ab Temperaturen von 280°C an den sogenannten SCR-DeN0,-Katalysatoren ein oxidativer Dioxinabbau von bis zu 99% stattfindet. Die katalytischen Abbauver- fahren von Dioxinen sind im Vergleich zu den Adsorpti- onsverfahren nicht durch zu entsorgende Dioxinkon- zentrate belastet. Daher sind seit 1990 eine Reihe von Abfallverbrennungsan- lagen rnit Reaktoren zum katalytischen Abbau von Di- oxinen ausgeriistet worden.

Abbildung 11. Halbjahrliche quasi kontinuierliche PCDD/PCDF-Messung im Reingas einer Abfallverbrennungsanlage.

"7 m MeRwert

' KW ' KW ' KW ' KW ' KW ~ KW ' K W ' KW ' KW ' KW ' KW' KW' '

30 32 34 36 36 40 42 44 46 48 50 52

Quelle Austrian Energy; Dioxtn Monitoring Syrtem. Wien 1996

5.3 Abfallverbrennung als Dioxinsenke ^ ^ ^ ^ ^ ^ .. .

Seit Ende des vergangenen Jahres sind in Deutschland auch die letzten Altanlagen rnit Dioxinminderungsmafinahmen nachgeriistet worden. so daB heute der Grenzwert von 0,l ng TEQ/m3 im Reingas von allen Abfallverbrennungsan- lagen eingehalten wird. Die meisten MeRergebnisse bele- gen, daI3 diese Grenzkonzentrationen im realen Anlagenbe- trieb deutlich unterschritten werden.

Durch drei Messungen pro Jahr mit Probenahme- zeiten zwischen 6 bis 16 Stunden hat der Betreiber einer Ab- fallverbrennungsanlage in Deutschland von Gesetzes we- gen die Einhaltung der Dioxingrenzwerte zu belegen. Ein- zelne Abfallverbrennungsanlagen sind jedoch bereits rnit einer quasi kontinuierlichen PCDDIPCDF-Ubenvachungs- einrichtung ausgeriistet. In Abb. 11 sind die Ergebnisse einer solchen MeBserie mit ihrem 95-%-Vertrauensbereich fur ein halbes Jahr dargestellt. Der Probenahmezeitraum betrug jeweils zwei Wochen. Die MeRwerte liegen unterhalb von 3 pg TEQ/m3.

Abbildung 12. PCDDIPCDF-Bilanz fur eine Abfallverbrennungslinie nach dem Stand der Technik.

Aktivkoks

CaCb Aktwkoks Aktivkoks PCDD/F-Fracht 21 378 47 2 43

(w T E N

400%

+ 5 1 47 2 750- 21 I

,500 75 VlgTElh

Quelle: nach 0.Tabasaran. Mull und Abfall 1995, 597

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In Abb. 12 ist das Verfahrens- schema mit der PCDD/PCDF-Bilanz fiir

Abbildung 14. Bilanz der bekannten primaren Dioxinemissionen in Oeutschland - Stand 1996.

die drei Linien der Miillverbrennungs- anlage Augsburg angegeben. Die Fein- abscheidung der Dioxine erfolgt hier sowohl katalytisch als auch adsorptiv.

Mit dem Reingas werden 2 pg TE/h iiber den Kamin emittiert. Die groRte Dioxinfracht findet sich im Kes- seVFilterstaub. Besondere Verfahren zum Abbau der Dioxine in Filterstau- ben, wie die thermische Behandlung in Drehrohrreaktoren unter Sauerstoff- mangelbedingungen bei 400 "C, sind im technischen Einsatz erprobt und kon-

in gTEQ/a

Emissionsquelle 1989/90 1994/95 1999/2000 (Promosel

1) Abfallverbrennung, rnit 400 30 <4 - Siedlungsabfall 400 30 - Sonderabfall 2 2

2) Metallgewinnung 740 240 <40 und -verarbeitung, mit

- Eisenerzsinteranlagen 575 158 - Ku fer 60 30 - Sel!undar-Al 25 18

3. Kraftwerke 5 3 <3

4) Industrie- und Cewerbefeuerungen 20 15 <lo

nen die Dioxinfrachten in dem gezeig- 5) Hausbrandfeuerstatten 20 15 10

6) Krematorien 4 2 <1

ne Dioxinmassenstrom kann in der 7) Verkehr 10 4

ten AusmaB in Filterstauben absenken. Der an der Aktivkohle niedergeschlage-

Feuerung der MVA abgebaut werden. Insgesamt ist festzustellen, die mit

Quelle: M. Lange.

1298 (1 996), 161

<' VOI-Bericht

Summe 1.195 307 70

dem Miill der Mullverbrennungsanlage zugefiihrten 750 bis 150Opg TEQ/h konnen heute um mehr als eine Zehnerpotenz abgebaut werden. Die Miillverbren- nungsanlage des Jahres 1997 ist folglich eine wirksame Sen- ke fur Dioxine in unserer Umwelt. Mit anderen Worten, das Dioxinargument, das in der Vergangenheit gegen Miillver- brennungsanlagen sprach, ist umgekehrt worden, ist kiinftig auf der Positivseite der thermischen Abfallbehandlung zu verbuchen.

6 Dioxinemission - Stand Ende 1996

Nachdem zu Beginn der 90er Jahre erste Abfallverbren- nungsanlagen zu Dioxinsenken umgerustet worden waren, und es abzusehen war, daR alle Anlagen bis 1996 diesem Standard entsprechend ~ r d e n , begann man auch andere thermische Prozesse intensiver auf ihre Dioxinemissionen zu untersuchen. So wurde in Nordrhein-Westfalen ein um- fassendes MeRprogramm zu Dioxinquellen mit dem Schwer-

Abbildung 13. Ergebnisse des Dioxin-MeBprogramms in NRW der Jahre 1992-1995.

punkt Metallindustrie durchgefuhrt. In Abb. 13 sind aus- zugsweise Ergebnisse aus dieser MeRreihe aufgefiihrt.

Eisenerzsinteranlagen enviesen sich dabei als eine bedeutende Dioxinquelle. In den Sinteranlagen werden zum Stiickigmachen feink6rnige Erze, andere metallhaltige Einsatzstoffe, Koks und Zuschlagstoffe bis zum Schmelz- punkt erhitzt. In den dabei entstehenden Abgasstromen wurden PCDD/PCDF-Konzentrationen zwischen 2 bis 40 ng TEQ/m3 ermittelt. Die grogen Volumenstrome dieser Anlagen sorgen dann fur betrachtliche Jahresfrachten.

Aufgrund dieser und anderer Dioxinmessungen in der Metallindustrie mufiten die Schatzungen uber die mit Abgasen in die Umwelt emittierten Dioxinfrachten kraf- tig nach oben korrigiert werden. In Abb. 14 ist unser heutiger Kenntnisstand zusammengefafit.

Man muRte erkennen, daR allein die 14 in Deutschland zu Beginn der 90er Jahre betriebenen Sinter- anlagen Dioxine in einer GroBenordnung emittierten, wie sie in den 80er Jahren fur Miillverbrennungsanlagen typisch waren.

Durch primare Mahahmen allein ist es auch in der Metallindustrie nicht moglich, die Emissionskonzentra- tionen auf den Zielwert von 0,l ng TEQ/m3 abzusenken. Es werden daher derzeit die in den Abfallverbrennungsanla- gen bis zur Betriebsreife eingefuhrten abgasseitigen Dioxin-

(ng I-TEQ/ms) massenstrom minderungstechnologien auf die Belange der Metallindu- mg I-TEWh) strie iibertragen.

Sinteranlage fur Eisenerz 43,2 29 Insgesamt betrachtet diirften im Jahre 2000, nach- dem alle im industriellen Bereich eingeleiteten Dioxinmin- derungsmahahmen umgesetzt worden sind, die hochsten Dioxinfrachten durch Hausbrandfeuerstatten und hier ins-

Hohestfeuerung, ca. 1 MW 5,s 0,009 besondere durch Festbrennstoff-Feuerungen emittiert wer- Sinteranlane fur Eisenerz 2.4 1.6 den

Anlagenart Konzentration Emissions-

Walzrohr fur Recyclingstoffe 20,8 1,04

Zinnanlage 5,9 0,09

., Blei-Zinn-Schrnelzanlage 0,04

Derzeit laufen verschiedene weitere DioxinmeJ3- programme. Es ist nicht auszuschlienen, daR uns neue - -

Al-Urnschrnelzanlage 4,3 0,6 Uberraschungen bevorstehen, d. h . daR weitere wesentlich Quelle: P. Bruckmann, et.al., VDI-Bericht 1298 (1996) Dioxinquellen aufgedeckt werden. Die in Abb. 14 gezeigte

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Chemie lngenieur Technik (70) 12 I 9 8

Frachtschatzung des Umweltbundesamtes fur die Gesamt- dioxinemissionen des Jahres 2000 in Deutschland von 70 g TE wird dann korrigiert werden mussen.

7 Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, daJ3

neue Entwicklungslinien im Bereich der Umwelttechnik haufig durch spektakulare Unglucksfalle, wie z. B. die Betriebsstorung in Seveso, angestonen werden, fur die Abscheidung von mg/h-Dioxinmassenstromen in der Abfallverbrennung heute betriebssichere Tech- nologien zur Verfugung stehen, ein Zeitraum von 10 Jahren benotigt wird. um neue Um- welttechnologien zu enhvickeln und industriell einzu- fuhren, die thermische Abfallverbrennung haufig Pionieraufga- ben fur die Umwelttechnik ubernimmt, die in der Abfallverbrennung erprobten Dioxinminde- rungsverfahren derzeit auf die Belange der Metallindu- strie ubertragen werden, noch nicht alle Dioxinquellen gestopft sind, d. h. die Di- oxine auch in der nahen Zukunft Herausforderungen fur die Umwelttechnik bereithalten werden.

Literatur

Learning from Accidents, 2nd Ed., Butterworth, Oxford 1994. W I L L E Y , R . 1. Seminar on Seveso Release Accident Case History, Am. Inst. Chem. Eng., New York 1994. Umweltbundesamt, Sachstand Dioxine - Stand No- vember 1984, Berichte 5/85, E. Schmidt Verlag, Berlin 1985. Verein Deutscher Ingenieure, Dioxin - Eine tech- nische, analytische, okologische und toxikologische Herausforderung, VDI-Berichte 634, VDI-Verlag, Dusseldorf 1987.

Dioxins and Furans - Questions and Answers, Academy of Natural Sciences, Philadelphia/USA, 1989. Verein Deutscher Ingenieure, Halogenierte organi- sche Verbindungen in der Luft - Herkunft, Mes- sung, Wirkung, AbhilfemaRnahmen. VDI-Berichte 745, VDI-Verlag, Diisseldorf 1989. Verein Deutscher Ingenieure, Dioxine - Vorkom- men, MinderungsmaRnahmen, MeRtechnik, VDI- Berichte 1298, VDI-Verlag, Diisseldorf 1996. B A L L S C H M I T E R , K.; B A C H E R , R . Dioxine - Chemie, Analytik, Vorkommen, Umwelt- verhalten und Toxikologie der halogenierten Di- benzo-p-dioxine und Dibenzofurane, VCH Ver- lagsgesellschaft, Weinheim 1996. Untersuchungsprogramm Dioxin der Berufsgenos- senschaft der chemischen Industrie - Ergebnisbe- richt, Heidelberg 1990.

K L E T Z , T.

P A D D O C K