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Philosophische Anthropologie Themen und Positionen Band 1 Philosophische Anthropologie Ursprünge und Aufgaben Hg. von Ada Neschke und Hans Rainer Sepp Verlag T. Bautz GmbH

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Philosophische AnthropologieThemen und Positionen

Band 1Philosophische AnthropologieUrsprünge und AufgabenHg. von Ada Neschke und Hans Rainer Sepp

Verlag T. Bautz GmbHISBN 978-3-88309-441-0

Die Philosophische Anthropologie, der spezifische Ansatz im Denken des Men-schen, wie er in den 1920er Jahren von Max Scheler und Helmuth Plessner ent-worfen wurde, ist nicht ohne die dreifache Tradition der Lebensphilosophie (Dil-they, Bergson und Nietzsche) zu denken. Der Band widmet sich insbesondere der Anknüpfung an die Lebensphilosophie von Wilhelm Dilthey.Dieser Band ist der erste Band der Reihe Philosophische Anthropologie - Themen und Positionen.

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Ada Neschke ist emeritierte Philosophin am Institut für Philosophie der Universität Lausanne.Hans Rainer Sepp ist Wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums Eu-gen Fink in Freiburg und Dozent an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag.

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Philosophische Anthropologie. Ursprünge und Aufgaben

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Philosophische Anthropologie Themen und Positionen

Herausgegeben von Joachim Fischer (Dresden) Ada Neschke (Lausanne)

Gérard Raulet (Paris) Hans Rainer Sepp (Prag)

EditionsbeiratHeike Delitz (Dresden)

Francesco Gregorio (Lausanne) Cathrin Nielsen (Freiburg i.Br.)

Guillaume Plas (Paris)

Band 1

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Philosophische Anthropologie Ursprünge und Aufgaben

Herausgegeben vonAda Neschke und Hans Rainer Sepp

Verlag Traugott Bautz

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2008 ISBN 978-3-88309-441-0

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Inhalt Editorial Philosophische Anthropologie – Themen und Positionen VII PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE URSPRÜNGE UND AUFGABEN Ada Neschke und Hans Rainer Sepp Zur Einführung 3 Ada Neschke Philosophische Anthropologie – ihre Aktualität und ihre Geschichte 14 RÜCKBLICK: ANKNÜPFUNGEN AN DILTHEY Hans-Ulrich Lessing Der ganze Mensch Grundzüge von Diltheys philosophischer Anthropologie 37 Jean-Claude Gens Kategorien der Psycho-Anthropologie bei Dilthey Zur Begründung der Geisteswissenschaften 53

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Inhalt

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Hans Rainer Sepp Widerstandserlebnis Schelers Anknüpfung an Dilthey 77 Hans-Ulrich Lessing Helmuth Plessner und Wilhelm Dilthey 88 Christian Thies Gehlens Kritik an Dilthey Zum Verhältnis von Anthropologie und Lebensphilosophie 110 Ada Neschke Arnold Gehlens Kategorienforschung als Grundlage seiner Kritik an Wilhelm Dilthey 128 Guy van Kerckhoven Vinculum rationis und reales Lebensband Zur „anthropologischen Reduktion“ in der Phänomenologie 157

AUSBLICK: PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE HEUTE Joachim Fischer Philosophische Anthropologie Zum Identitätskern eines Denkansatzes (Scheler, Plessner, Gehlen) 185 Christian Thies Philosophische Anthropologie als Forschungsprogramm 230 Die Autoren 249 Personenregister 251

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Philosophische Anthropologie – Themen und Positionen Unter Philosophischer Anthropologie wird hier zunächst ein Theoriepro-gramm verstanden, das an das gleichnamige, von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründete Projekt anknüpft. Dieses Programm kann heute beanspru-chen, eine neue Disziplin zu werden. Denn es geht darum, in Fortsetzung dieses Denkansatzes den Menschen dank einer Doppeloperation auf den Begriff zu bringen: Zum einen ist seine Position im Stufenbau des Orga-nischen zu bestimmen, zum anderen gilt es diese Begriffsbestimmung auch im Licht der Differenz der Kulturen, ihrer Welt-, Selbst- und Sozi-alentwürfe, durchzuführen. Damit soll sowohl für den interdisziplinären Dialog (vor allem der Natur- mit den Kulturwissenschaften) wie für den interkulturellen Dialog der Kulturen, die in einer Weltgesellschaft erst-mals dauerhaft aufeinander reagieren, die methodische und sachliche Grundlage geschaffen werden. Diesem die Disziplin der philosophischen Anthropologie kennzeichnenden Doppelprojekt ist die Buchreihe ver-pflichtet.

Die Reihe setzt zwei Schwerpunkte: Einerseits wird es darum gehen, den komplexen Denkansatz der Philosophischen Anthropologie (als Theo-rieprogramm) und die Wirkung der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts (als Disziplin) insgesamt aufzuarbeiten, und andererseits wird diese Tradition angesichts der vielfältigen sachlichen Herausforde-rungen in Gegenwart und Zukunft weiterzuentwickeln und neu auszu-richten sein.

Der erste Schwerpunkt dient dem Ziel, die philosophische Anthro-pologie, der neben den Genannten auch Personen wie Erich Rothacker, Adolf Portmann, Hans Jonas, José Ortega y Gasset oder Watsuji Tetsuro zuzurechnen sind, als ein herausragendes Denkereignis der ersten Hälfte

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des 20. Jahrhunderts in das aktuelle Bewusstsein zu rücken. Dort ging es darum, in einer kritischen Rezeption des Naturalismus, insbesondere des Darwinismus, nach einem Begriff des Menschen zu suchen, der dessen Verwurzelung in die Natur ebenso wie seine offensichtliche ‚Sonderstel-lung’ fassen und sichern konnte. Mit der gleichen Haltung begegneten die Vertreter der philosophischen Anthropologie dem Historismus, vor allem im Hinblick auf seine relativistischen Konsequenzen, indem sie der Verschiedenheit der Menschen so gerecht zu werden suchten, dass diese trotz der Fremdheit der Kulturen miteinander vergleichbar und fürein-ander erreichbar blieben.

Mentalitätsgeschichtlich stellte die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts den originalen Versuch dar, das Krisenbewusstsein der Moderne, das der Erste Weltkrieg verschärft hatte, zu verarbeiten. Daraus ergaben sich bemerkenswerte, bis heute kaum erforschte Berüh-rungen und Überschneidungen mit anderen Denkansätzen wie der Phä-nomenologie, der Hermeneutik, der Lebensphilosophie, der Existenzphi-losophie und der Kritischen Theorie. In dieser Perspektive ordnet sich das Theoriefeld der Philosophie des 20. Jahrhunderts dank der Wieder-entdeckung der philosophischen Anthropologie neu. Daneben hatte ihr Paradigma eine vielfältige, ebenfalls weithin noch aufzuklärende Wirkung in weiteren Disziplinen zur Folge, so in der Soziologie, der Psychologie, der Medizin, der Philosophie und der Theologie.

Der zweite Schwerpunkt besteht in einer kritischen Sichtung des haltbaren Kerns der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhun-derts, die sich sowohl der radikalen Anthropologiekritik des vorigen Jahrhunderts sowie den sachlichen Herausforderungen der Gegenwart stellen muss. In systematischer Hinsicht betrifft dieser Kern das Verhält-nis des Menschen zu seinem Körper. Bereits die Beiträge der Klassiker der Philosophischen Anthropologie enthalten von diesem Ansatzpunkt her und bezogen auf Sozialität, Technik, Normativität, Sprache, Kunst, Musik ein reiches thematisches Potential. Neuartige Phänomene der menschlichen Lebenswelt – wie z. B. Bio- und Neurotechnologie, künst-liche Intelligenz, Ökologie, Weltraumfahrt, darüber hinaus auch die Me-dienvermitteltheit aller Lebenswelten und die damit verbundene Globali-sierung bis hin zur internationalen Gerichtsbarkeit – verlangen nach phi-

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Editorial

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losophisch-anthropologischer Arbeit, die diese Phänomene in ihre Kate-gorien übersetzt. In der doppelten Ausrichtung auf den und die Men-schen, auf die Stellung des Menschen als Gattungswesen in der Natur und den Ausgleich differenter Kulturen, könnte die philosophische Anthropologie ein Medium sein, das verschiedene disziplinäre und kultu-relle Perspektiven einander vermittelt, ohne sie durch eine Synthese ü-berbieten zu wollen.

In diesem interdisziplinären und interkulturellen Anspruch ist die Buchreihe für Positionen wie für Themen der philosophischen Anthropo-logie offen – in Form von Sammelbänden wie von Monographien.

Joachim Fischer, Ada Neschke, Gérard Raulet, Hans Rainer Sepp

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Philosophische Anthropologie Ursprünge und Aufgaben

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Ada Neschke und Hans Rainer Sepp Zur Einführung Der vorliegende Band im Kontext der Reihe Der Band widmet sich den Hauptvertretern einer Philosophischen An-thropologie als eines Denkansatzes, wie er ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Geh-len entwickelt wurde. Einen Vorschlag von Christian Thies aufgreifend und auch mit Blick auf die Unterscheidung von Joachim Fischer (s. un-ten, S. 188) differenzieren wir zwischen der philosophischen Anthro-pologie (klein geschrieben) als einer möglichen, selbständigen Teildis-ziplin der philosophischen Wissenschaften und der Philosophischen Anthropologie (groß geschrieben) als dem ersten Versuch, die philoso-phische Anthropologie als Fundamentaldisziplin zu begründen. Der Ausdruck philosophische Anthropologie fungiert somit als Allgemeinbe-griff, wohingegen die Schreibweise Philosophische Anthropologie als Ei-genname dasjenige historische Auftreten der philosophischen Anthropo-logie bezeichnet, das in den Entwürfen von Scheler, Plessner und Gehlen vorliegt.

Der vorliegende Band behandelt die Positionen dieser Autoren vor dem Hintergrund eines zweifachen Themenschwerpunkts: zum einen mit Blick zurück auf Wilhelm Diltheys Konzept einer verstehenden Psy-chologie und Anthropologie und mit der Frage, was die Anknüpfung an Dilthey für das philosophisch-anthropologische Werk von Scheler, Plessner und Gehlen bedeutet. Hier wird auch der Einfluss von Dilthey auf Edmund Husserl thematisch; denn nicht nur werden in Husserls Phänomenologie – und dies gerade im Austausch mit Dilthey und seiner

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Schule – diverse Grundeinstellungen zur philosophischen Anthropologie ausgetragen, auch die Arbeiten von Scheler, Plessner und Gehlen sind zu einem bedeutenden Teil der phänomenologischen Forschungsmethode verpflichtet. Zum zweiten erfolgt ein Blick nach vorn mit der Frage, wel-che methodischen und inhaltlichen Leitlinien die Grundpositionen der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts den Bemühungen um eine neue philosophisch-anthropologische Forschung bereitstellen können.

In weiteren Bänden dieser Reihe werden die Hauptschriften von Scheler, Plessner und Gehlen inhaltlich analysiert und auf ihre jeweiligen intellektuellen Kontexte hin befragt. Darüber hinaus soll das besondere Schicksal dieser Theorieansätze im 20. Jahrhundert untersucht werden; denn die totalitäre Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und der zweite Weltkrieg bilden real- und mentalitätsgeschichtliche Ein-schnitte, die die Rezeption der philosophischen Anthropologie stark ge-hemmt haben. Die Tatsache ist zwar bekannt, bedarf im Einzelnen aber einer vertiefenden Klärung.

Die geplante Fortentwicklung der philosophischen Anthropologie muss an dem von Scheler gewählten Ausgangspunkt anknüpfen, den Menschen als weltbezogenen Organismus zu begreifen. Infolgedessen werden folgende Themen im Vordergrund des Interesses stehen: die kos-mische Gebundenheit des Menschen, das Verhältnis von Körper und Geist, Gestalten des Geistes, Reflexivität, Handlung und Herstellung (Technik), Sprache, Kommunikation überhaupt, Vergesellschaftung, Formen der Gesellschaft. Es wird darum gehen, solche und weitere The-men im interdisziplinären und interkulturellen Dialog durchzuarbeiten. Dabei fällt der philosophischen Anthropologie die Aufgabe zu, die Er-gebnisse der Einzelwissenschaften in einer nicht reduktionistischen Sicht zu reflektieren und einen originären Beitrag zum Verständnis des Men-schen zu erbringen. Zu den Beiträgen dieses Bandes Damit, dass der philosophisch-anthropologische Denkansatz von Sche-ler, Plessner und Gehlen sowohl in seiner Aufnahme von Diltheys Philo-sophie des Lebens an einen Hauptstrang seiner Vorgeschichte zurückge-

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Einführung

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bunden als auch in seiner Relevanz für eine philosophische Anthropolo-gie heute erwiesen wird, macht schon dieser erste Band das Anliegen der gesamten Reihe deutlich, Grundbestimmungen einer gegenwärtigen phi-losophischen Anthropologie im Rekurs auf ihre ideengeschichtlichen Wurzeln zu entwickeln. Dieser Intention in ihrer ganzen Breite ist der einleitende Beitrag von Ada Neschke verpflichtet: Er verdeutlicht die Notwendigkeit, das Projekt einer philosophisch-anthropologischen For-schung in den Rahmen aktueller Problemdimensionen zu stellen und in der kritischen Aneignung derjenigen Erbschaft zu fundieren, die, bezieht man sich nur auf Europa, von den Denkanstrengungen einer zweiein-halbtausend Jahre übergreifenden philosophischen Anthropologie hinter-lassen wurde.

Den eigentlichen Themenkreis dieses Bandes eröffnen zwei Unter-suchungen zum Werk Diltheys: Hans-Ulrich Lessing skizziert Diltheys philosophische Anthropologie, und Jens-Claude Gens weist die Katego-rien auf, mit denen Dilthey die Geisteswissenschaften zu begründen suchte. Im Anschluss daran erörtert Hans Rainer Sepp Schelers Anknüp-fung an Dilthey, während Hans-Ulrich Lessing dies mit Bezug auf Pless-ner unternimmt. Christian Thies und Ada Neschke gehen den Wegen nach, auf denen Gehlen sich mit Dilthey auseinandersetzt, und Guy van Kerckhoven analysiert Edmund Husserls Variante einer „intentionalen Anthropologie“ in ihrem Spannungsverhältnis zu Dilthey und seiner Schule. Abschließend weisen Joachim Fischer mit der Frage nach dem Identitätskern der Philosophischen Anthropologie bei Scheler, Plessner und Gehlen sowie Christian Thies mit dem Entwurf eines sich am Werk dieser Autoren orientierenden philosophisch-anthropologischen For-schungsprogramms die Aktualität der Kerngehalte dieser Konzepte nach.

Hans-Ulrich Lessing zeigt in seinem Beitrag „Grundzüge von Diltheys philosophischer Anthropologie“, wie Dilthey mit seinem Projekt der Strukturpsychologie einem anthropologischen Ansatz zum Durchbruch verholfen hat. Diltheys Beschäftigung mit der Thematik des Menschen ist in seinem Versuch einer philosophischen Grundlegung der Geistes-wissenschaften als einer „Kritik der historischen Vernunft“ verankert. Anthropologie bzw. Psychologie bilden demnach zum einen die Grund-wissenschaft der Geisteswissenschaften; zum anderen transformiert Dil-they die Bewusstseinsphilosophie in Richtung auf ein lebensphilo-

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sophisches Konzept, das den ‚ganzen’ Menschen ins Zentrum stellen will. Anthropologie und Psychologie umreißen eine Theorie der „Le-benseinheiten“ nach zwei grundlegenden Gesichtspunkten: Gegen di-chotomische Bestimmungen des Menschen setzt Dilthey das Konzept einer „psycho-physischen Einheit“, zu dem für ihn auch der Mensch als „Naturtatsache“ gehört; zugleich wird das Individuum als Moment der sozialen und geschichtlichen Wirklichkeit begriffen. Für die anthropolo-gische Transformation der Philosophie bei Dilthey wird die Struktur des Seelenlebens, unterteilt in eine psychische Lebenseinheit, ein diese um-gebendes Milieu und die soziale Interaktion, zu einer Fundamental-kategorie, mit der die Sonderstellung des Menschen bestimmt werden soll: Der nicht mehr „dem Spiel der Reize“ ausgelieferte Mensch kon-stituiert seine Welt als eine geschichtliche, die demzufolge eine Welt der Freiheit ist.

In seiner Studie „Kategorien der Psycho-Anthropologie bei Dilthey“ untersucht Jean-Claude Gens, welcher Art von Psychologie und Anthro-pologie Dilthey die Aufgabe zuweist, Aufbau und Genese des Erlebten zu beschreiben. Gens macht deutlich, dass die Realisierung dieses Vorha-bens nicht ohne eine Philosophie des Lebens auskommt, die auch eine Erweiterung ihrer Grundlegung zur Biologie hin vornimmt. Das begriff-liche Fundament der einzelnen Wissenschaften ist aber nur im Rahmen einer neuen Theorie der Kategorien zu gewinnen, welche die Aristoteli-schen und Kantischen Kategorienlehren miteinbezieht, denn auf der Grundlage der Kategorien, die die Wahrnehmung von Welt und des Menschen selbst ordnen, entstehen die Konzepte der Wissenschaften. Daher hat eine Anthropologie, die den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen sucht und zu diesem Zweck auf die Wissenschaften rekurriert, mit der Gründung der Kategorienlehre fortzufahren. Die Untersuchun-gen etwa von Plessner, Weizsäcker, von Uexküll und Portmann, die ih-rerseits Diltheys Überlegungen zur Lehre der Kategorien des Lebens weiterführen, stützen sich insbesondere auf eine beschreibende Biologie, um so den Sinn der Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissen-schaften von neuem in Frage zu stellen und damit die Beziehung zwi-schen Geist und Natur neu bedenken zu können.

Ein zentrales Bestandstück von Schelers Versuch, das Wesen des Menschen neu zu bestimmen, gründet in der Analyse des Erlebens von Widerstand und im darin sich aktualisierenden Realitätsbezug. Wie Hans

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Rainer Sepp in seinem Beitrag darlegt, bezieht sich Scheler in diesem Zu-sammenhang auf Diltheys Analyse des Erlebens von Widerstand. Zutref-fend an Diltheys Auffassung ist für Scheler, dass Dilthey das Erlebnis von Widerstand von den es begleitenden Empfindungen geschieden hat. Ungenügend sei aber ein Mehrfaches: Erstens denke Dilthey die Wider-standserfahrung als durch Druckempfindungen und durch Denkvorgän-ge vermittelt; demgegenüber sei sie als triebhaftes Verhalten sui generis zu nehmen. Da erst der ekstatisch erlebte Widerstand Re-flexion und Be-wusstsein stiftet, korreliere zweitens nicht ein Triebbewusstsein mit er-lebtem Widerstand. Auch sei, drittens, nicht eine bewusste Wil-lenserfahrung der Erlebnisakt von Widerständigkeit, sondern das unwill-kürliche Leben der Triebimpulse. Und viertens: Das Realitätsproblem sei nicht auf die Realität der Außenwelt begrenzt, sondern trete in allen Sphären auf. In der Phänomenologie des Widerstandserlebnisses gründet Schelers Stellung zur Idealismus-Realismus-Debatte, wonach Sinnhaftig-keit („Sosein“) in mente und extra mentem, Realität („Dasein“) jedoch nur extra mentem sein könne. Sofern Dasein ursprünglich nur einem Triebverhalten erschlossen ist und dies die Erfassung von Sosein bedingt, erfordert ein Zugang zum Sosein als solchem, und d. h. als eines aprio-rischen, eine Aufhebung des Triebbezugs selbst. Da phänomenologische Reduktion diese Inhibierung leisten soll, ist sie für Scheler nicht nur die Bedingung für Aussagen über apriorische Bestände und damit auch die Basis für eine philosophische Anthropologie; ihr Vollzug selbst kenn-zeichnet das Wesen des Menschen als eines „Neinsagenkönners“ des Le-bens. Aus Schelers Analyse des Widerstandserlebnisses folgen zwei radi-kale Thesen: Für eine Bestimmung des Menschen genügen weder nur die Berücksichtigung seines sinnhaften Weltbezugs noch nur seine Herein-nahme ins Thema. Denn seinem Eingelassensein in Realität ist mit übli-chen hermeneutischen Verfahren nicht beizukommen, und philosophi-sche Anthropologie schließt, als basierend auf der phänomenologischen Reduktion im Sinn Schelers, eine vortheoretische Selbstverwandlung des Menschen, die demzufolge noch vor der Sein-Sollen-Differenz liegt, mit ein.

„Plessners Anknüpfung an Dilthey“ von Hans-Ulrich Lessing legt dar, wie Plessner in seinem frühen Werk Einheit der Sinne mit dem Projekt einer „Ästhesiologie“ als einer Kritik der Sinne auf dem Weg einer Hermeneutik den Umfang sinnlicher Qualitäten und Modalitäten

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bestimmen will. Als hermeneutisches Werkzeug sucht Plessner eine neue Theorie des Geistes zu konzipieren, für deren Ausgestaltung die Anbin-dung an Diltheys hermeneutische Philosophie der Geisteswissenschaften wesentlich wird. Allerdings entnimmt Plessner Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“ kaum mehr als nur einen Leitfaden für seine eigenen Ziele. Deutlicher wird Diltheys Einfluss auf Plessner in dessen Stufen des Organischen. Bei Dilthey sieht Plessner die Einsicht entfaltet, dass die Grundlegung einer Theorie der Geisteswissenschaften einer Philosophie des Menschen bedarf, die ihrerseits eine nicht naturwis-senschaftlich restringierte Philosophie der Natur beinhalten muss. Doch erst Husserls Phänomenologie habe, so Plessner, die Möglichkeit gebo-ten, dieses Programm in die Tat umzusetzen. Der späte Plessner knüpft mit seinem „Prinzip der Unergründlichkeit“, das den Menschen in gleichem Maße als „Macht“ wie als „offene Frage“ fokussiert und für Plessners politische Anthropologie relevant wird, nochmals an Dilthey und die Dilthey-Schule an.

Christian Thies bewertet Gehlens Kritik an Dilthey vor dem Hinter-grund von Diltheys eigenen Verdiensten um die Etablierung einer philo-sophischen Anthropologie. Grundlegend für deren Entwicklung war Dil-theys Begriff der ‚Lebensphilosophie’, bezüglich der Thies drei Bedeu-tungen hervorhebt: zum einen als Philosophie, die mit ihrer Hinwendung zu lebensweltlichen Fragen einen Bezug auf das Leben intendiert; zum zweiten ein Denken, dessen Subjekt der Mensch als ein lebendiges We-sen diesseits aller dichotomischen Differenzierungen darstellt, und drit-tens eine Philosophie, die zu ihrem Gegenstand das Leben als menschli-che Welt hat. Diltheys anthropologisches Konzept beschränkt sich auf den Menschen als ein geschichtliches Wesen und klammert seine organi-sche Natur weithin aus. Gehlens Hauptvorwurf an Dilthey, den er als Vertreter einer Innerlichkeitskultur einem liberalen Kulturprotestantis-mus zuordnet, lautet, dass sich durch Verstehen die Geltung von Institu-tionen nicht rekonstruieren lässt. Thies verdeutlicht diese Kritik an zwei Aspekten: Die motivatorische Kraft einer Institution ist durch herme-neutische Prozesse nicht zu erneuern – Nacherleben allein stiftet noch nicht die Zugehörigkeit zu einer geschichtlichen Wirklichkeit. Ebenso vermag Hermeneutik keine geistige Gestalt zu legitimieren – sie liefert hierfür eine notwendige, doch keine hinreichende Bedingung. Abschlie-ßend zeigt Thies, wie Gehlen bezüglich des Begründungsproblems je-

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doch selbst auf den anthropologistischen Standpunkt des frühen Dilthey zurückfällt: Demnach wäre der erste Fehler des Anthropologismus die Missachtung des Unterschieds von Genesis und Geltung, von Deskripti-on und Begründen; der zweite, aus dem Sein ein Sollen abzuleiten. Le-bensphilosophie und Anthropologie können zwar deskriptive, doch we-der erkenntnistheoretische noch normative Aussagen treffen.

Das Erbe der Philosophie, handlungsbezogenes reflexives Orientie-rungswissen zu sein, suchen sowohl Diltheys Lebensphilosophie wie auch die Philosophische Anthropologie von Scheler, Plessner und Geh-len zu erneuern. Der Beitrag „Arnold Gehlens Kategorienforschung als Grundlage seiner Kritik an Wilhelm Dilthey“ von Ada Neschke zeigt, dass Gehlen von fünf Merkmalen, die Diltheys Ansatz prägen – der psy-chologische Haushalt des Menschen sei unveränderlich, die Naturge-schichte des Menschen besitze wenig Bedeutung für dessen Kultur, nachvollziehendes Verstehen finaler Gründe habe Vorrang vor Kausaler-klärung effizienter Gründe, Kollektiva seien Subjekte und mit Individu-alsubjekten in wechselseitiger Bedingtheit verflochten, die Universalge-schichte des Menschen wird als ein großer Strukturzusammenhang beg-riffen –, nur die letzte These des Strukturzusammenhangs teilt, und zwar in der Form, dass dieser sich auf je ein menschliches Lebenskollektiv, eine Kultur, beziehe. Gehlens Gegenposition besteht in den Thesen: Mentale Diversifikation verbiete es, alle menschlichen Äußerungen auf dem Weg des Nachverstehens zu erschließen; Differenz der Mentalitäten gründe in einer Veränderung der Antriebsnatur des Menschen und diese in seinem handelnden In-der-Welt-sein; menschliches Handeln sei nur bedingt zweckrational und mittels des Verstehens fassbar; Diltheys All-gemeinheit intendierende Strukturbeschreibungen reflektierten in Wirk-lichkeit nur die Ansicht einer bestimmten Epoche, und damit kongruiere ein eingeschränkter Handlungsbegriff. In Anlehnung an Nicolai Hart-manns Schichtenontologie intendiert Gehlen hingegen eine Gesamtan-schauung des Menschen. Diese beruht auf der Einsicht in eine Wechsel-wirkung zwischen menschlichem Organismus und der vom Menschen gestalteten Welt, und zwar dergestalt, dass letztere auf die menschliche Selbstgestaltung zurückwirkt und somit Handlung als einen Kreisprozess begründet. Mit seinem Projekt, das Phänomen ursprünglicher Kultur-schöpfung, darunter vor allem der Religion und der elementaren Institu-tionen, in die philosophische Anthropologie zu integrieren, greift Gehlen

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Diltheys Gedanken der Universalgeschichte auf, sofern die kulturelle Evolution des Menschen und die Epochen der Menschheitsgeschichte mit ins Thema rücken. Anders als Dilthey macht Gehlen jedoch die auf-gewiesenen Strukturen von den elementaren Institutionen je neuer Wel-ten abhängig, befragt am Modell des Handlungskreises in einer radikalen Kontextualisierung die komplexe Verflechtung von Mensch und Welt. Will die philosophische Anthropologie an Gehlen anknüpfen, gilt es so-wohl Gehlens Handlungsbegriff mit Blick auf die Relevanz des mit-menschlichen Bezugs wie auch seine Naturteleologie des Überlebens hinsichtlich des Aufweises weiterer Schwellenzeiten auf breiterer Basis zu analysieren.

Der Beitrag von Guy van Kerckhoven – „Vinculum rationis und rea-les Lebensband. Zur ‚anthropologischen Reduktion’ in der Phänomeno-logie“ – behandelt das philosophische Gespräch zwischen Dilthey und Husserl sowie den beiden Vermittlungsträgern Georg Misch und Hans Lipps mit Rekurs auf die „reformatorische“ Wende der Anthropologie. Der Rückgang auf tatsächliche Lebensbezüge formt ein „reales Lebens-band“, das das vinculum rationis damit bindet, dass es dieses in die Schranken eines natürlichen Lebens- und Weltverständnisses verweist. Die „anthropologische Reduktion“, deren Stoßrichtung Dilthey und Misch als „Lebensbezug“, Lipps als „antizipierte Bezüglichkeit“ und Husserl mit „Ichlichkeiten von Gnaden der ursprünglichen Ichlichkeit“ bezeichnen, erhielt in Husserls Phänomenologie eine spezifische Pointe, indem die Phänomenologie der Denk- und Erkenntniserlebnisse aus ih-rem Bann intellektualistischer Verkürzung gelöst wurde. Der erlebte Le-bensgehalt ist kein vom Bewusstsein intentional vermeinter; als „Ten-denz“ oder „Motiv“ gehört er für Husserl überhaupt nicht in den Bereich intentionaler Erlebnisse. Die „intentionale Anthropologie“ impliziert daher eine grundsätzliche Verwandlung des Sinns von Intentionalität. Das solcherart ‚lebende’, im Vorweg schon bei den Dingen seiende Ich ist ursprünglich nicht ein konstitutives, sondern responsives, wobei Leib-lichkeit als Organon fungiert. Die Aporetik des phänomenologischen Einsatzes besagt dann, dass man sich nur bei einem vorgängig Geschehe-nen betreffen kann, das sich an der Nachträglichkeit seiner Bewusstwer-dung und nicht am Aposteriori der Erfahrung bestimmen lässt.

In dem den Band beschließenden Abschnitt über Wege, den Denk-ansatz von Scheler, Plessner und Gehlen in seiner einheitlichen Stoßrich-

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Einführung

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tung zu begreifen und für eine neue philosophische Anthropologie fruchtbar zu machen, entwirft Joachim Fischer Möglichkeiten, wie ein jenen Konzepten gemeinsamer Identitätskern herauspräpariert werden kann. Dafür, warum das Theorieprogramm der Philosophischen Anthro-pologie gemeinhin nicht als ein solches wahrgenommen wird, nennt Fi-scher drei Gründe: die Rivalität innerhalb der Gruppe dieser Autoren, die Störung der Identifizierung eines Identitätskerns durch Dritte sowie der in der Nachkriegszeit erfolgte Wechsel von Plessner und Gehlen auf so-ziologische Lehrstühle. Die Identifikation eines Identitätskerns betrifft die Art der Kategorienbildung und kann in Aspekten einer tiefen-strukturellen Identität innerhalb der Differenz der Autoren aufgezeigt werden. Zum ersten ist hier das philosophisch-anthropologische Verfah-ren ein Umweg: Innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation setzt die Refle-xionsbildung nicht beim Subjekt, sondern am Objekt an. Zweitens ope-rieren die am Objektpol ansetzenden Reflexionen von unten her, im Zwischenreich des Lebendigen, zwischen anorganischer Materie und Mensch. An diesem Gegenstandspol wird drittens mit dem „Funktions-kreis“ eine eigene Korrelativität von Organismus und Umwelt aufweis-bar und viertens ein Blickpunkt ausdifferenziert, der von der Flanke aus das Korrelationsverhältnis betrachtet. Fünftens werden vom Niveau sub-humaner lebendiger Körper von unten nach oben Korrelationen zwi-schen Organismen und Umweltelementen durchdacht. Diese Denkbe-wegung von unten nach oben stellt, sechstens, auf der Höhe des mensch-lichen Lebewesens eine Unterbrochenheit im Lebenskreis qua Aufgebro-chenheit fest. Entsprechend sind alle prägnanten Begriffe der Philosophi-schen Anthropologie gebrochene und neu vermittelte Lebenskreisbegrif-fe. Darauf, dass sich dieser Denkansatz in der Inkongruenz von Binnen-perspektive (Subjekt-Objekt-Relation) und Außenperspektive (Umweg über den Gegenstandspol) verankert, beruht folglich sein Erschließungs-potential. Und siebtens versteht sich diese Denkbewegung als eigentüm-liches Denkprojekt der Philosophie. Sie ist deren freier Entwurf, aber philosophische Vergewisserung des Geistes unter Rückbezug auf die Er-fahrungswissenschaften vom Menschen: daher der Umweg über den Ge-genstandspol, um im Durchgang durch die verschiedenen Erfahrungszu-gänge zum Menschen deren Verknüpfung zu leisten. In der Art der Ka-tegorienbildung koinzidieren alle drei Autoren – jeweils vom menschli-chen Geist ausgehend, aber mit Blick auf den lebendigen Körper anset-

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zend, wird im vergleichenden Durchgang durch Typen des Lebendigen dessen Gebrochenheit auf dem Organisationsniveau des menschlichen Körpers aufgewiesen: Innen-, Außen- und Mitwelt entspringen dem Bi-os, bilden seine Ex-zentrik, die in der Verrückung in ihm verbleibt. Bei der Konstatierung der Aufgebrochenheit des lebendigen Funktionskrei-ses setzen die drei Autoren unterschiedliche Akzente. Diese verweisen jedoch nicht auf differente Ansätze, sondern sind Schwerpunktbildungen im Identitätskern selbst.

Christian Thies entwickelt mit seinem Beitrag „Philosophische An-thropologie als Forschungsprogramm“, wie philosophische Anthropolo-gie in der Datenflut der Humanwissenschaften Orientierung zu geben und mit der Vermittlung zwischen dem System der Wissenschaften und der außerwissenschaftlichen Lebenswelt einen Selbstverständigungspro-zess in Gang zu setzen vermag. Dabei kann, so die These, ein Rückgriff auf die Philosophische Anthropologie von Scheler, Plessner und Gehlen die philosophische Anthropologie in ein progredierendes Forschungs-programm verwandeln. Nach Imre Lakatos ist ein Forschungsprogramm durch drei Momente gekennzeichnet: Um einen harten Kern von philo-sophischen Annahmen, die in der empirischen Forschung nicht zur Dis-position gestellt werden, liegt ein Schutzgürtel an Theorien, die durch empirische Forschung überprüft und gegebenenfalls modifiziert oder fallengelassen werden können; an ihn schließt sich ein Bereich an, der die Geltung und Anwendung des Programms betrifft. Zum harten Kern der Philosophischen Anthropologie gehören die Intention eines philosophi-schen Gesamtentwurfs des Menschen, der hohe theoretische Stellenwert des Handelns, ein schwacher Materialismus, der besagt, dass höhere menschliche Eigenschaften durch niedere bedingt und in ihrem Spiel-raum begrenzt sind, und der ein Schichtenmodell voraussetzt, und schließlich das, was unter „Weltoffenheit“ verstanden wird. Im zweiten Teil seines Beitrags prüft Thies vier Einwände, die Biologie und Sozial-wissenschaft gegenüber der Philosophischen Anthropologie erheben und die, so Thies, zum Teil zutreffend sind und zu einer Revision am harten Kern der Philosophischen Anthropologie führen sollten. Der naturalisti-sche Einwand lautet, dass der Mensch durch seine physischen Anlagen determiniert sei. Daran ist nach Thiess richtig, dass Scheler, Plessner und Gehlen einen extremen Kulturalismus vertreten, der aus einer falschen Einschätzung des Darwinismus resultiert. Der im Rahmen einer Histori-

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Einführung

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schen Anthropologie erhobene sozialwissenschaftliche Einwand lautet, dass die Philosophische Anthropologie dem Ansatz einer metaphysi-schen Wesenswissenschaft verhaftet bleibe. Dieser Vorwurf trifft die Philosophische Anthropologie nicht, sofern sie deskriptiv vorgeht und nicht ein normatives Menschenbild vermitteln will; er ist allenfalls dort berechtigt, wo es um das Defizit der Philosophischen Anthropologie geht, Intersubjektivität thematisch zu machen.

Die Beiträge dieses Bandes verfolgen das gemeinsame Ziel, das Potential welches der Denkansatz von Scheler, Plessner und Gehlen für eine philo-sophisch-anthropologische Kategorienbildung besitzt, herauszupräparie-ren. Eine aktuellen Reduktionismen in der Wissenschaft begegnende Kategorialtheorie ist für die gegenwärtige Wiederbelebung der philoso-phischen Anthropologie von zentraler Bedeutung. Der Rückgriff auf die kategorialen Neubildungen, die das frühe 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und die in ihrem systematischen Zusammenhang bis heute kaum aus-reichend aufgearbeitet sind, macht deutlich, dass es nicht allein aus histo-rischen, sondern erstlich und letztlich aus sachlichen Gründen unerläss-lich ist, bei gegenwärtigen Fragen nach dem Menschen dasjenige mitein-zubeziehen, was an Deutungsschemata schon entwickelt wurde, aber in der Fixierung auf naturwissenschaftliche Paradigma vergessen zu werden droht. Zur Zitierweise in diesem Band Zitate aus Helmuth Plessners Gesammelten Schriften erfolgen mit dem Kürzel P, Zitate aus der Arnold Gehlen Gesamtausgabe mit dem Kürzel G. Aus den Gesammelten Schriften Wilhelm Diltheys wird nur mit römischer Bandnummer und arabischer Seitenzahl zitiert.

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Ada Neschke Philosophische Anthropologie – ihre Aktualität und ihre Geschichte A. Aktualität der philosophischen Anthropologie Bei dem Vorhaben, das mit dieser Buchreihe verwirklicht wird, handelt es sich um ein für die Öffentlichkeit relevantes Unternehmen.1 In der Tat verdankt das Projekt seine Entstehung einer aktuellen Krisenlage. Sie ist durch die Erfolge und das mit diesen verbundene öffentliche Ansehen, aber auch Aufsehen gekennzeichnet, welches die zeitgenössische Men-schenforschung in der Form der Genforschung und in den Neuro-Wissenschaften erregt hat. Wir scheinen mit diesen Erfolgen an einer Wende der Kenntnisse zu stehen, die der Mensch von sich selber gewin-nen kann und die in Zukunft sein Selbstverständnis mitbestimmen wer-den. Da diese Kenntnisse jedoch eine neue Verfügungsgewalt beinhalten, bilden sie zugleich den Anlass einer verbreiteten Unruhe. In der Tat ge-ben die neuen Entdeckungen Anlass zu Phantasmen sowohl bei den For-schern wie den Laien. Im Bereich der Forschung stellt die Möglichkeit des Klonens die Reproduzierbarkeit des Menschen in Aussicht; damit scheint der menschheitsgeschichtlich alte Traum des „homunculus“ heute greifbar zu werden. Daneben verfassen die Neurowissenschaftler Mani-feste über die Zukunft ihrer Wissenschaften und bezeichnen „Eingriffe in

1 Die nationalen Forschungsförderungen Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz unterstützen das Projekt.

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Philosophische Anthropologie – ihre Aktualität und Geschichte

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die Persönlichkeit“ als eine ihrer neuen Aufgaben.2 Die Laien dagegen sind von diesen Techniken ausgeschlossen und können sich nur mehr als die möglichen Opfer der neuen Manipulationen betrachten. Diese stellen eine Herrschaft des Menschen über den Menschen in Aussicht, die die schlimmsten Eingriffe in die Sphäre der menschlichen Person durch tota-litäre Systeme weit zu übertreffen droht.

Die aktuell geäußerten Ansprüche der neuen Biowissenschaften ha-ben ihren Grund in dem schon alten Glauben, alles Wissen müsse auf „Beherrschung“ hinauslaufen; die totale Beherrschung der Natur soll sich auch auf die Natur des Menschen erstrecken und sogar seine „Persön-lichkeit“ erfassen, d. h. dasjenige am Menschen, was in der okzidentalen Tradition als ihm zutiefst zu eigen gilt. Es muss daran erinnert werden, dass die Grundnormen unserer Kultur diesen Ansprüchen entgegenste-hen; denn die Menschenrechte wurden von dem Philosophen John Locke als Rechte der „Person“ eingeführt, von der der Philosoph behauptet, dass sie sich selbst zum Eigentum habe.3 Der überkommene Begriff der Menschenwürde wird heute von den Juristen intensiv diskutiert, damit von Rechts wegen den Wissenschaften moralisch-rechtliche Grenzen gesetzt werden können.4 In der Tat, wenn das Machen über die Sachen hinaus auf Personen ausgedehnt wird, muss es notwendig mit den in den okzidentalen Gesellschaften geltenden Vorstellungen von Moral und Recht in Konflikt geraten.5

2 Vgl. das Manifest in Gehirn und Geist (6/2004): „Ebenso werden uns die zu erwartenden weiteren Fortschritte in der Hirnforschung vermehrt in die Lage versetzen, psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen, aber auch Verhal-tensdispositionen zumindest in ihrer Tendenz vorauszusehen – und Gegenmaß-nahmen zu ergreifen. Solche Eingriffe in die Persönlichkeit des Menschen [sic! von mir hervorgehoben] sind allerdings mit vielen ethischen Fragen verbunden [...].“ Wer entscheidet, was eine psychische Auffälligkeit ist, gegen die man Maßnah-men ergreifen soll? Hier findet die „Herrschaftswissenschaft“ ihre Besorgnis erregende Anwendung! 3 Neschke 2003/2004, 497-506. 4 Seelmann 2006. 5 Deren philosophische Begründung bei Spaemann 21998.

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Ada Neschke

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Das Machtpotential der neuen Wissenschaften und Techniken, deren humanitäre Leistungen allein im Gebiet der Heilung von Krankheiten liegen können und, aus Gründen von Moral und Recht, liegen dürfen, stellt eine schwere Herausforderung an das okzidentale Wertesystem dar. Diese Herausforderung kann wohl von den Einzelwissenschaften in be-stimmten Aspekten aufgegriffen werden. So hat etwa die Determinismus-these des Neurologen Wolf Singer die Gerichtspsychiatrie und die Juris-prudenz im Ganzen in eine öffentliche Diskussion verwickelt und wird es weiterhin tun.6 Es bedarf jedoch einer viel grundsätzlicheren Betrach-tungsweise durch eine Disziplin, die sich immer schon der Aufgabe ge-stellt hat, wissenschaftskritisch zu sein. Dies ist die Philosophie, die seit Platos Kritik an der Sophistik die Ansprüche des menschlichen Wissens auf seine Reichweite, Wahrheit und Gültigkeit überprüft.

Aus der zweitausendjährigen philosophischen Wissenskritik ist nun die Einsicht hervorgegangen, dass menschliches Wissen immer nur par-tiell und perspektivisch sein kann. In der Tat, der Mensch als Produkt der Evolution wird sich nie davon befreien können, nur ein Teil des gewor-denen Kosmos und nicht sein Urheber zu sein; nur vor dem Schöpfer des Ganzen können jedoch die Gesetze des Ganzen durchsichtig ausgebreitet sein. Im Gegensatz dazu besteht die Signatur menschlichen Wissens dar-in, perspektivisch gebundenes Teilwissen zu sein. Von diesem Merkmal zeugt die Tatsache, dass das dem menschlichen Wissen folgende Handeln fast immer undurchschaute Nebenwirkungen erzeugt. Die große ökolo-gische Krise, deren Ende nicht abzusehen ist, reicht offenbar nicht aus, das abendländische Bewusstsein auf sein ihm evolutionär zugemessenes Maß zurückzuschrauben. Das hier vorgestellte Projekt dient somit auch der docta ignorantia, dem gelehrten Nichtwissen. Letzteres steht mit Skepsis der Euphorie und Hypertrophie des am Machen orientierten Wissens gegenüber und will diese Skepsis im Rahmen einer anthropologi-schen Theorie begründen, die die Wissensmöglichkeiten und -grenzen des Menschen reflektiert.

Wenn seine Autoren damit auf die gekennzeichnete Krisenlage rea-gieren, wiederholen sie einen Gestus, der der philosophischen Anthropo-

6 Singer 2002. Ferner: M. Senn, D. Puskas 2007.