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Detlef Hartmann Der rechte Nietzsche im Bauch eines linken trojanischen Pferds 1 Der Wille zur Gewalt im sozialen Krieg... I „Moral für Ärzte. -Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätte die Vermittler dieser Verachtung zu sein, -nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patenten...Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht zu leben.“ „Was ist gut? –Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist Schlecht? –Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? –das Glück davon, daß die Macht wächst, daß ein Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend) Die Schwachen und Mißrathenen sollen zugrunde gehen: erster-Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“ „Jene neue Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschen in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachen muß.“ 2 Klare Worte protonazistischer Vorübung, eines „nazistischen Experiments“, wie der amerikanische Philosophiehistoriker Kurt Fischer es genannt hat? 3 Eine verzeihliche Entgleisung? Wie denn sollten die philosophischen Verdienste beschaffen sei, um solche Sätze vergessen zu machen? Aus dem Zusammenhang gerissen? Aus welchem Zusammenhang dürfen denn solche Gedanken gerissen sein, damit wir uns mit ihnen anfreunden können? Nichts von alledem. Vernichtung gehört zum Kern der Philosophie Nietzsches, die Propagansa der Vernichtung der 1 Eine gekürzte Fassung ist in ak analyse und kritik Nr. 448 vom 15.3.00 erschienen 2 F. Nietzsche, Antichrist, Götzen-Dämmerung, Ecce Homo, Kritische Studienausgabe (KSA), Neuausgabe 1999, S. 134,170,313; 3 K.R. Fischer, Nazism as an Nietzschean „Experiment“, Nietzsche-Studien 6(77), 116;

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Page 1: Detlef Hartmann - materialien.org · Nietzsche-Schüler von Georges Bataille über Gilles Deleuze bis Sarah Kofman. Hier entfaltete vor allem der Zauber seiner dichterischen und

Detlef Hartmann

Der rechte Nietzsche im Bauch eines linken trojanischen Pferds1

Der Wille zur Gewalt im sozialen Krieg...

I „Moral für Ärzte. -Der Kranke ist ein Parasit derGesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig,noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feigerAbhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vomLeben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte beider Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. DieÄrzte wiederum hätte die Vermittler dieser Verachtung zu sein,-nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vorihrem Patenten...Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, diedes Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse desLebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtslosesteNieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt –zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geborenzu werden, für das Recht zu leben.“ „Was ist gut? –Alles, wasdas Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbstim Menschen erhöht. Was ist Schlecht? –Alles, was aus derSchwäche stammt. Was ist Glück? –das Glück davon, daß dieMacht wächst, daß ein Widerstand überwunden wird. NichtZufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt,sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend imRenaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend) Die Schwachenund Mißrathenen sollen zugrunde gehen: erster-Satz unsererMenschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“ „Jeneneue Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben, dieHöherzüchtung der Menschen in die Hände nimmt, eingerechnetdie schonungslose Vernichtung alles Entartenden undParasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wiedermöglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wiedererwachen muß.“2

Klare Worte protonazistischer Vorübung, eines „nazistischenExperiments“, wie der amerikanische Philosophiehistoriker KurtFischer es genannt hat?3 Eine verzeihliche Entgleisung? Wiedenn sollten die philosophischen Verdienste beschaffen sei, umsolche Sätze vergessen zu machen? Aus dem Zusammenhanggerissen? Aus welchem Zusammenhang dürfen denn solche Gedankengerissen sein, damit wir uns mit ihnen anfreunden können?Nichts von alledem. Vernichtung gehört zum Kern derPhilosophie Nietzsches, die Propagansa der Vernichtung der

1 Eine gekürzte Fassung ist in ak analyse und kritik Nr. 448 vom 15.3.00erschienen2 F. Nietzsche, Antichrist, Götzen-Dämmerung, Ecce Homo, KritischeStudienausgabe (KSA), Neuausgabe 1999, S. 134,170,313;3 K.R. Fischer, Nazism as an Nietzschean „Experiment“, Nietzsche-Studien6(77), 116;

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Entarteten ist keine Entgleisung, sondern ihr konsequenterAusdruck.

Der Zusammenhang: Götzen-Dämmerung, der Antichrist und EcceHomo sind Schriften des Jahres 1888. Geschöpft sind die erstenbeiden aus den Vorarbeiten zum großen 1887 in „Zur Genealogieder Moral“ pathetisch ankündigten Werkprojekt „Der Willen zurMacht“, Ecce Homo als biographischer Aufriß des Gesamtwerks.Georgio Colli, dem mit Mazzino Montinari das Verdienstzukommt, die auch hier benutzte kritische Gesamtausgabe vonNietzsches Werken und des Nachlasses besorgt zu haben, siehtdiese späten Schriften in der Logik des gesamten Werks, ohneAbstriche für die zitierten Stellen (ebenso Deleuze,Kornberger findet darin gar den „Kristallisationspunkt“ 4). Erfolgt damit Nietzsches Selbstdarstellung in „Ecce Homo“, diein der Tat aus der Gesamtschau von Werk, Briefen undnachgelassenen Schriften gut nachvollziehbar ist. IhreRadikalität erklärt er aus dem zugeschärften Bewußtsein der„Unzeitgemäßheit“, „quasi das Leitmotiv seines Denkens“, demer zu ersten Mal in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ derJahre 1873-76 auch literarisch zum Motto erhob. Der Wunsch zudirektem Eingreifen, der sich schon im prophetischen Ton desZarathustra ausdrückte, drängten zur gegenseitigenDurchdringung von Denken und handelnder Person, zumautobiographischen Bekenntnis und zur propagandistischenHärte.

II Wir fragen uns daher: Wie ist Nietzsches methodologischerZugriff auf den Lebensprozeß und die Welt angelegt, wenn ereine nietzscheanische Rechte entfesseln half und –wie Seibertmeint- zugleich eine nietzscheanische Linke inspirierenkonnte, erklärte Linke in seinen Bann zog und sich auf derhistorischen Achse darüberhinaus zu politischen Umschriften inneue politische Bestimmungen verwendbar machte?Nietzsche hat sich gegen jede Verkürzung auf Schulphilosophie,Psychologie, Logik, Ökonomie, Geschichte und Politik verwahrt.All diese thematischen Bereiche behandelt er als Felder fürdas Wirken der aggressiven Energien des „Willens zur Macht“,des Willens zur „Bemächtigung“, zur „Aneignung“,„Überwältigung“, „Vergewaltigung“, wie er auch sagt: „Und wißtihr auch, was die Welt ist?...Diese Welt ist der Wille zurMacht - und nichts außerdem“5. Der „Wille, Herr zu sein“ bleibtfür ihn (und da gibt es wenig Widerspruch in den Gemeindenseiner Jünger und Gegner), die zentrale Kraftquelle derkomplexen Ausdrucksformen des Lebens und der „Weltauslegung“.Das heißt: von Handeln, Erleben und Erkennen zugleich, sielassen sich nicht voneinander trennen. Notwendig undunentrinnbar schließen sie das „erkennende“ Subjekt und alle

4 G. Deleuze, Nietzsche, Berlin 1979, S. 43; M. Kornberger, Zur Genealogiedes „Ecce homo“, Nietzsche-Studien 27/98, S. 319, hier: 3385 KSA 11, 610, aus der Phase des Übergangs vom poetischen „Zarathustra“ zueinem mehr theoretischen Zugriff auf den Willen zu Macht

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seine „theoretischen“ Bemühungen in den praktischen Kontextdes „Willens zur Macht“ ein. Es gibt keinen archimedischenPunkt der „Erkenntnis“. Dies ist wichtig, weil ein großer Teilder poststrukturalistischen Nietzsche-Rezeption dasSchwergewicht auf Erkenntnis und Darstellung gelegt hat und(sogar Foucault) das Problem der Selbstinklusion oftvernachlässigt hat. Nietzsche formuliert den Willen zur Machtimmer im Spannungsfeld des Gegensatzes in einerRadikalisierungsskala, die von „Distanzen aufreißen“,„Gegensatz“ gegen „Widerstand“, „Spannung“, über„Kluftaufreißung“, „Durst nach Feinden“, „Feindschaft“, biszum „Krieg“, zum „Todkrieg“ reicht. Aber nicht alssystemischen und strukturellen, dialektischen Gegensatz inBezug auf das „Wesen“ des Seins oder gar von statischenVerhältnissen, sondern als Prozeß, als Lebensprozeß. Und auchnicht betrieben durch ein gegebenes Subjekt, gegebeneSubjekte, sondern in einem Prozeß des „Werdens“, in dem dieSubjektivität der sich bemächtigenden Kräfte sich, ihreGestalten erst entfalten, sich erfinden, sich entfesseln, sicherschaffen im schöpferischen Prozeß der Herstellung ihrerMachtstrategien und Werke.„Übermensch“ ist die metaphorische Bezeichnung für den„Typus“, der sich in diesem Prozeß aus dem Willen zur Macht„erfindet“. Er will keine Anerkennung, weil Herr sein will. Esist diese Vorstellung vom dynamischen Charakter derBemächtigungsprozesse, in der Nietzsche die überkommenephilosophische Begrifflichkeit von Subjekt und Objekt, vonSubstanz und Gegebenem, von Bewußtsein und seinem Gegenstand,von Ursache und Wirkung, Zeichen und Bezeichnetem bis hin zurAxiomatik zweiwertiger Logik (wahr und falsch etc.) auflöstund verflüssigt. So ausgedrückt erscheint es als einePhilosophie, ja eine propagandistische Prophetie derEntfesselung, der Befreiung, der Emanzipation.Das Entscheidende ist aber: Nietzsche hat nie einen Zweifeldaran gelassen, in welcher Richtung er die Entfesslungaggressiver Energien zur Bemächtigung und Aneignung von Weltorganisiert sah: von oben nach unten, von den Starken gegendie Schwachen, von den Herren der Erde gegen die Sklaven, vonden entfesselten Avantgarden gegen die im produktiventechnisch-ökonomischen Räderwerk verkleinerten Heerdenthiere,von der europäischen Herrenrasse gegen die Unterworfenen, vombarbarischen (germanischen) „Raubthiere“ (vereint mit demjüdischen „Banquiersadel“) gegen die furchtsamen Schafe, vombarbarischen Antichrist gegen die jüdisch/christlicheSklavenmoral, vom Mann gegen das Weib, vom ärztlichenVernichter gegen die kranken Parasiten, ja –in Logik undErkenntnistheorie- vom wissenschaftlichen Willen zurBemächtigung gegen die unorganische Materie und organischeWelt etc. Die in seiner Darstellung benutzten Verkörperungenund Personifizierungen der aggressiven Energien und ihrerUnterworfenen sind mehr als (nur) Mythen, Metaphern (Löwe,Adler, Schlange, Lämmer), mythische, literarisch-typisierende

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(Heiliger, Priester), historische Personifizierungen (Cäsar,Napoleon). Sie dienen als Verkörperungen der aggressivenEnergetik und Kraftentfaltung des Willens zu Macht und der zuüberwindenden „reaktiven“ Hemmungen in der Vermittlungphilosophischen Begreifens („Begriffspersonen“ nennenDeleuze/Guattari sie darum)6 und der metaphorischen Vermittlungund Erregung der Energien zugleich. Ihre gesamte Metaphoriksteht im Dienst der Entfesselung gegen „unten“, des„Kluftaufreißens“, der Feinderklärung, der Grausamkeit, derKriegserklärung bis zur Vernichtungsdrohung und –propaganda.Die Befreiung, der Wille zur Befreiung, der Wille zurEntmächtigung in der Gegenrichtung, von von unten nach obenkommt in alldem nicht vor (auch und vor allem nicht in den vonihm mit großem Interesse untersuchten Beispielen derEntfesselung des Plebejers zur Macht –Typus Napoleon, TypusStendhal/Sorel etc.-)7. Nietzsche erstickt den Gedanken daranin Feind- und Haßerklärungen bis zu schaumerstickterWiderwärtigkeit.Daß sich Nietzsche damit in der Faschisierunggeschichtsmächtig machen konnte, bedarf keiner weiterenAusführungen. Seine viel weiter –und auch nach „links“, wasimmer das heißt- gespannte Wirkungsmacht ist in erster Liniedem emanzipatorischen Appell der Befreiungsimpulse geschuldet,die Nietzsche im Willen zur Macht auch gegen dieBeschränkungen tradierter und reaktiver geistiger,moralischer, erkenntnistheoretischer etc. Disziplinierungrichtete. Dadurch entsteht der Schein der Ideologiekritik, dieallerdings in Ermangelung der Möglichkeit von „Wahrheit“ ohneGrund bleibt. So bildete das Erlebnis der Befreiung undEntfesselungs aus dem „Gefängnis der Sprache“ und der Begriffe-und das hieß vor allem: aus der Sklerose des Strukturalismus-auch den Kernimpuls der ersten Welle dankbarer französischerNietzsche-Schüler von Georges Bataille über Gilles Deleuze bisSarah Kofman.Hier entfaltete vor allem der Zauber seiner dichterischen undmetaphorischen Kraft seine Wirkung, auf die er sich zurechtviel zugute hielt und die er systematisch einsetzte. Allzugernließen sie sich in Nietzsches Poesie der emanzipatorischenSelbsterregung hineinziehen. Auch viele links verorteteLiebhaber ergaben sich willig dem Rausch ihrer Faszination–Bataille vergleicht seine „séduction inévitable“ zurecht mit„alcool“ und der hat ihm in der Tat geholfen, vieles großzügigzu überlesen.8 Der Mythos und die Metaphorik –vor allem in derBevölkerung der Geisteswelt mit aggressiven Tieren und ihrepassiven Opfern- ist Nietzsches Medium, den Druck deraggressiven Dynamik in sich selbst zu erregen und ihr Ausdruck

6 Gille Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie? Frankfurt/M 2000, S.747 vgl. Urs Marti, Der Plebejer in der Revolte-ein Beitrag zur Genealogiedes „höheren Menschen“, Nietzsche-Studien 18(89), S. 5508 G. Bataille, Nietzsche à la lumière du marxisme, Oeuvres complètes VIII,Paris 1976, S.474

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zu verleihen, um die suggestive erregende Energie des Willenszur Macht auf den lesenden Jünger zu übertragen9. So war esauch der Rausch der suggestiven oft mythisch gewandetenMetaphorik der Befreiung, in dem sich Jünger immer wiederleicht zu Verkürzungs- Unterschlagungs- undVerschleierungstechniken verleiten ließen, wenn sie nicht garzu offenen Techniken der Lüge und der Fälschung (die Nietzscheübrigens ebenfalls als Techniken des Willens zur Machtpropagiert hat) griffen.Auch die Ambivalenzen, die die intentionale Gerichtetheitaggressiver Energien im Prozeß des Willens zur Bemächtigungund Aneignung der Welt mit sich bringen, haben ihnen dasGeschäft erleichtert. Die Propaganda des Aufstands neuerHerren der Erde (sogar aus den Schichten der Sklaven) ist auchgegen die „Priester“ als Mittelbau der aktuellenHerrschaftsstrukturen gerichtet; die Hymne auf den Mythos derbarbarischen germanischen blonden Bestie verbindet sichzugleich mit verachtender Enttäuschung über die Stagnation desdeutschen Kaiserreichs, die ihm das Herz manches französischenPhilosophen (wie etwa Batailles) öffnen half; die Hasstiradenauf das Judentum, den jüdisch-verlogenen Sündenfallmythos etc.verbinden sich mit Lockrufen an den edlen jüdischen Banquier,seinen überlegenen Geschäftssinn ins Herrenmenschentum despreußischen Öffiziers einzubringen; die Deklassierung desHerden- und Chinesentums des Maschinenlebens verbindet sichmit der Ode auf die kreative Befreiung des Übermenschen. DieseAmbivalenzen stellen keine Abmilderung dar, im Gegenteil. Siesind dem aggressiven Charakter seiner Zukunftsprojektionengeschuldet, der oft wütenden Enttäuschung über dieVerzögerungen und Hemmungen, die sich ihrer Verwirklichungentgegenstellen und sie im Stadium der „Unzeitgemäßheit“festhalten. Es ist also die Übersteigerung, der Überschuß anAggressivität, aus der heraus Nietzsche den Haß auf Judentummit der Ablehnung des plumpen Antisemitismus verbindet,antideutsche Einstellungen mit der mythischen Feier derEnergien der barbarischen „blonden germanischen Bestie, diePropaganda der Vernichtung der Entarteten, Kranken undMißrathenen mit der Prophetie des Lebens. Hier gibt es keinenWiderspruch, aus dem sich jeder seinen Nietzsche heraussuchenkönnte. Schöpfung und Vernichtung gehören zusammen, sie sinddasselbe. „Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen,der muß ein Vernichter erst sein...“.10 Ihr gemeinsamer Grundliegt in der Dynamik des sich geschichtsmächtig machendenWillens zu Macht als Prozeß schöpferischer Zerstörung. Unddies ist es auch, was Nietzsche vor allem und im Grund für dienazistische Verwendung anbot (unter der Oberfläche seinereinzelnen gewalttätigen Impulse gegen die Entarteten etc.) undwas vor allem der Bäumler als Herausgeber der frühen

9 vgl. auch S. Zunjic, Begrifflichkeit und Metapher. Einige Bemerkungen zuNietzsches Kritik der philosophischen Sprache, Nietzsche Studien, 18 (87),S. 14910 Ecce Homo KSA 6,366

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Kompilationen auf seinem Weg zum autoritativenNietzscheforscher des Reichs betonte: der Nazismus war keintotalitäres System, sondern eine Bewegung, wie Franz Neumannund Hannah Arendt schon früh erkannten. Viele Formen derVerteidigung schrieben den Nazismus als System fest, umNietzsches dynamische Impulse zu retten und aus demNaziverdacht zu lösen (ganz auffällig bei Bataille). Ihnen istentgegenzuhalten, daß sie gerade das nazistische PotentialNietzsches aufnahmen und in die Zukunft lancierten.Es ist diese intentionale Gerichtetheit, die alsOrganisations- und Erregungsprinzip eines geistig-klimatischenSchwingungs- und Resonanzraums11 die aphoristischeDarstellungsform nicht nur in den nachgelassenen, sondern auchden veröffentlichten Schriften nicht als Chaos erscheinenläßt, nicht einmal in den Vereinseitigungen und Zuspitzungender letzten Werke und auch nicht auf der historischen Achseseiner philosophischen Entwicklung. Das ist bequem für denapologetischen Nutzer, denn er kann den Nietzsche derBefreiung verteidigen, ohne die mitgemeinte Vernichtung zuerwähnen. Dies ist auch ein Grund, warum das nazistischePotential dem gesamten Text innewohnt, oder mit Derridagesprochen, warum die nazistischen Vereinfachungen „das Gesetzihrer Möglichkeit in der Struktur des „verbleibenden“ Texteshaben“, wie Derrida (dazu unten). Es ist aber auch der Grund,warum seine aggressiven Impulse sich nationalsozialistischverdichteten und geschichtsmächtig machten, ohne daß er selbstnationalsozialistisch sein mußte oder gar auch nur konnte. Das„Kreative“ der historischen Dynamik, der Emergenz desnazistischen Nietzsche und der umschreibenden Identifizierungseiner Texte ist in den Platitüden der kausalen Verursachung,des Vergleichs, der Vereinseitigung auf einzelne Felder (wieetwa der Menschenvernichtung und der großen Politik) und derZuschreibung von Schuld und Verantwortung nicht zu fassen.Schlimmer: In der barbarische Radikalität der Vernichtungs-und Zerstörungsphantasien auf bestimmten Feldern gibtNietzsche dem Willen zur Macht nur einen anderen Ausdruck alsin strengeren Abhandlungen von Logik und Erkenntnis und inspielerisch-eleganten Aphorismen zur Kunst etc. AlsVerwirklichungsformen desselben Willens zur Macht gehören siezusammen, sind sie ineinander enthalten, korrespondieren siemiteinander und interpretieren sie sich gegenseitig. Darinliegt die Logik der schnellen thematischen Übergänge undÜbersetzungen von Feld zu Feld begründet, die chaotischerscheinen mögen aber nichts weniger sind als das. Sotransportiert noch die luftigste und lieblichste Poesie diemanifest protonazistischen Impulse, ohne daß sie überhauptbenannt werden. Die heitersten und idyllischsten Passagen desZarathustra führen die Grausamkeiten der Vernichtungsdrohungunabdingbar als Neben- und Subtext mit sich. Die 11 Diesen treffenden Begriff für die mediale Organisation der Darbietung undpropagandistischen Übertragung von Erkenntnis verdanken wir demNietzscheaner Peter Sloterdijk

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Unterschlagung in der Nietzscherezeption zugunsten einerVerkürzung auf den poetischen und kulturtheoretischenNietzsche muß sich mehr als das offene Bekenntnis den Vorwurfgefallen lassen, die nazistischen Potentiale in lieblichgeschmückten trojanischen Pferden mitzutragen, für die Öffnungzum historisch richtigen Zeitpunkt.

III Die Themen: Vernichtungspolitik, Klassenkrieg und großeÖkonomie, große Politik, Logik und Erkenntnistheorie, undRassismus werde ich aus den weitgespannten Feldern für einekurze Darstellung herauslösen, weil sie mir für das Verhältnisder Linken zu Nietzsche und seiner Wirkungsgeschichtebesonders wichtig erscheinen.1 Wille zur Macht in der Vernichtung der Mißrathenen undEntarteten. Die Vernichtungspropaganda im Eingangszitat liegtin der Logik des Willenskonzepts. Sie ist auch im Härtegradnicht außergewöhnlich und taucht im Fluß der Werke häufig auf.Ein Beispiel für die poetische Einbettung derVernichtungspropaganda aus der Zarathustra-Phase, die manchemals eine Frühform des Goebbel´schen Zynismus erscheinen mag:„Rosenfest. Nacht an der Brücke. Zarathustra glücklichdarüber, daß der Kampf der Stände vorüber ist...“heißt eseinleitend in einem gedankenstrategischen AufrißRegieanweisung, um fortzufahren:“... Seine Lehren waren bishernur an die zukünftige Herrscher-Kaste gerichtet. Diese Herrender Erde sollen nun Gott ersetzen. Sie geben den Niedrigstendie Anwartschaft auf Glück, nicht sich. Sie erlösen dieMißrathenen durch die Lehre vom „schnellen Tode“..“12 Und, mehrpropagandistisch: „Es bedarf einer Lehre, stark genug, umzüchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend undzerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung derverfallenden Rassen.“13 Und über das Eingangszitat hinaus unterder Überschrift „Die große Politik (und damit zugleichkorrespondierend mit anderen Feldern der „Großen Politik“):„Erster Satz: die große Politik...will eine Macht schaffen,stark genug, die Menschheit als Ganzes und Höheres zu züchten,mit schonungsloser Härte gegen das Entartende und Parasitischeam Leben...Zweiter Satz: eine Partei des Lebens schaffen..-siemacht unerbittlich mit allem Entarteten und Parasitischem einEnde“.14

2 Der Wille zur Macht als Krieg gegen die Klasse.Das „Entartungsmotiv“ mag uns im Übergang zukorrespondierenden Darstellungen über Strategie und Propagandades Willens zur Macht im Klassenkrieg führen zu: „DieArbeiter-Frage. – Die Dummheit, im Grunde Instinkt-Entartung,welche heute die Ursache aller Dummheit ist, liegt darin, daßes eine Arbeiter-Frage giebt...Die Hoffnung ist vollkommenvorüber, daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsameArt Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies 12 Nachlaß 1884-85, KSA 11, 62113 Ebd. KSA 11, 69;14 Nachlaß 1887-1889, KSA 13, 638;

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hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Nothwendigkeitgewesen. Was hat man gethan?...man hat den Arbeitermilitärtüchtig gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, daspolitische Stimmrecht gegeben...Will man einen Zweck, muß manauch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr,wenn man sie zu Herrn erzieht.“ 15 „...wenn man Sklaven will, -und man braucht sie!- muß man sie nicht zu Herren erziehn“,heißt es Ende 1887 noch deutlicher in dem hier verarbeitetenFragment.16

Dies ist klare Propaganda Nietzsches im Krieg gegen dieArbeiter, an der es nichts zu umzudeuteln gibt, sie zieht sichdurch Nietzsches ganzen Werk. Es sind keine oberflächlichenRezepte machiavellistischer Tagespolitik. Vielmehr fundiert ersie im Kern seines Verständnisses vom Willens zur Macht undvom Übermenschen. Die gewalttätige Logik des Klassenkriegs ausdem Willen zur Macht ist in einem Aphorismus vonatemberaubender Einsicht in die technisch-ökonomischeKomplexität des Klassenkriegs wiedergegeben. Er istgrundlegend und von großer Bedeutung, denn er stammt aus derMitte einer in sich geschlossenen Fragmentgruppe, dieNietzsche in der Zeit vom Herbst 1887 bis Frühjahr 1888unmittelbar als Vorarbeit zum Werkprojekt „Der Wille zurMacht“ konzipierte17. Für die Einschätzung dieser Bedeutunglohnt sich ein Blick in den Originalzusammenhang dieserFragmentgruppe. Sie wird in den den frühen editorischenKompilationen von Fragmenten unter dem Titel “Der Wille zurMacht“ (wie etwa der seines Freundes Peter Gast und seinerSchwester Elisabeth) auseinandergerissen und in ihremfaschistischen Potential eher vernebelt und verharmlost.„Die Notwendigkeit (bei N. betont) zu erweisen, daß zu einemimmer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zueiner immer fester ineinander verschlungenen „Maschinerie“ derInteressen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ichbezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschussesder Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höhererTypus ans Licht treten, der andere Entstehungs- und andereErhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. MeinBegriff, mein Gleichniß für diesen Typus ist, wie man weiß,das Wort „Übermensch“.Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist,entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhereChinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit inder Verkleinerung des Menschen-eine Art Stillstand im Niveaudes Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehendeWirthschafts-Gesamtverwaltung der Erde, dann kann dieMenschheit als Maschinerie in deren Diensten den besten Sinn

15 Götzen-Dämmerung (40) KSA 6, 142;16 KSA 13, 29f.17 vgl. Kommentar zu Band 6 der KSA von Georgio Colli und Mazzini Montinari,Bd 14, S. 383, hier: 391 f; Ihr Gewicht gewinnt dadurch, daß Nietzsche ausdem Gesamtprojekt des „Willen zur Macht“ lediglich einige Publikationenherausgelöst hat.

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finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren,immer feiner „angepaßten“ Rädern; als ein immer wachsendesÜberflüssig-werden aller dominirenden ubnd commandirendenElemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelneFaktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen. ImGegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung des Menschenan eine spezialisierte Nützlichkeit bedarf es der umgekehrtenBewegung –der Erzeugung des synthetischen, des summierenden,der rechtfertigenden Menschen , für den jene Machinalisierungder Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als einUntergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sicherfinden kann...Er braucht ebensosehr die Gegnerschaft der Menge, der„Nivellirten, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; ersteht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form desAristocratism ist die der Zukunft.-Moralisch geredet stelltjene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, einMaximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setztsolche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Imanderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch,-einRückgangs-Phänomen im größten Stile.-Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus:wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der NutzenAller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir derFall: die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer: -sodaß man nicht mehr weiß,wozu überhaußt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu?Ein neues „Wozu?“-das ist es, was die Menschheit nötig hat.“18

Der Übermensch erfindet sich aus der Gewalt der Zurichtung derlebendigen Arbeit zu miniaturisierten lebendigen Partikelneiner produktiven Gesamtmaschinerie, die zugleich dieIntensivierung des sozialen Kommandos, der Ausbeutung, desVerhältnisses von Elite und Masse, der techno-logischenAneignung der Gesellschaft und der Produktivität inermöglicht. Auf die psychotechnischen Strategien derUnterwerfung, die Ausstattung “mit Maschinen-Tugenden“, um„ihn der unfehlbaren Maschine zu nähern“ 19 kann ich nichteingehen. Wichtiger ist mir der Hinweis, daß Nietzsche dienotwendige (!) Herstellung der logischen Form der sozialenMaschine als Prozeß sozialer unterwerfender Gewalt aus demWillen zur Macht begreift.3 Wille zur Macht als Erkenntnis. Genau dieser Gedanke derFormalisierung als Prozeß der Aneignung und Bemächtigungbegegnet uns wieder in seinen grundsätzlichen Überlegungen aufdem Feld der Erkenntnistheorie. Danach sind die Axiomatik derLogik, die Werte wahr und falsch, die Ontologie, dieVorstellungen von Kausalität, Subjekt und Objekt, vomBewußtsein und Substanz bis hin zu den Definitionen deseuklidischen Raums Produkt des Willens zur Macht, 18 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente KSA 12, S. 46219 ebd. KSA 12, 459

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entwicklungsgeschichtliche Ablagerungen eines langen Prozessesder Bemächtigung. Nicht die Kategorien der Erkenntnis stehenam Anfang, vielmehr sind sie das Produkt von „Gleichmachen“,„Assimilieren“, „Gleichsehen, Gleichnehmen-wollen“ aus dem„Trieb der Assimilation“, „Überwältigen“ (Aktiv-Passiv) alsGrund der Vorstellungen von Kräften, Ursache und Wirkung20, die„Zahl (als) unser großes Mittel, uns die Welt handlich zumachen“. „Substanz“ ist –ebenso wie der ontologische Scheindes Seienden- eine Projektion des sich bemächtigenden„Subjekts“, oder, wie Nietzsche sich verbessert, des„Thäters“.21 „Kampf als Herkunft der logischen Funktionen“,formuliert Nietzsche überspitzt22. Mit der Formulierung desVorangs des Handelns über das Erkennen, derFormalisierungsfortschritte zugleich als soziale Gewalt imKrieg gegen die Klasse und der Logik als Ausdruck derBemächtigung im Erkenntnisprozeß, sprengt Nietzsche nicht nurradikal das Gebäude der klassischen Erkenntnistheorie. Erwandelt die Kriterien der Rationalität um in Kriterienrationalisierender Gewalt, deren Paradigmen nachträglich zurRationalität erklärt werden.4 Der Rassebegriff Nietzsches deckt sich erkennbar nicht mitden plumpen an Substanz orientierten Rassebegriffen seinerantislawischen und antisemitischen Zeitgenossen. Er findet„Rasse“ nicht in der biologischen Substanz, sondern in derBewegung des Willens zur Macht zu höheren Rassen, neuenHerrenrassen etc. Nietzsche mobilisiert den Rassismus zu einerArt Entwicklungsrassismus aus der Dynamik der Entfaltung derBemächtigungskräfte und lanciert die Feinderklärungen aus derAggressivität seiner gewalttätigen Impulse gegen diezurückbleibenden und blockierenden Elemente. Das macht seinenRassismus viel giftiger und mörderischer, verwendungsfähig fürdie Barbareien der fordistischen Epoche. In diesemSpannungsrahmen sehe ich die Propaganda einerassimilisierenden Einschmelzung der edlen jüdischen Banquiersin die germanische Herrenrasse gegen den Judaismus und vorallem gegen die ostjüdischen Immigranten als Propädeutik dertechnokratischen Strömungen des nazistischen Rassimus.5 Große Geschichte, große Politik„Jenseits von Gut und Böse“ und „Genealogie der Moral“ sinddie beiden Werke, in denen Nietzsche den Willen zur Macht als

20 Nietzsches kühner Zugriff ist beileibe nicht veraltet, sondern vielmehrZukunftsmusik. Wenn man etwa das soeben erschienene Buch des PhilosophenGeert Keil über Handeln und Verursachen, Frankfurt/M. 2000, in der er demKausalitätsbegriff handlungstheoretisch zuleibe rückt, an NietzschesAphorismen mißt, so wird man dessen unerschrockene Ehrlichkeit besserwürdigen können.21 Diese Überlegungen begleiten in immer neuen Ausformulierungen das gesamteWerk Nietzsches, schon in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (§ 110 ff.), vgl.KSA 3, 469ff. vornehmlich aber im Nachlaß, sodaß diese nichtsystematisierten Fundstellen nur als Beispiele dienen können: KSA11:91,96,125,343,438,462,524,505ff,631,645,655; KSA12:106;110,185ff.,208ff,255,260,295,389ff; KSA 13:270,274,300ff;326;334;22 KSA 11, 125

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„Essenz der Welt“23 setzt und in sein Geschichtsverständnis undProjekte großer Politik übersetzt. Sie sind auch darumwichtig, weil französische Poststrukturalisten daraus ihreneigenen „Genalogie“-begriff gefertigt haben und es auf dieDifferenzen und Auslassungen ankommt. Die Genealogie der Moralenthält keine Methode, sondern eine Entwicklungsanalyse derMikro-, vor allem aber Makroprozesse des Willens zur Macht undzugleich Nietzsches Propaganda der sich daraus ergebendenpolitischen Zukunftsprojektionen und projekte, ohne die die„Methode“ nicht zu denken wäre (ich denke, dass sogar seineMethode dem propagandistischen Ausdruck seines Willens zurMacht folgt und nicht umgekehrt). Nietzsche legt in derGenealogie gleich richtig los. Er nimmt eine Klage über dieenglische Herkunft des „Plebejismus des modernen Geistes“(schlechte Heerdeninstinkte) als Sprungbrett, um dann gleichbei der „Überlegenheit an Macht“ der „Mächtigen“, Herren“,„Gebietenden“ (Werthung „gut“) zu landen. Er verkörpert sie inder „blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse und in ihremKonflikt mit der unterworfenen schwarzhaarigen „vorarischen“Bevölkerung Deutschlands und Europas, um diesen Konklikt danngleich zur politischen Aktualität Europas zuzuspitzen:„vielmehr schlägt an diesen Stellen die vorarische BevölkerungDeutschlands vor. (das Gleiche gilt beinahe für ganz Europa:im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schließlichdaselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze desSchädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und socialenInstinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderneDemokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlichjener Hang zur „Commune“, zur primitivsten Gesellschafts-Form,der allen Socialisten Europa’s jetzt gemeinsam ist, in derHauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat – unddass die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auchphysiologisch im Unterliegen ist?)“24 Die Durchsetzung derHerren-Moral bedarf von Zeit zu Zeit der „Entladung“ des„Raubthiers“ in den „vornehmen Rassen“, ihrer „Lust amZerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit“,„alles zermalmend und mit Blut übertünchend“, namentlich der„blonden germanischen Bestie“25, ähnlich dem Symbol diesesKampfes „Rom gegen Judäa“, der vornehmen Römer gegen dieJuden, ein Volk „fünften Ranges“.26 Das Bekenntnis zum Kriegder „aktiven und aggressiven Mächte“ gegen die „reaktiven“entwickelt er die genealogische Strategie der Gewalt zurHerstellung neuer Organisation von Macht und Recht: „An sichvon Recht und Unrecht reden entbehrt allen Sinns, an sich kannnatürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichtennichts „Unrechtes“ sein, sofern das Leben essentiell, nämlichin seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend,ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden

23 Jenseits von Gut und Böse (186), KSA S. 10724 Zur Genealogie der Moral (5), KSA 5, 263 f.25 Ebd. S. 275f26 Ebd. S. 286

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kann ohne diesen Charakter. Man muß sogar noch etwasBedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischenStandpunkte aus, Rechtzustände immer nur Ausnahme-Zuständesein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichenLebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessenGesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich alsMittel, größere Macht-Einheiten zu schaffen.“27 „..kurz der Todgehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: alswelcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu größererMacht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicherer kleinererMächte durchgesetzt wird. Die Größe eines „Fortschritts bemißtsich sogar nach dem Maße dessen, was ihm alles geopfert werdenmusste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnenstärkeren species Mensch geopfert –das wäre ein„Fortschritt“...-ich hebe diesen Hauptgesichtspunkt derhistorischen Methodik hervor...“28 In der Verfolgung diesesHauptgesichtspunkts der „Genealogie“, des starken Willens undseiner „Ja-schaffenden Gewalten des Lebens“ zur Macht gegendie „Sklaven“, die „Mißrathenen“, ihre Ressentiments und ihreMoral wirft sich Nietzsche schließlich zielstrebig zu seinerPropaganda der radikalen Herstellung neuer „Rang-Distanzen“zwischen Herren- und (machinal funktionierenden) Heerden undschließlich Vernichtung der Entarteten auf.29

Gleichgerichtete „genealogische“ Schlußketten führen in„Jenseits von Gut und Böse“ zu noch konkreteren Vorschlägengroßer Politik. „Die Kraft zu wollen“, „in Frankreich amschlimmsten erkrankt“, „etwas stärker schon in Deutschland“,muß gegen die Bedrohlichkeit Rußlands „einen Willen (zu)bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europaherrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenenWillen,...damit endlich die langgesponnene Komödie seinerKleinstaaterei und ebenso seine dynstische wie demokratischeVielwollerei zum Abschluß käme. Die Zeit für kleine Politikist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf umdie Erd-Herrschaft...“30 Es ist die Aufgabe der Philosophen, imReiche des Logischen, Politischen, Künstlerischen als„Befehlende und Gesetzgeber...nach der Zukunft“ zu greifen...“Ihr „Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eineGesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist -Wille zur Macht“.31

Auch hier wieder Wille zur Macht als handelndes Erkennen aufallen Terrains. Im „Prozeß des werdenden Europäers“ siehtNietzsche (ich erinnere an die korrespondierenden Gedanken ausdem Arbeiter-Übermensch-Zitat) „ein nützliches, arbeitsames,vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier-Mensch“ alsBedingung für „Ausnahme-Menschen der gefährlichsten undanziehendsten Qualität“.32 Unter den im folgenden angestellten

27 Ebd. S. 31328 Ebd. S. 31529 Ebd. S. 372-41230 Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 130 f.31 Ebd.: S. 14532 Ebd. 183

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Überlegungen zur Züchtung des höheren Typus finden wir dannauch den humorig vorgetragenen Vorschlag, man müsse dasjüdische „Genie des Geldes und der Geduld“ der „erblichenKunst des Befehlens und Gehorchens“ im adligen Offizier derMark „hinzuzüchten“ –unter Absperrung gegen weitereostjüdische Immigranten.33

Nietzsche erhebt in „Zur Genealogie der Moral“ und „Jenseitsvon Gut und Böse“ historische Praxis und Propaganda dergewalttätigen Energien des Willens zum „Hauptpunkt derhistorischen Methodik“. Wenn Wahrheit eine praktischeKategorie und Erkennen nur im Handeln möglich ist, so ist dieskonsequenter Ausdruck des philosophischen Ansatzes.6 auf die korresponduierenden Manifestationen des Willens zurMacht auf kulturellen, künstlerischen, religionshistorischen,erzieherischen („Züchtung“) Feldern kann ich hier nichteingehen. Ich verweise auf die reichhaltige Literatur.

IV Wenn Nietzsche die Formen, in denen der Wille zur Machtseinen Ausdruck sucht, bis in Rationalitätsparadigmen undformale Logik hinein historisiert, welche Bewegungslinienbeschreibt dann ihre historische Entwicklung? Dynamik,Wachstum, Werden, Radikalisierung, Differenzierung sindGrundvorstellungen, die immer wiederkehren. Sie vollziehensich nicht in linearen Entwicklungen, sondern über Um- undDurchbrüche, die die Stagnation der Widerstände, Hemmungen,reaktiven Blockierungen und Verfestigungen überwinden. AufNietzsches zyklische Vorstellungen kann ich hier nichteingehen. Wichtiger ist an dieser Stelle, daß er sich nichtauf Ideen-, Geistes- und Kulturgeschichte beschränkt, auchnicht auf die Mikrobewegungen der Macht in der Entwicklungdressierender Disziplinarnetze, wie Foucault sie analysierthat. Nietzsche sieht sie eingebettet in eine komplexe Dynamikdes Willens zur Macht, die sich gleichermaßen inMakrobewegungen der Züchtung von Rasse neuer Eliten (den gutenEuropäern und Herren der Erde) im Kontext technologischerUnterwerfung, sozialer Rationalisierung, Steigerung vonsozialer Macht und Produktivität gegen sozialen Widerstand undRevolution der Ausgebeuteten verwirklicht. Daher kommt demoben vollstandig wiedergegebenen Fragment, das dieEntfesselung des Übermenschen auch in diesen Dimensionenverortet, wegen seines weitgespannten Bezugsrahmens einezentrale Bedeutung zu.Nietzsche ein Analytiker der politischen Okonomie? Max Weberhat er auch von dieser Seite her beeinflußt.34 Das thematischeSchwergewicht von Psychologie, Biologie, Religion, Kultur inNietzsches Werk spricht nicht dagegen, eher dafür. Denn derUmbruch, in den Nietzsche seine Wirkung einschrieb undentfaltete, zielte auf den radikalen Zugriff produktiverErschließung in neue soziale, psychische, kulturelle, 33 Ebd. 19334 Wilhelm Hennis, Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers, Nietzsche-Studien 18(87), 382

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verhaltensorganisatorische Dimensionen und ihre Verwandlung in„Human-„ „Sozial-„, „Kulturkapital“ etc. In meinem Aufsatz zumSloterdijk-Skandal35 habe ich Nietzsche als radikalenImpulsgeber für die Offensive des fordistisch-tayloristischenUmbruchs und den deutschen Griff nach der Weltmacht umrißartigbeschrieben und an Max Weber, Moellendorff, Walther Rathenauals nietzscheanische Prototypen seiner Avantgarde exemplarischskizziert. Besonders an dem großen kapitalistischen ÖkonomenJosef Schumpeter, der im Konzept der „schöpferischenZerstörung“ die Aggressivität unternehmerischer Avantgarden(nicht Manager!) als Kräfte wirtschaftlicher Entwicklungbeschreibend propagiert hat. Wenn man NietzschesWirkungsgeschichte bis in den Nationalsozialismus und denaktuellen postmodernen Aufbruch begreifen will, dann nur überdie komplexe Bedeutung und Spannweite des „Willens zurBemächtigung“. Jede Vereinseitigung und Verkürzung dieserKomplexität muß sich auf den philosophiepolitischen undstrategischen Sinn ihrer Nietzschenutzung befragen lassen.Wird die Aggressivität in Klassenkrieg undVernichtungsdrohungen gegen die Entarteten unterschlagen?Werden die ökonomischen Dimensionen der schöpferischenZerstörung unterschlagen? Vor allem aber: wie wird dieBefreiung von unten gegen den Willen zur Bemächtigung von obenzur Geltung gebracht, wo wird sie einfach unsichtbar gemachtund was bedeutet das? Denn dies, vor allem dies ist dieNagelprobe und Bedingung für eine linke Nietzscherezeption.Daß Nietzsche die Befreiung und Entfesselung derVergewaltiger, der Bemächtiger, der kreativen Zerstörer undschöpferischen Vernichter und die Mikrophysik der Gewalt imWillen zur Macht beschrieben und besungen hat wie kein zweiter-und das schließt den Klassenkrieg von oben ein- und daß erdamit seine Verwendungsfähigkeit bis in den postmodernenUmbruch gesichert hat, das steht außer Zweifel. Und noch eineweitere, damit zusammenhängende Frage: Wenn alles bis inWissenschaft –und das heißt bis in die Nietzscherezeptionhinein- Feld und Ausdruck des Willens zur Macht ist: wie gehstdu mit dem methodologischen Erfordernis der Selbstreferenzoder Selbstinklusion um? Genauer: welchen Willen verwirklichstDu? Den Willen zur Macht von oben oder den Willen zurBefreiung von unten? Nietzsche hat klar gemacht: er will Herrsein und im Ecce Homo: „Ich bin der erste Immoralist: damitbin ich der Vernichter par excellence“36. Nietzsche isterhrlich, er hat seine Position im Krieg gewählt. Und Du,Nietzsche-Rezpient? Stehst Du dagegen, folgst Du Nietzscheoffen, klammheimlich oder stillschweigend?

...unterstützt von linken Fälschungen...

35 D.H., Barbaren des 21. Jahrhunderts. Aufrüstung der Philosophie imKlassenkrieg, , ak analyse und kritik, Nr. 432,433, in vollständigerFassung auch in dieser home-page www.materialien.org36 KSA 6, 366

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V Dies ist eine Antwort auf Thomas Seibert. Er greift in akaanalyse und kritik Nr. 445 meine Ausführungen zu Nietzsche indem zitierten Aufsatz über Sloterdik an.

1 Seibert beginnt mit einer faustdicken Lüge: „Aus diesemNachlaß haben die Faschisten das vorgebliche „Hauptwerk“ „DerWille zur Macht“ kompiliert. Hieraus hat sich auch Hartmannbedient und das Fragment zur Wirtschafts-Gesamtverwaltung derErde“ gefunden, auf das er sich stützt.“Seibert sagt nicht, welche er meint. Er weiß: meineZitierweise bezieht sich auf dieselbe Edition, aus der auch erzitiert, die von Colli und Montinari herausgegebene „KritischeGesamtausgabe“. Sie bildet die Basis, aus der beide später dievon Seibert (und auch hier) benutzte KSA für denStudiengebrauch zurechtgeschnitten haben -unter ausdrücklicherKenntlichmachung der editorischen Rangordnung in jedem Band.Ich habe das Original genommen, Seibert die KSA. Warum lügtSeibert seine Leser an? Um mich besser abhandeln zu können alseinen plumpen Antifaschisten? Nein, mehr noch -einflüsternd:als einen geistigen Komplizen faschistischerNietzschefälschung? Einen, der nicht nur verblendet undgeprägt durch die faschistische Editionspraxis, sondern alsjemand, der sich ihrer bewußt „bedient“ -damit selbst als eineArt Fotonegativ dem Faschismus verhaftet, und dies garvielleicht als Angehöriger des bolschewistischen Lagers? (dasUZ-Leitdiktat spricht eine deutliche Sprache). Linke undRechte in einen Topf? Erkennbar verfolgt Seibert eine an Nolteerinnernde Strategie von beachtlicher Bösartigkeit.

2 Wenns das allein wäre, ich hätte mir vielleicht einen müdenKommentar abgerungen. Aber die Lüge hat offenbar die Funktion,das Terrain für die Unterschlagung vorzubereiten. Und diewiegt weit schwerer. Sie zielt auf einen zentralen Punkt.Seibert unterschlägt kurzer Hand den ersten und den drittenAbsatz des Maschinerie-Zitats. Ziel: eine inhaltlichenFälschung und Sinnumkehr um 180 Grad. Denn gerade in diesenAbsätzen fundiert Nietzsche seine sehr elaboriertenstrategischen Vorstellungen zum Krieg gegen die Unterklassenphilosophisch als Ausdruck seines zentralenÜbermenschkonzepts. Der philosophie- und sozialstrategischeSinn der Ausbeutung, Werth-Verringerung der Arbeitsbevölkerungliegt in der Zurichtung zur Basis als „Untergestell“ für dieEntwicklung des höheren Typus des „Übermenschen“. Ohne ihnbliebe nur die Werth-Verringerung der Rationalisierung, derökonomische Optimismus wäre in Nietzsches Augen sinnlos undunangebracht. Nietzsche fragt also nicht, wie Seibert es ihmin den Mund legt: „Gesetzt den Fall, die (die Einpassung derSubjekte im Industrialisierungsprozeß) ist nicht zu verhindern–was bleibt zu tun?“ Er sagt zur Produktion des Chinesentypusim Krieg gegen die Klasse: wieso verhindern, sie ist notwendig„als Untergestell“ für die „Erzeugung“ des „höheren Typus“.Das ist solide politisch-ökonomische Strategie aus der

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Herrenperspektive. Seibert kehrt durch seine Manipulation denSinn einfach um. Zugunsten der Strategien bemächtigenderUnterwerfung mit dem Ziel der Erzeugung des „höheren Typus“,des „Übermenschen“? Um eine linke Leserschaft nietzschereif zumachen und ihr den Übergang auf die andere Seite der Macht zuebnen? Denn eins war ihm klar: vor einer linken Leserschafteiner linken Zeitschrift hätte sein Bekenntnis zu Nietzscheangesichts derart radikaler Kriegsrhetorik gegen die Klassewenig Chancen. Wie man Fragmente liest, so textet Seibertoberlehrerhaft: Na vollständig meine ich.Und das bringt mich zum Hauptpunkt: Nietzsche selber lesen,ohne französischen Filter und die Garnierungen hiesigerBerufsphilosophen, pur. Wer Interesse für Nietzsche hat,sollte sich seinen Schriften schon aussetzen. Es ist ätzend,aber kaum zu vermeiden. Denn nach einer kurzen postmodernenÜbergangsphase nimmt seine Rezeption hierzulande wieder ersteVerfärbungen an, die sich schon einmal ins bräunliche getönthaben.

3 Der Versuch, Nietzsche links-kompatibel zu machen, kommt umeine manipulative Bearbeitung des Begriffs des „Willens zurMacht“ nicht herum. „Nietzsches selbst“ soll es sein, wennSeibert seine Absichten zu einer „Strategie derIdeologiekritik“ verwässert, die dieser Genealogie nenne undin der „Genealogie der Moral“ entwickelt habe. Mit dem Ziel,„zuallererst...die methodische Möglichkeit herzustellen,aufgeklärt um Wahrheit zu kämpfen“. Kampf um Wahrheit? FürNietzsche gibt es keine Wahrheit. Diese Behauptung verdientein wahrhaft nietzscheanisches Gelächter. Wille zu Macht alsTriebkraft der geschichtlichen Bewegung und damit auch derAusrichtung der Geschichtsschreibung (auch der Nietzschesselbst) ist praktisch bis zum blutigen Krieg. Kritisch istNietzsche im Gegenteil gegenüber jedem Anspruch auf„Wahrheit“. Die gilt vor allem gegenüber tradierten Wahrheitenüber das Ich und das Sein, über Demokratie, Sozialismus,christlich-jüdische Moral der Schwachen geht usw. und vorallem über den Begriff der Wahrheit selbst.„Hauptgesichtspunkt der historischen Methodik“ der„Genealogie“ sucht unerbittlich „das Opfer der Schwachenzugunsten des einzelnen Starken“. Er stellt weder eineIdeologiekritik dar, noch ist weder eine Ideologiekritik,noch wird er ihr unterworfen.Da es nun also nichts mit „Nietzsche selbst“ ist, suchtSeibert den Beistand angeblich „linksnietzscheanischer“ Helferaus der französischen Philosophie, darunter Derrida undFoucault. Foucault hat 1971 unter dem Titel „Nietzsche, dieGenealogie, die Historie“ einen Essay zu NietzschesGeschichtsverständnis veröffentlicht.37 Auf den beruft sichSeibert. Aber Foucault folgt Nietzsche darin gar nicht. Ermacht genau das, was er 1975 im Gespräch mit Brochier zu 37 Abgedruckt in M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, München 1974,S. 83

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seiner Nietzsche-Rezeption gesagt hat: er benutzt ihn. „Dieeinzige Anerkennung, die man einem Denken wie dem Nietzschesbezeugen kann, besteht darin, daß man es benutzt, verzerrt,mißhandelt und es zum Schreien bringt. Ob einem dieKommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völliguninteressant.“38 Foucault lernt von Nietzsche, die unter demtradierten Geschichtsverständnis und seiner Methodik dieBewegungen und Strategien des Willens zur Macht freilegen. Erverkürzt sie keineswegs auf Ideologiekritik, er sieht dieKampfperspektive Nietzsches klar: „Der historische Sinn, wieihn Nietzsche versteht, weiß, daß er perspektivisch ist, undlehnt das System seiner eigenen Ungerechtigkeit nicht ab.“39

Bei allem Dank an Nietzsches „Monströsität“ für dieErschütterung des dialektischen Universums, Foucault übernimmtnicht Nietzsches Perspektive, nicht seine Ungerechtigkeiten,seine Feinderklärungen von oben, im Klassenkrieg, imGeschlechterkrieg, im Vernichtungskrieg gegen die Mißrathenen.Auch er beschränkt sich nicht aus Ideologiekritik. WieNietzsche ergreift er Partei im Krieg: gegen NietzschesPerspektive von oben, für die Perspektive von unten,inspiriert vom Pariser Mai ’68. Schon früh konzentriert ersich auf die Felder von Psychiatrie, Medizin und Knast undstellt sich auf die Seite der Gefangenen, der Patienten. Mehrnoch: er macht die Perspektive von unten zum Ausgangspunkteines Gegen-Diskurses, eines Diskurses der Befreiung gegen denim Disziplinarnetz der kapitalistischen Gesellschaft wirkendenWillen zur Bemächtigung, Zurichtung, „Beschlagnahme“, wie eres auch nennt. „Und als die Gefangenen das Wort ergriffen, dahatten sie selber eine Theorie über das Gefängnis, über denStrafvollzug, über die Justiz. Dieser Diskurs gegen dieGewalt, dieser Gegen-Diskurs, der von den Gefangenen oder densogenannten Delinquenten gehalten wird, der ist dasentscheidende, und nicht eine Theorie über die Delinquenz.“40

Die Aufgabe der Intellektuellen sieht er darin, sich von ihremOrt auf diese Kämpfe zu beziehen, unterstützend, direkt unddurch die Subversion des Wissens. Foucault versucht, dies ausder „Groupe d’Information zur les Prisons“ zu organisieren.Auch wenn diese Initiativen –nicht zuletzt in der Entwicklungseiner Lehrtätigkeit am prestigeträchtigen Collège de France“erlahmen: „Überwachen und Strafen“ (1975) ist als„Genealogie“41 in den Strategien des Willens zur Macht, dersozialen Schlacht zur Bemächtigung, zur disziplinierendenDurchdringung und Nutzbarmachung analysiert. Nicht in derPropaganda und Feinderklärung von oben, wie bei Nietzsche,sondern immer eindeutig für die Befreiung von unten gegen denWillen zur Macht und Gewalt von oben. So liegt sein Gegensatz

38 M. Foucault. Gespräch mit Brochier in: Mikrophysik der Macht, Berlin1976, S. 31, hier S. 4739 Foucaault, Subversion, S. 10040 Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. Die Intellektuellenund die Macht, in: M. Foucault, Subversion, S. 128, hier: S. 13241 vgl. S. 33 ff.; S. 207

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zu Nietzsche nicht im Begriff der Macht, sondern in der Wahlder Befreiungs- und Widerstandsperspektive gegen die vonNietzsche gewählte Perspektive des Willens zur Unterwerfung.Es ist diese Perspektive, die ihn zum Linken macht und nichtdie Schulung an Nietzsches Machtbegriff. Ihn als„Linksnietzscheaner“ zu bezeichnen, verfälscht dieGegnerschaft in den Perspektiven und ebnet sie unzulässig ein.„Gegennietzscheaner“ wäre richtiger: einer, der sich nur anNietzsches Begriff der Macht geschult hat und ihn dafürRespekt erweist. Die gegensätzliche Positionierung aufeinander widersprechenden Seiten der Schlacht und des sozialenKriegs ist für Foucault nicht etwa beiläufig, der Gegensatzdes Zugangs zur Welt ist fundamental und konstitutiv. So wiedies schon im „Gegen-Diskurs“-Zitat angelegt ist, definiertFoucault noch kurz vor seinem Tod den Widerstand von unten imAntagonismus als notwendigen Ausgangspunkt der Genealogie. „Itconsists of taking the forms of resistance against differentforms of power as starting point...it consists of analyzingpower relations through the antagonism of strategies.“42

Deleuze hat diese konstitutive Bedeutung des Widerstands fürFoucault erkannt: „Mehr noch, das letzte Wort der Machtlautet, daß der Widerstand primär ist...“. Nicht der Wille zurBemächtigung von oben erschafft die Welt, sondern derWiderstand im Kampf um Befreiung. Deleuze bezieht sich dabeiauf Mario Tronti, der den Arbeiterwiderstand als denKapitalstrategien vorausgehend betrachtet.43

Von da aus subtile Differenzen: wo Seibert uns unter Berufungauf Foucault in den Kampf zwingen will „gegen all das, was denMenschen an sich selber fesselt und dadurch anderenunterwirft“, d.h. in die Prozedur introspektiver Reinigungen,sagt Foucault das Gegenteil: Im Kampf gegen die Strategien derMacht liegt auch die Befreiung von den Macht-Anteilen in denMenschen selbst. Es ersteunt dann kaum noch, wenn Seibert zuguter Letzt Nietzsche via Foucault in der Logik dieserUmfälschungen einen zahnlosen Übermenschen andichtet, der „dieFreundschaft anderer sucht“, „ein der Anerkennung durch diegesellschaftliche Mehrheit unbedürftiger“. Gerührt undergriffen folgen wir ihm dann schließlich zu einem Nietzsche,dem es darum geht, die „Freiheit des „Anderen“ zubehaupten,...als „Weigerung, sich subordinieren zu lassen,gebunden an die Weigerung, andere sich zu subordinieren.“Slime.Das alles ist glatter Hohn. Getoppt noch durch dieUnverfrorenheit, auch Jacques Derrida unter das Etikett der„Nietzscheanischen Linken“ oder des „Linksnietzscheanismus“ zuzerren. Derrida hat sich zwar an dem Diskurs beteiligt, der

42 M. Foucault, The Subject and Power, englischer Originalbeitrag in:H.L.Dreyfus, P. Rabinow, Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago1982, S. 208, hier 211;43 G. Deleuze, Foucault Frankfurt/M. 1992, S. 125; Eine andere Versiondieses grundsätzlichen Verhältnisses habe ich in „Leben als Sabotage“,Tübingen 1981 versucht.

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die Nietzsche-Rezeption zum Ausbruch aus demstrukturalistischen und logozentristischen Gefängnis nutzte(und hier ist in erster Linie auch Bataille und Deleuzeeinzuordnen). Aber er war es, der das nazistische PotentialNietzsches beschwor, wie kaum ein anderer Dekonstruktivist.44

Ausgerüstet mit einem unbestechlichen Gespür für dieKomplexität von Geschichtlichkeit, hält er sich (ähnlich wieFischer) nicht mit plumpen Fragen nach dem faschistischenAbsichten, Charakter und Verantwortung von NietzschesSchriften auf, ganz zu schweigen vom unhistorischvergleichenden Blick auf Übereinstimmungen und Abweichungen.In der Tat ist, wie Derrida klar ist und auch Fischer betont,die Frage nach der Vergleichbarkeit einer frühenFormierungsphase unzeitgemäßer und in voller Absichtzukunftsgerichteter Impulse mit dem sich vollendenden Nazismusabsurd. So geht es Derrida auch um ihr Erschließungspotential,um die in ihnen angelegten Möglichkeiten, Wege in den Nazismuszu eröffnen oder sich einer solchen Eröffnung anzubieten. AuchDerrida faßt „Nietzsche von der Szene des „Ecce Homo“ her,dieser Durchdringung von Denken und Person, in der er „seinenKörper und seinen Namen“ durch die Politik der Masken hindurchins Spiel bringt: „der Umweg über Ecce Homo wird uns aufparadoxe und geduldige Weise zum Protokoll dienen...Ich warneSie gleich: diese Protokolle werde ich nicht deshalbvervielfältigen, um Peinliches an diesem Text zudissimulieren, um seinen „Autor“ von „Schuld“ freizusprechenund um zu neutralisieren oder zu entschärfen, was einedemokratische Pädagogik oder eine „linke“ Politik an ihmbeunruhigen kann. Noch auch, was den finsteren Losungen desNationalsozialismus als eine „Sprache“ hat dienen können. Andieser Stelle ist im Gegenteil die größte Indezenz geboten.Man wird sich sogar fragen, warum es nicht genügt, zu sagen,daß „Nietzsche das nicht gedacht hat“, „nicht gewollt hat“,„es sogar ausgekotzt hätte“ und daß Erbfälschung undinterpretatorische Mystifikation vorliegen; man wird sichfragen, warum und wie dasjenige möglich war, was so naiv eineFälschung heißt (sie gelang nicht mit allem und mit jedem),warum und wie „dieselben“ Wörter und „dieselben“ Aussagen,falls es dieselben sind, mehrfach und in Sinnen und Kontextenverwendbar sind, die angeblich verschieden, ja unvereinbarsein sollen; man wird sich fragen, warum die einzigeUnterrichtssituation, der einzige Beginn einerUnterrichtssituation, der sich je auf Lehre oder UnterrichtNietzsches über den Unterricht berufen konnte, nazistischwar.“ „..es (kann) nicht völlig zufällig sein, daß derDiskurs, der in der Gesellschaft und nach bürgerlichen undverlegerischen Normen seinen Namen trägt, den Naziideologenzur legitimierenden Referenz gedient hat...Die Zukunft desTextes Nietzsche ist nicht abgeschlossen. Aber wenn in den 44 J. Derrida, Otobiographien- Die Lehre Nietzsches und die Politik desEigennamens, abgedr. in: J.Derrida/F.Kittler Nietzsche-Politik desEigennnamens, S. 9;

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noch offenen Umrissen einer Epoche die einzige nietzscheanischgenannte (sogenannte) Politik eine Nazi-Politik gewesen ist,ist das notwendig signifikant und muß in seiner ganzenTragweite befragt werden....Kurzum: hat die große PolitikNietzsches in ihrer Glut nur lange hingehalten oder ist siejenseits eines Erdbebens, von dem Nationalsozialismus undFaschismus nur Episoden gewesen wären, erst im Kommen?“ unddann läßt Derrida aus „Ecce Homo“ Nietzsche zu seinemVerständnis von „großer Politik“ zur Sprache kommen: “...eswird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat.Erst von mir an gibt es auf Erden große Politik“. Und erbemerkt dazu: „Die Interpretationen werden keinehermeneutischen oder exegetischen Lektüren sein, sondernpolitische Eingriffe in die politische Umschrift des Textesund seiner Bestimmung/Adresse“.45

Obwohl Derrida eine systematische Nietzsche-Kritik bishernicht vorgelegt hat so sucht er doch in „Politiques del’amitié“ zielsicher den politischen Kern von NietzschesEnergetik auf, ohne sich mit seinen barbarischenOberflächenausdruck aufzuhalten: Die elementare Politik desGegensatzes Freund/Feind und der Feindschaft, des Hasses, derFeindseligkeit, des Krieges als generative Kraft in derKonstitution des Selbst. Er verfolgt seine Wirkungsgeschichtedirekt und ohne Umwege in die nazistische Systematik derFeinderklärung bei Carl Schmitt46. Hier trifft er sich –ohnesie zu nennen- mit Hannah Arendt, wenn sie die Feinderklärunggegen die Juden, gegen die entrechteten Flüchtlinge zum Kernder Konstitution nazistischer Identität und des nazistischenSelbst erklärt. Derrida sagt es nicht, aber seineAuseinandersetzung mit Rassismus (bei Heidegger und sogar beiHusserl47) und seine Parteinahme für die sans-papiers machendeutlich, wie aktuell er die Frage sieht.Derrida steht in der Linie der vielen, die (wie auch ich) mitden von Seibert benutzten Lager-Schablonen Nolte’scherObservanz nichts zu tun haben. Wer Nietzsches nazistischePotentiale unterhalb der barbarischen Propaganda in derphilosophischen Struktur aufspüren will, sollte sich aufklärenlassen von Emmanuel Levinas über seinen rassistischenUniversalismus48, von Kurt Rudolf Fischer49 über diephilosophiepolitische Eröffnung faschistischer

45 J.Derrida, aaO S. 44 ff. und 53 ff.;46 J. Derrida, Politiques de l’amitié, Paris 1994; S. 97 ff., 131 ff.Derrida wiederholt hier mit äußerster Schärfe einen Grundgedanken, den ermit offensichtlichem Spott für die kulturorientierte Nietzsche-Gemeinde inder Feinderklärung an das Weib dignostiziert hat. J. Derrida, Sporen. DieStile Nietzsches, in: W. Hamacher Hg.), Nietzsche aus Frankreich,Frankfurt/M. 1986, S. 13147 in De l’esprit, Heidegger et la question, Paris 198648 in Esprit vom 1.11.1934, S. 199: ähnlich wie Derrida findet er dienazistischen Potentiale nicht in der Idee, sondern in der Aggressivität desUniversalisierungsmodus, „...sa forme propre d‘universalisation: la guerre,la conquète.“49 s.o. Fn. 3

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Möglichkeitsräume, von Uriel Tal und George Lichtheim überseinen antichristlichen Antisemitismus50. Aus ihnen kann mankritische Perspektiven gewinnen, um die Nutzung Nietzsches aufdem Weg auch der ehemals linken Avantgarden nach rechts besserbeurteilen zu lernen (auch der italienischen übrigens, zudenen früh Cacciari, Colli, Montinari, Vattimo geörten undjetzt auch Negri51)

...im Dienst am kapitalistischen Umbruch

VI Warum lügt Seibert, warum unterschlägt er, fälscht er um,sogar seine eigenen Eideshelfer? Nach seinen „persönlichen“Motiven zu fragen, ist unsinnig. Der Machtwille, den er mitseinem Bemühen bedient, Nietzsche in die deutsche Linke zutragen, wird nicht aus dem philosophischen Diskurs selbstsichtbar (hier wird er eher verschleiert), sondern nur aus demhistorischen Kontext. Wir bewegen uns in einem politisch-ökonomischen Umbruch zu einer Neuformierung der Strategien derMacht. Ihre Kräfte deregulieren nicht nur die altenMachtformen, sie greifen mit wachsender Aggressivität in dieTiefe der sozialen, biologischen, kulturellen Dimensionen, umneue produktive Ressourcen zu erschließen und in Human-, Bio-,Sozialkapital etc. zu verwandeln. Dieser Take-off in einenneuen großen Zyklus wertschöpfender Unterwerfung („langeWelle“ Kondratievs Terminologie) ist daher auch derhistorisch-materialistische Kontext, in den ein neuer „Willezur Macht“ diskurstechnisch eingeübt und eingeschrieben wirdund für den Nietzsches barbarische Bemächtigungspropagandaumgeschrieben und erschlossen wird. Hierzu muß ich auf meineArtikel zu Sloterdijk verweisen.Für eine historisch-materialistische Herangehensweise andiesen Kontext ist, wie wir von Marx wissen, der immanent-philosophische Ansatz absurd. Die Diskursebene spielt vielmehreine spezifische philosophiepolitische Rolle in diesemAufrüstungsprozeß: auf ihr formuliert der neue Wille zur Machtseine übergreifenden „geistigen“ Synthesen, Paradigmata,Selbstvorstellungen, Werte. Auf ihr generiert er ihrespezifischen aggressiven Potentiale in Ergänzung zu denübrigen innovativen Energien schöpferischer Zerstörung. Dergeschichtsverarbeitenden Erschließung historischer Kräfte undEnergien aus Diskursen früherer Umbruchsphasen kommt dabeieine große Bedeutung zu. Hier hat Nietzsche immer einehervorragende Rolle gespielt. Dies ist auch der Sinn derWiederbelebung von Nietzsches Willen zur Macht, für denSeibert auch das linke Terrain aufzuschließen versucht.Folgerichtig entschärft Seibert auch Foucault um dieentscheide Perspektive des Kampfs von unten, der Befreiung vonund gegen die Strategien des Willens zur Macht. Präziser noch:

50 Uriel Tal, Christians and Jews in Germany, Ithaca 1973; George Lichtheim,Europe in the Twentieth Century, London 197251 Eine Kritik an seinem Buch „Empire“ auch unter diesem philosophischenGesichtspunkt soll in Kürze in www.Materialien.org erscheinen...

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er schwärzt damit die Bedeutung von Foucaults Beiträgen in den7oer Jahren zum Befreiungskampf von unten aus. Und er tut diesgerade in einem Moment, in dem die Ausmerzung aller lebendigenBefreiungsimpulse einer breitgefächerten Revolte nach 68 zumZiel eines veritablen Kulturkampfs um das Geschichtsbilddieser Zeit systematisch betrieben wird. Ihre Erinnerung wirdgetilgt, nicht etwa weil die korrumpierten, ins private Lebenzurückgeschleusten oder noch aktiven 68er Akteure für den sichentfesselnden Bemächtigungszyklus gefährlich wären, sondernweil der gefährliche Duft der Befreiungsimpulse und dieErinnerung an ihre Kampfformen und –erfahrungen zu toterGeschichte abgetötet werden soll. Ist es das, was Seibertumtreibt, wenn er den Foucault der 70er Jahre entsorgt undzugleich die Linke im Bild einer „dissidenten Minderheit ohneweitere gesellschaftliche Relevanz“ verhöhnt, anstatt sieaufzufordern, Foucaults subversives Wissen im Kampf, in derUnterstützung des Kampfs gegen die neuen Disziplinar-,Aussonderungs-, „Beschlagnahme“-strategien zu erschließen?Seiberts Versuch, Nietzsche in seinem trojanischen Pferd indie Linke zu tragen und dort diskursfähig zu machen, muß jetztnoch mit verhältnismäßig vorsichtigen Diskursstrategienoperieren, die die Empfindlichkeiten der Linken in Rechnungstellen. Sie komplementiert darin weit aggressivere Formen derErschließung Nietzsches für einen neuen Zyklus der Gewalt, wieich sie in den Aufsätzen zu Sloterdijk und den Nietzsche-Geburtstagsfeiern umrissen habe.52 Eine von ihnen, ich habe siedort nicht behandelt, betreibt eine neue „Soziologie derGewalt“, die die Produktivität der Gewalt für denModernisierungs- und Innovationsprozeß thematisiert undzugleich propagiert. Peter Waldmann, Hans Joas oder Trutz vonTrotha etwa sind herausragende Protagonisten, die inzwischenauch die Produktivität der neuen Kriege diagnostischerschießen. Trotha ist in unserem Kontext nicht ohneInteresse. Er sieht die Gewaltsamkeit der blutigenafrikanischen Kriege als Medium der Modernisierung zu neuensozialen und ökonomischen Strategien: „Wagnis und Bewegung,das Experiment und die Erfindung neuer Formen politischerHerrschaft -unter Einschluß neuer Kooperationsformen mit NGOs.

Seiberts Versuch, Nietzsche in seinem trojanischen Pferd indie Linke zu tragen und dort diskursfähig zu machen, fordertuns zu beidem auf: die Perspektive der Befreiung gegen diepolitische Ökonomie des neuen Willens zur Unterwerfung imKampf gegen seine technologisch-sozialen Strategien praktischzurückzugewinnen und darin die Politik der Philosophie wiederaus dem historisch-materialistischen Kontext wertschöpfenderGewalt zu begreifen, anstatt uns in den Schein philosophischerImmanenz einspinnen zu lassen.

52 s. Fn 35 und: D.H. das höhere Chinesentum, Konkret 10/2000, vollst.Fassung unter dieser home-page www.materialen.org