der alkoholwahnsinn (akute halluzinose der trinker) und seine beziehungen zu den schizophrenien

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Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker) und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. (An Hand der Kasuistik der Ziircher Psychiatrischen KUnik 1898--1921.) Von Max Wol[ensberger. (Aus der Psychiatrischen Universit~tsklinlk Ztirich [Arbeiten unter Le'_tung yon Prof. Hans W. Maier].) (Eingegangeu am 2. Februar 1923.) A. Einleitung. ~ber den Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trlnker) sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiehe Arbeiten ersehienen. Trotzdem ist die Auffassung fiber die Pathogenese, namenthch aber aueh fiber die Einordnung in die klinische Systematik evtl. Folgezust~nde dieser Krank- her noch durehaus keine einheithche. Die Verschiedenartigkeit der Auffassung bei den einzeinen Autoren bezieht sich namentlieh auf die Bewertung und Deutung einzelner Sym- ptome, die aul~er beim Alkoholwahnsinn auch bei anderen, namentlich chronischen und prognostisch ungfinstigen Psychosen vorkommen. Es hatte sich n~mlieh gezeigt, dab ursprfinglieh als Alkoholwahnsinn aufgefaflte Krankheitszust~nde im Laufe der Beobaehtung anders ge- deutet werden muSten, da$ also dem Alkoholwahnsinn sehr ~hnliche Krankheitsbilder auch im Verlaufe yon anderen Psychosen, vor ahem der Schizophrenie vorkommen k6nnen. Diese Zustandsbilder unter- schieden sich yon den gew6hnliehen Formen des einfachen Alkohol. wahnsinns vor allem dutch die ungfinstige Prognose. Wahrend der Alkoholwahnsinn in seiner der Theorie entspreehenden reinen Form keine schlechte Prognose aufweist, sondern im allgemeinen nach einer Zeit yon einigen Tagen bis mehreren Monaten zur Heilung kommt, so zeichneten sich jene anderen F~lle dadurch aus, dab gewisse Symptome in ehronischer Form erhalten blieben, so da$ sieh die Krankheit fiber vieie Monate und Jahre erstreeken konnte, ohne in eine definitive Heilung auszugehen. Dureh diese Beobaehtungen wurden zahlreiehe Autoren (Kraepelin, v. Speyr, Chotzen, Goldstein, Luther, Heillg, Meyer u.a.) zu der Auf- fassung geffihrt, dab man zwei verschiedene Formen des Alkoholwahn. Z. f. d. g. Neur. u. Psych. LXXXII. 25

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Page 1: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker) und seine Beziehungen zu den Schizophrenien

Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker) und seine Beziehungen zu den Schizophrenien.

(An Hand der Kasuistik der Ziircher Psychiatrischen KUnik 1898--1921.)

Von

Max Wol[ensberger.

(Aus der Psychiatrischen Universit~tsklinlk Ztirich [Arbeiten unter Le'_tung yon Prof. Hans W. Maier].)

(Eingegangeu am 2. Februar 1923.)

A. Einleitung. ~ber den Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trlnker) sind

in den letzten Jahrzehnten zahlreiehe Arbeiten ersehienen. Trotzdem ist die Auffassung fiber die Pathogenese, namenthch aber aueh fiber die Einordnung in die klinische Systematik evtl. Folgezust~nde dieser Krank- her noch durehaus keine einheithche.

Die Verschiedenartigkeit der Auffassung bei den einzeinen Autoren bezieht sich namentlieh auf die Bewertung und Deutung einzelner Sym- ptome, die aul~er beim Alkoholwahnsinn auch bei anderen, namentlich chronischen und prognostisch ungfinstigen Psychosen vorkommen. Es hatte sich n~mlieh gezeigt, dab ursprfinglieh als Alkoholwahnsinn aufgefaflte Krankheitszust~nde im Laufe der Beobaehtung anders ge- deutet werden muSten, da$ also dem Alkoholwahnsinn sehr ~hnliche Krankheitsbilder auch im Verlaufe yon anderen Psychosen, vor ahem der Schizophrenie vorkommen k6nnen. Diese Zustandsbilder unter- schieden sich yon den gew6hnliehen Formen des einfachen Alkohol. wahnsinns vor allem dutch die ungfinstige Prognose. Wahrend der Alkoholwahnsinn in seiner der Theorie entspreehenden reinen Form keine schlechte Prognose aufweist, sondern im allgemeinen nach einer Zeit yon einigen Tagen bis mehreren Monaten zur Heilung kommt, so zeichneten sich jene anderen F~lle dadurch aus, dab gewisse Symptome in ehronischer Form erhalten blieben, so da$ sieh die Krankheit fiber vieie Monate und Jahre erstreeken konnte, ohne in eine definitive Heilung auszugehen.

Dureh diese Beobaehtungen wurden zahlreiehe Autoren (Kraepelin, v. Speyr, Chotzen, Goldstein, Luther, Heillg, Meyer u.a.) zu der Auf- fassung geffihrt, dab man zwei verschiedene Formen des Alkoholwahn.

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. LXXXII. 25

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sinns zu unterscheiden habe: eine akute, prognostisch gfinstige und eine ehronisehe, prognostisch ungfinstige, die sich entweder aus der akuten Form allmi~hlich entwiekeln kSnne oder schon von Anfang an gewisse Symptome aufweise, die auf eine fiblere Prognose hindeuten.

Der akute Alkoholwahnsinn zeiehnet sich aus durch charakteri- stische, zusammenhangende, dramatiseh ausgearbeitete Halluzinationen des GehSrs mit daran sieh anschliel~enden Beeintri~chtigungs- und Verfolgungsideen. Der Kranke ist ,,der unfreiwillige ZuhSrer seiner Stimmen" (Kraepelin), die fiber ihn ,,in dramatisch ausgearbeitetem Dialog reden" (Bleuler). Dabei ist die Orientierung in Raum und Zeit sowie fiber die eigene Person erhalten; ebensowenig sind die Aufmerk- samkeit noch das Gedi~chtnis gestSrt. In chroniseh verlaufenden F~llen beobachtete man hingegen, da~ die GehSrshalluzinationen blieben. Auffi~llig war bei den meisten Kranken auch eine Veri~nderung im Cha- rakter; sie wurden miBtrauisch, mfirriseh, versehroben, apathisch, zeit- weise gewaltti~tig, stuporSs, negativistisch. Auch zahlreiche KSrper- halluzinationen, ferner abenteuerliche GrS•enideen wurden hi~ufig beobachtet.

Es erhob sich nun zunachst die wichtige Frage: Wodurch unter- seheiden sich die gfinstigen Fi~lle yon den ungfinstigen, und was ist die Ursache dieses so verschiedenen Verlaufs scheinbar gleichartiger Krank- heitszusti~nde ?

Einen Anhaltspunkt ffir die Prognosenstellung schienen vor allem gewisse, dem gewShnliehen Bild des Alkoholwahnsinns fremde Hallu- zinationen und Wahnideen zu geben. Dem gelegen~lichen Vorkommen von Gesichtshalluzinationen wird yon den meisten Autoren keine Bedeutung zugesehrieben (Kraepelin, Bleuler). Luther und v. Speyr beobachteten sie in 2/3 ihrer Fi~lle, Bonhoe][er schreibt ihnen eine unter- geordnete RoUe zu, ja er ist im Gegenteil, wie aueh Goldstein, der Ansicht, dal~ Falle mit optisehen Halluzinationen eher gfinstiger verlaufen.

Sehwerwiegender werden aber die Halluzinationen des Geruchs, des Gesehmaeks und des K6rpers sowie das Auftreten von absurden GrSlten- ideen beurteilt, also Symptome, die sonst bei der prognostisch ungfin- stigeren Schizophrenie, namentlieh der paranoiden Form derselben, angetroffen werden. E. Meyer hat allerdings Fi~lle besehrieben, in denen Geruchshaltuzinationen nieht unbedeutend hervortraten, und die abet dennoch zur Heilung ffihrten, wenn auch erst nach li~ngerer Zeit. Gold- stein land sie hingegen selten, und wenn sie stgrker hervortraten, so war die Prognose quoad sanationem meist schlechter. Ebenso werden im allgemeinen die K6rperhalluzinationen als prognostisch ungiinstig be- urteilt, v. Speyr, Luther, Goldstein, E. Meyer, Kraepelin u. a. fanden sie allerdings in ca. der tli~lfte ihrer Fiflle; sie betrafen aber nur die Haut. Die Fatle endeten meist gfinstig. Bonhoel/er jedoch, der fiber-

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und seine Beziehungen zu dell Schizophrenien. 387

haupt den Begriff seiner Alkoholhalluzinose sehr klar und eng faint, betont: ,,Wenn wirklich intestinale Sensationen, Geruchs- und Ge- schmackspari~sthesien bei einer sonst als Alkoholhalluzinose sich dar- stellenden Erkrankung eine wesentliche Rolle spielen, so kann man fast sicher sein, dal3 es sich um eine prognostisch ernstere Erkrankung und um keine rein alkoholische Psychose handelt."

GrS~enideen sind nach Bonhoe//er und Goldstein ohne Einflu{~ auf den Verlauf, nach Ilberg hSchstens ein Zeichen li~ngerer Dauer. Nach Bleuler sind sie jedoch selten, ,,der Wahn bildet kein festgefiigtes, sorg- f~ltig ausgedachtes Bild". Nach Luther verschlechtern sie die Prognose; er land sie bei chronischen Fi~llen hi~ufig, was ihn zur Aufstellung eines besonderen Krankheitsbildes, des ,,chronischen alkoholischen GrS[ten- wahns" veranlal3te. Kraepelin erw~hnt yon einer kleineren Zahl yon seinen chronischen Fi~llen, daI~ sich ,,die Wahnbildungen der Kranken ganz abenteuerlich" gestalteten.

Wie schon mehrfach angedeutet, war es auff~llig, da{~ aus einer unter dem Bild eines Alkoholwahnsinns aufgetretenen Erkrankung eine Psychose entstehen konnte, die, hi~tte man nicht den akuten Anfang sell)st beobachtet und in der Anamnese als unmittelbare ~tiologie einen chronischen Alkoholismus gefunden, nicht mehr yon einer Schizo- phrenie h~tte unterschieden werden k5nnen. So wurden yon zahlreichen Autoren Fi~lle mitgeteilt, die entweder an ein Paranoid, eine Katatonie, eine I-Iebephrenie erinnerten. So beschreibt namentlich E. Meyer zahl- reiche F~lle, yon denen er selbst zugibt, da{~ sie yon einer typischen Schizophrenie fast nicht oder fiberhaupt nicht zu unterscheiden waren. Trotzdem spricht er die Behauptung aus, da~ wir bei einer Psychose, die als typischer Alkoholwahnsinn begonnen habe und nachher unter einem der Schizophrenie nahe verwandten oder gleichartigen Bride fortschreite, trotzdem nicht berechtigt seien, zu zweifeln, da ] man es doch mit einer rein alkoholischen Psychose zu tun gehabt habe. Er sucht n~mlich den Grund dafiir, daI~ zwei verschiedene Krankheiten, wie ein Alkoholwahnsinn und eine Schizophrenie, z. B. eine Katatonie so gleich aussehen kSnnen, in der Lokalisation im Gehirn. Ein patho- genes Agens, sei es Alkohol, Infektion usw., rule eben die Krankheits- erscheinungen hervor, zu denen das betreffende Gehirn disponiert sei, gerade so wie eine Schizophrenie je nachdem bei einem dazu speziell disponierten Individuum sich als Katatonie oder als Paranoid usw. i~uBern kSnne. Er kommt schliel31ich in seinem Artikel ,,Uber akute und chronische Alkoholpsychosen usw." zu dem Schlu~, ,,dab der chronische Alkoholmii~brauch an sich jeder Form geistiger StSrung als ausschliel~liche Ursache zu dienen vermSge". Demzufolge nennt er dann eine unter dem typischen Bild einer Katatonie aufgetretenen Psychose eine ,,alkoholische Psychose katatoner Art".

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Fast aUe iibigen Autoren (Kraepelin, Chotzen, Goldstein, Heilig usw.) haben ahnliche Falle beschrieben, woes schwer war, zu entseheiden, ob es sich um eine Schizophrenie oder um chronischen Alkoholwahnsinn gehandelt hatte. Trotzdem neigen die meisten dazu, diese Falle doeh yon der Schizophrenie abzutrennen. Ihre Auffassung stiitzt sich fast ausschlieftlieh auf die seheinbare alkohollsehe ~tiologie der betreffenden Krankheit. Die Ursaehe, warum dann gewisse Falle yon Alkoholwahn- sinn ,,ehronisch" werden, suchen sie in Begleitumstanden. Bonhoe//er sucht den Grund in einer ,,paranoiden Disposition", Chotzen in einer degenerativen Grundiage, in Verbindung mit Hysterie oder Athero- sklerose, in Stoffwechselveranderungen. Goldstein betrachtet h6heres Alter bei der Erkrankung fiir ungfinstig.

W~hrend die genannten Autoren yon dem Vorkommen ehroniseher rein alkoholischer Psychosen fiberzeugt sind, trotzdem sie selbst deren nahe Verwandtsehaft mit der Schizophrenie zugeben, stellt sich Schr6der auf einen neutraleren Standpunkt: ,,Die Frage, ob es chronische Psy- chosen gibt, die ausschliel~lich durch AlkoholmiBbrauch entstehen, kann meines Erachtens auf Grund der bisher vorhandenen Literatur nicht mit Sicherheit in bejahendem Sinne beantwortet werden. Eben- sowenig kann natiirlich a priori die M6glichkeit, dab solche vorkommen, bestritten werden." Kielholz bestreitet an Hand seiner Untersuehungen das Vorkommen yon chronischen Alkoholpsyehosen der hier gemeinten Art: ,,Eine chronisch paranoide Psyehose, die bloft dem Alkoholismus hatte zugeschrieben werden kSnnen, land sich trotz des grol~en Kranken- materials nicht." Ebenso ist Graeter mit aller Energie daffir eingetreten, daft man es bei den sog. ehronischen Alkoholpsychosen nieht mit Psy- chosen rein alkoholischer ~tiologie zu tun habe. Er wies an Hand yon vielen Krankengeschichten nach, daft in den zahlreichen Fallen, wo die obige Diagnose gesteUt worden war, es sich um durch chronischen A1. koholismus komplizierte und dutch denselben anfanglieh lar~ierte Dementia praecox gehandelt hatte. So stel[ten sich manche als Delirium tremens, akuter alkoholisclier Wahnsinn, chronische alkoholisehe Ver- riicktheit, schwerer chronischer Alkoholismus, alkoholische Demenz usw. diagnostizierte Erkrankungen bei n~herem Zusehen und im Laufe der Beobachtung als Schizophrenien heraus.

Den gleichen Standpunkt vertritt Bleuler. Nach ihm sind ,,wohl 10% unserer Alkoholiker zugleich Sckizophrene". Bei einer so haufigen Kombination dieser beiden Krankheiten muft es datum nicht wunder- nehmen, daft in vielen Fallen anfi~nglich die Schizophrenie nicht erkannt wurde, weft eben der akute oder chronische Alkoholismus das Bild der Schizophrenie etwas verdeckte. Denn wir sehen ja, wie Bleuler bemerkt, haufig, ,,daft die Halluzinationen bei akuten AnfMlen trinkender Schizo- phrenien alkoholische F~rbung haben, sei es in dem Sinne der lebhaften,

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multiplen, beweglichen Gesichts- und Getastshalluzinationen des De- lirium tremens, sei es nach Art der szeniseh zusammenh~ngenden, den Kranken in dritter Person nennenden GehSrshalluzinationen des Alko- holwahnsinns". In der Anstalt treten dann aber die 8ymptome des Alkoholismus allmi~hlieh zurfick, und es kommt dadureh die Grund- krankheit, die Sehizophrenie um so deutlieher zum Vorschein. In diesen F~llen glaubten jedoch die iibrigen Autoren, es habe sich aus einer akuten Alkoholparanoia eine chronische entwickelt. Ffir Bleuler ist es aber ,,ganz unzweifelhaft, dab der grSBte Toil der chronisehen Alkohol- paranoien der Autoren nichts als Schizophrenien sind", ,,jedenfaUs", sagt or, ,,ist bis jetzt der Beweis ffir die Existenz einer nicht sehizo- phrenen Alkoholparanoia nicht geleistet". Eben deshalb, weil yon den Autoren keine sicheren 8ymptome besehrieben werden konnten, die nieht aueh bei einer Sehizophrenie, namentlich bei einer mit Alkoholis- mus komplizierten, vorkommen kSnnen. JBleuler geht aber noeh einen Schritt weiter. Nicht nur rechnet er die chronischen Alkoholparanoien zur Sehizophrenie, er macht es ouch wahrseheinlieh, dab der akute Alkoholwahnsinn meist odor immer ,,ein durch Alkohol hervorgerufenes und spezifiseh ge[~rbtes Intermezzo im Verlaufe einer Sehizophrenie darstelle". W~hrend von den meisten ffiiheren Autoren Halluzinationen des Geruchs, des Gesehmacks und des KSrpers nut als eo ipso pro- gnostisch ungiinstig hingestellt wurden, zieht Bleuler, theoretiseh ab- weichend, aber praktiseh zum gleichen Resultat kommend, aus der Existenz solcher Halluzinationen, die ja schizophrene Symptome sind, bei einem Alkoholwahnsinn den Schlul~, dab dem Wahnsinn eine Schizo- phrenie zugrunde liege.

In der vorliegenden Arbeit sollen nun die in den Jahren 1898--1921 in der Zfircher Psyehiatrisehen Klinik unter der Direktion von Bleuler beobaehteten Fi~lle von Alkoholwahnsinn daraufhin untersucht werden, ob sieh Anhaltspunkte ffir eine vorhandene Sehizophrenie bei den be- treffenden Kranken entweder sehon wi~hrend der Anstaltsbeobachtung oder naehher katamnestisch finden liei~en. Es handelt sich dabei um 16 Fi~lle; fiir diese relativ geringe Zahl ist vielleicht die Tatsaehe nicht unwichtig, dab der ausschliel3liche Schnapsalkoholismus in der Schweiz nur reeht selten ist.

B. Kasuistik.

Einleitend mSchte ieh bemerken, dab ieh mein Material nieht ohrono- logiseh anfiihre, sondern naeh dem Ergebnis meiner Untersuehungen. Ich beginne mit dem Fall, in dem sieh keine Merkmale einer zugrunde liegenden Schizophrenie finden lieI~en, gehe dann fiber zu jenen, die dem gewShnlichen Alkoholwahnsinn fremde Symptome aufwiesen und zum Toil auf Schizophrenie verdi~chtig erscheinen, um zuletzt jene Falle

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anzufi ihren, in denen eine sichere und typ i sche Schizophrenie kons t a t i e r t

werden konnte . Vorauszuschicken ist noch, dab dies in derse lben Ans t a l t und un te r

derse lben Le i tung beobachte te , s t reng gesiehte te und typ i sche F~lle darstel len. Bei der Besehre ibung der einzelnen Fiflle wird nur die Vor- gesehichte und hauptsi~chlich die K a t a m n e s e ausff ihrl icher darges te l l t werden; dagegen wird auf eine e ingehendere Sehi lderung der Sympto -

matologie w~hrend des a k u t e n Anfal les verz ichte t , und es werden nur v o m typ i schen Bi ld des Alkoholwahns inns abweichende Ziige besonders erwi~hnt. Nur die beiden ers ten Fi~lle werden ausfi ihrl ich beschrieben.

Fall 1. G. A., Schneider, 32 Jahre. Internierung: 28. V. 1898 bis, 13. VI. 1898.

In der Familie keine Geisteskrankheiten. In der mfitterlichen Familie schwerer Alkoholismus. Vater Potator. Patient war als Knabe kSrperlich und geistig ge- sund, ein guter Schiller, sp~tter ein fleiBiger Arbeiter, im ilbrigen ein beliebter, jedoch etwas leichtsinniger Mensch. 1889--1890 war Patient in London, wo er anfing zu trinken. 1891 kam er wieder nach Zilrich, hatte hie und da R~usche, ta t l~ppisch im Rausch. 1896 war er in einer andern Irrenanstalt wegen Delirium tremens kurze Zeit interniert. Mitre Mai 1898 trunk er besonders viel. Er filhlte sich unwohl, ging nicht aus. brfitete zu Hause vor sich hin. Nach 2 Tagen wurde ihm der Alkohol zu Hause entzogen. Er sagtc darauf, er sei ein verlorener Mensch, und verlangte selber die Aufnahme in die Irrenanstalt, die 5 Tage sp/~ter auch s tat t hatte. Bei der Aufnahme (28. V. 1898) war er i~ngstlich erregt, in weiner- licher, zerknirschter Stimmung, erz~hlte selber, dab er zuviel Bier getrunken und infolgedessen Gesichts- und GehSrs~uschungen bekommen habe. Er war fiber seinen Zustand deprimiert, wollte abstinent werden. KSrperlich: Tremor der H~nde, leichter Nystagmus, wei]~e Haare. In der Anstalt butte er keine Halluzi- nationen mehr, bei Druck auf die Augen traten keine Gesichtsph~nomene auf. Nach Aussagen des Vaters hatte Patient in den Tagen vor der Aufnahme aus- gesprochenen Verfolgungswahn gehabt gegen den Direktor der Anstalt, in welcher er frfiher wegen Delirium tremens interniert gewesen war. Aul~erdem auch gegen verschiedene Personen aus der Nachbarschaft. Sie redeten fiber ihn, hielten ihm seine Sfinden vor, auch im Takt, waren immer hinter ihm her; was sie mit ihm wo|lten, wuBte er eigentlich nicht. Patient wollte auch aus den H~nden lesen kSnnen, sein Vater komme in den Konkurs. Nach 17 Tagen yore Alkoholwahn- sinn geheilt entlassen und in die Trinkerheilst~tte EUikon transferiert. Katamnese: Pat. blieb nach seiner Entlassung aus der Trinkerheilst~tte bis heute abstinent. Es wurden nie mehr geistige Abnormit~ten bei ihm entdeckt. Keine Zeichen yon Schizophrenie nachweisbar.

Wi r sehen in d iesem Fal le 1 einen Mann, dessen Va te r Alkohol iker war ; intel l igent , abe r e twas leichts innig r ing er im Aus land im Al t e r yon ca. 24 J a h r e n im l~bermaB zu t r inken an, mach te mi t 30 J a h r e n wahsrcheinl ich ein Del i r ium t r emens durch. 2 J a h r e sp~ter b rach nach besonders s t a rken Alkoholexzessen ein ha l luz ina tor i scher Z us t a nd aus, in dem er Verfolgungsideen entwickel te und die S t imme n von Personen hSrte, die h in te r ihm her waren und ihm, tei lweise im Tak t , seine Sfinden vorh ie l t en ; einzelne Ges ichtsha l luz ina t ionen t r a t e n auf, waren aber

nebensach l icher Na tu r , die Orienti( ,rung war n ich t gestSrt , es bes t and

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 391

eine gewisse Krankheitseinsicht und Tendenz, selbst die Aufnahme in die Anstalt zu verlangen. Der Fall ist deshalb etwas fraglieh, weil das Syndrom schon abgeklungen war und keine Halluzinationen mehr be- stunden, als er in die klinische Beobachtung kam. Anderenteils bietet er deshalb Intcressc, weft er eine erfolgreiehe Trinkerkur durchmachte, bis jetzt, d .h . wahrend 24 Jahren vSllig alkoholabstinent blieb und keinerlei psyehopatische Erscheinungen seither mehr aufgewiesen haben soll; insbesondere fehlen hier jede Anhaltspunkte flit Schizophrenic. Gerade wegen der fehlenden klinisehen Festlegung des Bfldes seheint uns der Fall nicht so gekl~rt, um als wichtiges Beweisstfick zu dienen, besonders auch deshalb, weil er unter dem gesamten klinischen Material, das wir aus den letzten 24 Jahren verarbeiten konnten, der einzige Kranke ist, der einen wirklich geheilten Alkoholwahnsinn im eigent- lichen, selbsti~ndigen Sinne darstellt. Wir mSehten natiirlieh keines- wegs vermuten, dab hier eine Schizophrenie im Spicle sei, aber eine solehe einzelne, etwas schwach fundierte Beobaehtung kann uns aueh nicht genfigen, um den Zusammenhang zwischen dem Alkoholwahnsinn und der Gruppe der Dementia praecox abzulehnen: wissen wir doch, dab es auch ohne Mitwirkung yon Alkoholismus seltene Fi~lle yon sicher schizophrencn Syndromen, z. B. puerperalen gibt, wo der Krankheits- proze~ so schwach ist, dab sparer das ganze Leben hindurch auch bei eingehendster Beobachtung nichts Krankhaftes in dieser Richtung mehr angenommen werden kann. Warum sollte das nicht aueh einmal bei einer Kombinat ion von einer alkoholisehen Psychose mit einer sehr inaktiven Schizophrenie der Fall sein ?

Wie schwer die Beurteilung in dieser Richtung ist, beweist uns gerade

Fall 2. D. E., Maler, 41 Jahre, 1. Internierung: 6. VII. 1921 bis 2. X. 1921 ; 2. Internierung: 4. II. 1922 bis jetzt.

Der Vater sol] in der Jugend leichtsinnig gewesen sein, die Mutter war Schnaps- trinkerin. Eine Schwester und ein Bruder trinken auch, letzterer stiehlr ein anderer Bruder lieB seine Frau im Stich, er habe etwas den GrSBenwahn. Nach der Volksschule, die Pat. ohne Mtihe passierte, verreiste er mit 16--17 Jahren yon zu Hause, weft er sich mit seinen Eltern nicht vertrug, ins Ausland, konnte jedoeh nirgends lange bleiben. Er kam wieder nach Ziirich, verheiratete sich 1909. Seine Stellen wechselte er an~nglich fortw~hrend, bis er sich sehlieBlieh selbst~ndig machte. Mit seinen AngehSrigen verkehrte er schon lange nieht mehr. Angeblich seit 1918 ring er an starker zu trinken, anfanglich Bier, spi~ter hauptsachlich Schnaps. Schliel~lich war er jeden Tag betrunken und arbeitete nicht mehr; war riicksichtslos gegen die Kinder. Im Februar 1921, als es Tauwetter war und von den D~ichern tropfte, h0rte er, wie er im Bett lag, Stimmen im Rhythmus rufen: tick, tack, tick, tack, tipi, tapi, tupp, tupp, Schmutzfink, Schmutzfink, Spitzbub, Spitzbub, schlechter Chaib, BurghOlzli. Er meinte, es seien 5--6 junge Bursehen, yon denen jeder, nachdem sic sich vorher eingeiibt haben muBten, ein anderes Wort gebrauchte. Sic wechselten auch untereinander ab, wenn sie miide wurden. Eim~ Frau wollte sic abhalten, aber es ntitzte nichts. Am andern Morgen ging

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Pat. gleiehwohl zur Arbeit, da er glaubte, es sei wohl ein Mumpitz yon seinen Wirtschaftskollegen gewesen. Einige Monate sparer, im Juli 1921 hSrte or, a~s er Abends heimkam, wie man zuerst an seine Tfire klopfte. Daruuf machten sich Stimmen vor seinem Fenster fiber alle seine Handlungen lustig; seht, jetzt rut or, als ob er lesen wiirde Usw. Pat. ging dann ans Fenster, konnte aber niemand sehen; auch als er in die Kiiche hinunterging, land er niemanden, weft sich die I~usbuben auf das Daeh gefliiehtet haben muBten, denn yon dort her fliisterten sie wieder zueinander und machten sich fiber ihn lustig. Er w~ff einen Stein, drohte auch mit SchieBen; abet die Stimmen hSrten nicht auf: sie schlagen ihn tot usw. Am andern Morgen hSrte er wieder nichts mehr und ging ruhig zur Arbeit. Am 4. VII. hSrte er zuerst einen feinen, langgezogenen Ton, darauf ging das Gefliister yon allen Seiten wieder los: manchmal in der Melodie eines Amselgesangs. Andere Stimmen wollten die Besehimpfer yon ihrem Tun abhalten. Alle seine Gedanken wurden ihm nachgespmehen. Er wollte trotzdem zur Arbeit gehen, der Meister sehiekte ihn aber heim. Auf dem Heimweg t r anker noch 4 Glas Bier und 2 Schngpse. Zu Hause las er die Zeitung, aber seine Verfolger lieBen ihm keine Ruhe, wieder tSnte es: I~usbub usw. Andere Stimmen mahnten zur Ruhe; dadurch bekamen die Verfolger fast Streit untereinander. Pat. lieB dann durch die Frau die Polizei holen. Am 6. VII. Einlieferung. Hier: zeitlich, 5rtlich und autopsychiseh gut orientiert, Tremor der H~nde und Zunge, Patellarreflexe leb- haft, Wahmehmung nieht verlangsamt. Erz~hlte in erregtem Tonfall, wie er yon allerlei Lumpen voffolgt worden sei, wie diese einen HSllenspektakel verfiihrt h~tten, so dal3 or schlieBlich die Polizei rufen lassen muBte. Jetzt habe man ihn hierher gebracht, damit er wieder einmal schlafen kSnne. Am 15. VIII. Krankheits- einsieht, ausgenommen in den Alkoholismus. Am 2. X. 1921 yore Alkoholwahn- sinn geheilt naeh Hause entlassen. Keine Zeichen yon Schizophrenie nachweisbar.

Als wir unsere Arbe i t begannen, ga l t dieser P a t i e n t E. D. in der K l in ik als ein typischer , gehei l ter Fa l l yon Alkoholwahnsinn, und wir wol l ten ihn zusamm'en mi t Fa l l 1 als P r o t o t y p der re inen F o r m des Leidens ohne wesent l iche A n h a l t s p u n k t e ffir eine sehizophrene Grund- lage in den Vorderg rund stel len und bemerk ten epikr i t i sch dazu folgendes : I n der Anamnese f~ll t das Uns t e t e in der J u g e n d des Pa t i en t en auf, er re is t yon Ort zu Ort , weehsel t S te l lung naeh Stel lung. Ob es sieh da um schizophrene Wi l lenss tSrung und Selbs t i iberschatzung gehande l t haben mSchte, konn te durch die spa te re Beobach tung n ieht en t sch ieden

werden. Nun ereignete sieh aber das Unerwar te te , d a b der K r a n k e a m

4. I I . 1922 neuerdings zur Aufnahme im BurghSlzli k a m (wo er j e t z t

Dezember 1922, noch weil t ) :

Die Ehefrau gab an, der Pat. sei w~hrend 3 Woehen naeh der Entlassung aus der Anstalt ira Oktober 1921 ganz solid und psyehisch nieht auffallend ge- wesen; dann wurde or arbeitslos, kam wieder ins Trinken hinein. Von Mitre Fe- bruar 1922 an wurde er gegen die Frau ausfallend, machte ihr unbegrtindete Vor- wiirfe, sie gSnne ihm nichts, bekam dann eine unbesr Angst, or werde wieder in einen Vergiftungszustand hineinkommen und sprach selbst d~von, er miisse wohl wieder ins BurghSlzli. Eine Woehe vor der Internierung begann er best~ndig Stimmen zu hSren, die ibm sagten, man wolle ihn verhauen, stand steif da und unterhielt sich mit ihnen, ging aus Angst vor den Verfolgern, die er reden hSrte, nicht mehr aus dem Haus. Haupts~chlieh hSrte er die Leute, die untereinander

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 393

wie in einer Gerichtssitzung fiber ihn redeten, dann aber auch wieder direkt an ihn gerichtete Stimmen. Nachts konnte er nicht mehr schlafen, hielt sich die Ohren zu, rief Passanten auf der StraSe, sie sollten gegen seine Veffolger, die er nie stellen kSnne, da sie immer verschwinden, wenn er sie sehen wolle, die Polizei mien. Einen Tag vor der Intemierung fiihlte er sieh dermaSen yon den Telephon- leitungen her elektrisiert, daS er am ganzen Leibe zittern muSte, es wiirden 70 Volt auf ihn losgelassen. SchlieSlich g inger se]bst zur Polizei um Hilfe, die ihn mit einem i~rztlichen Zeugnis, er leide an alkoholisch gef~rbten Halluzinationen und Wahnideen bei Dementia praeeox, wieder ins BurghSlzli brachte.

Hier beschrieb er genau die gleichen rhythmischen Melodien wie das erste Mal, die ihn in Form yon Stimmen verfolgen: ,,Tiptap, tiptap, tipitapi, tipitapi. Spinn- ehaib, Spinnchaib (Dialekt~usdruck fiir Verriickter), bimbam, bimbam, Siiuhund, S/iuhund" usw. usw. Die Stimmen hielten in der Klinik noeh w~hrend 24 Stunden an, zwar glaubte der Pat. sie auf ein Telephon zuriiekflihren zu kfnnen. Hier fiihlte er sieh wohl, da er hinter den Gittern vor seinen Verfolgern sicher sei. Es trat spi~ter eine teilweise, aber durchaus mangelhafte Korrektur der durchgemachten Halluzinationen und Wahnideen auf, dagegen wurden bei der in der Anstalt dureh- gefiihrten Abstinenz keine neuen mehr beobaehtet. Dagegen trat nun eine groSe Gleichgiiltigkeit und eine StSrung der Aufmerksamkeit in den Vordergrund, die den Pat. zu einfaehen Arbeiten, wie Abwasehen in der Kiiche, nur noch bedingt brauchbar machten, und die einen organischen, in Wirklichkeit nicht zu fassenden Ged~chtnisdefekt vort/iuschten. W~hrend er am Anfang 5fters die Entlassung verlangte, paste er sich mehr und mehr auf einer Abteilung fiir recht blSde Pat. an und bietet dort seit Monaten das Bild einer einfachen schizophrenen Versimpe- lung mit etwas Resten alkoholischen Humors.

W i r sehen bier, wie unerwar te te rweise ein Pa t ien t , der zuers t zwei abhei lende Anfi~lle von t yp i s chem Alkoholwahns inn mi t s t a rken Ge-

hSrsti~uschungen rhy thmiseh-mus ika l i sehe r A r t und Verfolgungsideen ha t te , be im 3. Anfal l nach neuem Alkoholabus im Gegensatz zu frfiher auch KOrperha l luz ina t ionen versp t i r t und n unme hr seit 10 Mona ten bei sti~ndiger kl inischer Beobach tung und Abs t inenz das Bi ld einer s te igenden sehizophrenen VerblSdung aufweist . W~tre der Mann nach seiner Ans ta l t sen t l a s sung zufi~llig in die F r e m d e gereist , so hi~tten wi t seinen Fa l l als typ i sches Beispiel ffir den re inen Alkoholwahns inn an- f i ihren mfissen, w~hrend er uns j e t z t ein Beleg fiir d ie enge Verb indung dieses Krankhe i t sb i l de s mi t der Schizophreniegruppe dars te l l t . Dies zeigt uns auch, wie eine A n s t a l t mi t e inem Aufnahmekre i se aus einer mehr stationi~ren Bev61kerung und der MSglichkeit zu l~ngerer Be- obach tung solcher FMle zur Kl~rung yon F ragen wie der vor l iegenden

viel le icht in gewissen R ich tungen geeigneter is t als die K l in iken yon GroBsti~dten mi t viel re ichhal t igerem, aber. unverhi~ltnismi~Big f luk-

tu i e renderem Pa t i en tenmate r i a l .

Fall 3. G. E., Lehrer, 40 gahre, Internierung: 16. V. bis 28. V. 1916. In der Familie des Pat. sollen weder Geisteskrankheiten noch Trunksucht sein. Der Vater war ein Sonderling, der nieht mit den Leuten verkehrte, aber fleiSig flit seine Familie arbeitete. Pat. gab an, in der Jugend abenteuerlich veranlagt ge- wesen zu sein. Er hatte eine unstillbare Lesewut, war j/~hzornig und ungehorsam. Einige Zeit war er 7Nachtwandler. Er war sp~ter an verschiedenen OV6en als Lehrer

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394 M. Wolfensberger Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker)

tatig. Mit seiner Frau lebte er unglticklich. Pat. mullte bald den Lehrerberuf auf- geben, da er mehr und mehr ein Trinker wurde. Er bekam dann eine Stelle als t)bersetzer, wo er fleillig arbeitete, dann aber wieder ktindigte, weil es ibm zu streng war. Nachdem er im April 1916 seinen Zahltag vollsti~ndig vertrunken lmtte, erkrankte er an Alkoholwahnsinn. Am 16. V. 1916 wurde er ins Burghflzli eingeliefert. Hier war er i~ngstlich, erziihlte abet genau den Hergang. Er glaubte aueh, seine Frau habe ihn bei der Erziehungsdirektion angezeigt, um ihn um die Pension zu bringen. Am 17. V. hatte er alles korrigiert; am 28. V. geheilt ent- lassen.

Katamnese: Pat. ist yon seiner ersten Frau gesehieden und wiedcr verheiratet. Er beklagt sich fiber materielle und seelische Sorgen. Oft ffirchtet er, seine frfihere Frau kSnnte gegen ihn wieder gerichtlich vorgehen, denn sie habe ihn wahrend der ganzen Ehe verfolgt und einmal versueht, ihn dureh ReiBbrettstifte, die sie ihm in den Kaffee getan habe. zu ermorden (?). Er ist oft deprimiert, hat dann das Bedfirfnis, mSgliehst weir fort und mit sich allein zu sein. Hat sich aueh schon mit Suicidideen getragen, jedoch babe ihn die Liebe zu seiner jetzigen Frau, die dann keine Pension bel~me, davon abgehalten, sich ein Leid anzutun. Der Ge- danke an eine frtihere luetische Infektion quiilt ihn oft. Eine Menge frfiherer Verhi~ltnisse, denen er teilweise aueh noch finanziell verpflichtet ist, die er abet vor seiner Frau verheimliehen mfisse, lassen ihn auch nicht zur Ruhe kommen. Keine kSrperliehen Zeiehen von Paralyse. Pat. sieht nicht wie ein Alkoholiker aus, eher wie ein Sehizophrener. Der Blick hat etwas Paranoides. Sehlaf und Appetit sind schleeht. Pat. lebt solid. Er habe hie mehr weder Halluzinationen noch Verfolgungswahn gehabt. Er arbeitet regelmi~llig als tJl)ersetzer.

W;r sehen in diesem Falle, wie rasch ein Alkoholwahnsinn sich un t e r

Umsti~nden wieder zuri ickbilden k a n n ; schon 1 Tag nach der In te r - n ie rung waren die Hal luz ina t ionen verschwunden, und es t r a t Krank - heitseinsicht ein. Die ka tamnes t i schen Ergebnisse lassen eine Schizo-

phrenie vermuten . Daffir sprechen seine Neigung zu Depressionen, seine da und dort zutage t re tende i~ngstliche, fast paranoide Einstel lung. Absolu t sichere Zeichen einer Schizophrenie bestehen aber zur Zeit n icht .

Fall 4. B. K., Weber, 52 Jahre, ]nternierung: 10. X. 1898 bis 28. II. 1899. Vater und Bruder waren Potatoren. Pat. ist psychiseh debil. Nach der Schulzeit kam er als Weber in eine Fabrik. Er gab an, stets etwas melancholiseh und ~ngst- lich gewesen zu sein, er babe immer alles schwer aufgenommen. Die Leute h/~tten stets gegen ihn gearbeitet; wenn er etwas im Sinne gehabt und es die andern ge- merkt h/itten, so h~tten sie stets versucht: ihm etwas in den Weg zu legen. Als er mit 31 Jahren heiraten wollte, seien alle Leute gegen ihn gewesen und hStten seiner Braut abgeraten. Er trank sehr vie] Schnaps, aB daneben oft nicht. Seit 2 Monaten vor seiner Intemierung arbeitete er nieht mehr. Nach dem Essen war er immer ,,tiefsinnig". Am 9. VII. 1898 wurde er angeblich von seinem Kost- geber geneekt und grob angefahren. Darauf wurde er sehr tiefsinnig und machte einen Suicidversuch. In der folgenden Nacht bekam er Halluzinationen und Ver- folgungsideen. Daraufhin am 10. X. 1898 Internierung. Hier bot er 14 []?age lang das Bild eines akuten Alkoholwahnsinns. Er war stets gedrtickt, weinte oft, glaubte, alles sei verloren, er werde nie mehr gesund. Am 28. I1. 1899 geheilt ent|assen.

Katamnese: Es wurden an B. keine besondern krankhaften Erseheinungen mehr beobachtet. Er soll allerdings sehr empfindlich und j/ihzornig sein, auch

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 395

neigt er zu Rechthaberei. Er verkehrt gerne mit den Leuten. Bei der Unter- suchung war der psychische Rapport mit ibm sehr gut. Das Ged~chtnis is t auf- fallend gut erhalten. Es land sich nur ein chronischer Alkoholismus; Zeichen yon 8chizophrenie nicht nachweisbar.

Auff~llig is t hier, dab P a t i e n t schon 2 Monate vor dem Auf t auchen

der fli t Alkoholwahns inn typ i schen GehSrshal luz ina t ionen s t a rken Beziehungs- und Beeintr i~cht igungswahn zeigte. Darau f erfolgte d a n n ein Suic!dversuch; ers t nachher erfi~hrt m a n d a n n yon zu- sammenhi~ngenden Phonemen und Verfolgungsideen. Auch is t her- vorzuheben, dab P a t i e n t schon frfiher ~ngstl ich war. Dies k6nn te zwar m i t seiner Oligophrenie zusammenhi~ngen. Bedeutungsvol le r is t hin- gegen, dal~ er hier und da ve r s t immt , m a n c h m a l melanchol isch war, d a b er auch meinte , die Leute haben e twas gegen ihn. W i t h a t t e n es bei ihm m i t einer , ,paranoiden K o n s t i t u t i o n " zu tun, die Bonhoe//er ffir das Z u s t a n d e k o m m e n eines Alkoholwahns inns ann immt . Eine

solche kSnnte abe t bei e incm Debi len eine reine Af fek twi rkung im Sinne einer Katathymie (Maier) sein und miil3te noch n ich t als eine l a t en te Schizophrenie aufgefal~t werden. Die MSglichkeit , da{~ es sich bier u m le tz tere gehande l t habe, konn te n icht bes t~ t ig t werden, da sparer nie sichere Zeichen einer Schizophrenie auf tauch ten .

~hn l i ch s ind die be iden folgenden F~l le :

Fall 5. M. B., Tapezierer, 60Jahre, Internierungen: 3. V. bis 14. V. 1913 als Alkoholismus chronicus mit Wahnideen, 28. VI. bis 11. VII. 1915 als Alkohol- wahnsinn. - - Die Eltern des Pat. waren Sehauspieler. Das ganze Leben des Pat. war unstet. Er erlernte den Beruf eines Tapezierers, verreiste dann nach Amerika, war dort in verschiedenen Berufen t~tig, ohne je lange zu bleiben. :Nach 2 Jahren kehrr er nach Europa zurfick, arbeitete als Tapezierer, lieB sieh dann in einer Jahrmarktbude als Komiker engagieren. Sp~ter wurde er Dirigent einer Zirkus- kapelle. Nachher war er wieder in vielen Orten im In- und Ausland als Tapezierer t~tig; bis er sich in Zfirich selbst~ndig machte. 1886 heiratete er, die Frau starb sparer an Geisteskrankheit. Seine schon Irfiher bestehende ~qeigung zum Trinken verst~rkte sich so, dab er seinen Sohn, mit dem zusammen er ein Gesch~ft betrieb, zu hintergehen anfing, um sich Geld zu verschaffen. Am 3. V. 1913 wurde er zum erstemnal ins BurghSlzli eingeliefert, weil er sich yon Italienern verfolgt glaubte. Schon nach 10 Tagen wurde er vom Sohne nach ttause genommen. Am 28. VI. 1915 kam er zum zweitenmal als Alkoholwahnsinniger ins Burgh61zli. In seiner Angst hatte er drauBen mehrere Suicidversuche gemacht. In der Anstalt war er ~ngstlich-deprimiert. Merkwfirdigerweise bezweifelte er schon damals die Realit~t seiner Halluzinationen. Kurze Zeit sah er auch zwischen den B~umen buntfarbige Jungfrauen, eine Drosehke mit Pferden davor. Nach 10 Tagen geheilt entlassen.

Katamnese: M. arbeitete seither regelm~Big. Er will wenig mehr getrunken haben, hingegen vertrage er den Alkohol sehr schlecht; schon nach einem Glas Wein ftlhle er sich wirr im Kopf. Im April 1921 begann er wieder Stimmen zu hSren. Anfangs war es einfach ein groBer L~rm auf der StraBe, der ihn nicht schlafen lieB; dann hSrte er allm~hlich nachts, wenn er aufwachte, oder auch wenn er au~ der StraBe war, Stimmen: ,,Da kommt jetzt der Verriickte", ,,seht da kommt er wieder, der ins BurghSlzli mu~." Pat. beklagte sich fiber diese Stimmen, die meist hinter ihm her waren und ihn mit ihren Neckereien verfolgten, bei seinen

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Bekannten. Diese beruhigten ihn, und er sah die Irrealit~t der Stimmen ein. Trotz dieser krankhaften Erscheinungen hSrte Pat. nie auf zu arbeiten. Wenn er dann keinen Alkoh~l zu sich nahm, liei~en auch die Stimmen nach. Dieser Zu- stand zog sich 3--4 Monate, his Ende Juli 1921 hin. ])ann iing Pat. an, im Kunden- haus jeden Alkohol zuriickzuweisen, und seither will er nie mehr Stimmen gehSrt haben. Halluzinationen des Gesichts und des KSrpers hatt~ er hie. Er lebt zuriiek- gezogen, verkehrt nlcht viel mit Leuten, kommt aber mit ihnen gut aus. Der psychische Rapport mit dem Pat. ist gut, auff~llend ist sein mi~trauischer, fast paranoider B]ick. Er ~ul~ert auch dem Verfasser den Verdacht, seine Kostgeber h~tten ihn wohl im BurghSlzli angezeigt, es sei mit ihm etwas n'Jcht in Ordnung, und er miisse wieder untersucht werden. Die Nervenst~mme der Arme sind auf Druck empfindlieh.

P a t i e n t h a t also im Verlauf yon 8 J a h r e n 2 Anf~lle yon Alkohol- wahns inn in der Kl in ik und einen leichten, s u b a k u t ve r laufenden Anfa l l yon Alkoholwahns inn zu Hause durchgemaeh t , de r yon se lbs t zuri ick- ging, naehdem der GenuB yon Alkohol e ingesehr~nkt , v ie l le ieht s is t ier t worden war. Das Leben des Pa t i en t en is t auf Sehizophrenie sehr ver- d~eht ig, es is t ein abenteuer l iches , unstetes , n i rgends h~l t es der P a t i e n t lange aus ; er re is te f r i iher yon Ort zu Ort, wechse]te ohne ers ieht l iehen Grund den Beruf, zog eine Ze i t lang als K o m S d i a n t in der We l t herum. Dies s ind al lerdings Erscheinungen, die, wi i rden sieh noeh andere hin- zugesellen, wohl als Anzeichen einer psychopa th i sehen StSrung, die n ich t als toxiseh angesehen werden kann, aufgefal~t werden miiBten. Der je tz ige 13aranoide Charak te r des Pa t i en ten , der pa rano ide Blick, be- s t~rken die Vermutung , dab es sieh dabei u m eine ]a tente Sehizophrenie hande l t .

Fall 6. B. G., tteizer, 43 Jahre, Intemierung: 1. VI. his 29. VI. 1917. Der Vater war Trinker. Pat. ist yon mittlerer Intelligenz, lernte Mechan]ker. In den ffiiheren Jahren blieb er bis zu 4 Jahren an einer Stelle, sparer wechselte er fort und fort. Auf diese Weise war er innerhalb 19 Jahren an 19 versehiedenen Stellen, worunter noeh eine in einer Brauerei war, wo er 6 Jahre blieb. Er hatte oft R~usehe. In der letzten Zeit war er nie niiehtern. Am 29. V. 1917 fiihlte er sich Abends un- wohl, sah M~use an der Wand, aueh eine Spalte, durch welehe es regnete. Da- neben bestanden dramatische GehSrshalluzinationen und Verfolgungsideen. Am 1. VI. 1917 Anfnahme ins BurghSlzli. Er war in alkoholiseh-euphoriseher Stim- mung, hatte aueh hier noch einze]ne Gesiehtsha]luzinationen: er sah EichhSrnchen, M~use, iiberall S~gemehl zerstreut. Druckvisionen waren keine auszu]Ssen. :Nur ganz kurze Zeit war er allopsychiseh desorientiert. Aueh versehwanden raseh die Gesiehtshalluzinationen, und es blieb das Bild eines Alkoholwahnsinns zuriick. Die Affektivit~t des Pat. war w~hrend seiner Internierung steif-l~chelnd. I~aeh- dem er naeh ca. 14 Tagen alles korrigiert hatte, arbeitete er sehr ruhig. Er war in seinem Benehmen eher schizophren als alkoholisch. Am 29. VI. 1917 geheilt entlassen.

Katamnese yon der Frau: B. trinkt framer noch viel. In seinen niichternen Zeiten ist er sehr zuriiekgezogen, etwas miirrisch, spricht yon sich aus fast kein Wort, ,,studiert" viel. In angeheitertem Zustand ist er sehr redselig, nie bSs~rtig. Freunde hat er keine, nur Wirtshausbekanntschaften. Von Zeit zu Zeit, besonders wenn er wieder getr.unken hat, hSrt er Stimmen, die ihn besehimpfen; er ~uBerte sieh edoeh hie, was~die Stimmen genau aussagen. Er hat iiberhaupt auch das Gefiihl, dab

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 397

alle Leute gegen ihn etwas im Schilde fiihren, um ihn zu benachteiligen; besonders glaubt er immer wieder, dal~ man ihn im Geseh~ft, wo er angesteUt ist, verdr~ngen wolle. Er hat deswegen oft Auftritte mit seinen Mitarbeitern. Als die Frau ihrem Manne mitteilte, dab ich ihn besuchen wollte, fiirchtete er, es liege irgendwoher eine Anklage gegen ihn vor, und er miisse nun deswegen verhSrt werden.

Katamnese vom Pat. selbst: Er hSrt yon Zeit zu Ze:t Stimmen, meist nachts; auf der Stral~e reden dann mehrere Leute tiber ihn, sie rufen ihm auch Schimpf- namen naeh. Diese Stimmen sollen aueh ohne vorausgehenden st~rkeren Alkohol- genuB auftreten. Alkoholismus wird geleugnet, Alkoholiker-Ausreden. Pat. gibt noch an, schon yon Jugend auf sehr empfindlich gewesen zu sein, wenn seine Meister ihn tadelten oder nut korrigierten, so war er dadurch so beleidigt, dab er sofort die Stelle kiindigte. Pat. hat keine Kameraden. Er macht nicht den Eindruck eines schweren Alkoholikers.

I m voliegenden Fall 6 sehen wir: Der Sohn eines Trinkers zeichnet sich in seiner Jugend durch Unstetheit , iibertriebene Empfindlichkeit , falsche Eigenbeziehungen und infolgedessen bestandigen Stellenwechsel aus. Diese Eigentiimlichkeiten des Charakters aUein schon weisen ja auf Sehizophrenie hin. Dann wird er Trinker. I n letzter Zeit haufen sich die Exzesse, er erkrankt an einer Mischform von Delir und Alkohol- wahnsinn, wobei der letztere die Oberhand gewinnt. Sparer macht er zu Hause nochmals einen leichten Alkoholwahnsinn durch. Sehr klar sehen wir, wie aus dem redseligen Trinker im niichternen Zustand ein sonderbarer, miirriseher, mutist ischer und autistischer Mensch wird; der Alkoholismus verdeckt also die sehizophrenen Symptome. Wenn wir dazu noch die jetztige chronisch-paranoide Einstellung des Pat ienten zu seiner Umgebung, besonders zu seinen Mitarbeitern, ins Auge fassen, so diirfen wir wohl nieht mehr zweifeln, dab w i r e s mit einer durch Alkoholismus komplizierten Schizophrenie zu tun haben.

Ieh lasse nun drei Falle folgen, die nur in ihrem Anfall im Burg- hSlzli beobachtet werden konnten, von denen aber sparer nichts mehr zu ermit teln war, da alle drei Pat ienten nach dem Ausland verzogen sind. Allen 3 Fallen ist jedoch gemeinsam, dab bei ihnen fiir den gewShnlichen Alkoholwahnsinn atypische und auf Sehizophrenie sehr verdaehtige Symptome, so vor allem KSrper- und Geruchshalluzinationen sowie vereinzelte GrSBenideen auftraten.

Fall 7. ~ . 0., Wirt, 38 Jahre, Internierung: 14. XI. 1904 bis 27. II. 1905. Der Vater war Trinker. Pat. war Wirt und trank 10--151 Bier pro Tag, dazu Wein und Schnaps. Vor kurzer Zeit, vor ca. 1 Jahr soll er in einer deutschen An- stalt wegen angeblichen Delirium tremens intern'ert gewesen sein. Er hatte auf der StraBe um sich viele M~nner, Frauen und VSgel gesehen und dann zuerst auf vorhandene, dann auf halluzinierte Personen geschossen. Nach der Entlassung war er abstinent. Seit 3---4 Monaten tranker sehr viel, hatte schlechten Appetit und Vomitus matutinus. Schlaf gut. Anl~tl~lich einer 4 Tage dauernden Kirmes t ranker sehr viel. Er wurde dann 1 Tag krank, arbeitete am folgenden wieder. Die folgende Naeht bekam er Gesiehts- und GehSrshalluzinationen und Verfol. gungswahn: fluehtete sich mit dem Zug nach Ziirich. Seine Verfolger seien ihm jedoch mit den folgenden Zfigen nachgereist, er diskutierte mit ihnen. Sie spritzten

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ihm auch Acetylen an, so dab es ihn auf der Haut juckte. Er bat einen Herrn um Hilfe; dieser brachte ihn auf die Polizei. Nach 2 Tagen (14. XI. 1904) Einlieferung ins BurghSlzli. K6rperlieh: Wenig Tremor der H~nde und Zunge, VergrfBerung der Leber, Gastritis. (~rtlich usw. gut orientiert. Er hatte hier Gehfrshalluzi- nationen und Verfolgungsideen, wie sie fiir einen akuten Alkoholwahnsinn typisch sind. Daneben traten Haut- und KSrperhalluzinationen hervor: Die Veffolger haben ihm auch dureh einen elektrisehen Strom das Herz geliihmt, er habe wie einen Stich gespfirt. Dann haben sie ihn noch mit einer elektrischen Lampe be- leuchtet; er habe aber den Strom durch seine Sehkraft zuriickweichen lassen; es wiirden ihm die Nerven gespannt u. a. m. Anfangs Febmar 1905 keine Stimmen mehr, am 27. II. 1905 geheilt entlassen. Katamnese nicht mSglich.

Fall 8. Z. R., Schuhmacher, 32Jahre, Internierung: 23. VII. bis 1. VIII. 1916. Vater Potator. Pat. geborener Trentiner, arbe'tete als Schuster in der Schweiz und im Ausland. Er trank sehr viel Bier, Wein usw., besonders aber Schnaps. Seine Frau, eine Spelunkenkellnerin, trank aueh. Da die Frau ibm untreu war, lebten die Eheleute getrennt. Am 20. VII. 1916, naehdem er 3--41 Bier und 3 - 4 Schn~pse getrunken hatte, fiihlte er, wie ihm Wasser aus der Man- sarde angespritzt wurde, so dab es ihn stark juckte. Die Verfolger bliesen ihm auch mit Blasb/ilgen giftige Gase und stinkende Fliissigkeiten ins Zimmer, es war, wie wenn ihm Glassplitter eingerieben wiirden, dann war es ihm, wie wenn heil~e, bet~ubende D/~mpfe und ~Fliissigkeiten auf ihn eindringen wtirden, yon hinten durch den Mund oder dm Ohren, er spiirte sie im Bauch und yon da aufsteigend im Mund, so dal~ er im Halse ganz trocken wurde. Am andern Tag arbeitete und trank er wieder. Am Abend tauehten die Verfolgungsideen wieder auf, dazu auch zusammenh/ingende GehSrshalluzinationen. Am 23. VII. 1916 wegen Alkohol- wahnsinns ins BurghSlzli eingeliefert. Hier wollte er zuerst keine Auskunft geben. Nachher erz~hlte der gut orientierte Pat. seine Halluzinationen und Wahnideen in i~ngstlich-euphorischer Stimmung. Am 31. VII. 1916 geheilt entlassen unter Anzeige an das Waisenamt mit der Bitte um einen Beistand.

Katamnese yore Beistand: Z. war immer ein Sonderling, der sich yon den andem Leuten abschloB. Freunde hatte er keine, nur Konkneipanten. Er war sonst gutmiitig. Seine Stellen wechselte er nicht hi~ufig, meist wurde ihm ge- kiindigt wegen seiner Tmnksucht. Gegen den Beistand war er stets anst~ndig. Dieser machte ihm oft Vorstellungen, wenn er sich nicht bessere, so werde er polizeilich abgeschoben und danu in seiner Heimat ins Heer gesteckt, wovor er sieh sehr ftirchtete. Sehon seit der Beistand ihn kannte, ffihlte Z. sich immer un- sieher, beobaehtet, er ,,glaubte, der Teufel sitze ihm auf dem Naeken". ~]ber Halluzinationen soll er sich nie direkt ge~tuBert haben, hingegen fiber Verfolgungs- ideen. Eines Tages muB er sich ins Ausland gefltiehtet haben; der Beistand nimmt an, weil er sieh verfolgt glaubte.

I m Fal l 7 t r e t en KSrperha l luz ina t inen n icht unbe de u t e nd hervor. Anf~nglich h6ren wir hauptsachl ich yon Verfolgungsideen u n d daraus

sich entwickelnder Angst. I m Verlaufe der Kr a nkhe i t jedoch t auchen

zahlreiche KSrperhal luz inat ionen auf: Man spri tzt ihm Acetylen an,

so dab es ihn auf der H a u t juckt , er wird elektrisch beleuchtet usw. Auch eine Andeu tung yon Gr61lenwahn ist da: er k a n n den elektrischen S t rom

durch seine Sehkraft zuriickweichen lassen. Gegen den Schlul~ des An- falles, je mehr die zusammenh~ngenden Geh6rshal luzinat ionen zuriick-

t reten, s ind die K6rperha l luz ina t ionen sogar im Vordergrund. Bei der

relat iv nu r kurzen Beobachtungsdauer des K r a n k e n und dem Fehlen

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 399

jeder K a t a m n e s e kSnnen wir in diesem Fal le kein Urte i l fiber die ganze PersSnl iehkei t in psyehopathologischer Beziehung abgeben. Dagegen berecht ig t uns Fa l l 8 zu einer be s t immten Annahme, und zwar der, dal~ es sich u m Schizophrenie handel te . Hie r machen die KSrperha l luz i - na t ionen gleich die E in le i tung : Aus der Mansarde und yon der Sei te wird ihm Wasse r angespr i tz t , so dal~ es ihn s t a rk beii~t; ers t nachher k o m m e n die eharak te r i s t i schen GehSrshal luz ina t ionen eines Alkohol- wahnsinns und der Verfolgungswahn. Aber auch spi~ter wieder t r e t en die KSrper - und Geruchsha l luz ina t ionen s t a rk he rvor : Er r iecht gif t ige

Gase und Fl i iss igkei ten, sie dr ingen ihm dureh Mund und Ohren, er

spfir t sie im Bauch und Mund, b e k o m m t d a v o n einen t rockenen Hals , k a n n fas t n ieh t mehr a tmen. Zu diesen S y m p t o m e n gesellen sich noch die wicht igen Mi t te i lungen des Beis tandes , der den P a t i e n t e n als einen Sonder l ing bezeichnete, dessert Schrul len nur durch den Alkoho l imus e twas ve rdeck t waren. SchlieBlich legt uns der d a u e r n d pa rano ide Charak te r des P a t i e n t e n die Diagnose Schizophrenic nahe. Man kSnnte al lerdings denken, es hand le sich bei d iesem chronisch pa rano iden Zu- s t and um sin Wei te rha l luz in ie ren im Sinne sines chronischen Alkohol- wahnsinns. Wir f inden aber in dieser Zei t keine ausgesprochenen a lko- holisch zusammenhi~ngenden Ha l luz ina t ionen mehr, sondern P a t i e n t f i ihl t sieh viel mehr in sehizophrener Weise von al len Sei ten bedri~ngt

und verfolgt .

Fall 9. B. Fr., Goldschmied, 44 Jahre, interniert: 2. bis 19. XI. 1898. ~ber die Jugend des Pat. ist niehts bekannt. 2 Vettern mtitterlicherseits starben in einer Irrenanstalt. Mit seiner Frau soll Pat. gut gelebt haben. Er handelte mit Wein, MSbeln, Uhren. Er trank viel, jedoch will man lhn nie betrunken gesehen haben. Er war furchtsam. Ein Polizist, der ihn schon seit Jahren kannte, ~uBerte sich tiber den Pat. : ,,Ich halte ihn ftir einen duramen Kerl, der nie reeht mit den Leuten auskommen konnte, selbst mit seinen eigenen Landsleuten (Italienern) nieht. Er war viel in Wirtschaften, saB darin jedoch immer nur stumpfsinnig herum." Am 30. IX. 1898 kam B., der wegen Diebstahl angeklagt war, in Untersuehungs- haft. Bei der Verhaftung war er sehr aufgeregt, im Gef~nguis ]edoch anfangs ruhig. Da ihm Extraverpflegung gestattet war, bekam er t~glich 1,1 1 schweren italienischen Wein. Am 21. X. blieb der erwartete Besuch seiner Frau aus. Dann ring er an zu li~rmen. Als der Gefangenwart am 26. X. 1898 zu ihm kam, war er fertig angezogen und behauptete, er kSnne hinaus, berichtete von KSnig und Konsul. Ferner sah er allerlei Gestalten durchs Oberlicht kommen, sah Feuer an der Decke. Er spektakelte, weswegen er in die Dunkelzelle versetzt wurde, wo er keinen Wein bekam. Da er dort 2 Tage lang ruhig war, wurde er wieder in die gewShnliche Zelle zuriickversetzt und bekam wieder Wein. Am gleichen Tag wurde er wieder laut, zerbrach den Stuhl usw. Er rief, er verbrenne, er werde ge- tStet; dabei zitterte er am ganzen Leib und schwitzte. Daneben war er offenbar gut orientiert, erkannte den Gefangenwart sofort und war nicht gewaltt~tig gegen ihn. Dann wurde er wieder ruhig, redete jedoch best~ndig vor sich bin (er kSnne fort usw.). Er bekam nun keinen Wein mehr. Einen Tag nachher war er nachts wieder laut, telephonierte an der Dampfleitung, horehte an der Wand. Am 2. XI. 1898 ins BurghSlzli eingeliefert. Bei der Aufnahme: Gro]er, kraftiger Mann, Zunge

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400 M. Wolfensberger: Der Alkoholwahnsinn (akute HaUuzinose der Trinker)

belegt, Tremor der Zunge und der H~nde. Sehnen- und Hautreflexe schwach. Machte einen verstSrten Eindruck, Bulbi prominent, Gesicht gerStet. Er sprach sehr rasch und undeutlich, trotz Aufforderung zum Gegenteil. Wollte kein Wort deutsch sprechen, verstand abet genau, wenn man deutsch zu ihm spraeh. Schlaf in der ersten Nacht gut. Als man ihn am Morgen weekte, fuhrer zusammen und rief um Hilfe. Er wollte best~ndig dem Konsul und dem KSnig yon Italien tele- phonieren, woUte zu der KSnigin, der Tochter Viktor Emanuels, die hier im ttause seien. Allm~hlich traten auch zahlreiche Vergiftungsideen, verbunden mit Ge- ruchs-, Geschmaeks- und Hauthalluzinationen auf. Ein Hautarzt aus der Stadt habe ihm Arsenik ins Essen getan usw., er verweigerte deshalb das Essen. Die W~rter und der Abteilungsarzt seien auch bestochen. Seine Krankheit negierte er. Dann hSrte er w'~eder: ,,Es brennt, es brennt, um Hilfe!" Einmal, wie er sieh mit seinen Stimmen wieder in Verbindung setzte, polterte er an die Tiir und rief mehimals: ,,Io sono qua, B. No. 2." Dabei sah er weder kongestioniert noch ~ngst- lich aus und lieB sich beruhigen. Am 12. XI. fiihlte er sieh besser und sagte, es sei nur eine dumme Idee gewesen mit dem KSnig und der K6nigin. Am 15. XI. ~uBerte er wieder Verfolgungsideen. Er habe Kopfweh, man babe mit ihm naehts Versuche mit Nacbtwandeln, Somnambulismus und Maguetismus gemaeht. Am 19. XI. 1898 geheilt naeh Hause entlassen. Katamnese nieht mSglieh.

Wir sehen hier bei einem heredit~r Belasteten anl~,Blich l~ngerer Untersuchungshaft ohne Abstinenz unter dem Einflul~ des Alkoholismus einen Aufregungszustand eintreten. Patient ring an zu l~rmen, war anscheinend desorientiert, hatte Halluzinationen des Gesichts und weniger deutlich des GehSrs. Dieser delirante Zustand besserte sich auf Alkoholentzug, um nach erneutem Alkoholgenuf wieder aufzutreten. Auff~llig ist jedoch, da f in diesem teilweise an Delirium tremens er- innernden Zustand keine vollst~ndige Desorientiertheit eintrat. Wohl ist Patient scheinbar fiber seinen Aufenthaltsort nicht vollst~ndig klar. In Wirklichkeit liegen aber die Verhi~ltnisse so: Er hat in sich den Wunsch, aus dem Gef~ngnis entlassen zu werden, offenbar auch, beim Konsul und KSnig darum einzukommen. Und nun wird aus diesem Wunsch in seinen Halluzinationen Wirklichkeit gemacht; aus seinen Stimmen erfahrt er, daf er aus dem Gef~ngnis entlassen werden kSnne, Konsul und KSnig haben ihn begnadigt oder freigesprochen (Haftkomplex). So richtet er sich dann auch ein: er macht sich vollst~tndig bereit ffir die Entlassung und fiir die Freisprechung. Wie dann abet der Gefi~ngnis- wart zu ihm in die Zelle kommt, erkennt er diesen sofort, u n d e r weir genau, da f er nur der gewShnliche, inhaftierte B. ist, der nicht hinaus- kann; denn er l~ft sich vom Gefangenwart beruhigen. Dies beweist uns aber, daft hier keine alkoholische OrientierungsstSrung im Sinne eines Deliriums tremens vorlag, dab wit iiberhaupt nicht mit einer rein alko- holischen Psychose, sondern mit einer Kombination mit einer Haft. psyehose zu tun haben. Die Halluzinationen haben alierdings alkoholische F~rbung, sie richten sich direkt an den Patienten, und dieser setzt sich auch mit denselben in Verbindung. Jedoch sind die Halluzinationen weder ffir Delirium tremens noch ffir Alkoholwahnsinn typisch. Die

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 401

GehSrshal luz ina t ionen s ind freilich zusammenhi~ngender als bei e iner einfachen, unkompl iz ie r t en Schizophrenie; S t imme n wie ,,es b renn t , es brennt , um Hil fe" lieBen al lerdings an Alkoholwahns inn de nke n ;

jedoch wissen wir ja , dab gerade un te r dem EinfluB des Alkohols aueh andersar t ige Ha l luz ina t ionen zusammenh~ngend werden kSnnen. DaB es sich hier tatsi~chlich u m eine Haf tpsychose behande l t ha t , daf i i r sprechen auch die i ibr igen Symptome . P a t i e n t woll te zuers t kein W o r t deutsch sprechen, t r o t z d e m er sehr gut deutsch v e r s t a n d (Gawser?). Ers t allmi~hlich t r a t e n auch Geschmacksha l luz ina t ionen und Verfolgungs- ideen auf. Die Wahn ideen sind k a t a t h y m e r Art . Zuers t r iecht P a t i e n t Chloroform, mi t dem m a n ihn verg i f ten will. Dann a b e t t r i t t haup t - s~chlich ein K o m p l e x auf einen Arzt , der den P a t i e n t frf iher wegen GonorrhSe behandel te , in den Vordergrund ; dieser selbst h a t ihm Arsenik

ins Essen ge tan und die Wi~rter, den Ab te i l ungsa rz t und noch andere Leute dazu bestochen, ihn zu vergif ten. Auch KSrpe rha l luz ina t ionen t r e t en auf: Man mache ihm nachts Versuche mi t N a c h tw a nde ln und Magnet ismus. Bei seinen AuBerungen war er fe rner dermaBen affekt- los, dab wir im Zusammenhang mi t der eigentf imlich b iza r ren Vor- geschichte da ran denken mfissen, es habe sich u m eine auf der Basis e iner l a t en ten Schizophrenie aufge t re tene Haf tpsychose gehandel t , die jedoch dureh Alkohol ismus kompl iz ie r t war u n d in ihrem Aussehen dadurch de ra r t modif iz ier t war, dab das K r a n k h e i t s b i l d e inem Alko-

holwahnsinn gleich sah.

Fall 10. H., Marie, Hausfrau, 45Jahre. Interniert: 6. VI. bis 9. VII. 1909. Der Vater war Fuhrmann, starb 65jghrig an einer Leberkrankheit. Pat. war frtiher immer gesund. Die Schule hatte sie nie besucht, sie verdiente yon 12 Jahren an ihr Brot als Kinderm~dchen. Schon als Kind frank sie regelmi~Big Alkohol, in sp~teren Jahren sehr viel Schnaps, Most, Rum nsw. Ihr Mann war Trinker und syphiliskrank. Von 4 Kindern lebt nur ein Sohn. Pat. selbst war immer gesund, arbeitete als W~scherin. Man war zufrieden mit ihr. Sie schlief ilnmer unruhig, hatte TrAume, schrie dann plStzlich. Im April 1909 ring sie an, in der Nacht Stimmen zu hSren; dabei zitterte sie am ganzen Leib. I)iese Stimmen lieBen ihr keine Ruhe mehr: Mehrere Personen - - Feinde - - Anarchisten; die mit der Polizei im Btindnis standen, beschimpften und verfolgten sie, wollten Sie tSten. Sie wurde bei einem Suicidversuch erwischt und deshalb am 6. VI. 1909 ins Burg- hSlzli eingeliefert. Hier hatte sie GehSrshalluzinationen und Veffolgungsideen im Sinne eines Alkoholwahnsinns, hie Gesichts- und KSrperhalluzinationen. Bei der Aufnahme war sie stumpf, gleichgiiltig, negativistisch, mit steifem Ge- sichtsausdmck, lieB sich kSrperlich nicht untersuchen. Orientierung ungestSrt. Die gelesene Fabel erzghlte sie mit dem Bediirfnis der Alkoholiker zu Zusgtzen und kausaler Begrtindung. Die Fragen erfaBte sie rasch. Nach ca. 14 Tagen waren die Halluzinationen verschwunden. Es ring nun abet ihr sonderbares, eigensinniges Benehmen an, aufzufallen. Sie nahm eines Tages einer andern Patientin ein Stiick Fleisch weg, versteckte es in einem Papier und aft es am Abend. Sie begriff nicht, dab sich dies nicht gehSre, wurde grob und regte sich ziemlich stark auf. Am andern Tag nahm sie ein Messer aus der Ktiche weg und wollte es nicht mehr her- geben. Der gemiitliche Rapport mit ihr wurde immer geringer. Hier und da weinte

Z. f. d. g. Neur. u. Psych . L X X X I I . 2 6

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sie auch plStzlich ohne Ursache, daneben kiimmerte sie sich nicht darum, dab sie in einem Zimmer eingeschlossen wurde. Sie hatte weder Einsieht in die Un- richtigkeit ihrer Handlungen noch speziell in den Alkoholabus. Auf Wunsch ihres Mannes wurde sie am 9. VII. 1909 unter der Diagnose Mkoholwahnsinn auf Dementia praecox gebessert entlassen. Jetziger Aufenthaltsort war nieht zu ermitteln.

Fall 11. S., X., Modelleur, 38 Jahre. Interniert: 5. XII. bis 15. XII. 1910. Der Vater habe etwas getrunken, war sonst gutherzig. Pat. war in der Schule fleiBig und geschickt, ein ttichtiger Schiiler an tier Kunstgewerbeschule, wo er sieh fiir ModellgieSerei und Bildhauerei ausbildete. Er land jedoch in der Schweiz keine riehtige Anstellung, und in die Fremde getraute er sich nicht. So versah er schlieBlich nur Handlangerdienste (l) in GieBereien. Bis vor 2 Jahren sei er solid gewesen und habe viel gelesen, um sich weiterzubilden. Im Hause war er recht. ])ann kam er in schleehte Gesellsehaft, betrank sich oft mit Schnaps, Wein, Bier. Ntiehtern schiimte er sich dann, verfiel abet immer wieder dem Trunk. In der letzten Zeit vor der Internierung gehi~ufte Exzesse, er trank alles durcheinander. ])ann entwiekelte sieh naeh einer kurzen Zeit yon Unwohlsein ein typiseher An- fall yon Alkoholwahnsinn. Am 5. XII. 1910 Einlieferung ins BurghSlzli. KSrper- lieh: Tremor der Hi~nde und der Zunge. Sehnenreflexe stark gesteigert. Affekt euphorisch-i~ngstlieh. Er hatte zusammenhi~ngende Geh6rshalluzinationen und Verfolgungsideen, sah jedoeh auch Panther, L6wen, Tiger, keine kleinen Tiere. Keine Kfrperhalluzinationen. Spiiter war er yon labiler Affektiviti~t, hatte selbst Einsicht, verfluchte das Saufen, bekam Tranen in die Augen beim Gedanken an seine Eltern. Orientierung ungestfrt. Naeh 10 Tagen, am 15. XII. 1910 in eine heimatliche Anstalt transferiert. Auch hier war Pat. zeitlieh und 5rtlich gut orientiert. Auf alle Fragen gab er knappe, kurze Antworten, behauptete, keine Stimmen mehr zu hSren, er habe tiberhaupt solche hie geh6rt, sonclern die Arzte im Burghflzli haben ihm nur solche zu suggerieren versueht. Da ring er dann sehr erregt auf seine friiheren _~rzte an zu schimpfen, er sei nieht krank, auch kein Alkoholiker, man habe ihn im Burghflzli geisteskrank maehen wollen. Dann war er zeitweise wieder ruhiger, hatte guten Schlaf und Appetit. Er ring auch an zu arbeiten, hatte aber jedenfalls oft Stimmen, fragte man ihn aber darnaeh, so wurde er erregt und sehimpfte. Der Blick war miBtrauisch und stechend. Man konnfr in keinen Rapport zu ihm kommen. Gegen Ermahnungen wegen seiner Trunksueht zeigte er sieh sehr empfindlich, hatte keine Einsicht fiir seinen Alko- holismus und aueh nicht ftir seine friihere Erkrankung. Sobald man im Gespriich auf seine Komplexe stieB, so zeigte er deutliehe Sperrungen. Am 1. III. 1911 entlassen. Pat. is~ 1913 an unbekannter Krankheit gestorben.

Fall 12. B., Hch., Holzseheiter, 39 Jahre. Interniert: 19. IV. 1912 bis 4. III. 1914. Vater und Grol3vater viiterlicherseits Potatoren. Pat. war psychiseh debil, jedoeh gut erziehbar. Mit 14 Jahren kam er in eine GieBerei, wo er zu trinken an- ring. Er war dann abwechselnd in vielen Fabriken angestellt, trank immer mehr: Am Morgen 4---5 Schn~pse, 10--12 Flasehen Bier pro Tag, wurde dadurch appetit- los. Zweimal war er vorbestraft wegen Sittliehkeitsvergehen an minderj~hrigen M/~dehen. Spi~ter wurde er Holzscheiter. Sonst hatte man auBer dem Potus nie etwas Krankhaftes an ibm bemerkt, bis er dann auf einmal mehrere Wochen gar niehts mehr arbeitete, best/indig herumtrank und eines Abends plStzlich Halluzi- nationen und Wahnideen eines Alkoholwahnsinns bekam und deshalb am 19. IV. 1912 ins BurghSlzli eingeliefert wurde. Hier fiel sehon bei der Aufnahme die steife Mimik auf, trotz der ~ngstliehen innern Erregung infolge seiner konstanten Halluzi- nationen und Verfolgungsideen. Krankheitseinsieht hatte er nicht, aueh nicht, dal~ der Alkohol sehuld sein k6nnte. Im Laufe seines langen Anstaltsaufenthaltes

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und seine Beziehungen za den Schizophrenien. 403

trat immer mehr bei ihm eine affektive VerblSdung hervor. Zeitweise arbeitete er etwas, sal~ aber in der freien Zeit stets interesselos in einer Ecke herum. Diese seine Interesselosigkeit und Wurstigkeit erstreckte sich a]lm/~hlich nicht mehr nur auf seine Umgebung, sonde1~q auch auf seine eigene Person. Er war gar nieht mehr zur Arbeit anzuhalten, wurde sehr widerspenstig, lag meist vollstgndig apa- thisch in seinem Bert, es war ihm iiberhaupt gleiehgiiltig, wo er war. Zeitweise beschimpfte er die _~rzte und drohte ihnen, wollte auch keine Medizin zu sich nehme~. Seine Mimik blieb stets gleich steif, E!nige Male verweehselte er Per- sonen. Seine Stimmen wurden mit der Zeit weniger aufdringlieh, verschwanden aber nie. Eine are Lungenphthise machte zu dieser Zeit starke Fortschritte, am 4. III. 1914 erlag er als Katatoniker in der Anstalt dieser Krankheit.

Diese 3 Falle gleiehen sich in vielen Stricken sehr. Fall 11 nud 12 s tammen aus Trinkerfamflien, alle 3 werden selber zu Trinkern und erkranken an ffir Alkoholwahnsinn typischen Symptomen. Bei Fall l l t rcten aul~erdem noch einzelne Gesiehtshalluzinationen auf: Panther, LSwen, Tiger. KSrperhalluzinationen finden wir bei keinem dieser Patienten. Die Affektiviti~t war nur bei Fall 11 euphorisch-i~ngstlich, in beiden anderen Fi~llen jedoch ausgesproehen steif; die Patienten waren stumpf, gleichgiiltig, Fall 10 negativistisch und wollte sich nieht untersuchen lassen. Dieses sonderbare, eigenwillige, trotzige Gebaren t ra t im Laufe der Beobachtung bei allen dreien immer deutlicher hervor. Bei Fall 10 linden wir auch li~ppische Einfi~lle: Pat ient stiehlt einer Naehbarin das Fleisch, sie n immt ohne Grund ein Messer zu sieh und will es nicht mehr hergeben. Die Einsicht frir die Unschickliehkcit dieser Handlungen geht ihr verloren, sie sehimpft bei der Warnung. Der psyehische Rappor t mit ihr geht verloren, sie wird apathisch. Daneben bestehen inadii.quate Gefrihlsreaktionen: sie fi~ngt oft ohne Grund an zu weinen. J~hnlieh im Fall 11. Auch hier sehen wir ein recht- haberisches, eigensinniges, trotziges Gebaren. Pat ient spielt den Be- leidigten, schimpft auf die J~rzte, hat keine Krankheitseinsicht, die Krankheit sei ibm suggcriert worden. Daneben bestehen deutliche Sperrungen. I m Fall 12 sind alle diese Symptome noch deutlicher. Patient ist interesselos, apathisch, unzugi~nglich, negativistisch, kann nicht zur Arbeit angehalten werden, hockt nach katatonischer Art in einer Ecke herum oder liegt apathisch in sei~em Bert. Wi~hrend bci den letzten beiden Fallen die Halluzinationen nicht mehr direkt zu- gegeben wurden, bestehen sie hier noch weiter, sie haben aber den zu- sammenhi~ngenden Charakter verloren. Bei allen 3 Figllen Iinden wir also im Laufe der Beobachtung eine affektive und assoziative Vcr- blSdung, wie sie fiir Schizophrenie typisch ist, dazu gesellen sich zum Teil katatone, zum Teil paranoide Symptome. Es besteht darum kein Zweifel, dal~ wir auch hier Schizophrcne vor uns haben.

Fall 13. H., Rud., gandlanger, 50 Jahre. Interniert: 3. XII. 1908 bis 8. I. 1909. Die Eltern des Pat. sollen solid gewesen sein. Pat. war stets ein sonder- barer Mensch, der auch zu Hause schwer zu leiten war; er liebte es, mit sich allein

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zu sein. Schon frtih fiel es seinen Eltern und Bekannten auf, daft er zeitweise ,,nicht reeht im Kopfe sein mullte", er hat te dann einen verstSrten, steifen Blick. Er glaubte schon in der Jugend, die Leute haben etwas gegen ihn, legen ihm Hinder- nisse in den Weg. Aueh vermutete er einmal Gift im Kaffee. Mit 19 Jahren floh er von zu Hause, naehdem er mit der Mutter eine kleine Zwistigkeit gehabt hatte, und lieB sich in die franzSsisehe Fremdenlegion anwerben. Weil er noch nicht majorenn war, konnte er zuriiekgeholt werden. Bisher hat te er nicht getrunken. Mit 22 Jahren heiratete er eine frtthere Schulfreundin. Die Ehe war unglticklieh. 1885 lief Pat. einfach yon zu Hause weg, ohne der Frau oder sonst jemandem etwas davon zu sagen, machte sich auf die Wanderschaft, gedachte einfach dann mit einer andern Frau in Afrika zu arbeiten. In Tonkin erwarb er sich als Fremden- legion/ir Malaria. Er begann nun auch zu trinken. Nach 4 Jahren kam er wieder zurtick und wurde st~dtischer Arbeiter. Ins Wirtshaus g inge r fast nie, trank je- doeh zu Hause und hatte zu Hause schon mehrmals eine Psychose mit Gesichts- und GehSrshalluzinationen durchgemacht. Der Zustand besserte sich zuweilen bald wieder. - - Am 30. XI. 1908 wurde er appetitlos, /~ngstlich, erkrankte an Alkoholwahnsinn, gab 3 Schiisse auf sich ab, jedoch ohne zu treffen, und wurde deshalb am 3. XII. 1908 ins BurghSlzli eingeliefert. Bei der Aufnahme fiel seine steife Affektivit~t auf: Wiihrend der ganzen Zeit dieselbe unver~nderliche, liebenswiirdige Euphorie, selbst wenn man ihm bemidigende Dinge sagte, auch wie er yon seinem Selbstmordversuch erziihlte. KSrperlich: Etwas belegte Zunge, kein Tremor, Hypalgesie, neuritische Erscheinungen: Muskel- und Nervenschmerzen, Orientierung ungestSrt. Auch KSrperhalluzinationen waren vorhanden: Er sptirte einen Stachel im Leibe, man machte ihm, dab er den Arm so sonderbar bewege. Am 8. I. 1909 auf Dr~ngen der Frau gebessert entlassen.

Katamnese yon der Frau: Zu Hause war aber der Zustand nicht besser. Er ftth]te sich fiberall verfolgt: ,,Die Leute auf der StraBe sahen ihn so seltsam an und lachten ihn aus." Zeitweise besserte sich der Zustand, so dal~ Pat. wieder arbeiten konnte. Dann tauchten aber die Verfolgungsideen bald wieder auf, je- doch hSrte er keine zusammenhiingenden Stimmen mehr, er wul~te nie zu sagen, was er hSre, hingegen wandte er sich oft in gereiztem, befehlendem oder drohendem Ton an seine Stimmen, wobei er sich nachts z. B. manchmal plStzlich ganz gerade aufrichtete. In der Wohnung sprach er best~ndig mit sich und seinen Stimmen, manchmal gebarte er sich als Offizier, kommandierte und exerzierte dann in der Wohnung. Er selbst machte dabei allerhand milit~rische Bewegungen. Wenn seine Frau kochte, so wollte er stets dabei sein, damit ihm nichts ins Essen getan werde; dennoch roch und schmeckte das Essen immer nach Gift. Mehrmala g i n g e r der Frau und ihrer Sehwester an den Hals und wollte sie erwtirgen. Auch wollte er sie einige Male totschlagen. Er ffihlte, wie man seinen KSrper sch/inde, iiberall mache man ibm LScher in den Leib, in die Beine, in die Lenden, manehmal komme ein Mann und mache ibm plStzlieh ein Loch, ,,trotzdem er doch keine Frau sei". Auf der Stra te fiel er manchmal urn, wurde dann ganz steif und bekam einen ganz stieren Blick, keinen Schaum vor dem Mund; naehher machte er einen Skandal und beschuldigte hinter ibm herkommende Leute, sie haben ihn hinterher umge- stoBen. 0fters stellte er sich an einen bestimmten Ort, stierte dann lange Zeit an denselben Punkt hin, auch machte er zeitweise stets gleichartige, zuckende Bewegungen mit der Schulter und dem Kopf, knallte dazu mit den Fingern. Zeit- weise nahm er die Arbeit wieder auf. Der Alkoholismus bestand in unverminderter St/irke fort. Jedoch als sich Pat. schlieBlich immer schw~cher fiihlte, h5rte er auf zu trinken. Die Frau finder, dal~ der Verfolgungswahn und die Halluzinationen unveri~ndert weit'er bestanden, ob Pat. trank cder abstinent war.

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and seine Beziehungen zu den Sehizophrenien. :L05

Sehon aus der Jugend dieses Pat ienten vernehmen wit, dal~ er geistig abnorm war : eigenartiger, trotziger Charakter, zeitweise verstSrten, steifen Blick, Autismus, Beziehungswahn, schon angedeuteter Ver- folgungswahn. I m Alter der Verehelichung Unvertr~glichkeit ; dann l~uft er einfach in die Welt hinaus, , ,nach Afrika". Dann wird er Alko- holiker und erkrankt schlieBlich an Alkoholwahnsinn, bei dem jedoch die Affektlosigkeit und die zahlreichen KSrperhal luzinat ionen auffallen. Nachher ents teht ein chronisch paranoider Zustand, dem sich auch einzelne ka ta tone Symptome beigesellen. Auch hier sind wieder die zahlreichen KSrperhal luzinat ionen hervorzuheben, ferner die auf einem Komplex gegen die F rau sich aufbauenden Verfolgungswahnidcen, die Pa t ien t zur Gewaltti~tigkeit und Gemeingef~hrlichkeit ffihren. Wir sehen schlieBlich eine schizophrene affektive und intellektuelle Ver- blSdung. Bemerkenswert ist in diesem Falle besonders, daB die Schizo- phrenie hier schon vor dem Auftre ten des Alkoholismus sicher diagno- stiziert werden konnte, dab wir also bier ein Schulbeispiel vor uns haben, das uns zeigt, wie ein akuter alkoholischer Aufregungszustand yore charakterist ischen Bilde des Alkoholwahnsinns der zugrunde liegenden Sehizophrenie sich aufpfropft .

Fall 14. B., Jos., Fuhrhalter, 45 Jahre. Internierungen: a) 25. XI. bis 15. XII. 1914, b) 21. XII. bis 30. XII. 1914, c) 17. V. bis 22. V. 1915. In der Familie sind Psychosen: Eine Schwester soll in einer Irrenanstalt sein, ein Bruder star}) in der Fremdenlegion. Pat. war yon m~Biger Intelligenz, wurde nach der Schule Lauf- bursche, kam bald in eine Brauerei, wo er anfing zu trinken. Sparer arbeitete er in Fuhrhaltereien und Brauereien, blieb an den Stellen 1--6 Jahre. Mit 23 Jahren heiratete er eine 10 Jahre ~ltere Frau. Die Frau schilderte ihren Mann als einen stets eigenttimlichen Menschen, der still fiir sich lebte, fast keine Kameraden hatte, der stets sehr empfindlich und reizbar war, hie so herzlich frShlich sein konnte, sondern framer in etwas gedriickter Stimmung lebte. Dazu habe er ~fiel getrunken und die Frau oft im Rausche geschlagen. Im Juni 1914 liei~ Pat. ein Pferd beschlagen; dieses bekam nachher Starrkrampf. Nun ring Pat. an, 5ffentlich den Hausmeister dafiir zu besehuldigen. Ende August 1914 bekam Pat. dann dramatische Halluzinationen des GehSrs und Verfolgungswahn. Darauf am 25. XI. 1914 ins BurghSlzli eingeliefert, nachdem er mehrmals die Hilfe der Polizei teleo phonisch verlangt hatte. In der Anstalt hatte er wieder die obigen Halluzins- tionen, w~hnte auch, seine Verfolger kSnnten mit komplizierten elektrischen An- lagen framer alles sehen und hSren, was er hier rue. Diesen elektrischen Strom hatte er auch deutlich in den Augen gespiirt. Auff~llig war, dab Pat. alle seine tfalluzinationen, die doch sein Leben in hohem Mal~e bedrohten, absolut affektlos und in gleichgiiltigem, langsamem Tone erz~hlte. Aueh Eifersuchtswahn auf die Frau tauchte auf. Am 15. XII. 1914 hatte er die Halluzinationen und Wahnideen korrigiert und auch zugegeben, dab dies yore Trinken komme. Auf Wunsch der Frau gebessert entlassen. Am 22. XII. 1914 mu~te er jedoch schon wieder inter. niert werden wegen derselben ttalluzinationen und Wahnideen. Viel ausgesproehe- net als das letztema] trat jetzt aber der Eifersuchtswahn auf seine Frau hervor: Er hatte yon einem Fr~tulein A. durch die Stimmen erfahren, sie habe durch eine Spalte im Fensterladen beobachten kSnnen, wie der ttausmeister mit des Pat. Frau sexue]] verkehrte. ])ieser Eifersuchtswahn wurde zum Erkl~rungswahn

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fiir seine Verfolgungsideen: Weil der Hausmeister mit seiner Frau ein Verh~iltnis habe, hiitte er eben ein Komplott gegrtindet, um den Pat. zu t6ten. Auch diesmal war Pat. beim Erziihlen aller dieser Geschichten vo]lstRndig ohne Aifekt. Am 30. XII. 1914 wurde er in seine heimatliche Anstalt transferiert. Dort soil der- selbe Zustand welter bestanden haben. In dieser Anstalt blieb er bis 1. III. I915. Naehher ging es zu Hause anfangs gut, er war jedoch immer sehr verschlossen, sprach fast gar nichts, gab auf Fragen nur kurze Antwort. Er ring wieder an zu trinken, erkrankte wieder und wurde am 17. V. 1915 wieder ins BurghSlzli ein- gehefert. Er hatte zu Hause in seinem Spezereiladen verwirrt geredet, in seinen Halluzinationen mit andern Leuten telephoniert und Antwort bekommen. In der Anstalt erz~hlte er: In der heimatlichen Anstalt sei er im Leichenhaus 2 Tage lebendig begraben gewesen und habe dort einen Apparat erfunden, der alles sagen konnte, was anderswo vor sich geht. Er habe auf die Maschine ein Patent ge- nommen und daraufhin bei einer Ztiricher Bank einen Kredit bekommen. Diese Masehine habe nun seine Frau dem Hausmeister fiir eine Million verkauft. Starker Eifersuchtswahn. Am 22. V. 1915 wurde er zum zweitenmal in seine Heimat tiberfiihrt. Hier derselbe Zustand. Anfangs arbeitete er wenig, sp~ter fleiBig. Krankheitseinsicht keine. KSrperhaUuzinationen: ,,Er werde yon Basel und Ztiiich aus mit elektrischem Starkstrom gequMt." Der Strom dringe an allen KSrperstellen ein. fahre durch den KSrper, verursache ihm heftige, qu~tlende Schmer- zen; man spreehe mit ihm. Am 22. VII. 1915 gebessert entlassen. (Diagnose: ,,Alkoholhalluzinose mit Paranoid".)

Katamnese: Pat. erkl~irt gleich zu Beginn der Untersuchung, er sei nie geistes- krank gewesen. Seine Frau sei schuld an seiner Intemierung gewesen, sie habe ihm, um ungenierter mit dem Hausherrn ein Verh~ltnis haben zu kSnnen, Gift in die Getranke getan; davon babe er Kopfweh bekommen und sei dann als geistes- krank erkl~rt worden. Auch haben seine Frau und der Hausmeister die SanitKts- polizisten, die ihn abholen muBten, bestochen, den Pat. durchzuprtigeln; auf diesc Weise sei ihm der Hirnseh~tdel eingeschlagen worden. Er habe dann Klage er- hoben; aber das sei eben im Sand verlaufen, weft das Gericht bestochen worden sei. Die Frau habe sieh auch - - das habe er erst letzthin erfahren, aus seinem Gelde eine Lebensversicherung machen lassen, die jetzt f~tllig werde. Er kSnne nattirlich wieder nichts machen, weil die Gerichte nieht auf ihn hfren. In del heimatlichen Anstalt sei er von Basel aus mit elektrischem Strom und Magnetismus gequ~lt worden. Es miisse dort ein Komplott, bestehend aus Polizisten und einem Fraulein, sich gebildet haben. Mittelst drahtloser Telegraphie riefen ihm diese Leute alle Schimpfnamen nach und qu~lten ihn mit elektrisehem Strom so sehr, dab er am Morgen jeweils glaubte, den Qualen erliegen zu mtissen. Diese Stimmen aus Basel hSrt Pat. jetzt noch ab und zu. KSrperhalluzinationen werden anf~ng- lich nieht zugegeben; dann behauptet er aber, die Gesellschaft in Basel habe es auch zustande gebracht, dab er jetzt 5fters Blur spucken miisse; auch sei er scit- her ganz voll Luft, die Basler machen ihm manchmal, dab ihm ganz viel Luft in den Hals aufsteige. Pat. hMt mit aller Z~ihigkeit an der Realit~t aller dieser Dinge lest, absolut keine Krankheitseinsicht. Sehr deutlich paranoider Blick. Pat. arbeitet als TaglShner.

Wir sehen hier also eine typische paranoide Schizophrenie sich ent- wickeln. Pa t i en t ist herediti~r belastet ; schon friihzeitig zeigen sich

bei ihm Veranderungen des Charakters, die in die Rich tung Schizo- phrenie hinweisen. D a n n en ts teh t ein chronischer Alkoholismus. Mit 45 J ah ren e rkrank t Pa t i en t an Alkoholwahnsinn, dem sich zahlreiche

KSrperhal luzinat ionen, spi~ter ka t a thymer Beziehungs- und Verfolgungs-

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 407

wahn schizophrener Art beigesellen, wobei hauptsi~chlich ein Komplex

gdgen seine Yrau und den Hausmeis ter in Wi rkung t r i t t . Auch GrSl~en- ideen t re ten auf. Alle diese Symptome bestehen noch jetzt, n u t 'sind

die GehSrshalluzinat ionen zusammenhangslos geworden.

Fall 15. B., Alb., Metzger, 39 Jahr. Intemiert: a) 4. XII. bis 12. XII. 1914 Alkoholmelancholie, b) 10. bis 31. X. 1916 Alkoholwahnsinn, e) 17. XI. 1916 bis 9. I. 1917 Katatonie, d) 23. bis 28. II. 1918 Delirium tremens. Der Vater des Pat. machte mit 75 Jahren Suieid, weft er glaubte, seinen Sohn im Streit getSte~ zu haben. Er soll frfiher nicht traurig, aber j~hzornig gewesen sein. Ein Stief- bruder des Vaters war ein Lump. Die Mutter des Pat. wgr yon frShlichem Gemfit, bis sie zwischen 45 und 50 Jahren schwermfitig wurde, ganz ffir sich lebte, eigene Ideen bekam, so dal~ die Familie nieht mehr mit ihr verkehren konnte. Der Vater der Mutter war Schnapstrinker und starb im l~useh. Von 4 Stiefbrfidern des Pat. starb einer in Amerika, ein zweiter war in Ostindien in englischen Diensten, ein dritter starb an den Folgen der Trunksucht. Ein ~lterer Stiefbruder, ein starker S~ufer, leitete ffir den verstorbenen Vater die Erziehung des Pat. Pat. war ein mitteln~l~iger Schiller; wurde nachher Metzger. Es fiel an ihm in der Jugend niehts Besonderes auf; er war im ganzen frShlich, jedoch nie ilberm~Big. Mit 22 Jahren Heirat. Er war stets j~hzornig. Er betrieb eine Metzgerei mit Wirt- schaft und daneben einen Pferdehande]. Er war oft jeden Abend betrunken. Im Friihjahr 1913 war er ca. einen Monat ohne besonderen Grund sehr traurig, ging deswegen zu Bekannten aufs Land, wo er sieh bald erholte. Im August 1914 kam er aus dam Miiit~rdienst zurilck mit allerlei hypochondrischen Besehwerden, haupts~chlich Sehmerzen auf der Brust, dem Herzen, im Rileken. Er war des- wegen 6 Wochen in einem Spital. Zu Hause ging ihm nachher die Arbeit nicht von der Hand. Er ~uBerte oft Suicidideen. Er trank dann in der Absieht, sich umzu- bringen~ sehr viel Schnaps und LikSr. Die Frau liel~ ihn darauf in das benachbarte Asyl bringen. Hier machte er einen Suicidversuch, wurde deswegen am 4. XII. 1914 ins BurghSlzli eingelieiert. Hier war er stark deprimiert, wfinschte den Tod, hatte Verarmungs- und Versilndigungsideen. Daneben abet auch vereinzelte zusammenh~ngende Halluzinationen des GehSrs und Verfolgungs- und Beziehungs- wahn. Am 12. XII. 1914 wurde er auf D~ngen der Frau entlassen (Diagnose: Alkoholmelancholie). Nach kurzer Zeit trank Pat. wieder mehr denn je, war aber oft darob unglfieklieh. Hier und da ~ui~er~e er Selbstmordgedanken, war auch sonst meist deprimiert. Materielle Sorgen hatte er keine; er hatte jedoch den Wahn, die Leute verg5nnen ihm, dal~ er so viel verdiene. Er setzte sich in den Kopf, sich dutch Alkohol zu tSten; er trank ganze Gl~ser Schnaps auf einmal. Am 10. X. 1916 wollte er mit der Frau und einigen Freunden einen Ausflug machen. Dabei erz~hlte ihm einer der Anwesenden, der einmal im BurghSlzli gewesen war, viel fiber diese Anstalt. Als sie dann in Zfirich anka~aen, wollte Pat. nieht mehr welter, sondern meldete sich, trotz des Str~ubens der andern, persSnlich im BurghSlzli zur Auinahme an. Seine Stimmen verstand er meist nicht deutlich, da es ihrer zu viele waren. Einige Male riefen sie: ,,Katz, M~use, schlechter Hund." L~ngere Zeit hatte er nur einzelne GehSrshalluzinationen, dann auch Verfolgungs- ideen und Geschmacks-, Geruchs- und KSrperhalluzinationen: Die Leute haben ihn hypnotisiert usw.; sie haben ihm seine Unterschrift durch Hinterlist abge- nommen; er sei angesteekt, syphilitisch gemaeht worden. Er hatte immer un- bestimmte Schmerzen an verschiedenen Orten, war stets deprimiert. Einmal sagte er. die Beh0rde h~tte seinen Sohn in eine Korrektionsanstalt bringen mfissen, well er mit der Mutter sexuell verkehrt habe. Darauf korrigierte er bald seine Wahnideen und wurde am 31. X. 1916 als geheilt vom Alkoholwahnsinn nach

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408 M. Wolfensberger: Der Alkoholwabnsinn (akute Halluzinose der Trinker)

Hause entlassen. Schon am 17. XI. 1916 mul]te er wieder eingeliefert werden. In der Zwisehenzeit habe er nicht getrunken; aber als er arbeiten wollte, sei es ihm wilt dutch den Kopf, ,,nicht direkt Stimmen, aber ieh konnte keine Ruhe finden". Er war ~ngstlich-deprimiert, ~irgerte sich fiber die Untersuchung. Er sprach wilt dureheinander: ,,Es ist ein Vernichtungskampf einer Rasse gegen die andere." ,,Ich habe das Problem gelSst"; ,,ich will zum Staatsanwalt, damit dieser der Saehe auf den Grund kommt." Auf die Frage: ,,Welcher Sache 2" - - Spermng. HaLluzinationen wollte er nicht zugeben, trotzdem er solche offenbar haufenweise hatte. I)agegen ffihlte er, dab er, wenn er etwas denken wollte, viel zu viel Gedanken hatte, alles kam zu schnell und wirr dureheinander. P15tzlich lachte er auf und fragte .den Arzt: ,,Wissen Sie, was ein Onanist ist, ich war ein solcher in der Jugend." Auf die Frage, ob er krank sei, antwortete er: ,,Ich bin krank und nicht krank, krank und gesund." ,,Was heil3t das?" ,,Eben einmal gejal3t und einmal nieht." Die folgende Zeit stand er meist katatonisch im Zimmer herum, war immer iingstlich, halluzinierte daneben, ohne es direkt zuzugeben. Naeh 11/~ Monaten hatte sich der Zustand etwas gebessert, und auf das Dr~ngen der Frau wurde er am 9. I. 1917 gebessert mit der Diagnose Katatonie nach Hause entlassen. In der Familie verbrachte er wieder etwa ein Jahr. Im Rausch war er b6se, schimpfte und guflerte oft Suieidideen. Neujahr 1918 bekam /)at. einen ,,Muskelrheumatismus"; es begann in den FfiBen und Beinen, zog dana am ganzen KSrper hinauf; er bekam Katarrh und Fieber und muBte ins Bett, trank abet trotz- deln weiter. /)ann verschwanden die Schmerzen ffir 2 Tage. Darauf ring er an zu ,,studieren". Tags darauf redete er wirr durcheinander, sah Ottern, Mituse. Die Frau liel] ihn darnm am 23. II. 1918 ins BurghSlzli bringen. Pat. war damitein- verstanden. Hier bet er das Bild eines Delirium tremens. /)as Fieber versehwand bald; aber naeh ca. einer Woche trat plStzlich der Ted ein. Sektionsbefund: Blghung der I)grrne, deutliche Hirnschrumpfung, beginnendc Nierenatrophie, Marasmus.

Dieser Fall ist deshalb recht bemerkenswert, well wir hier bei dem- selben Pat ienten w~hrend einer Zeitspanne yon 4 Jahren 4 psycho- tisehe Zust~nde auftreten sehen. Die Famil ienanamnese ist durch schwere Trunksucht und Psychosen (Schizophrenie) belastet. Pat ient selbst ist s tarker Trinker. Mit 36 Jahren bekommt er eine Depression, die anfAnglich nach einem Monat wieder verschwindet, um nach einem J a h r in vers t~rktem Maf~e wiederzukommen; er erkrankt schliefJlich an einer Alkoholmelancholie, die seine erste In ternierung verursacht . Auffiillig ist dabei jedoch, dal~ aul]er der depressiven Vers t immung auch zahlreiehe hypochondrische Sensationen auftraten, aufJerdem ein Be- ziehungswahn. Dazu kamen auch noch Symptome eines abor t iven Alkoholwahnsinns: vereinzelte zusammenhiingende Geh6rshalluzina- t ionen und Verfolgungsideen.

Nach der ersten Entlassung aus der Anstal t bleibt die Trunksucht wie auch eine Neigung zu Depressionen und zu Beziehungswahn: Die Leute mil~g6nnen ihm, rlal~ er so viel verdiene. Suicidideen tauchen wieder auf, er will sich zu Tode trinken. Darauf erkrankte er an Alkohol- wahnsinn; er meldet sich selber im BurghSlzli zur Aufnahme, eine bei Alkoholwahnsinn nicht seltene Erscheinung, wghrend allerdings die Meldung bei der Polizei noch h~ufiger ist. Bei diesem Alkoholwahnsinn t re ten jedoch schon in verd~chtig starker Weise zahlreiche K6rper-

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und seine Beziehungen zu den SchizophreDien. 409

halluzinationen hervor, auch werden Komplexe gegen die Gattin und den Sohn in den GehSrshalluzinationen verwertet. Dieser Anfall erregt darum schon den Verdaeht auf Schizophrenie. Dies wird best/~tigt dureh einen bald darauf folgenden katatonen An/all, bei dem auBer den ttallu- zinatonen und kataleptischen Symptomen auch andere deutliche Zeichen yon Schizophrenie hervortreten: Das Gedankendr~ngen, Sperrungen und eine stark ausgesprochene Ambivalenz: ,,Ich bin krank und nicht krank, einmal geja~t und einmal nicht." Ein Jahr sparer erkrankt er an D~]irium tremens und stirbt in diesem Zustand.

Der n~chste und letzte meiner F~lle, der im Anfang das Bild eines Alkoholwahnsinns darbot, stellte sieh bald, nachdem die Halluzinationen unter dem EinfluI~ des Alkoholentzuges keine alkoholische F~rbung mehr hatten, als eine schwere Schizophrenie heraus.

Fall 16. K., W., ~ 39 Jahre. Interniert: 11. IV. 1904 bis heute. Heredit~t unbekannt. Pat. war eine Zeitlang Wirtin und bekannte Trinkerin. Den Mann braehte sie um sein VermSgen, weshalb sich dieser das Leben nahm. Ein Knecht ihres verstorbenen Mannes, mit dem sie ein Verh~ltnis hatte, zog sich yon ihr zuriick, da sie ihm zu viel trank und noeh mit einem andern ging. Sp~ter betrieb sie mit Erfolg ein Placierungsbureau, machte auch Schwindelgesch~fte. Sie trank 4--51 Wein t~glich, dazu noch Malaga, Branntwein. Abends war sie stets betrun- ken, dann lustig oder bSse. Am 11. IV. 1904 ging sie in die Nacht hinaus, weft sie deutlich das StShnen eines Liebespaares hSrte, das im Zuchthaus sei, ebenso das StShnen eines Mannes, den zwei andere fiber eine Mauer hinuntergeworfen h~tten. Im Zuchthaus sei diese Nacht ein dort Internierter info]ge schlechter Be- handlung dutch das Wartpersonal gestorben, resp. zu Tode gequ~lt worden. Pat. wurde yon der Polizei aufgegriffen und ins Burgh61zli eingeliefert. Hier kam sie in labiler Stimmung an, lachte, dann weinte sie plStzlich, ihr Br~utigam sei er- mordet worden. Das ganze Krankheitsbild imponierte als Alkoholwahnsinn. Die Affektivit~t schien jedoch immer etwas zu steif, ihre Gespr~che stereotyp. Orientierung ungest6rt, Intelligenz ordentlich, Merkf~higkeit gering, Ged~chtnis soll abgenommen haben, Appetit und Schlaf in letzter Zeit schlecht. Leber ver- gr61~ert, rechtes Hypogastrium druckempfindlich. Um die Leute, die um sie herum waren, kfimmerte sie sich nicht. Am 22. IV. 1904 machte sie einen Selbst. mordversuch. Tags darauf (23. IV. 1904) fing sie an, an den Stimmen zu zweifeln. Eines Abends beklagte sie sich fiber K6rperhalluzinationen: man habe sie ge- sehlechtlich miBbrauchen wollen, es waren Schmerzkfinstler. jedoch alte Bekannte yon ihr. Man habe ihr gemaeht, dab sie nicht urinieren kSnne. Dutch den Hypno- tismus habe sie erfahren, daI~ sie in der Hoffnung sei usw., zahlreiche hypoehon- drische Schmerzen. Darauf traten katatone Erscheinungen auf, und in kurzer Zeit entwickelte sich das Bild einer schizophrenen VerblSdung mit heftiger Querulanz und absurden GrSl]enideen, so dab die Patientin heute noch in einer andern Anstalt interniert bleiben muir.

C. Ubersicht.

~ber das, was sich in bezug auf die H~ufigkeit des Alkoholwahnsinns aus dem dargestellten Material ableiten l~Bt, wird unten in der Zu- sammenfassung das Bemerkenswerte mitgeteilt.

Stellen wir das nun hier haupts~ehlich Interessierende der einzelnen F~lle tabellenweise zusammen, so ergibt sich folgende Aufstellung:

Page 26: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker) und seine Beziehungen zu den Schizophrenien

410 M. Wolfensberger: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinket)

Tabelle I.

�9 Beobachtgs.- Dauer der akuten ~ Al ter u n d Beraf dauer se i t Dauer des Anfalls v o r S y m p t o m e in de r Vorgeschichte. Kombina t ionen ~c2 bei E rk rankung letzt. AnfaU der I n t e m i e r u n g Ans ta l t yon Alkohol ismus mi t

6 7

8

9

10

11 (~

12

13 (~

14

15

16

! I

32 Jahre, Schneider

41 Jahre~ Dekorations-

maler 40 J., Lehrer

52 Jahre~ Weber

60 (resp. 58) J., Tapezierer

und Komiker

43 J., Heizer 38 Jahre~

Wirt 32 Jahre~

Schuhmaeher 44 Jahre,

Goldschmied

45 Jahre, Hausfrau

38 Jahre, Modelleur 39 Jahre,

Holzarbeiter 50 Jahre,

Handlanger

45 Jahre~ Fuhrhalter

I

39 Jahre 1 Metzger

39 Jahre, Wirtin

23 Jahre

1 Jahr

6 Jahre 22 ,

7 11

5 Keine

Katamnese 5 Jahre

Keine Katamnese

dgl.

1 Jahr

2 Jahre

7 ,1

2 ,1

18 ~,

Ca. 1 Woche (1898)

a) 1 Nacht (1921) b) 1 Woche (1921) e) 1 Woche (1922) Ca. 10 Tage (1916) Einige Woeh. (1898)

a) Ca. 1Woch.(1913) b) Ca. 1 Woch. (1915)

3 Tage {1916) Ca. 5 Tage {1904)

3 Tage (1916)

7 Tage (1898)

2--3 Monate {1909

Ca. 1 Woche (191(]

Ca. 6 Wochen (1912)

4 Tage (1909)

a) 3 Monate (1914}

b) Einig. Tage(1914) c) Einig. Tage {1915)

a) Einig. Tage (1914)

b) Ca. 3 Woch. (1916)

1 Tag (1904)

Keine Halluzina- I tion. mehr, nur noeh angstliche Depression

1 Woche 1 Tag 5 Tage 14 Tage

2--3 Tage 2--3 Tage

14 Tage Ca. 10 Wochen

Ca. 1 Woche

14 Tage

14 Tage

Ca. 10 Tage

Einige Wochen

5 Woehen

3 Woehen

Ca. 2 Monate Ca. 2 Monate

8 Tage

Ca. 2 Wochen

In chron, halluzi- nierende. Sehi- zophrenie tiber- gehend

Anfall yon Delir. tremens

Auffallend unsteter Cha- rakter

Latente Schizophrenie Debflitat mit Angstlichkeit

trod paranoiformer (kata- thymer ?) Konstitution

Haltloser ~lPsychopath L~

Sozial gesunkener Psycho- path

Debilitat

Seit Kindheit hebephrener Charakter~ spat. mehrmals paranoid-alkohol. Schilbe

Autistischer Sonderling

E

Jahzorn. Mensch. 1 Jahr vor d.knfall Depr. m. hypoch.- neurotisch. Beschwerden, zuletzt Suicidversuch

Neuer Suieidversuch

Moralisch defekte schizoide Trinkerin

Autistischer Sonderling, 26 Tage vor dem Ausbrueh in Untersuchungshaft~ da- bei Alkoholkonsum.

Haltlosigkeit

Haltlosigkeit Frtiher angeblich Delirium

tremens Autistischer Sonderling

Page 27: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker) und seine Beziehungen zu den Schizophrenien

und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 411

Tabelle I.

Bemerkungen Ausgang Erbliche Belastung

_ _ VtLterlicher- und mtltterlicher- seits schwerer Alkoholismus.

m

KSrperhalluzinationeu

Suicidversuch im Beginn des An falls

Suicidversuch vor dem 2. Anfall

Kombination mit Delir. tremens Kombination mit K(irperhallu-

zinationen Kombination mit Kiirper- und

Geruchshalluzinationen Kombination mit Ganserscher

Haftpsy chose

Suicidversuch im Beginn des Anfalls. Im Anfall steife Affek- tivitltt~ negativistisch

hn Anfall steife Affektivitat

Im Anfall KSrperhalluzinationen u. steife Affektivitat. Neuritis.

Affektivittit stei[ im Anfall mit viel K0rperhalluzinationen

dgl. Affektivititt steif im Anfall und

Eifersuchtswahn Kombination mit Beziehungs-

wahn und Depression

KSrperhalluzinationen

hn Aa[all etwas steife Aktivitat und viel K(irperhalluzinationen

1 Jahr Trinkerheilstt~tte~ seit 24 Jahren abstinent und psy- chisch normal

Heilung Heilung Schizophrene Demenz Leichte paranoide Symptome Chron. Alkoholismus auf De-

bilittit

1921 3. chron. Anfall von 2 bis 3 Mon. Dauer ohne Aussetzen der Arbeit~ latent schizophre- ner paranoider Psychopath

Paranoider Schizophrener ?

Paranoide Schizophrenie

? Latente Schizophrenie

scheinlich

Schizophrenie konstatiert

wahr-

Vater leichtsinnig~ Mutt.~ Schwe- ster und Bruder Alkoholismus~ 1 Bruder etwas Gr(i~enwahn.

Vater Sonderling. Vater und Bruder Trinker.

Eltern wandernde Schauspieler.

Vater Potator. dgl.

dgl.

2 Vettern mlltterlichers, geistes- krank.

m

Paranoide Schizophrenie

dgl. Chron. Depression

Vater und Grol~vater vt~terlicher- seits Potatoren.

?

2 Geschwister psychisch abnorm.

Vater Suicid~ Mutter Schizo- phrenie~ Grol~vater mlltter- licherseits Potator~ 2 Stief -~ briider Potatoren.

?

Nach 2 Wochen mit Anfall yon Katatonie ftir 7 Wochen inter- niert~ 1 Jahr spitter im Deli- rium tremens in Anstalt "~"

Schizophrene Demenz

Schizophrenie konstatiert

Schizophrenie in der Anstalt kon- statiert, dort anPhthise gestorb.

Katatonie

in der Klinik

in der A n s t a l t Vater Potator.

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412 M. Wolfensberger: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker)

Die beiden Frauen (Fall 10 und 16), bei denen das Symptomen- bild des Alkoholwahnsinns beobaehtet wurde, wiesen sparer die charak- teristisehen Merkmale der Sehizophrenie auf.

Bei den 14 M~nnern war das gleiche bei 8 Patienten der Fall (2, 6, 8, 11, 12, 13, 14, 15), bei zweien (3, 5) bestand nachher das Bild einer psyehopathischen Pers6nlichkeitsver~nderung im Sinne eines Prozesses mit deutlich sehizoiden (paranoiden) Zfigen, bei einem (9) weiteren Kranken ist diese Form gemall der klinisehen Beobachtung nach Ab- lauf des akuten Zustandes wahrseheinlieh, kann aber wegen Fehlens einer Katamnese nicht sieher gestellt werden.

Bei einem Patienten (4) entwiekelte sieh der Alkoholwahnsinn auf Basis einer paranoisch disponierten Debilit~t; hier konnte keine schizo- phrene Veranderung nachgewiesen werden. Ein Kranker (7) wurde naeh dem Anfall zu kurz beobachtet, um zu einem sieheren Sehlull zu kommen ; wegen Fehlens jeder Katamnese mull er hier auger Diskussion gelassen werden.

SchlieBlieh bleibt nur ein einziger Mann (1), bei dem vor 23 Jahren ein Alkoholwahnsinn beobachtet wurde, und bei dem -- naeh v611iger Heilung der Trunksueht -- keinerlei psyehische St6rungen mehr kon- statiert wurden. Gerade bei diesem Fall ist jedoeh hervorzuheben, dall er nicht rein ist und erst nach Abklingen der akuten Symptome in klinische Beobachtung kam; auffallend waren der kurze Verlauf, die Halluzinationen im Takt, Gesichtshalluzinationen, Aus-den-H~nden- Lesen-Wollen, schon frfiher durchgemachtes Delirium tremens, wahr- scheinlich waren also Delirium-tremens-Symptome sogar vorherrschend. Das vollsti~ndig negative Ausfallen der Katamnese hat darum hier auch keine besondere Bedeutung.

Lassen wir den Fall 7 auller Betracht, so sehen wir, dall von 15 Fi~llen unseres Symptomenbildes 13 in der Richtung der Schizophrenie ver- liefen, und zwar nicht in der Hauptsache nach Art der latenten Ent- wicklung dieser Psychose, denn 10 gingen in schwere VerblSdungszu- sti~nde fiber.

Aus diesem Zahlenverhi~ltnis kSnnen wir wohl den Schlull ziehen, dall der Alkoholwahnsinn in der Regel keine selbsti~ndige Geistes- stSrung sui generis ist, sondern dall er ein Syndrom, ein Reaktions- typus eines anderweitig psychisch mehr oder weniger latent schon abnormen Gehirns auf die Alkoholintoxikation darstellt. Diese Basis ist bei unserem Material wahrscheinlieh in 13 yon 15 Fallen (-- 93,3% ), sieher in 12 (80%) eine Schizophrenie.

Dabei mull aber immerhin darauf hingewiesen werden, dall es sich yon diesen 12 resp. 13 Kranken nur in 10 Fi~llen um absolut mani/este Schizophrenien handelte, wahrend die 2 oder 3 anderen F~lle auch als psychopathische Charakterveriinderungen mit schizoiden Ziigen auf-

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und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 413

gefaBt werden k6nnen. Nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse miissen wir aber doeh ffir eine Untersuchung wie die vorliegende ~ diese letzteren in die Gruppe der Schizophrenien einbeziehen, da "uns alle klinischen Erfahrungen dafiir sprechea~ dab alle derartigen Ver~nder- ungen hiermit in engster Beziehung stehen und nicht zu den abnormen Charakteranlagen im gew6hnlichen Sinne gehSren.

Wenn man hiergegen einwenden will, dal~ eine weitere Auffassung der Sehizophreniegruppe das Resultat einer solchen Untersuchung einseitig ver~ndert, so mut~ dagegen betont werden, dab es sich hier nur um 2 oder 3 Fi~lle gegeniiber 10 ganz sicheren handelt. Zudem muB betont werden, dab nach der in der Zfiricher Klinik herrsehenden t)raxis eine gr6f~ere Zahl kiirzerer paranoider Schfibe bei schizophrenen Alko- holikern hier ohne weiteres in die Gruppe der Schizophrenien eingereiht werden und deshalb fiir die Zusammenstellung gar nicht in Betraeht kamen. Manche Patienten aus dem Material der Klinik von 24 Jahren wfirden an anderen Orten noch als Alkoholwahnsinn registriert worden sein, die uns ohne we~teres als schizophren erschienen, und die es tatsi~chlich auch waren. Wiirden diese mituntersucht, so hi~tte sich das Resultat noch viel mehr damn zugespitzt, dab der Alkohol- wahnsinn im iiberwiegendsten Teil in der Gruppe der Schizophrenie aufgeht.

Ferner ist noeh auf die Tatsaehe hinzuweisen, dab bei einem schizo- phrenen Alkoholiker (9) eine Kombination des Alkoholwahnsinns mit einer Haftpsychose und bei einem anderen (6) eine solehe mit einem Verwirrtheitszustand im Sinne des Delirium tremens bestand. AuBer- dem fanden wir bei zwei night sicher als sehizophren etwiesenen Kranken (1, 7) in der Vorgeschichte einen Anfall von Delirium tremens ; ein anderer Schizophrener (15) starb spi~ter an dieser Krankheit. Dies diirfte ein Beweis dafiir sein, dab die Vergiftungen, die zum Delirium tremens und zum Alkoholwahnsinn ffihren, sich keineswegs aussehlieBen, wofiir ja aueh kein Anhaltspunkt vorliegt; wir finden ja z. B. auch nicht selten schizophrene Alkoholiker, die an S~uferwahnsinn erkranken.

Die Tatsache, dab Alkoholwahnsinn und Delirium tremens neben- oder nacheinander vorkommen kSnnen, fiihrte Kraepelin zu der An- nahme, ,,dab Delirium tremens und Alkoholwahnsinn. . . Erscheinungs- formen des gleichen Leidens vorstellen", und ,,dal~ nur eine weehselnde Lokalisation oder Ausbreitung des Krankheitsvorganges die versehiedene klinische Gestaltung des Krankheitsbfldes bedingen diirfte". Im Gegen- satz dazu hat Bleuler das Hauptgewicht auf die )~tiologie verlegt. Nach ihm ist die Grundlage fiir das Entstehen eines Alkoholwahnsinns eine (latente) Sehizophrenie. Aul~erdem aber, sowie wir ffir das Ent- stehen eines Delirium tremens eine durch ehronisehe Alkoholintoxi- kation hervorgerufene StoffweehselstSrung und daran sieh anschlieBende

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414 M. Wolfensberger: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker)

Giftproduktion annehmen, miissen wir dies in ~hnlicher Weise auch fiir die Erkl~rung der Genese eines Alkoholwahnsinns tun. Denn nicht jeder trinkende Schizophrene erkrankt ja an Alkoholwahnsinn. Warum aber der eine schizophrene Alkoholiker an Alkoholwahnsinn oder ein anderer z .B. an Delirium tremens mit schizophrenen Symptomen erkrankt, mug seinen Grund in einer verschiedenartigen durch Alkohol hervorgerufenen StoffwechselstSrung haben. Eigentiimlich ist aueh, dal~ wit beim Alkoholwahnsinn in der Vorgeschichte stets nur akute alkoholischc Exzesse linden, und daf~ er fast nic, wie das Delirium tremens, auch durch Fieber, Haft usw. ausgel6st wird.

Schematisch lassen sich diese VerhMtnisse so darstellen:

I. II. Chronischer Alkololismus Latente Schizophrenie

+ alkoholische Stoffwechsei- + Alkoholismus chron. st~rung A + alkoholische Stoffwechsel-

st~runff A

+ akute Alkoholexzesse, Pieber, Haft oder ~ihnliehes

Del6". tremens Delir. tremens au] Schizophrenie

III. Latente Schizophrenie ~- Alkoholismus chron.

-~- alkoholische Stoffwechsel- stOrung B

I + akute alkoholische Exzesse

Alkoholwahnsinn

Die Frage, ob auch eine andere Disposition als eine latente Schizo- phrenie beim Hinzukommen yon Alkoholi~mus chron. ~-a lkohol . StoffwechselstSrung B Jr akute alkohol. Exzesse zu einem Alkohol- wahnsinn fiihren kann, miissen wir noch often lassen, mSchten es aber bezweifeln, ohne cs jedoch beweisen zu k5nnen.

Bei 3 Patienten konstatierten wir im Beginn der Erkrankung Suicid- vcrsuche, n~mlich bei einem Debilen {4) und 2 Schizophrenen (5, 10); bei einem Schizophrenen (15) die gleichen Erscheinungcn in der Vor- geschichte.

Page 31: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinker) und seine Beziehungen zu den Schizophrenien

und seine Beziehungen zu den Schizophrenien. 415

Was die Dauer des Anfalls von Alkoholwahnsinn anbelangt, so erstreckt sich diese bei den Fi~llen 10, 13, 14, und 16 jeweilen fiber mehrere Monate ; es sind dies aber Kranke, bei denen unser Symptomen. komplex unmerklich in paranoid schizophrene Schfibe fiberging und so eine Zeitabgrenzung nicht mSglich war. Das gleiche ist bei dem Patienten 9 der Pall, bei dem keinerlei Katamnese erhoben oder eine klinische K]arung erreicht werden konnte, so dal~ er hierffir nicht in Betracht fallt. Sehen wir yon diesen 5 Fallen ab, so bleiben uns 11 Kranke mit 14 AnfMlen yon Alkoholwahnsinn, deren Dauer zwischen 1/2 Tag und 4 Wochen schwankte. Die durchschnittliche Dauer betrug 14 Tage; die Hi~lfte der Anfalle wi~hrten nicht langer als 10 Tage.

Die Angaben fiber die erbliche Belastung sind zu sp~rlich, um hieraus sichere Schlfisse zu ziehen.. Immerhin ist es auffallend, dab bei 9 yon 16 Patienten schwerer Alkoholismus in der direkten Verwandtschaft angegeben wird, n~mlich in 4 Fi~llen beim Vater allein (6, 7, 8, 9), in 2 Fi~llen (1, 15) beim Vater und beim Grol~vater mfitterlicherseits (ira Falle 15 auBerdem noch bei 2 Stiefbrfidern), im Pall 12 beim Vater und Grol~vater vaterlicherseits, im Pall 4 beim Vater und bei einem Bruder und im Pall 2 bei der Mutter, einem Bruder und einer Schwester. Bei 6 Patienten land sich Geisteskrankheit, wohl im Sinne der Schizo- phrenie, oder sonderbare Charaktere in der Familie.

D. Zusammen/assung. 1. Von den 16 beschriebenen Fallen gehSrten 14 dem mannlichen

und 2 dcm weiblichen Geschlecht an.

2. Die Falle von Alkoholwahnsinn machen v o n d e r Gesamtzahl der in der Anstalt BurghSlzli fiberhaupt 1898--1921 stattgehabten Auf- nahmen 1,4~ o aus. Von den aufgenommenen Alkoholikern waren bei den Mannern 1,20/0o, bei den Frauen 9,30/00 Alkoholwahnsinnige. Wenn aus so kleinen Zahlen natfirlich auch keine statistischen Schlfisse gezogen werden dfirfen, weisen sie doch im Sinne einer Bestatigung auf die yon Kraepelin gemachte Angabe hin, dab Frauen relativ haufiger an Alkoholwahnsinn erkranken als Manner. Es mag dies wohl mit der Erfahrung fibereinstimmen, dal~ Frauen viel starker psyehopathisch (oft schizoid ?) veranlagt sein mfissen als Mi~nner, um einem chronischen Alkoholismus zu verfallen.

3. Das Alter meiner Patienten bei der Anstaltsinternierung lag zwischen 32 und 60 Jahren, im Durchschnitt bei 42,3; die Mehrzahl waren um die Vierziger herum, nur 3 waren 50 Jahre alt oder ~lter.

4. Die Beobachtung v, Speyrs, Ilbergs, Bonhoe//ers, dab das soziale Milieu, aus dem Alkoholwahnsinnige stammen, im Durchschnitt ein hSheres sei als das der an Delirium tremens Erkrankten, konnte ich

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416 M. Wolfensberger: Der Alkoholwahnsinn (akute Halluzinose der Trinket)

nicht bestiitigen. Die Mehrzahl meiner Patienten geh6rt der kSrperlieh arbeitenden Klasse an, nur ein einziger ist Volkssehullehrer, trotzdem die Anstalt BurghSlzli auch Abteilungen ffir 6konomisch besser Situ- ierte hat.

5. In s/4 der Falle land sieh hereditare Belastung, und zwar in 9 Fallen sehwerer Alkoholismus, in 6 Fi~llen Geisteskrankheit, wohl im Sinne der Schizophrenie, oder sonderbare Charaktere, in 2 Fallen war Geistes- krankheit mit chronisehem Alkoholismus kombiniert.

6. In 2/a der Falle wurde zugegeben, dab die Trinkexzesse unmittel- bar vor dem Ausbrueh des Anfalles gehiiuft und verstarkt worden waren ; einmal kam eine Haftpsychose, einmal starke Ermfidung hinzu.

7. 2 Kranke hatten je 3 Anfalle von Alkoholwahnsinn, 2 je 2 (diese Fiille gingen alle spater in Schizophrenie fiber).

8. In der Halfte der Falle gingen dem Anfall Prodrome voraus in Form yon allg'emeinem Unwohlsein, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, schreckhaften Triiumen, Angst, Depression, in einem Fall (13) Gin De- pressionszustand und hypochondrisehe Beschwerden.

9. 2/3 der Erkrankungen setzten akut, 1/3 mehr subakut ein. 10. Der Affekt war in den meisten Fallen iingstlieh, oft mit einer

Mischung yon Depression. Recht hiiufig wurde der Affekt aber schon bei der Aufnahme als zu steif befunden. In einigen wenigen Fallen bestand der yon Kraepelin angegebene gemischte Affekt aus Angst und Euphorie, dies besonders dort, wo neben oder vor dem Alkohol- wahnsinn auch einzelne Symptome von Delirium tremens vorhanden waren.

11. Bemerkenswert ist, dall eigentfimliche Steifheit der Affektivitat im Anfall, Geruehs-, Geschmacks- und KSrperhalluzinationen nur bei den ganz ausgesprochen schizophrenen Alkoholwahnsinnigen vorkamen, und dal3 die KSrperhalluzinationen meist dig Haut betrafen, was offen- bar auf neuritischer Reizung, die dann wahnhaft umgedeutet wird, beruht.

12. Der SlYitere Verlau/ der Krankheit sowie die weitere Beobaeh- tung der Patienten, sei es in Anstalten oder dureh meine pers6nlichen katamnestisehen Untersuehungen, ergab folgendes Resultat:

10 Kranke, die Anfalle yon Alkoholwahnsinn durchmachten, davon 8 Manner und 2 Frauen, erkrankten sparer an ausgesprochener Schizo- phrenie, meist mit sehwerer VerblSdung; bei 2 m~nnlichen Kranken bestand nachher ein psychopathischer Zustand mit schizophren para- noiden Symptomen; bei einem weiteren war das gleiche der Fall, doch latlt sieh der Verlauf dieses Falles mangels Katamnese nieht sieher steUen. Ein weiterer Kranker erweckte in seiner subchronischen IIallu- zinose in der Klinik ebenfalls den Verdacht auf eine schizophrene

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,nd seine Beziehangen zu det~ SchizoplH'eniem 4 [ 7

Komponen te , doch li~Bt sich dies, da m a n niehts mehr von ihm hSrte, n icht beweisen. E in P a t i e n t war ein Debi ler mi t pa rano i fo rmer Dis-

posi t ion, die rein k a t a t h y m sein k6nnte . N u r ein K r a n k e r zeigte naeh dem Anfal l und }tei lung vom Alkohol is-

mus keinerlei psychopa th i sche Ersehe inungen mehr ; doch konn te dieser Fa l l von Anfang an n ich t als re iner Alkoholwahns inn aufgefaBt

werden. Daraus ergibt sich, daft zum raindesten in der welt i~berwiegenden

Mehrzahl der F~ille nach unserem Material der A1]coholwahnsinn nur als Symptomenbild au/ge/aflt werden kann, und zwar als Rea]ction eines schizophrenen Gehirns au/ eine bestimmte Art de~ Alkoholvergi]tung.

Es bedar f wei te rer ka t amnes t i s che r Forschungen an e inem grSBeren,

gut un te r such ten Mater ia l als dem unserigen, u m nachzuweisen, ob es

aueh vo rkommt , dab n ich t sehizophrene Menschen (und welche?) an Alkoholwahns inn e rk ranken k6nnen. Die 2 einschli~gigen Fal le , d ie uns hier zur Verf i igung stehen, genfigen nicht , u m ffir oder gegen diese M6glichkei t e twas zu beweisen, denn bekann t l i ch g ib t es j a ge- Iegentl ich Schizophrenien, die nach e inem Schub, besonders wenn er durch ein nachher wieder wegfal lendes Agens, wie hier den Alkohol , ausgelSst ist, wieder vSllig l a t en t werden und n ich t mehr nachgewiesen

werden k6nnen.

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