das problem der entwicklung der wirtschaftlich schwachen länder latein-amerikas

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Das Problem der Entwicklung der wirtschaftlich schwachen Länder Latein-Amerikas Author(s): Bruno Moll Source: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 17, H. 1 (1956/57), pp. 98-103 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40909089 . Accessed: 12/06/2014 12:48 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to FinanzArchiv / Public Finance Analysis. http://www.jstor.org This content downloaded from 185.2.32.141 on Thu, 12 Jun 2014 12:48:40 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Page 1: Das Problem der Entwicklung der wirtschaftlich schwachen Länder Latein-Amerikas

Das Problem der Entwicklung der wirtschaftlich schwachen Länder Latein-AmerikasAuthor(s): Bruno MollSource: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 17, H. 1 (1956/57), pp. 98-103Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40909089 .

Accessed: 12/06/2014 12:48

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Das Problem der Entwicklung der wirtschaftlich schwachen Länder Latein-Amerikas

von

Bruno Moll

Eine unübersehbar große Literatur beschäftigt sich mit obenstehendem Thema. Das „Trimestre Económico" (Mexiko), eine der ernsthaftesten Zeit- schriften wirtschaftlichen Charakters von Latein- Amerika, hat in den letzten 10 Jahren darüber so viel veröffentlicht, daß dies Material ausreicht, den Ausgangspunkt zu mehreren Doktordissertationen zu geben. Was aber noch fehlt, ist die Schaffung einer sicheren wissenschaftlichen Basis für eine fruchtbare objektive Behandlung des Problems. Wie auch anderswo, zeigt sich hier, daß die besten Kenner der Wirtschaft Empiriker sind, denen häufig die theoretische Grundlage und der Sinn für eine tiefere Problemstellung fehlt, oder auch Politiker, die mit vorgefaßten Meinungen an die Dinge heran- treten, während die Wirtschaftstheoretiker - in Latein- Amerika selbst gibt es nicht viele - sich weniger für die Erforschung der Details der wirklichen Wirtschaft der verschiedenen Länder interessieren, als sich mit ,, Doktrinen4 '

beschäftigen und mit der Polemik über die Fragen: Dirigierte oder freie Wirtschaft, Schutzzoll oder Freihandel, Devisenkontrolle oder Währungs- freiheit, Keynes oder anti-Keynes? alle ihre Kräfte verbrauchen.

Was bedeutet „wirtschaftliche Entwicklung" speziell für Latein- Ameri- ka ? Es läßt sich leicht zeigen, wie ungeklärt dieser Begriff noch ist : Es gibt Länder mit berühmten Denkmälern alter vergangener Kulturen, wie z. B. Mexiko und Peru, deren Wirtschaft nicht mit der hochentwickelter Länder wie USA und Mitteleuropa verglichen werden kann; und dies, obwohl Mexiko Peru gegenüber wieder als das höher entwickelte Land angesehen wird, min- destens auf Grund seiner stärkeren Industrialisierung, während Peru un- bestritten höher entwickelt ist als Ekuador und Bolivien. Es gibt Länder, die schlechthin als ,, reich" bezeichnet werden, womit man freilich dem ober- flächlichen Betrachter suggeriert, daß sie keine ernsten Probleme hätten. Man nennt solche Länder reich, weil sie stabile Währung und geordnete Finanzen aufweisen sowie einen hohen Lebensstandard der oberen und viel- leicht auch mittleren Schichten und eine ständige „wirtschaftliche Blüte"; und doch lebt ein solches Land manchmal vom Export weniger Rohprodukte, wie Kaffee und Pétrole am, während die eigentliche solide landwirtschaftliche Basis fehlt, ein Zustand, der gewisse Schattenseiten und Gefahren in sich

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schließt: Venezuela. Es gibt andere Länder, die allgemein nicht als „reich" angesehen werden, wie Chile, denen man aber einen bemerkenswerten Grad wirtschaftlicher Entwicklung zuschreibt: das Hindernis für weitere Ent- wicklung ist aber ein fortschreitender Inflationsprozeß, der zerstörende Wir- kungen auf Produktion und Verteilung ausübt und es unmöglich erscheinen läßt, den Lebensstandard der großen Massen der Bevölkerung zu erhöhen oder auch nur aufrechtzuerhalten. Anderswo wieder haben politische und soziale Umwälzungen großen Stils stattgefunden, die vom Produktions- standpunkte und überhaupt vom Gesichtspunkt der kapitalistischen Wirt- schaft aus einen Rückschritt bedeuten, deren soziale und wirtschaftliche Ergebnisse jedoch noch nicht abzusehen sind: Bolivien. Anderseits Länder wie Argentinien, die eine Zeit politischer und sozialer Umwälzung mit an- scheinend sehr destruktiven Ergebnissen für die Wirtschaft hinter sich haben und sich in einer Periode der Restauration befinden. Andere zeigen starke Symptome von Privatreichtum, technischer und wirtschaftlicher Entwick- lung, ohne bereits das Problem des allgemeinen wirtschaftlichen Fort- schrittes zugunsten der Bevölkerung im demokratischen Sinne befriedigend gelöst zu haben: Brasilien. Überall finden wir Kontraste zwischen den Haupt- städten und wenigen Großstädten einerseits, die oft eine bemerkenswerte Zivilisation aufweisen, und der Primitivität des Landes und der Provinzen anderseits. Und endlich gibt es Staaten, oft mit bemerkenswerten Anzeichen des Fortschrittes, die aber durch die Kleinheit von Territorium und Be- völkerung weniger interessant erscheinen - wenigstens im Vergleich zu ameri- kanischen Ländern, die, wie Kanada, USA und Brasilien, die Größe von Erdteilen haben; so das Land El Salvador, das durch seine voluminösen offiziellen Publikationen wirtschaftlichen Inhaltes die Aufmerksamkeit der Nationalökonomen und Politiker auf sich zu lenken sucht, aber nur über eine Fläche von 34 000 km2 und 2 Millionen Einwohner verfügt.

Bevor wir uns mit der näheren Bestimmung des Begriffes „wirtschaft- liche Entwicklung" befassen, sei gesagt, daß ein Hemmnis für die wirklich wissenschaftlich objektive und vorurteilsfreie Diskussion des Begriffes die Tatsache ist, daß wichtige Kriterien des wirtschaftlichen Fortschrittes (Be- völkerungszahl, Bevölkerungsdichte, Nationalprodukt und Nationaleinkom- men, im ganzen und pro Kopf der Bevölkerung, im Augenblick und für eine Spanne von Jahren, Verteilung des Nationaleinkommens auf die ver- schiedenen Bevölkerungsschichten, insbesondere die Frage des wachsenden Realeinkommens der Masse) auf den Verwaltungsstatistiken der einzelnen Länder beruhen. Diese sind aber der Natur dieser (weniger entwickelten) Länder entsprechend noch viel unvollkommener und mit größeren Fehler- quellen behaftet, als die administrativen Statistiken Europas und Nord- amerikas. Auf seiten der Bevölkerung (z. B. Indios) fehlt es an Kenntnissen und oft an gutem Willen, um die Fragen der Statistik richtig zu beantworten, während auf seiten der Verwaltung meist der Wunsch herrscht, zu ver- größern und zu verschönern, um das eigene Land in der Welt so wichtig wie möglich erscheinen zu lassen.

Man kann drei Begriffe der wirtschaftlichen Entwicklung unterscheiden (wer Haarspaltereien liebt, könnte natürlich zehn ausfindig machen): den 7*

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naiven oder politischen, zweitens den kapitalistischen und endlich den kriti- schen, sozial-politischen oder auch sozialistischen.

Die naive Auffassung der wirtschaftlichen Entwicklung findet sich beim großen Publikum und bei vielen Regierungen, insbesondere solchen mit diktatorischem Einschlag. Die Entwicklung besteht danach in der Ausfüh- rung öffentlicher Bauten aller Art, deren Notwendigkeit so wenig kritisch geprüft wird, wie die Frage der nützlichsten Reihenfolge (Priorität). Es kom- men in Betracht: Landstraßen, Bewässerungen, Kanäle, Anlagen, die der Intensivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung der Länder dienen, wie anderseits vor allem auch Schulen, Hospitäler und Verwaltungs- gebäude. Daß viele der aufgezählten Anlagearten nicht rentieren können, liegt in ihrer Natur begründet und in der Natur des Staates, zu dessen Auf- gaben es gehört, Anlagen zu schaffen, die im allgemeinen Interesse nützlich und nötig sind, aber der privaten Initiative keinen Erfolg versprechen. Was aber fast überall der Kritik unterliegt, ist die Neigung der Regierungen, im Interesse eines dauernden Ruhmestitels imposante Gebäude zu schaffen, deren Kostspieligkeit und Luxus in einem gewissen Mißverhältnis steht zur dürftigen Lage der großen Masse der Bevölkerung - eine Tendenz, die ge- wiß nicht unbedenklich erscheint, namentlich auch unter finanziellem Ge- sichtspunkte, die aber auch ihre guten Seiten hat: Im Grunde beruht ja der ganze Kapitalismus auf der Schaffung und Festhaltung von Kontrasten, ohne die alle irgendwie bemerkenswerten Denkmäler der Technik und Zivili- sation zu verschwinden drohen und eine öde Gleichmacherei Platz greifen würde.

Der zweite Begriff der wirtschaftlichen Entwicklung ist der kapitalisti- sche. Es ist der Begriff der Bankiers, Aktionäre, Direktoren, Kapitalisten und Unternehmer, die ihr Geld investieren wollen. Ihnen ist es vor allem um die Sicherheit und Rentabilität ihrer Anlage zu tun, während sie an und für sich nicht danach zu fragen brauchen, ob diese Anlage auch dem Lande Nutzen bringt, in dem sie verwirklicht wird, und ob diese Investition günstig auf die Lage der dortigen Bevölkerung wirkt. Natürlich kann ein Kapitalist ein ausgesprochener Menschenfreund sein und anläßlich der Investition auch humanitäre Zwecke zu erreichen suchen. Einige der großen amerikanischen Gesellschaften haben in Latein-Amerika in diesem Sinne Hervorragendes geschaffen. So hat z. B. die „International Petroleum Company Ltd." in Peru weit von der Hauptstadt, im Norden, eine Stadt ausgebaut (Talara), die in erster Linie der Unterbringung ihrer Angestellten und Arbeiter dient und die eine freundliche Oase in einem sonst noch ziemlich wüsten Gebiet darstellt. Aber das Typische ist, daß der Kapitalist als solcher eine nutz- bringende Anlage sucht und alle anderen Gesichtspunkte vernachlässigen darf.

Verschieden von den Entwicklungsideen der Laien, der Regierungen und der Kapitalisten ist die kritische, die sich in der Wirtschaftswissenschaft der letzten Jahrzehnte durchgesetzt hat: Die wirtschaftliche Entwicklung wird nur dann als solche anerkannt, wenn sie der Allgemeinheit oder doch wenigstens der großen Masse der Bevölkerung „direkt" zugute kommt. Wirtschaftliche Entwicklung ist danach Erhöhung des durchschnittlichen

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Realeinkommens der Bevölkerung. Aber dieser Begriff, der einige Zeit hin- durch als der Stein der Weisen angesehen wurde, kann im Grunde auch noch nicht endgültig befriedigen, denn es kann vorkommen, und es ist gerade in Latein-Amerika der Fall gewesen, daß zwar das Realeinkommen der Be- völkerung im statistischen Durchschnitt gestiegen ist - immer vorausgesetzt, daß die Statistiken nicht beschönigen -, daß aber die Verteilung im allge- meinen sich verschlechtert hat und ungleichmäßiger geworden ist und daß insbesondere die Masse der Arbeiter und Angestellten nicht am ,, Fortschritt* '

teilgenommen hat, sondern nur eine kleine Gruppe von Personen reicher geworden ist. Dies ist nach gründlichen Untersuchungen in Mexiko in den Jahren 1939-1949 geschehen, über die das „Trimestre Económico"1 be- richtet, während für einige andere Länder solche Untersuchungen noch feh- len, aber der Verdacht besteht, daß die Lage im ganzen ähnlich sein dürfte.

Es ist unbestritten, daß das große soziale Problem von Latein- Amerika darin besteht, die übermäßigen Kontraste zwischen einer „privilegierten" und praktisch in vielen Beziehungen übermächtigen Oberschicht und der Masse der Bevölkerung, die großenteils in Dürftigkeit lebt, zu mildern und der Masse allmählich mehr Anteil am wachsenden Nationalprodukt zu ver- schaffen. Diese Aufgabe ist freilich äußerst schwierig, und es ist zweifelhaft, ob sie ohne größere politische Erschütterungen und Umwälzungen lösbar ist. Das Beispiel Argentiniens hat wieder gezeigt, daß anscheinend jede große sozialistische Revolution (der Peronismus) destruktive Folgen für die Wirtschaft haben muß: Unbestritten sind die erfolgte Zerrüttung von Finanzen und Währung, Zerstörung des Vertrauens in die Wirtschaft, Verlust der Rechtssicherheit sowie der Unternehmungslust, die Abschnürung des Landes von der Weltwirtschaft in vielen Beziehungen und insbesondere die Unterbindung notwendiger Importe, der Verlust der wirtschaftlichen, politi- schen und persönlichen Freiheit, die Vergewaltigung der Presse und der un- geheure polizeiliche Terror - ein Zustand, von dem das Land sich langsam zu erholen beginnt. Aber anderseits ist die Erreichung des Zieles: Erhöhung des Lebensstandards der Masse und Schaffung gleichmäßiger Verteilung, auch nicht erreichbar, wenn, wie an vielen Orten, die Oberschicht sich gleich- gültig und engherzig der Erreichung eines solchen Zieles entgegenstemmt und kurzsichtig nur auf die Wahrung ihrer Vorzugsstellung und auf die Ver- größerung ihres Besitzes bedacht ist.

Aber so wenig die Bedeutung dieses Problems in Frage gestellt werden soll, so muß doch betont werden, daß in der einseitigen Hervorhebung des zuletzt diskutierten „sozialpolitischen" oder „sozialistischen" Postulats (Verbesserung des Realeinkommens und seiner Verteilung) in der Literatur der letzten 15 Jahre der richtige Kern in Vergessenheit gerät, den auch die anderen Entwicklungsbegriffe des Laien, der Regierungen und der Kapi- talisten enthalten. Es ist gar nicht zu leugnen, daß der Ehrgeiz der Regie- rungen glänzende Denkmäler moderner Baukunst erschaffen hat, die, mögen sie oft im Mißverhältnis stehen zur Finanzkraft und zur dürftigen Lage der Masse der Bevölkerung, auf die Dauer zur Verschönerung der Stadtbilder

1 Aldo Ferrer, „Distribución del Ingreso y Desarrollo Económico", N. 81, pag. 56.

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beitragen und jedem, der ein solches Land besucht, einen unvergeßlichen imposanten Eindruck hinterlassen. Und das ist etwas, was gerade der „Na- tion" zugute kommt, die doch nach der höheren organischen Staatsauf- fassung noch etwas anderes ist und mehr als die bloße Summe der Indivi- duen oder eine bloße Vereinigung der Bürger zwecks guter und sparsamer Verwaltung und Wirtschaft. Wenn es aber so ist, dann kann die wirtschaft- liche Entwicklung nicht allein definiert werden im Hinblick auf das höhere Realeinkommen der Masse und die Verbesserung der Einkommensverteilung: Alle zitierten Entwicklungsbegriffe haben einen richtigen Kern, und nur die Synthese aus ihnen führt zur wahren Interpretation des wirtschaftlichen Fortschritts.

Auch wenn in einem Lande neue Industrien entstehen, die es über die Stufe eines Agrarstaates hinausheben, so wird man nicht leugnen können, daß das eine gewisse Art der „Entwicklung" bedeutet, unbeschadet der Frage, ob damit auf die Dauer auch der Durchschnittslebensstandard der Bevölkerung gehoben wird. Dies kann z. B. der Fall sein infolge der grö- ßeren Nachfrage nach Arbeitskräften, die in der Richtung einer Landflucht und damit lohnerhöhend wirkt. Und weiter kann die Einführung neuer Industrien auch dann einen „Fortschritt" im nationalen Sinne bedeuten, wenn sie nach der Ricardianischen Regel nicht erlaubt wäre, weil sie ohne Zollschutz zunächst nicht lebensfähig ist.

Was die Finanzierung der wirtschaftlichen Entwicklung betrifft, so habe ich in meinem Buch „Curso superior de Finanzas" (Lima, Ed. Libreria Studium S.A. 1955) darauf hingewiesen, daß sie auch in wirtschaftlich schwachen, kapitalarmen Ländern nicht auf dem Wege der Inflation erfol- gen sollte, weil deren unabwendbare Folge eine Verschlechterung des realen Lebensniveaus der großen Masse der Bevölkerung ist, während das vorhin geschilderte dritte ideale Postulat ja gerade die Verbesserung dieses Lebens- niveaus verlangt. Zu sagen, daß „vorübergehend" im Interesse der Auf- schließung des Landes solche Nachteile wie eine Verschlechterung des Le- bensstandards in Kauf genommen werden müßten, ist eine gefährliche Regel, denn gerade die „Dosierung" und Abstoppung einer einmal begonnenen In- flation hat sich ja fast immer als illusorisches Beginnen erwiesen. Da auch der Notbehelf der Auslandsanleihen unabsehbare Nachteile (so u. a. Gefahr der politischen Abhängigkeit von mächtigen Gläubigerstaaten) nach sich zieht, so ist das Problem der richtigen Finanzierung einer wirtschaftlichen Entwicklung in den in Frage stehenden Ländern ähnlich schwierig, wie das mit ihm verbundene Problem der Erreichung einer gerechteren Verteilung.

Zuletzt kann die Wissenschaft sogar die Frage aufwerfen, ob denn die wirtschaftliche Entwicklung immer und überall so wünschenswert sei, daß der Staat sie unterstützen oder gar forcieren solle. In einigen der südameri- kanischen Länder besteht der größere Teil der Bevölkerung aus Indios, die Analphabeten und nicht in den eigentlichen wirtschaftlichen Prozeß ver- flochten sind, nicht für den Markt produzieren, fast nichts kaufen und keine Steuern zahlen; und dazu weisen diese Stämme zum Teil infolge einer be- klagenswerten Unterdrückung und Ausbeutung in der Kolonialperiode, zum Teil vielleicht infolge anderer Ursachen solche physischen und psychischen

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Defekte auf, daß objektive Beobachter manchmal daran zweifeln, ob dieser Klasse ein Aufstieg beschieden sein kann und ob sie je zu selbständig denken- den und -handelnden Staatsbürgern erzogen werden könnten.

Man kann noch weitergehen und fragen, wieweit in den großen euro- päischen Staaten die wirtschaftliche Entwicklung zu Resultaten geführt hat, die als günstig und bleibend (für einige Zeit) angesehen werden können, und ob nicht außer dem übersteigerten Nationalismus auch die forcierte In- dustrialisierung zu jenen Krisen des Kapitalismus, Kriegen und Revolu- tionen geführt hat, die kleineren Ländern mit langsamerer, ruhiger und stetiger politischer und wirtschaftlicher Entwicklung (Schweiz und Skan- dinavien) erspart geblieben sind.

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