chuck berry: mr. rock'n'roll

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chuck berry vol. 2011.05 info 1/30 Reprint 1986 Von Gundolf S. Freyermuth Chuck Berry Mister Rock&Roll Den Rock’n’Roll hat er miterfunden. Und Rock’n’Roll heißt für ihn nicht einfach Musik. Sondern Sex. Auch Tan- zen, Autofahren, Geld verdienen. Und wieder Sex. Und mehr Geld verdienen. So lange und so schnell es geht. Eine heißkalte Begegnung mit Chuck Berry Weiter

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Den Rock’n’Roll hat er miterfunden. Und Rock’n’Roll heißt für ihn nicht einfach Musik. Sondern Sex. Auch Tanzen, Autofahren, Geld verdienen. Und wieder Sex. Und mehr Geld verdienen. So lange und so schnell es geht. Eine heißkalte Begegnung mit Chuck Berry Dieser Nachdruck wurde zuerst als PDF auf www.freyermuth.com veröffentlicht. Wer die interaktiven Elemente nutzen will, die bei Scribd leider nicht funktionieren, kann dieses PDF und andere der Art weiterhin unter "Reprint des Monats" auf www.freyermuth.com herunterladen.

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Page 1: Chuck Berry: Mr. Rock'n'Roll

chuck berryvol. 2011.05 info 1/30

Reprint

1986Von Gundolf S. Freyermuth

Chuck BerryMister Rock&RollDen Rock’n’Roll hat er miterfunden. Und Rock’n’Roll heißt für ihn nicht einfach Musik. Sondern Sex. Auch Tan-zen, Autofahren, Geld verdienen. Und wieder Sex. Und mehr Geld verdienen. So lange und so schnell es geht. Eine heißkalte Begegnung mit Chuck Berry Weiter

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Die Uhr piept fünf: “Just let me hear some Rock’n’Roll Music”, fordert seine Stimme

aus meinem Walkman, als unsere Maschine auf dem Rollfeld aufsetzt: Rock’n’Roll will

ich hören, darauf steh’ ich, Rock’n’Roll-Musik muss es sein, wenn du mit mir ‘ne Num-

mer schieben willst...” Oder in der gereinigten Version: “Wenn du mit mir tanzen

willst ...”

MR. ROCK&ROLL ERWARTET UNS, in einem Schuppen namens Lanier Land bei einem

Nest namens Cumming, nicht weit von Atlanta, der Scarlett-O’Hara-City und Coca-Cola-

Kapitale.

Zwischen den heruntergekommenen Gebäuden der schwarzen Außenbezirke lauert

Slum, der böse Geist des Verfalls: Müll starrende Grundstücke, Autowracks, die in der

feuchten Hitze vor sich hin rosten, von Unkraut halb überwachsen. Die letzten Ruhe-

stätten der Straßenkreuzerdinosaurier, von der Ölkrise dahingerafft, geben beliebte

Treffpunkte ab. Kleine Gruppen dunkelhäutiger Männer zwischen Ende vierzig und dem

Ende ihres Lebens lehnen sich an die zerstörten Blechungetüme oder sitzen inmitten

der Alptraumlandschaft auf Campingstühlen und reden und trinken verstohlen aus Fla-

schen, die sie in braunen Papiertüten verbergen.

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Hier rotten nicht einfach Autos und Häuser vor sich hin, hier verfällt die amerikani-

schen Teenage-Idylle der 50er Jahre, wie sie keiner besser als Mr. Rock&Roll besungen

hat: jene saubere (und weiße) Vorstadt-Wohlstands-Welt aus chromblitzenden Autos

und Drive-ins, aus hoffnungsvollen Jungs und Petticoat-Petting-Mädchen, die ziellos

durch die Gegend fahren und nichts sonst im Sinn haben als Spaß, Tanzen und die

Eroberung der Rücksitze - eben das, was die Worte Rock’n’Roll im Slang schon lange

meinten, bevor es die Musik dazu gab.

Die Uhr piept sechs: “Maybellene, why can’t you be true?” klagt seine Stimme aus

meinem Walkman, als wir den Highway erreichen: Maybellene fährt auf Abwegen, und

so jagt er ihr im Cadillac mit 170 Sachen nach, bis er sie auf dem Gipfel des Berges

endlich kriegt ...

Das ist schiere Auto-Minne, Liebeswerben auf vier Rädern, aber auch ein verliebter

Tribut an die mobile Gesellschaft. Als der kleine Chuck in die Pubertät kam und ent-

deckte, was man mit Mädchen in Autos alles machen kann, rollten in den USA erst 27

Millionen Schlafzimmer auf Rädern; 1955, als Maybellene entstand, waren es schon

mehr als doppelt so viele. Und wie der damals allgegenwärtig werdende Lärm von

quietschenden Reifen und tönenden Hupen hört sich Chuck Berrys erster Hit denn auch

an: Highway Sound.

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Maybellene beginnt mit einem - von Berrys Gitarre imitierten - Auto-erotischen Horn

und fährt dann ab in einen zischenden Leitplanken-Klang, als wäre die Aufnahme unter-

wegs entstanden, derweil die Musiker zu ihrem nächsten Auftritt eilten.

MR. ROCK&ROLL ERWARTET UNS also. Fragt sich nur: wie? Mit der schon legendären

schlechten Laune? Oder hält er noch ein paar seiner üblichen Überraschungen bereit

– als da sind kaltschnäuzige Verarschungen, Fußtritte und auch schon mal ein durchge-

ladenes Gewehr?

Wahrlich, es mangelt nicht an Geschichten über das miese, launische, aggressive, geld-

gierige, unzuverlässige, zynische, erpresserische Gehabe des Mr. Rock&Roll.

Zu seinen Fans hat er ein gebrochenes Verhältnis. Nur zu oft spielt er mit schlechten,

dafür billigen Bands, deren Mitglieder er erst Tage oder Stunden zuvor aufgelesen hat,

und er spielt kurz – die genaue Zahl der wenigen Minuten pflegt er dem Publikum aus

reinem Sadismus vorher anzukündigen.

Zugaben sind nicht drin.

Und Interviews gewährt er so gut wie nie, und die wenigen Ausnahmen hat er bislang

noch immer dazu benutzt, nichts oder schieren Unsinn zu erzählen. Berüchtigt ist auch

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der Tort, den er Agenten und Veranstaltern antut: Mr. Rock&Roll tritt nur gegen Bargeld

auf, gegen Cash, zahlbar vor Beginn der Show. Damit erst gar kein Zweifel aufkommt an

seiner Prinzipientreue, lässt er die Gitarre mitunter solange im Auto, bis die Lappen auf

dem Tisch des Hauses liegen. Nachzählen tut er höchstpersönlich. Verträge und Quit-

tungen unterzeichnet er hingegen ungern, denn er neigt dazu, in letzter Minute, wenn

der Saal so richtig schön voll ist, noch mal einen Nachschlag aufs Honorar zu verlangen.

Aber was soll’s, nette Menschen gibt’s genug. Vollkommen unbedeutend ist das alles

gegenüber der Tatsache, dass wir diesem schlanken schwarzen Mann ein Dutzend der

besten, wichtigsten, schönsten, einflussreichsten Songs des frühen Rock’n’Roll verdan-

ken, darunter Maybellene (‘55); Roll over Beethoven (‘56); Rock and Roll Music und

School Days (‘57); Sweet Little Sixteen, Reelin’ and Rockin’, Johnny B. Goode, Around

and Around und Carol (‘58); Memphis, Tennessee, Back in the USA und Little Queenie

(‘59); Nadine und No Particular Place To Go (‘64).

Seine Hits hat er zudem nicht nur gesungen und gespielt wie andere Rock’n’Roller, wie

Bill Haley, Jerry Lee Lewis oder Elvis – er hat sie geschrieben, die bessere Hälfte der

Klassiker aus der Frühzeit des Rock. Wäre er so schneeweiß wie er rabenschwarz ist,

die Industrie hätte nicht Muttis Hüftie aus Memphis, sondern den Teenie-Verführer aus

St. Louis zum King gekrönt.

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Fast ein ganzes Jahrzehnt blieb Chuck Berry der bedeutendste Komponist und Poet der

Jugendkultur, bis ihm seine britischen Schüler die Show stahlen: Am Anfang der Musik-

begeisterung von John Lennon und Paul McCartney, von Mick Jagger und Keith Richards

stand die Bewunderung für die schwarzen Scheiben des schwarzen Mr. Rock&Roll. Sie

haben von ihm gelernt und geklaut und ihre Karriere auf seinen Songs aufgebaut. Come

on war die erste Single der Rolling Stones, bis dato haben Jagger & Co. über zwanzig

Berry-Werke aufgenommen. Und auch die Beatles landeten zwei frühe Hits mit Versio-

nen von Rock and Roll Music und Roll over Beethoven.

Die Uhr zeigt sechs fünfundvierzig: “Roll over Beethoven”, fordert seine Stimme aus

dem Walkman, als wir den Highway verlassen: Beethoven einfach überrocken und

überrollen, das ist ein Rock’n’Roll-Manifest. “Roll over Beethoven, roll over Beetho-

ven” – die permanente Wiederholung der Zeile am Ende des Songs will den Geist des

Ludwig van ein für alle mal aus dem Diesseits der Musik exorzieren. Und Tschaikowsky

werden die Leviten gleich mit gelesen, bloß keine falsche Bescheidenheit.

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MR. ROCK&ROLL ERWARTET UNS. Fragt sich nur, wo? In der provinziellen Kaufhausre-

produktion eines plüschigen Las-Vegas-Showroom? Oder in einer plastikbeschichteten

Gemeindehalle mit dem Charme eines bundesdeutschen Freizeitheims? In einer dieser

finsteren, verrauchten Discos mit Laserlicht, in einem eiskalten New-Wave-Neon-Laden?

Oder gar - oh, Mann, nein - mitten auf der Weide in einer Fertigbau-Scheune!?

Die Uhr zeigt sieben zwanzig: Der Verkehr staut sich. Links der xte Autofriedhof, dann

rechts die entsprechende Ruhestätte für die Fahrer und Fahrerinnen. Ansonsten Kühe,

wohin das Auge blickt. Ordner winken uns auf eine riesige, frischgemähte Wiese, die

den Parkplatz für die rund 3000 Fahrzeuge abgibt, mit denen die 5000 Rock’n’Roller

aller Altersgruppen anreisen.

Eine seltsame Gemeinde, vom Großvater bis zur Enkelin, drängelt sich da zu einer selt-

samen Kathedrale: Inmitten der bukolischen Landschaft steht eine Art Heuschober mit

Spitzdach. Den unteren Teil der Wände ersetzen schwere Planen, die jetzt hochgeschla-

gen sind, so dass das viereckige Gebäude an drei Seiten offen ist. Zusammen mit der

Abendkühle zieht Herbst-Heu-Geruch herein. Das Konzert wird so gut wie auf der Weide

stattfinden. Doch vorher:

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MR. ROCK&ROLL ERWARTET UNS. Fragt sich nur...

“Ich gebe keine Interviews”, sagt Chuck Berry zur Begrüßung, als wir ihm am Ende un-

serer ein paar tausend Kilometer langen Reise hinter der Bühne gegenüberstehen, und

dann prostet er uns mit seinem Plastikbecher Eistee zu. Der immer noch spindeldürre

schwarze Satyr grinst glücklich über unsere dummen Gesichter. Seine Laune steigt im

selben Maße wie die unsrige fällt.

Charles Edward Anderson Berry, geboren 1926, vermutlich am 15. Januar, vielleicht

aber auch am 18. Oktober – nach einem Vierteljahrhundert des Versteckspiels hat er

immerhin zugegeben, nicht Jahrgang 1931 zu sein –, sieht erstaunlich jung aus für einen

Mann, der demnächst 60 wird. Und von erstaunlich frischer Boshaftigkeit ist er auch.

Warum weigert er sich jetzt, obwohl hoch und heilig versprochen, mit uns zu reden?

Mr. Rock&Roll lächelt sardonisch wie der große Verderber, für den ihn eine ganze Gene-

ration von Tugendwächtern hielt.

“Ich muss vorsichtig sein, ich würde glatt all meine Schwächen offenbaren. Ich gerate

leicht in Stimmung. Dann vergesse ich mich selbst und gebe alles preis.”

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Der jugendliche So-gut-wie-Sechziger in

der biederen braunen Hose und dem dazu

unpassenden blauen Hemd wird zunehmend

zufriedener. Den Kragen hält er mit einer

Art Sheriffstern-Krawatte geschlossen, die

vollkommen überflüssige Sonnenbrille hängt,

ganz Fünfziger-Jahre-Playboy, im zweitober-

sten Hemdknopf. Die Freude, uns zappeln zu

sehen, schwemmt seine schlechte Laune hin-

weg. Berrys Stimme wird fast emphatisch.

“Kaum zu glauben, was da die Jahre über

schon den Bach runtergegangen ist, ein Hau-

fen Geld, Francs, Pfunde, D-Mark, Dollar. Nur

weil ich mich von meiner Begeisterung habe

mitreißen lassen.

Will Mr. Rock&Roll als Gegenleistung für ein

Gespräch Bares?

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Nein, null Interesse. Er will nur spielen wie die Katze mit der Maus, bevor sie ihr den

Todeskuss gibt.

“Kein Interview?”

“Kein Interview!” sagt Mr. Rock&Roll.

Und beginnt zu sprechen. Von sich, von seinen Eltern, seinen Kindern, von seinen Autos

und vom Rock’n’Roll. Als er sieht, dass ich mitschreibe, zieht er seinen dünnen Mund

schief und bricht mitten im Satz ab. Dann lächelt er plötzlich und zuckt mit den Ach-

seln.

“Tja, ich mach’, was ich will. Auch wenn ich’s gerade noch nicht wollte. Die Leute

sagen, dass ich verhext bin. Aber so muss es eben laufen: sein eigener Herr sein, frei

arbeiten, frei leben!”

Zwei Vor-Teenage-Jungs unterbrechen seine philosophischen Geständnisse. Die Knaben

sind mit irgendwem verwandt und werden deshalb als einzige Fans hinter die Bühne

gelassen.

“Hallo, ich bin Bo Diddley”, sagt Chuck Berry. Die Jungs erröten vor Verzweiflung.

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Die Uhr zeigt sieben vierzig: MR. ROCK&ROLL ERZÄHLT. Fragt sich nur, was. Und ob wir

es mit der Wahrheit zu tun haben.

Die sieht erst mal so aus, dass Mr. Rock&Roll wichtige Abschnitte seines Lebens mit

Gefängnisaufenthalten zu beenden pflegt, bislang dreimal. Geboren 1926 in Kalifornien

und aufgewachsen in St. Louis, schloss er seine Jugend 1944 mit dem ziemlich dilettan-

tischen Versuch eines Raubüberfalls ab, was ihn für drei Jahre in eine Besserungsanstalt

brachte. Als er entlassen wurde, war er einundzwanzig Jahre alt und geriet erst mal in

die künstlerische Unfreiheit des Fließbandarbeiters in einer Autofabrik.

Da er sehr schnell merkte, dass das nicht das Richtige für ihn war, besuchte er die

Abendschule und ließ sich zum Kosmetiker ausbilden, was das Überleben schon ein we-

nig schöner machte. Doch für Frau, zwei Kinder und ein ordentliches Auto brauchte es

mehr Geld. So begann er nach der Arbeit in einer Band Gitarre zu spielen. Bald gehörte

er zu den musikalischen Lokal-Größen in St. Louis und Umgebung.

Aber was bedeutete das schon?

Also zog er weiter, nach Norden, nach Chicago, in die industrielle Traum-City, in der

schwarze Musiker wie Howlin’ Wolf und Muddy Waters aus dem ländlichen Blues des

Südens den städtischen, elektrisch verstärkten Rhythm&Blues schufen.

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Muddy Waters wurde Chuck Berrys Mentor. Die beiden traten ein paar mal zusammen

auf. Sehr bald schickte Muddy Waters, damals Anfang vierzig, seinen neunundzwanzig-

jährigen Schützling zur 2120 South Michigan Avenue. Dort residierte Chess-Records, das

Top-Rhythm&Blues-Label, erst Ende der vierziger Jahre von zwei polnischen Einwande-

rer-Brüdern gegründet – ihr erster R&B-Hit war Muddy Waters Rolling Stone, der Song,

nach dem sich zwanzig Jahre später die Rolling Stones und das Rolling Stone Magazine

nennen sollten und der auch Bob Dylan zu seinem klassischen Like a Rolling Stone ani-

mierte.

Chuck Berry fuhr zurück nach St. Louis und nahm auf einem billigen Monogerät zwei

Eigenproduktionen auf. Den Chess-Brüdern gefiel, was sie hörten, und nach sechsund-

dreißig Studio-Anläufen war die Debut-Single im Kasten. Maybellene wurde im Mai 1955

veröffentlicht und erreichte acht Wochen später die Nummer 1 der R&B-Charts, dabei

ausgerechnet Bill Haleys Rock Around the Clock vom ersten Platz verdrängend.

“Wie war das für einen Ex-Sträfling, Ex-Fließbandarbeiter und Abendschul-Kosmetiker,

plötzlich ein Star zu sein? Nicht mehr jeden Morgen zur Arbeit zu müssen, von den

Mädchen auf der Straße erkannt zu werden und vor allem sich den Cadillac leisten zu

können, den Maybellene fast noch mehr als die Geliebte besingt?”

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“Maybellene war berühmt, Chuck Berry nicht.”

Mr. Rock&Roll mimt den eisernen Eingeborenen. Der Erfolg veränderte sein Leben also

nicht?

“Nein, ich war ja kein Teenager mehr, ich war erwachsen. Ich hatte schon ein Haus,

einen Wagen.”

“Einen Caddy?”

“Nein, einen uralten Ford, ein ‘33er Modell. Aber seitdem habe ich mir siebenundfünf-

zig Autos gekauft.”

“Und der Hitparaden-Eleve machte erst einmal weiter wie bisher, ging brav in den Fri-

seursalon arbeiten?”

“Nicht direkt.” Chuck grinst. “Das Geschäft litt ein wenig.”

Er strahlt übers ganze Gesicht. Heilfroh, war er, dass der Alltag ein Ende hatte.

Kaum war der Song in den Charts, begann Chuck Berry schon die erste seiner unzähli-

gen Mammuttourneen - 101 Auftritte in 101 Tagen in ein paar Dutzend Städten. Da wird

das Friseur-Geschäft allerdings ein wenig gelitten haben.

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“Heute mitgerechnet bin ich...” Chuck krumpelt seine hohe Stirn. Man sieht, wie er

über eine Zahl nachdenkt, die einem bekloppten Journalisten mit seiner bekloppten

Neugier glaubhaft erscheinen könnte. “Also, genau 2408mal bin ich aufgetreten.”

Je skeptischer ich gucke, desto harmloser strahlt mich Chuck an. Der Mann ist ein

lebendes Paradox. Wie kann einer so aalglatt und zugleich so grob sein? Und so sympa-

thisch!

“Soll das allen Ernstes eine exakte Zahl sein?” frage ich vorsichtig.

Mein Misstrauen weckt den Ehrgeiz von Mr. Rock&Roll.

Reporter in die Pfanne hauen ist einfach toll. Chucks Laune steigt ins Verdächtige. Er

grinst verschämt und klimpert mit den Wimpern wie eine Barbie-Puppe.

“Klar, exakte Zahl. Nichts als Fakten. Nur auf die kommt’s an. Ich hab’ das alles in mei-

nem Computer zu Hause.”

Das Lied vom Computer, in dem alles bis aufs Komma genau steht, geht direkt über in

die alte Arie vom großen Buch seines Lebens, an dem Mr. Rock&Roll seit Menschenge-

denken arbeitet – weshalb er keine Interviews gibt, denn die Presselümmel verdrehen

alles, also schreibt er es jetzt selbst usw. Die Geschichte haben schon drei Generatio-

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nen von Rock-Journalisten zu hören bekommen. Der Computer allerdings ist neu. Und

neu ist, dass Mr. Rock&Roll nach Absingen der Arie den Reporter nicht rausschmeißt.

“Fangen wir damit an, wie alles begann”, versuche ich es ganz vorsichtig auf die kon-

ventionelle Tour.

“Im Kirchenchor, mit sechs Jahren...”

“Rock’n’Roll?”

“Was?” Chuck schaut mich an wie jeden anderen Verrückten auch.

“Diese Musik”, sage ich, “du weißt schon...”

“Wir nannten das noch nicht Rock’n’Roll.”

“Wie denn?”

“Gar nicht.” Chuck scheint beleidigt. “Man hat einfach Musik gemacht. Die Leute, die

die Etiketten erfanden, kamen erst später.”

“Okay, Kirchenmusik...”, sage ich. “Aber vielleicht gab es noch andere Vorbilder...?”

“Ich hätte Prediger werden sollen”, sagt Mr. Rock&Roll mit einer Ironie, an der nun

wirklich nichts Feines mehr ist, und geht zur Bühnentür, um einen Blick aufs Publikum

unten auf der Weide zu werfen.

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Ganze Familien sind da, um einen drauf zu machen. Die jüngsten tragen noch Windeln,

die ältesten sind gerade so alt wie Mr. Rock&Roll. Beste Laune allerseits. Denn das ist

nicht einfach irgendein Sonnabend in irgendeiner Stadt. Das ist DER SAMSTAGABEND auf

dem Lande. Und hier wissen die weisen weißen Leute noch – keiner von der schwarzen

Bevölkerungsmehrheit drunter –, was sie einem Sonnabend schuldig sind.

Warum?

Weil sie noch wissen, was ein Sonntag ist. Mit Kirche, Braten und allem Zubehör.

Chuck amüsiert sich, als würde er denken: Vor dem Gottesdienst ist Spaß angesagt,

auf Teufel komm raus. Aber vielleicht hat er doch Biblischeres im Sinn? Ingrid, seine

Tochter, wird mir später über ihre eigene Jugend sagen: “Wir wurden gottesfürchtig

erzogen.”

Chuck hampelt ein bisschen im Raum herum, zapft neuen Tee, versieht ihn mit Eis und

setzt sich schließlich wieder neben mich.

“Nat King Cole mochte ich, und Glen Miller.” Er summt ungefähr drei Töne einer Melo-

die und fragt: “Was ist das?”

Ich zucke mit den Achseln.

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“Glen Miller, In the Mood. Das war die erste Platte, die ich mir in meinem Leben ge-

kauft habe.” Er schaut mich mitleidig an. “Richtige Teenager-Musik wie heute gab es ja

noch nicht.”

“Wie hast du geübt, damals zwischen 1940 und 1955? Warst du Plattensammler? Hast

deine Lieblingssongs von den Scheiben nachgespielt, wie es Jagger und Lennon, McCart-

ney und Richards später mit deinen Hits gemacht haben?”

“Nein, in meinem ganzen Leben habe ich mir vielleicht zehn Schallplatten gekauft – na-

türlich die nicht gerechnet, die für meinen Nightclub angeschafft wurden.”

Der Mann, dessen Ruhm und Wohlstand auf Abermillionen Vinylscheiben ruht, ist sicht-

lich stolz auf seine Musikkonsum-Abstinenz.

“Außerdem, als Teenager besaß ich überhaupt keinen Plattenspieler. Wir waren nicht

so wohlhabend. Ich habe viel Radio gehört, was aber auch nicht so einfach war. Denn

es gab nur eins im Haus, ich musste warten, bis ich es ganz für mich allein hatte. Und

dann musste ich sehr vorsichtig damit umgehen. Man durfte nicht einfach an den Knöp-

fen rumdrehen. Es war ja ein ungeheuer kostbares Möbel.”

“Keine Schwierigkeiten mit den Eltern wegen der Liebe zur Lärmmusik?”

“Oh no.”

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“Und deine eigenen Songs, haben die deinen Eltern gefallen”?

“Oh yeah.”

Die Mehrheit der Erwachsenen dachte in den Fünfzigern allerdings nicht so. Vor allem

beim weißen Mittelstand war Mr. Rock&Roll höchst unbeliebt. Denn im Unterschied zu

anderen schwarzen Rock’n’Rollern, zu Fats Domino, einem überschweren schwitzenden

Monster, oder zu Little Richard, einem pumpstragenden und parfümierten Vorgänger

der Transsexuellen-Mode, stellt der athletische Beau aus St. Louis eine sexuelle Bedro-

hung dar. Zumal seine Songs Loblieder auf nichts anderes als das eine sangen.

Im August 1959 wurde Chuck Berry in Mississippi verhaftet, weil er sich angeblich –

welch unglaubliche Sauerei – mit einem weißen Mädchen verabredet hatte. Die Sache

ging noch mal glimpflich aus. Doch wenig später hatten sie diesen, wie Berry von sich

selbst dichtete, “brown-eyed handsome man”: Der braunäugige, gutaussehenden Mann

hatte eine vierzehnjährige Prostituierte über die Staatsgrenze gebracht und in seinem

Nachtclub als Garderobiere angestellt.

Nach zwei Jahren und zwei Prozessen – das erste Urteil musste wegen allzu offenen

Rassismus für ungültig erklärt werden – wurde Berry zu fünf Jahren Gefängnis verur-

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teilt. Im Februar 1962 zog die Justiz den Schrecken aller ordentlichen Amerikaner für

eine Weile aus dem Verkehr.

Noch während er zum zweiten Mal im Knast saß, begann die zweite Welle des Rock.

Und seine Songs waren nicht wenig daran beteiligt. Die Beach Boys kalifornisierten den

Text von Sweet Little Sixteen und landeten mit Surfin’ USA ihren ersten Hit. Beatle- und

Stones-Versionen von Berry-Songs folgten auf dem Fuß.

So kam es, dass Chuck Berry, als er Ende 1963 vorzeitig entlassen wurde, plötzlich zum

Altmeister des Rock’n’Roll geworden war. Eine seltsame Erfahrung, wie er damals in

seltener Offenheit der Presse anvertraute: “Manchmal hören Kids Platten von mir, und

dann sagen sie: Mann, der Typ spielt ja ‘ne Rolling Stones-Nummer!”

Mr. Rock&Roll, dessen Karriere durch den Knast einen endgültigen Knick bekommen

hatte – sieht man einmal davon ab, dass er Pleite war und dass ihn seine Frau unter

Mitnahme der Kinder verlassen hatte –, rettete sich in demonstrativen Zynismus und

launische Menschenfeindlichkeit. Kollegen und Freunde wie etwa Carl Perkins (Blue Su-

ede Shoes) erkannten den umgänglichen Kerl von einstmals kaum wieder.

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Die Uhr piept acht: Ein paar Mitglieder der Begleittruppe kommen sich vorstellen. Der

Saxophonist, ein freakiger Mittdreißiger, drückt sich verschüchtert um uns herum wie

ein Butler, der gerade bemerkt, dass er den Nachtisch in der Ming-Vase serviert hat.

“Mr. Berry, es ist ein Vergnügen, mit Ihnen auftreten zu dürfen.”

Chuck heuchelt nur mäßig Interesse. Ein paar der Leute sieht er augenscheinlich zum

ersten Mal. Sollen die doch alleine üben, er kann seine Lieder schon ...

“Saxophon”, sagt er gleichgültig zum Saxophonisten, “wollte ich immer mal lernen.”

Der Mittdreißiger lächelt.

Chuck lächelt.

Der Saxophonist weiß nicht, was er noch sagen soll.

Chuck hält den Mund.

Ich tue so, als wäre ich nicht da.

Der Saxophonist sagt: “Also dann”, und macht den Abgang.

Ich bin nicht da.

Chuck geht in seine Garderobe.

Chuck kommt wieder.

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Dass ich gar nichts mehr sage, ist ihm auch nicht recht.

“Icchk llliieppe deik”, radebrecht er, um gut Wetter zu machen. Denn es ist einfach

ärgerlich für die Katze, wenn die Maus zu früh krepiert.

“Ich liebe dich”, verbessere ich.

“Yeah, icchk llliieppe deik”, wiederholt er.

Wenn er so weiter macht, wird er sich den Kiefer brechen. Zur allgemeinen Erleich-

terung erzählt er auf Englisch weiter – wie er in ganz Hamburg keine “Sweinechops”

bekommen hat.

Die Uhr zeigt acht fünfundzwanzig: In einer halben Stunde wird Mr. Rock&Roll auftre-

ten. Ein Typ kommt und fragt, wo er die Mikros hinstellen soll. In Sekundenschnelle ist

Berry genervt.

“Keine Ahnung, Mann!”

“Wo wirst du denn ...”

“Mal hier, mal da. Ich gehe auf die Bühne und fange an zu spielen. Ich überlege mir das

vorher nicht.”

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Chuck guckt weg, der Mann ist ihm lästig. Die tiefen müden Augen von Mr. Rock&Roll

schauen wie ein alter Kahn auf der Suche nach seinem Rettungsanker.

“Ich arbeite, wie ich lebe. Ohne Plan.”

Der Junge gibt endlich auf und zieht ab. Weiß Gott oder der Teufel, wo die Mikros hin-

kommen.

“Ich werde sie schon finden”, sagt Chuck.

Die Uhr zeigt acht vierzig: Mr. Rock&Roll verschwindet in seiner Garderobe und zieht

sich zur Show um. Als er wieder auftaucht, ist an die Stelle der dezent braunen eine

grell gelbe Hose getreten, deren geschmackloser weiter Schlag auf ihre Herkunft aus

den siebziger Jahren schließen lässt. Ein buntes Hemd in den ungefähren Farben des

Sternenbanners rundet die Kostümierung fürs Provinzpublikum ab.

Mr. Rock&Roll setzt sich wieder in den Sessel neben mich und schweigt.

Höchste Zeit für ein paar der superintelligenten Fragen, auf die man nie eine vernünf-

tige Antwort kriegt.

“Du giltst als Poet der amerikanischen Massenkultur, als Messdiener in den Kathedralen

des Wohlstands, du singst Hymnen auf Statussymbole und Konsum...”

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Schweigen.

“Deine Texte rühmen die Reize von Geschwindigkeit, Tanzen, Sex. In einer simplen,

minimalistischen Alltagssprache verkünden sie die Schönheit von Cadillacs und kurzen

Röcken, von Motels und Schnellimbissen, loben die flüchtigen Genüsse auf den High-

ways und Parkplätzen ...”

Chuck lächelt versonnen, ich habe den Eindruck, dass er ganz woanders ist. Doch er

zwinkert mir sofort zu, als ich aufhöre zu reden.

“Okay”, mache ich weiter, “du liebst die Reize von Hamburgern und hockhackigen

Schuhen, die Gemütlichkeit von Drive-ins ...”

“Ich war in meinem Leben noch in keinem Drive-in”, sagt Chuck beiläufig und fummelt

in seinem Eistee herum.

“Du hasst Drive-ins?”

“Nein.”

“???”

“Genaugenommen sind sie mir egal.”

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“Dafür hast du ziemlich viel davon gesungen: Wie froh bin ich in den USA zu leben, wo

die ganze Nacht auf den offenen Grills die Hamburger brutzeln ...”

“Ich habe über das geschrieben, was ich gesehen habe. Wenn ich in den Songs erzählt

hätte, was ich selbst so trieb – oh, Mann, die Leute waren damals sehr streng!”

Vor allem mit Schwarzen und vor allem im Süden. Die Wohnviertel und die Lokale, die

öffentlichen Toiletten und sogar die Trinkbrunnen wurden strikt nach Hautfarbe ge-

trennt wie heute nur noch in Südafrika. Auf Schritt und Tritt begegnete Berry reizender

Rassendiskriminierung. Nur zu oft musste er sich etwa sein Essen von weißen Bandmit-

glieder aus den Restaurants holen lassen und alleine im Tourneebus essen.

“Wie fühlte man sich als schwarzer Junge mit großen Ambitionen im Süden? War

Rock’n’Roll für Schwarze damals so etwas wie Boxen, ein Weg nach oben?”

“LISTEN TO THE MUSIC”, sagt Mr. Rock&Roll: “Hör auf das, was ich singe.”

Die Uhr piept neun: Mr. Rock&Roll erobert die Bühne. Er schwingt sich die Gitarre um

den Giraffenhals und würdigt das Publikum eines Seitenblickes.

Das reicht. Johlen, Pfeifen. Lärm, der kilometerweit die Kühe erschrecken muss.

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“Gut’n’ab’nd”, sagt Mr. Rock&Roll. So höflich, als wäre das keine Vorstellung, sondern

ein Vorstellungsgespräch. “Ich bin Chuck Berry.”

Noch so ein Satz und die Leute, gesittete Menschen allesamt, werden den Laden aus-

einandernehmen. Aber Chuck weiß, wie man einen Haufen Weißer runter kriegt.

“Wir machen jetzt genau 35 Minuten Musik”, sagt er mit viel Gemeinheit in der

Stimme.

“Oh, mein Gott”, stöhnt seine Tochter Ingrid, die neben mir im Seitengang der Bühne

steht. Sie ist ein Vierteljahrhundert jünger als ihr Vater und eine ganze Menge schöner,

als es ein Mann jemals sein wird.

Mr. Rock&Roll wringt seine Gitarre, dass man denkt, er wolle die Wäscheschleuder

noch einmal erfinden: “Hail, hail, Rock’n’roll...” Sehr bald schon beginnt er den ersten

seiner legendären “Duckwalks”: Er geht in die Hocke und hopst auf Zehenspitzen die

Bühne auf und ab, sein Instrument dabei umklammernd wie ein Gondoliere das Ruder.

Kaum zu glauben, dass damals die puritanischen Sittenwächter diesen gierig-eleganten

Entengang, der heute Gefahr läuft, wie eine Art Aerobic für Ischiaskranke zu wirken,

als wüsten Ausbruch wilder Sinnlichkeit fürchteten. Auf Chucks Gesicht zeigen sich im

blau-roten Bühnenlicht die ersten Schweißtropfen:

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“Meine Temperatur steigt, die Musikbox haut die Sicherungen durch, mein Herz schlägt

den Rhythmus, meine Seele singt dazu den Blues ...”

Chuck streichelt und knutscht seine Gitarre, als wäre er mit ihr in der dunkelsten Ecke

einer Teenie-Diskothek. Immer lustvoller werden ihre Töne. Ingrid hält es nicht. Sie be-

arbeitet den Boden mit ihren hohen schwarzen Pumps. In den hinteren Reihen springen

die ersten Leute auf und beginnen zu tanzen. Doch im selben Maße, wie sein Publikum

ausrastet, wird Chucks Gesicht eisern.

“Er macht mich nervös, wenn er nicht lächelt”, sagt Ingrid.

Sie gibt ihm Zeichen und zieht sich, als Mr. Rock&Roll endlich zu ihr schaut, mit den

Fingern die Mundwinkel auseinander: Smile, lächele, lächele!

Chuck starrt böse durch sie durch. Schließlich stoppt er die Musik abrupt, beugt sich

zum Publikum runter und sagt sardonisch: “Ihr sagt, was - wir spielen’s.”

Das ist Fernseh-Politik: Gib den Leuten, was sie wollen, besser kannst du sie nicht für

dumm verkaufen. Was folgt, ist eine Kaskade von Golden Hits, in die Mr. Rock&Roll

jeweils so plötzlich einsteigt, dass die Begleitband verzweifelt. Alle suchen krampfhaft

nach den richtigen Tönen, bis sie kapiert haben, welchen Song Chuck gerade begonnen

hat. Hat sich die Band dann reingefunden, steigt Mr. Rock&Roll schon wieder aus, dabei

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der Gitarre an den Hals klopfend wie einem lieben alten Bekannten, dem er gerade die

Luft abdreht. Ingrid wird immer nervöser.

“Als ich Reelin’ and Rockin’ schrieb, war sie vier Jahre alt ...”, lächelt Papa Chuck.

Ingrid hüpft auf die Bühne, reelin’ and rockin’. Eine hüftenschwenkende Zweideu-

tigkeits-Nummer beginnt, die atemlos macht und von den angeblichen Wurzeln des

Rock’n’Roll nicht mehr sehr weit entfernt ist.

“Ich war immer noch am Rocken”, prahlt Chuck und verdreht die Augen und kreist mit

dem Unterleib, um keinen Zweifel daran zu lassen, was da hin und her gerockt. Immer

mehr Männer im postpuritanische Farm-Publikum schlagen sich und ihren sichtlich auf-

lebenden Frauen auf die Schenkel, dass man meint, es knallen zu hören.

“Sie wartete nicht mal drei Minuten, bevor sie sagte: Gib mir mehr davon ...”

Johlen, Kreischen. Das Inzest-Duo mit Holzfäller-Charme begeistert, die Hälfte des Pu-

blikums tanzt im Stehen und auf den Stühlen.

“She let me turn her around and do it again!”

Chuck rockt frenetisch. Ingrid wehrt ab und tut empört. Dann reckt sie ihren Satin-

Hintern in Richtung Mr. Rock&Roll. Das gibt dem Publikum auf der Weide den Rest. Der

schwarze Verführer wiederholt:

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“Sie ließ sich von mir umdrehen und es mich noch einmal machen.”

Die gottesfürchtige weiße Gemeinde schreit wie ..., nein, im Orgasmus.

Mr. Rock&Roll hat erreicht, was er wollte. Sofort geht er daran, den Abgang vorzuberei-

ten.

“You want us to stop”, singt er, “Ihr wollt, dass wir aufhören?”

“No”, brüllen 5000 Münder.

“Noooo”, brüllt Ingrid.

Chuck, sanft rockend: “We gotta go...”

Ingrid: “I don’t wonna to ...”

Chuck rockt davon ... davon ... und von der Bühne.

Kein Pfeifen, kein Klatschen, kein Brüllen, kein Buhen bringt ihn zurück. Die 35 Minuten

sind rum, Zugaben nicht drin.

In anderthalb Stunden aber wird die Uhr elf piepen und die zweite Show des Abends be-

ginnen. Mr. Rock&Roll wird wieder seine Goldenen Hits spielen und dann weiter jagen,

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die Straße runter und manchmal auch wieder rauf, Kohle machen, Cash kassieren, Fans

düpieren.

“With No Particular Place To Go”, ohne bestimmtes Ziel, ohne irgendwohin zu wollen.

Ein manischer König des Rock&Roll, ein König Ohneland, der gerade dabei ist, die dritte

Generation von Fans zu überleben.

Rock, Rock, Rock’n’Roll. Als wäre das Perpetuum Mobile endlich erfunden.

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Impressum

Druckgeschichte

Mister Rock & Roll. (Erschienen unter dem Titel: „Der wilde Sechziger”)

In: STERN (45/1986), S. 34-37 / S. 246. Nachdruck in der italienischen

Wochenzeitschrift EPOCA unter dem Titel: „Rock‘n‘Roll Che Bombe I Patriachi”

(n. 1885 / 21. 11. 1986), S. 66-70.

Digitaler reprint

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und am 5. Mai 2011 auf www.freyermuth.com unter der Creative Commons License veröffentlicht (siehe Kasten

links). Version: 1.0.

Über Den autor

Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule

Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

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