chemie - uni-muenster.de · mit spektrometern und computern: von der schmelze in das glas auf der...

8
~ PHYSIKALISCHE CHEMIE Mit Spektrometern und Computern:Vonder Schmelze in das Glas Auf der Suche Hellmut Eckert, Andreas Heuer "Die Glasmacherkunst ist eineder schönsten und edelsten unter den Künsten; und die Wunder, die siein Materieund Struktur ein- schließt, ebenso wie in den ver- schiedenen Farben, die man bei ihr ihrer Glas ist seit Menschengedenken eine Quelle der Faszination und Inspiration gewesen. Selten begegnet uns ein ande- res Material in derartvielen Variationen wie jenerStoff,der aus denunerschöpf- lichen natürlichen RessourcenKalk, Soda und Sand erschmolzen wird. Kein anderer Werkstoff eröffnetauch so viele neue Möglichkeiten,birgt so viel Inno- vationspotenzial. Da man Glas je nach Zusammensetzung und Produktions- verfahren sowie dank moderner Ver- edelungstechnologien nahezu alle ge- wünschten Eigenschaften verleihen kann, sindneuen Anwendungen im täg- lichen Leben und in der modernen Technik nahezu keineGrenzen gesetzt. MancheGläser schätzt man auf Grund ihres extrem hohenelektrischen Wider- r Abb. 1: Glasgefäß aus dem Grab des ägypti- schen Königs TutmosisIII (um 1450v. Chr.) 48 nachOrdnung stands alsIsolatoren,andere wiederum regelmäßig - ein ganz entscheidender Wesenszugdes Glaszustandes, den es zu erfassen gilt. Dieses Ziel erfordert den Einsatz von modemen U ntersuchungs- methoden mit atomarer Auflösung in Kombination mit neuen theoretischen Ansätzen. Gerade im Bereich der Glas- forschung ist die Synergie von Experi- ment und Simulation von ganz ent- scheidender Bedeutung für die wissen- schaftlichen und technischen Innovatio- nen der Zukunft. Im vorliegenden Bei- trag beschreiben wir, wie man Gläsern mithilfe der magnetischen Kernreso- nanzspektroskopie und der moleküldy- namischen Computersimulation auf die Spur kommen kann. nutzt man alsLeiterbahnen für den elek- trischen Strom. Bestimmte Glasmate- rialien regulieren in der Form von Mem- branen den stofflichen Transport, mit- hilfe anderer versucht man, radioaktive Abfälle für immer zu versiegeln. Die Ergründung und Nutzung dieser chemischen und physikalischen Vielfalt ist eines der Kernziele der modernen Materialforschung. Um Gläser mit maß- geschneidertenEigenschaften herstellen zu können, ist es wichtig zu verstehen, wie dieseEigenschaften mit der mikros- kopischen Struktur des Glases zusam- menhängen.Anders alsim Kristall ist die Atomanordnung im Glas nicht streng ~ F} juni I 03

Upload: hoangxuyen

Post on 18-Sep-2018

216 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

~

PHYSIKALISCHE CHEMIE

Mit Spektrometern und Computern: Von der Schmelze in das Glas

Auf der Suche

Hellmut Eckert,

Andreas Heuer

"Die Glasmacherkunst ist eine derschönsten und edelsten unter denKünsten; und die Wunder, die sie in

Materie und Struktur ein-schließt, ebenso wie in den ver-schiedenen Farben, die man bei ihr

ihrer

Glas ist seit Menschengedenken eineQuelle der Faszination und Inspirationgewesen. Selten begegnet uns ein ande-res Material in derart vielen Variationenwie jener Stoff, der aus den unerschöpf-lichen natürlichen Ressourcen Kalk,Soda und Sand erschmolzen wird. Keinanderer Werkstoff eröffnet auch so vieleneue Möglichkeiten, birgt so viel Inno-vationspotenzial. Da man Glas je nachZusammensetzung und Produktions-verfahren sowie dank moderner Ver-edelungstechnologien nahezu alle ge-wünschten Eigenschaften verleihenkann, sind neuen Anwendungen im täg-lichen Leben und in der modernenTechnik nahezu keine Grenzen gesetzt.Manche Gläser schätzt man auf Grundihres extrem hohen elektrischen Wider-

r

Abb. 1: Glasgefäß aus dem Grab des ägypti-schen Königs Tutmosis III (um 1450 v. Chr.)

48

nach Ordnung

stands als Isolatoren, andere wiederum regelmäßig - ein ganz entscheidender

Wesenszug des Glaszustandes, den es zuerfassen gilt. Dieses Ziel erfordert denEinsatz von modemen U ntersuchungs-methoden mit atomarer Auflösung inKombination mit neuen theoretischenAnsätzen. Gerade im Bereich der Glas-forschung ist die Synergie von Experi-ment und Simulation von ganz ent-scheidender Bedeutung für die wissen-schaftlichen und technischen Innovatio-nen der Zukunft. Im vorliegenden Bei-trag beschreiben wir, wie man Gläsernmithilfe der magnetischen Kernreso-nanzspektroskopie und der moleküldy-namischen Computersimulation auf dieSpur kommen kann.

nutzt man als Leiterbahnen für den elek-trischen Strom. Bestimmte Glasmate-rialien regulieren in der Form von Mem-branen den stofflichen Transport, mit-hilfe anderer versucht man, radioaktiveAbfälle für immer zu versiegeln.

Die Ergründung und Nutzung dieserchemischen und physikalischen Vielfaltist eines der Kernziele der modernenMaterialforschung. Um Gläser mit maß-geschneiderten Eigenschaften herstellenzu können, ist es wichtig zu verstehen,wie diese Eigenschaften mit der mikros-kopischen Struktur des Glases zusam-menhängen. Anders als im Kristall ist dieAtomanordnung im Glas nicht streng

~~

F} juni I 03

~~

Erde

Jahre ge-von Sandstürmen

. glatt geschliffen. . Strukturen

natürlich vorkom-vulkanische Ob-

den Menschen seit derSteinzeit als Werkzeuge undjagdwaffenverwendet worden. Niemand weißgenau, wann zum ersten Mal Glas vonMenschenhand erzeugt wurde. Frühes-te Fundstätten bis circa 7000 vor Chris-tus liegen in Ägypten und im östlichenMesopotamien. Beim Brennen von Töp-ferware entstand durch zufällige Anwe-senheit kalkhaltigen Sandes in Verbin-dung mit Natron Glas als farbige Gla-sur auf Keramiken. Erst etwa 1500 vorChristus gelang es, Glas unabhängig vonkeramischer Unterlage zu produzierenund zu eigenständigen Gegenständen zuformen. Abbildung 1 zeigt ein solchesGefäß aus dieser Zeit, das im Grab desägyptischen Königs Tutmosis In. ge-funden wurde. Inder Bibliothek des As-

syrischen Königs Ashurbanipal (668-626 vor Christus) findet sich eine typi-sche Rezeptur: »Nimm 60 Teile Sand,180 Teile Asche aus Meerespflanzen undfünf Teile Kreide und Du erhältst Glas."Dieser Glassatz enthält die auch heuteim Wesentlichen noch verwendetenRohstoffe.

Im Raum zwischen Sidon und Baby-Ion gelang syrischen Handwerkern um200 vor Christus ein entscheidendertechnischer Durchbruch mit der Erfin-dung der Glasmacherpfeife, die es er-möglichte, aus der Schmelze Glasge-genstände durch Mundblasen zu erzeu-gen. Die Glasbläserei wurde vor allemim römischen Reich perfektioniert. Inallen Teilen des Imperiums, von Meso-potamien bis zu der iberischen Halbin-sel kam es zur Gründung von Glashüt-

FJ Juni I 03

reich 1958 auf der Internationalen Spie-gelausstellung gezeigt.

Ein aufstrebender neuer Wirtschafts-

ten; das Handwerk erlebte seine ersteBlütezeit. Plinius d. Ä. (23-79) beschriebin seiner Enzyklopädie »Naturalis His-toria" die Zusammensetzung und Her-stellung von Glas. Der zunehmendeVerfall des römischen Reiches ab dem 4.Jahrhundert nach Christus führte auchzu einem allmählichen Niedergang derGlasmacherkunst in Europa, der biszum Ende des ersten Milleniums anhielt.Ab etwa 1300 AD avancierte Venedigzum ersten Zentrum einer florierendenGlasindustrie des Mittelalters. Hierwurden auch die ersten optischen Glä-ser (Linsen und Spiegel) hergestellt. 1679fasste Johann Kunckel (1630-1703)Überlieferungen und eigene Erfahrun-gen in seinem Handbuch »Ars vitrariaexperimentalis" zusammen, das bis ins19. Jahrhundert als wissenschaftlicheGrundlage deutscher Glasmacherkunstanerkannt blieb. Das Fundament für diemoderne Glastechnologie legten derPhysiker Ernst Abbe (1840-1905) undder ChemikerOno Schon (1851-1935),die erstmals den Einfluss der chemi-schen Zusammensetzung auf die physi-kalischen Eigenschaften des Glases sys-tematisch untersuchten und hiermit die

zweig der Glasindustrie ist seit derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieErzeugung von Glasfasern zur mecha-nischen Gewebeverstärkung, Lichtlei-tung und vor allem zur Signalübermitt-lung. Der Einsatz von Lichtleiterfasernin der Nachrichtentechnik beruht aufder Übertragung elektromagnetischerWellen durch vielfache Totalreflexion.Die moderne Glasfasertechnologiemacht es möglich, Lichtsignale mit vie-len verschiedenen Frequenzen gleich-zeitig störungsfrei und praktisch unge-dämpft über viele Kilometer weiterlei-ten zu können. So gelingt heute bei-~pielsweise die direkte gleichzeitigeUbertragung von weit über 100 Fern-sehprogrammen. Die längste Glasfaser-Übertragungsstrecke eines Signals mit20 Gigabit pro Sekunde mit Verstär-kern ist 125.000 Kilometer lang. So sinddie Glasfasern zu den Highways unse-res Informationszeitalters geworden.Weder die Laserskalpelle noch das In-ternet wären ohne sie denkbar.

Neben die klassische Glaspräparati-on aus der Schmelze sind in den ver-gangenen Jahren neue Verfahren getre-ten, um glasartige Materialien auch aus-gehend von anderen Aggregatzustän-den zu erzeugen: Amorphe Filme undSchichten werden durch Abscheidungaus der Gasphase erhalten. Kristalle las-sen sich durch radioaktive Bestrahlungbei hohen Dosen in Gläser überführen.Große Bedeutung hat auch der "Sol-Gel-Prozess" für die Glasherstellunggewonnen. Hierbei werden die Aus-gangsstoffe zunächst in Form moleku-larer (zumeist wässriger) Lösungen ge-mischt. Durch Zugabe eines geeignetenKatalysators werden diese nachfolgendpolymerisiert, wobei ein makromole-kulares hochviscoses "Sol" entsteht. Beinachfolgender Trocknung bildet sichdas feste "Gel", welches durch weiterethermische Behandlung in kompaktesGlas überführt werden kann. Durch dieVerwendung molekularer Vorstufen inLösungen ist der gesamte Herstel-lungsprozess sehr leicht steuerbar: Erermöglicht die Herstellung ultrareiner,besonders homogener Gläser, vor allemauch in der Form von dünnen Be-schichtungen und Filmen mit genau

Grundlage für zahlreiche neue Anwen-dungen von Glas in der modernenStrahlenoptik schufen.

Fensterscheiben bis50 Quadratmeter möglichAuf der Seite der Fertigungstechnik ge-lang es erst zu Anfang des 20. J ahrhun-derts, dank der bahnbrechenden Ar-. . ..beiten von Emile Fourcault und IrvingColburn, Flachglas für Fensterscheibenauf industrieller Basis herzustellen. Einganz entscheidender Durchbruch ge-lang hier wiederum in den 1960er Jah-ren mit der Entwicklung des Float- Pro-zesses, in welchem die Schmelze bei1600 °C in fußballfeldlangen Bassins aufflüssigem Zinn gezogen wird. Beimlangsamen Abkühlen erstarrt die Massebei etwa 600 °C zu einem Glasband mitabsolut ebener Oberfläche und heraus-

ragenden optischen Eigenschaften.Glasscheiben werden heute nahezu aus-schließlich nach diesem Verfahren her-gestellt; die größte Fensterscheibe derWeh misst 50 Quadratmeter und wurdevon der Firma Saint Gobain in Frank-

49

Abb.2: Volumen und Enthalpie eines Stoffesals Funktion der Temperatur. Die Abkühlung

unter Kristallisation (1) und Glasbildung (2)sind mit Pfeilrichtungen gekennzeichnet. Tg,

Tfi Ts bezeichnen die Glasübergangstempera-tur, die Erstarrungstemperatur und die

Siedetemperatur. l)ie Zeitskala der molekula-ren Bewegung ist im oberen Teil des Dia-

gramms angedeutet.

kontrollierbarer Schichtdicke. AufGrund. ihres HerstellUligsweges undihrer ausgeprägten Porosität eröffnendiese Sol-Gel-Gläser die Möglichkeit,temperaturempfindliche Substanzenmit wichtigen funktionellen Eigen-schaften, zum Beispiel organische Farb-stoffe oder Biomoleküle, in das Glaseinzubringen. Poröse Gel-Glas-Trä-gersysteme eignen sich beispielsweisefür die kontrollierte Dosierung von me-dizinischen Wirkstoffen. Dieses ist nureines von zahlreichen "nichtklassi-schen " Anwendungsfeldern, die sich in

den vergangenen Jahrzehnten durchneue Herstellungsverfahren erschlos-sen haben.

Physi ka lisch-Chem ischeKriterien des Glaszustandes

Was genau verstehen wir unter Glas?Definitionsversuche gibt es seit hunder-ten von Jahren. So beschreibt die Oeco-nornische Encyclopedie aus dem Jahre1779 Glas als "... aus Sand oder Kieselnmit einem Alkali und Salz zusammen-geschmelzter durchsichtiger glänzenderKörper, welcher im gemeinen Leben zumancherley Bedürfnissen gebrauchtwird". Glas besitzt mechanische Festig-keitund Fonnbeständigkeitwie ein Kris-tall, hat aber nicht dessen regelmäßigenAufbau. Glas entsteht, wenn beim kon-tinuierlichen AbküWen einer Flüssigkeitdie Kristallisation unterbleibt. Tam-mann (1930) ("ein fester, nicht kristalli-sierter Stoff') und Haase (1956) ("eineeingefrorene unterkühlte Flüssigkeit")haben diese Aspekte in ihren Definiti-onsversuchen festgehalten. Der Physi-kochemiker erläutert diese Zusammen-hänge gerne anband eines Zustandsdia-gramms. Generell nimmt die räumlicheAusdehnung (das Volumen) eines Stof-fes mit fallender Temperatur ab, wobeidiese Abnahme sowoW vom Aggregat-zustand als auch von der chemischen

50

Zusammensetzung abhängt. Abbildung2 zeigt ein solches Diagramm und illus-triert dabei auch den Zusammenhangzwischen Flüssigkeit, Kristall und Glas.Bei hinreichend hoher Temperatur istdas Material zunächst im flüssigen Zu-stand. Hier befinden sich die Atome inregelloser, statistischer Bewegung undihre strukturelle Anordnung ist unre-gelmäßig und zeitlich veränderlich.Wenn wir nun die Temperatur ernied-rigen, sinkt das Volumen zunächst kon-tinuierlich, bis der Erstarrungspunkt er-reicht ist. Hier würde normalerweise derStoff kristallisieren, das heißt, die Atomewürden sich zu einem regelmäßig auf-gebauten Gitter zusammenfinden, wo-bei ihre Bewegung weit gehend ausge-froren wird. Die meisten Stoffe verrin-gern bei der Kristallisation sprunghaftihr Volumen, und die Kontraktion beiweiterer Abkühlung des Kristalls erfolgtdann wieder kontinuierlich. Ein ganzanaloges Verhalten findet man auch fürdie Enthalpie, die ein Maß für die Ener-gie des Zustands ist.

Obwohl bei der Kristallisation eineMenge Energie frei wird, erfordern diehierfür nötigen U mordnungsprozessein der Schmelze Zeit und setzen einehinreichende Beweglichkeit der Atomevoraus. Nur unter solchen Bedingun-gen können sich in der Schmelze Kris-tallkeime bilden, die dann im Laufe derZeit zu größeren Kristallen wachsen. Invielen Stoffen, beispielsweise in Silikat-

schmelzen, reicht bei den normalen Ab-kühlungs bedingungen die Zeit dazunicht aus. Je tiefer die Temperatur derSchmelze sinkt, desto langsamer bewe-gen sich die Atome in der Schmelze undscWießlich feWt ihnen die notwendigeBeweglichkeit, um sich noch zu demwoWgeordneten Kristall zu sortieren.Wir erreichen den so genannten Glas-Übergangspunkt T g, in dem die Bewe-gung der Atome weit gehend einfriertund die Schmelze scWießlich zu einemFestkörper erstarrt, dem immer nocheine ungeordnete Struktur ähnlich derFlüssigkeit aufgeprägt ist: dem Glas. Indiesem Zustand finden bei weiteremAbküWen kaum noch Änderungen inVolumen und Enthalpie statt. Die Im-mobilisierung der Atome im Bereichvon T g erfolgt kontinuierlich, aber dra-matisch; in bestimmten Substanzenreicht eine AbküWung um zwei Gradaus, um die Beweglichkeit um den Fak-tor 10 zu verringern. Im täglichen Lebenkönnen wir dieses Verhalten etwa beimAbküWen von Honig beobachten.

In der Nähe von Tg beeinflusst dieAbkühlgeschwindigkeit die Einfrier-temperatur und damit auch die Glasei-genschaften. Für praktische Zwecke

, kann T g als die Temperatur angesehen

werden, oberhalb derer man Glas ver-formen kann. Mit Blick auf Abbildung2 erkennen wir, dass Glas im Prinzipimmer dann entsteht, wenn die Schmel-ze das T emperaturintervall T f- T g schnell

FJJuni I 03

genug durcWäuft, ohne dass sich Kris-tallkeime bilden. In der Tat gelingt es al-lein durch extrem rasches Abkühlenvon Schmelzen (»Abschrecken"), eineMenge von Substanzen glasig zu erhal-ten, die unter Normalbedingungen kri-stallisieren. Hierzu zilien zum Beispielviele organische Molekülverbindungen,zahlreiche Metalle sowie die meistenanorganischen Salze und Erze. Beieinem für viele empfindliche Spezial-gläser angewandten Standardverfahrenwird das Schmelzgut innerhalb versie-gelter Ampullen rasch in Eiswasser ein-gebracht. Noch höhere Abkühlratenkann man erzielen, wenn man das ge-schmolzene Material bei der Abküh-lung auch noch fein verteilt, beispiels-weise durch Spritzen auf rotierendeMetallscheiben oder Auswalzen aufMetalloberflächen.

Allen Arten von Glas ist hierbei ge-meinsam, dass die im Kristall woW be-kannte Periodizität im atomaren Auf-bau nicht existiert. Die Situation kannmithilfe von Atom-Abstands-Vertei-lungsfunktionen treffend beschriebenwerden (siehe Abbildung 3): Währendman im Kristall immer nur ganz dis-krete interatomare Abstände findet,sind diese Verteilungs funktionen imGlas (wie in der Flüssigkeit) stets kon-tinuierlich. Generell weisen sie aber -gerade im Abstandsbereich 0,1 bis 1 nm- durchaus ausgeprägte Maxima und.

Minima auf und weichen hier drama-tisch von einer rein statistischen Atom-anordnung (wie etwa im Gaszustand)ab. Dies zeigt, dass Gläser trotz feWen-der Fernordnung in der Regel eine aus-geprägte Nahordnung ausbilden, die esnäher zu beschreiben und zu quantifi-zieren gilt.

Glasstruktur

Das generelle Schema von Abbildung 3bfasst die heute gängigen Vorstellungenüber die Glasstruktur zusammen. Po-lyvalente Ionen wie zum Beispiel das aus

Abb. 3: Radiale Dichteverteilungsfunktionen(RDF)für(a) Kristalle, (b) Gläser und (c)Gase. Die RDFs geben die Häufigkeit an, mitder bestimmte interatomare Abstände vor-kommen. Der untere Teil gibt schematischeStrukturbilderfür die Atomverteilungen indiesen Zuständen wieder.

FJ Juni I 03

~

bildner, also anhand der gewähltenGlaszusammensetzung genau einstel-len. Für die lokale Konfiguration der te-traedrischen SiO4-Spezies ergeben sichhierbei die in Abbildung 4 gezeigten 5Möglichkeiten. Zu ihrer Unterschei-dung verwendet man die so genannteQ<n)-Nomenklatur, wobei der Index ndie Anzahl der verb ruckenden Sauer-stoffatome bezeichnet und die anioni-sche Ladung jeder Einheit somit durch4-n gegeben ist.

Abbildung 3b suggeriert die Vorstel-lung, dass Glas ein zwar ungeordnetes,aber ansonsten chemisch homogenesKontinuum darstellt, in welchem dieverschiedenen Q<nLEinheiten und ent-sprechend auch die Kationen mehr oderweniger statistisch verteilt sind. Diesesmuss aber keineswegs der stabilste Zu-stand sein. Die Glasstruktur kann auchaus verschiedenen räumlichen Zonenunterschiedlicher chemischer Zusam-mensetzung gebildet sein, wobei dieeinen vorwiegend aus den neutralenQ<4LGruppen bestehen, während inden anderen die negativ geladenen Q<nLSpezies (n < 4) zusammen mit den la-dungskompensierenden Kationen kon-zentriert sind. Prinzipiell kann dieseFrage anhand moderner elektronenmi-kroskopischer Verfahren beantwortetwerden, falls diese Zonen hinreichendeGröße haben (0,1 pm-Bereich). Kleine-re Domänen im Nanometerbereichsind hingegen mit Mikroskopiemetho-den nur schwer aufzulösen. Wie weiterunten erläutert wird, sind spektrosko-pische Verfahren, wie die Festkörper-

dem Grundstoff Sand stammende Sili-cium, so genannte Netzwerkbildner, bil-den relativ regelmäßige tetraedrisch auf-gebaute SiO4- Koordinationspolyeder.In reinem Kieselglas, wie zum Beispieldem Libyschen Wüstenglas sind dieseSi-Tetraeder über alle vier Sauerstoff-atome an ihren Ecken zu einem unend-lichen dreidimensionalen Netzwerkverknüpft, Die Translationssymmetriedieses Netzwerkes geht dadurch verlo-ren, dass die Bindungswinkel an den ver-brockenden Sauerstoffatomen nicht ein-heitlich, sondern von Ort zu Ort leichtvariabel sind. Auf Grund seiner hoch-vernetzten Struktur besitzt reines Kie-selglas eine extrem hohe thermische undmechanische Stabilität. Für die Herstel-lung üblicher Gebrauchsgläser modifi-ziert man die Eigenschaften des Glasesdurch eingebrachtes Soda, Pottascheoder Kalk, die so genannten Netzwerk-wandlerkomponenten. Unter denSchmelzbedingungen entsteht hierbeiaus diesen Grundstoffen zunächst hoch-basisches Oxid, welches einen Teil derSi-O-Si- V ernetzungen spaltet, dieStruktur damit etwas auflockert und sodem Material in der Schmelze mehr Ge-schmeidigkeit und Formbarkeit verleiht.Durch das Aufbrechen der Si-O-Si- Bin-dungen entstehen negativ geladeneTrennstellen im Netzwerk, in derenNähe sich dann die Natrium-, Kalium-oder Kalziumionen aufhalten können.

Die Zahl solcher Trennstellen undsomit auch die makroskopischen Glas-eigenschaften lassen sich über das Ver-hältnis Netzwerkwandler IN etzwerk-

51

Abb. 4: Die fünf möglichen lokalen Bindungs-konfigurationen des Siliciums in Silikatgläsern.

Kernresonanz besonders gut geeignet,um solche Nanosegregationseffekte inGläsern aufzuspüren.

Die Festkörper-NMR-SpektroskopieDie für die Strukturaufklärung an kris-tallinen Festkörpern unverzichtbareRöntgenbeugung liefert im Glaszustandauf Grund der hier fehlenden atomarenPeriodizität kaum brauchbare Struktur-informationen. Deshalb ist man vorallem auf spektroskopische Methodenangewiesen, welche selektiv die Nah-ordnung der beteiligten Atome abbildenkönnen. Hier hat sich im Laufe der ver-gangenen25 Jahre insbesondere die mag-netische Kernresonanz-Spektroskopie(NMR = nuclearmagneticresonance) zueinem leistungsfähigen Werkzeug fürStrukturuntersuchungen entwickelt.Die Methode basiert auf den magneti-schen Momenten der in den untersuch-ten Proben enthaltenen Atomkerne, dieim angelegten Magnetfeld nur ganz be-stimmte Orientierungen einnehmenkönnen. Im einfachsten Fall gibt es exaktzwei Einstellrichtungen, die unter-schiedliche Energieinhalte besitzen.Durch Bestrahlung der im Magnetfeldbefindlichen Probe mit Radiowellen (imtypischen UKW-Bereich) können wir

52

derspiegelt. Abbildung 5 verdeutlichtdieses Prinzip am Beispiel der 29Si-NMR-Spektren einer Serie von Natri-umsilikatgläsern, in welchen der Ge-halt an Natriumoxid systematisch va-riiert worden ist. Im alkalifreien reinenKieselglas liegen ausschließlich Q(4LGruppen vor, die entsprechend eineinziges Signal im NMR -Spektrum lie-fern. Der Zusatz von Na20-Netz-werkwandler erzeugt zunehmendnichtverbrückende Sauerstoffatome,die zunächst in der Form von Q(3)-

Gruppen vorliegen. Wie man in Ab-~ldung 5 ~rkennt, liefe:n ~iese q~~-Gruppen elll separat autgelöstes ~'JSi-NMR -Signal, dessen relative Intensitätmit steigender Wandlerkonzentrationzunimmt. Bei noch höheren Wandler-konzentrationen können in den Spek-tren entsprechend auch noch Q(2L undQ(l)-Gruppen mit zwei beziehungs-weise drei Trennstellen durch separa-te Signale nachgewiesen werden.

Aus den Flächenanteilen dieser Sig-nalkomponenten können wir die rela-tiven Anteile jedes einzelnen Q(n)- Typsquantitativ angeben. Die Glaszusam-mensetzung kann zum Beispiel aufdiese Weise überprüft werden, da ausElektroneutralitätsgründen die Zahlder Trennstellen identisch mit der Zahlder Wandlerkationen sein muss. Leiderkönnen diese Spektren aber nichts überdie räumliche Kationenverteilung aus-sagen. Existiert eine starke Tendenz zurZonenbildung, müsste der mittlere Ab-stand zwischen einer anionischen Q(3)-Gruppe und den Wandlerkationen

Übergänge zwischen diesen Zuständenerzeugen, wenn ihre Energiedifferenzder Energie der eingestrahlten Radio-welle entspricht. Die Frequenz, bei wel-cher die Probe dann Strahlung absor-biert, die so genannte Resonanzfre-quenz, hängt sowohl von der Stärke desangelegten Magnetfelds als auch vondem magnetischen Moment des ge-wählten Untersuchungs kerns (bei-spielsweise IH, llB, 29Si) ab. Da sich diemagnetischen Momente verschiedenerAtomkerne stark unterscheiden, besitztjede Kernsorte bei (üblicherweise kons-tant gehaltenen) . Magnetfeldstärkenihren eigenen Resonanzfrequenzbe-reich. Über die am Spektrometer einge-stellte Untersuchungs frequenz wähltman somit gleichzeitig den zu untersu-chenden Messkern aus, das heißt, dieMessung ist Element-selektiv.

Von ganz entscheidender Bedeutungist es nun, dass die Resonanzfrequenzaußerdem von der genauen chemi-schen Bindungsumgebung der unter-suchten Kerne beeinflusst wird. Gibtes also in einem Glas für eine be-stimmte Kernsorte zwei verschiedenechemische Bindungssituationen, kannman entsprechend zwei unterscheid-bare spektroskopische Signale beo-bachten, deren Intensitätsverhältniszudem die relativen Häufigkeiten wi-

Abb. 5: Hochaufgelöste 29Si-NMR-Spektrenvon Natriumsilikatgläsern mit verschiedenenNatriumoxidgehalten. Die Zuordnung zu dendiversen Q(nLGruppen ist angegeben.

FJjuni I 03

~

benachbarte 29S1- Kernesteigert wird. Abbildungunter diesen

Q(3LSignalwährend

F} juni I 03

~

quantitativ bestimmen und mit be-rechneten Szenarien für unterschiedli-che Strukturmodelle vergleichen. Dieerhaltenen Ergebnisse stehen in gutemEinklang mit der Vorstellung, dass sichin Li-Silicatgläsern kationenreicheDomänen bilden.

Molekulardynamik-Simulationen digen Verständnis der Struktur könnte

man damit auch alle relevanten Bewe-gungsprozesse identifizieren. ÜberComputer-Simulationen lassen sichdiese Informationen tatsächlich erhal-ten. Daher werden Simulationen ver-stärkt komplementär zum Experimenteingesetzt. Zwei wesentliche Schrittesind dazu nötig. Zunächst wird das in-teressierende reale System, beispiels-weise eine SiO2-Schmelze, auf ein me-chanistisches Modell abgebildet - alsoauf eine Ansammlung von Silizium-und Sauerstoffatomen, die über geeig-net gewählte Federn miteinander wech-selwirken. Die Eigenschaften der Fe-dern, oder exakter die Potenziale, wer-den dabei so gewählt, dass sich diesesmechanistische Modell fast genausoverhält wie das reale System. Physika-lisch bedeutet dieser Schritt, dass fürjede beliebige Anordnung von N Ato-men, charakterisiert über die Ortsko-

Mittels NMR-Spektroskopie lassensich sehr spezifische Informationenüber die Struktur und Dynamik im Glasgewinnen. Im idealen (l!nd damit leidernicht durchführbaren) Experimentwürde man gerne mit der mikroskopi-schen Lupe verfolgen, wie sich die Po-sitionen der einzelnen Atome im Laufeder Zeit ändern. Neben dem vollstän-

~

Abb. 7: Ein einfaches Modellsystemzur Diskussion des Abkühlverhaltensvon Schmelzen

53

Abb. 8: Schnitt durch ein Lithiumsilikatglas(Li20)o.J(SiO2)o.9, das sich aus einer Moleku-lardynamik-Simulation ergeben hat. Die Si-Atome sind blau, die O-Atome rot und die Li-Ionen grün dargestellt. Die wolkenartigenGebilde entsprechen möglichen Li-Positionen.

ordinaten Cl bis IN, die potenzielleEnergie V berechnet werden kann. Einesolche Potenzialfunktion V (Cl ,...,IN) istbereits für viele reale Systeme ent-wickelt worden - insbesondere auch fürdie meisten der Glasbildner wie Sia2.Anschließend bestimmt man auf demComputer die Zeitentwicklung diesesmechanistischen Modells. DieserSchritt erfordert die numerische Lö-sungder Newtonschen Gleichung-dergrundlegenden Beziehung zwischenKraft und Beschleunigung. Diese ge-samte Prozedur wird als Molekulardy-namik -Simulation bezeichnet. Da auchdie realen Atome in guter Näherung derNewtonschen Gleichung folgen, ent-spricht der Tanz der Teilchen auf demComputer direkt der realen Bewegung.Durch spezielle Tricks ist dabei mög-lich, Temperatur und Druck analogzum Experiment einzustellen. Im Fol-genden soll an zwei Beispielen aus derGlasforschung die Anwendbarkeit von

54

ert, bis das Teilchen sein aktuelles Talverlassen kann. Was hat nun dieses ein-fache eindimensionale Modell mit einerrealen Schmelze zu tun? Hierzu ist eineU minterpretation der Dynamik nötig.Man betrachte die Bewegung der NAtome als die Dynamik eines einzelnenPunktes in einer hochdimensionalenEnergielandschaft, die über die Poten-zialfunktion V(rt,...,IN) definiert ist.Das tiefste Tal würde dann dem idealenKristall entsprechen, die höheren Tälerden glasartigen Zuständen. Im Unter-schied zu der oben gezeigten eindi-mensionalen Energielandschaft kannman sich ein Gebirge in 3 N - Dimensio-nen natÜrlich nicht mehr anschaulichvorstellen.

Für unseren Zweck reicht es aber, dieEigenschaften der verschiedenen Tälerund die Höhe der sie umgebendenBerge zu untersuchen. Dazu wurden inden letzten Jahren Algorithmen ent-wickelt, die auf der Basis einer Mole-kulardynamik-Simulation eine um-fangreiche Charakterisierung der hoch-dimensionalen Energielandschaft er-möglichen. Dabei ergab sich, dass dieeinfache Energielandschaft in Abbil-dung 7 sehr gut die wahren Verhältnis-se widerspiegelt. Damit können die vor-gestellten experimentellen Beobach-tungen tatsächlich auf die Eigenschaf-ten der Energielandschaft zurückge-führt werden. Die Darstellung in Ab-bildung 7 legt auch nahe, dass selbst beiTemperaturen weit unterhalb von TgBewegungsprozesse zwischen benach-barten Zuständen möglich sind. DieserEffekt wird auch experimentell, zumBeispiel mittels NMR, beobachtet.Auch ein leeres Weinglas hat seinenReiz: Mit der mikroskopischen Lupewürde man einen regen Tanz derAtome beobachten.

Interessante Informationen lassensich auch aus Simulationen von Lithi-umsilikatgläsern erhalten. Für eineLi20- Konzentration von zehn Prozent

Molekulardynamik-Simulationen de-monstriert werden.

Dazu soll zunächst gefragt werden,ob sich die oben diskutierte Tempera-turabhängigkeit von Volumen bezie-hungsweise Enthalpie und die dramati-sche Immobilisierung bei tiefen Tem-peraturen veranschaulichen lässt. Be-trachten wir für einen Augenblick dasModellsystem in Abbildung 7.

Ein Teilchen soll sich in der dort ge-zeigten Landschaft bewegen. Bei hohenTemperaturen befindet sich das Teil-chen in einem der zahlreichen hoch-energetischen Täler. Je tiefer die Tem-peratur, desto bevorzugter sind dieenergetisch niedrigen Täler. Wenn mannun die Temperatur sehr schnell demSystem entzieht, schafft es das Teilchennicht, den eigentlich gewünschten tiefs-ten Zustand zu erreichen - es friert aufeinem höheren Energiezustand ein. Beiweiterem Abkühlen ändert sich danndie Energie kaum noch, da das Teilchengefangen bleibt. Auch die Immobilisie-rung bei langsamem AbkühIen lässt sichleicht erklären. Bei tiefen Temperatu-ren befindet sich das Teilchen typi-scherweise weit unten in der Energie-landschaft. Dort sind die zu überwin-denden Berge zum Nachbartal im Mit-tel höher, so dass es deutlich länger dau-

~

ist in Abbildung 8 eine typische Konfi-guration gezeigt.

Zunächst erkennt man deutlich, dassinsbesondere bei der geringen Li- Kon-zentration viele SiO4- Tetraeder, dasheißt Q(4LGruppen, vorliegen. Weiter-hin ist die Tendenz zu erkennen, dassLi-Ionen nicht statistisch regellos in derSilikatmatrix vorliegen, sondern ten-

FJ Juni I 03

wenig, fürProzesse

Auf dem Gebietdiese Be-

. ". hohe

werden kön-Glasübergang auf

bei etwas höherenTemperaturen als im Experiment statt-findet. Weiterhin ist die verwendete Po""tenzialfunktion nur eine Näherung, so-dass die Übereinstimmung mit dem Ex-periment manchmal eher semi-quanti-tativer Natur ist. Moderne Verfahrenwie Carr-Parrinello-Simulationen be-rechnen online das Potenzial mittelsquantenmechanischer Methoden. Dieverbesserte Übereinstimmung mit demExperiment wird aber teuer erkauft, dawegen des enormen zusätzlichen Auf-wands nur deutlich kürzere Simulatio-nen möglich sind.

FJ junil 03

~

ten Eigenschaften herstellen zu kön-nen, immer näher. Umso wichtiger istes, parallel hierzu das grundlegendeV . des Mysteriums "Glas"

. und zu vertiefen.. aus der Schmelze ist

ungelöstes Vielteilchen-mathematische Be-der verbleibenden

an die. stellt. Unordnung fordert-

und fördert - Kreativität. Angesichtsder engen Beziehung zwischenGrundlagenfortschritt und techni-scher Anwendung gerade auf dem Ge-biet der Glasforschung ist davon aus-zugehen, dass diese auch in den kom-menden Jahrzehnten ein attraktives in-terdisziplinäres Arbeitsgebiet bleiben

eIn

wird.

55