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1 Arbeitslosigkeit und Sucht 5 zentrale Befunde der Forschung Prof. Dr. Dieter Henkel Institut für Suchtforschung (ISFF) der Fachhochschule Frankfurt am Main University of Applied Sciences email: [email protected] Sigmaringen 24. Juni 2010

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Arbeitslosigkeit und Sucht 5 zentrale Befunde der Forschung

Prof. Dr. Dieter Henkel

Institut für Suchtforschung (ISFF) der Fachhochschule Frankfurt am Main

University of Applied Sciences

email: [email protected]

Sigmaringen 24. Juni 2010

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1. Befund

Unter Arbeitslosen sind Suchtprobleme deutlich stärker verbreitet als unter Erwerbstätigen (höhere Suchtprävalenzen)

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Prävalenz von Suchtproblemen bei Arbeitslosen in Relation zu Erwerbstätigen OR Odds Ratio (adj. für Alter, Geschlecht) bedeuten, dass die Prävalenz der Arbeitslosen um das x-Fache höher ist als bei den Erwerbstätigen

Autoren / Land Missbrauch/Abhängigkeit

DSM III / IV / ICD 10

OR

Rose 2003 / Deutschland Alkohol, Drogen oder Medikamente 1.8

Jacobi et al. 2004 / Deutschland Alkohol oder Drogen 2.0

Bijl et al. 1998 / Niederlande Alkohol oder Drogen 2.7

Hall et al. 1999 / Australien Alkohol oder Drogen 2.1

Andrews et al. 2001 / Australien Alkohol oder Drogen 2.3

Taylor et al. 2004 / Australien Alkohol oder Drogen 2.0

NSDUH-Report 2006 / USA Alkohol oder Drogen 2.5

Finch et al. 2003 / USA Alkohol oder Drogen 4.6

Thundal et al. 1999 / Schweden Alkohol 2.9

Pirkola et al. 2005 / Finnland Alkohol 2.8

Meltzer et al. 2002 / Großbritannien Alkohol

Drogen

2.1

3.8

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Prävalenzraten (%) der Arbeitslosen (A) und Erwerbstätigen (E) in Deutschland(repräsentative Studien)

Autoren Suchtproblem A E

Rose, Jacobi 2006 Alkoholabhängigkeit ICD 10 Männer 8.9 6.3

Rose, Jacobi 2006 Alkoholabhängigkeit ICD 10 Frauen 1.8 1.5

Pockrandt et al. 2007 Riskanter Alkoholkonsum (AUDIT) 25.6

Henkel 2000 Konsum psychoaktiver Medikamente >2-mal/Woche Männer

10.9 4.8

Henkel 2000 Konsum psychoaktiver Medikamente >2-mal/Woche Frauen

15.4 10.3

Sozioökonomisches Panel 2006 Tabakrauchen Männer 46-72 37

Sozioökonomisches Panel 2006 Tabakrauchen Frauen 43-59 33

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Tabakrauchquoten nach Erwerbsstatus, Arbeitslosigkeitsdauer und Geschlechtin DeutschlandSozio-ökonomisches Panel 2006

3733

4643

72

59

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Männer Frauen

Erwerbstätige Arbeitslose <12 Monate Arbeitslose >12 Monate

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Hauptgründe für erhöhte Suchtprävalenzen der Arbeitslosen

Selektive Effekte a) Suchtprobleme erhöhen das Risiko, arbeitslos zu werdenb) Suchtprobleme erhöhen das Risiko, arbeitslos zu bleibenc) Arbeitslose stammen häufiger als Erwerbstätige aus den unteren Bildungs- und Qualifikationsschichten, die hohe Suchtprävalenzen aufweisen

Kausale Effekte Arbeitslosigkeit begünstigt die Entwicklung von Suchtproblemen

Beide Haupteffekte nachgewiesenForschungsreview Henkel 2008

selektive Effekte kausale Effekteerhöhte Prävalenz der Arbeitslosen

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2. Befund (kausale Effekte)

In Relation zur Erwerbstätigkeit gehen von (länger anhaltender) Arbeitslosigkeit höhere Risiken für die Herausbildung bzw. Verschlimmerung von Suchtproblemen aus

Nachweis erfordert Längsschnittstudien, die Veränderungen in der Suchtproblematik beim Übergang von der Erwerbstätigkeit in die Arbeitslosigkeit messen

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Beispiel einer Längsschnittstudie zum Nachweis kausaler Effekte der Arbeitslosigkeit

Catalano et al. 1993 (USA)

• Basis war eine aus dem Epidemiologic Catchment Area Projekt (ECA) gezogene repräsentative Stichprobe von Erwerbstätigen (N=3.987), die keine alkoholbezogenen Störungen (DSM-III) hatten (1. Messzeitpunkt).

• 12 Monate später (2. Messzeitpunkt) war die Inzidenz alkoholbezogener Störungen bei den arbeitslos Gewordenen um das 6-Fache höher als bei den erwerbstätig Gebliebenen.

• Diese Differenz zeigte sich nach statistischer Kontrolle von zahlreichen Unterschieden zwischen den Vergleichsgruppen im Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Status, Familienstand usw.,

so dass ein relativ eigenständiger Effekte der Arbeitslosigkeit auf die Entwicklung der Suchtprobleme nachgewiesen werden konnte.

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39 prospektive Längsschnittstudien16 davon erfüllen methodische Mindeststandards Sie belegen alle kausale Effekte der ArbeitslosigkeitForschungsstand Henkel 2008

Autoren/Land Untersuchte Probleme

Peck, Plant 1986 / Schottland Konsum illegaler Drogen Jugendliche

Power, Estaugh 1990 / UK Heavy drinking Jugendliche

Martikainen 1990 / Finnland Alkoholbedingte Sterblichkeit ICD 9

Dooley et al. 1992 / USA Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit DSM III

Catalano et al. 1993 / USA Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit DSM III

Hammer 1992 / Norwegen Cannabiskonsum Jugendliche

Janlert, Hammarström 1992 / Schweden Riskanter Alkoholkonsum Jugendliche

Hammarström, Janlert 1994 / Schweden Einstieg in Tabakrauchen Jugendliche

Montgomery et al. 1998 / UK Tabakrauchen, Heavy drinking Jugendliche

Christofferson 2000 / Dänemark Alkohol-/Drogenmissbrauch DSM III Jugendliche

Fergusson et al. 2001 / Neuseeland Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit DSM IV

Drogenmissbrauch/-abhängigkeit DSM IV

Jugendliche

Kivimäki et al. 2003 / Finnland Alkoholbedingte Sterblichkeit ICD 10

Tabakbedingte Sterblichkeit ICD 10

Dooley, Prause 2004 / USA Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit DSM IV Jugendliche

Unger et al. 2004 / USA Einstieg in Tabakrauchen Jugendliche

Falba et al. 2005 / USA Tabakrauchen (Menge/Frequenz)

Kuhn et al. 2006 / Österreich Konsum psychoaktiver Medikamente

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Plausibel werden die kausalen Effekte vor dem Hintergrund der gut dokumentierten psychosozialen Folgen von länger anhaltender Arbeitslosigkeit

• Minderung des Selbstwertgefühls• Depressivität • reduzierte soziale Wertschätzung • Verlust sozialer Kontakte und Unterstützung• Verlust der Lebensperspektive, Zukunftsängste • Abnahme der Lebenszufriedenheit• Zunahme familiärer Konflikte• finanzieller Stress• Zerfall von Zeitstrukturen, Monotoniestress• erschwerte Bewältigung jugendtypischer Entwicklungsaufgaben

infolge der verlängerten Abhängigkeit von den Eltern, z.B. Erwachsenwerden, Gewinnung von Autonomie und Festigung der Identität

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Aber überwiegend Konstanz im Konsumverhalten

• Die allermeisten Arbeitslosen verändern ihren Alkohol- und Tabakkonsum nicht, jedenfalls nicht wesentlich, auch nicht im Zuge länger anhaltender Arbeitslosigkeit

• Es bestehen zumindest bei den Erwachsenen häufig so fest gefügte Trink- und Rauchgewohnheiten, dass selbst der Verlust der Arbeit als kritisches Lebensereignis darauf keinen substantiellen Einfluss nimmt

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Risikogruppen noch wenig untersucht

• Langzeitarbeitslose > Kurzzeitarbeitslose

• Männer > Frauen

• Jugendliche Jungen > Mädchen

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Gesamt- bzw. Saldo-Effekt der Massenarbeitslosigkeit auf die Suchtproblematik ist unklar

Arbeitslose

Zunahme von Suchtproblemen durch negative psychosoziale Effekte der Arbeitslosigkeit

Abnahme von Suchtproblemen durch Einschränkungen des Konsums infolge der Minderungen des Einkommens

Abnahme von Suchtproblemen durch Wegfall des arbeitsgebundenen Konsums

Abnahme von Suchtproblemen / Rückgänge geselliger Trinkanlässe infolge von arbeitslosigkeitsbedingter sozialer Isolierung

Erwerbstätige

Zunahme von Suchtproblemen durch negative psychosoziale Effekte infolge der Angst vor Arbeitslosigkeit (Puls, Mümken 2008)

Abnahme von Suchtproblemen / Einschränkungen des Konsums aus Angst vor Arbeitslosigkeit (disziplinierende Wirkung der Entlassungsangst)

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Alkohol

Gesamtgesellschaftlich betrachtet: Keine allgemeine Erhöhung des Alkoholkonsums im Zuge der Massenarbeitslosigkeit

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Arbeitslosenquote (AQ) und Alkohol-Pro-Kopf-Konsum (APK) in Deutschland von 1950 bis 2005

BA-Arbeitsmarktstatistik; Meyer, John: Jahrbuch Sucht 2007

APK 3,2 7,8 11,2 12,7 12,9 12,1 12,1 11,1 10,5 10,0

AQ 11,0 1,3 0,7 4,7 3,8 9,3 7,2 10,4 10,7 13,0

1950 1960 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005

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Rückgang des Pro-Kopf-Konsums seit 1980 = Folge der Massenarbeitslosigkeit?

• lassen die Daten völlig offen, denn der Grund kann auch liegen in

• Alterung der Bevölkerung

• Zunahme der Migration nach Deutschland (Alkoholkonsum bei Migranten/innen deutlich geringer als bei Deutschen),

• gestiegenes Gesundheitsbewusstsein in Teilen der Bevölkerung (Fitnesswelle),

• Verdrängung des Alkohols durch Mineralwasser und Fruchtsäfte (erheblicher Konsumanstieg seit 1980)

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3. Befund

Der Anteil der Arbeitslosen unter den Suchtbehandelten hat im Zuge der Massenarbeitslosigkeit seit 1975 überproportional stark zugenommen

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Arbeitslosenquote (%) der Alkoholabhängigen in stationärer Suchtbehandlung (gesetzliche Rentenversicherung) und allgemeine Arbeitslosenquote (%) 1975 bis 2005 Henkel 2008

7

13

32

35 3536

37

97

45

1011

13

1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005

Arbeitslosenquote Suchtbehandlung allgemeine Arbeitslosenquote

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Arbeitslosenquoten (%) im ambulanten und stationären Bereich der Suchtkrankenhilfe nach Hauptdiagnose und GeschlechtDeutsche Suchthilfestatistik 2005 (IFT 2006)

ICD 10 Hauptdiagnose

Störungen durch…

Männer Frauen

Ambulante Einrichtungen (N=595)

Alkohol 28.1 20.9

Sedativa/Hypnotika 39.8 21.5

Opiate 52.6 52.5

Cannabis 26.4 23.1

Kokain 37.6 38.9

Stimulantien 29.5 28.7

Stationäre Einrichtungen (N=124)

Alkohol 39.5 31.0

Sedativa/Hypnotika 39.8 35.3

Opiate 62.2 58.4

Cannabis 47.9 43.9

Kokain 46.2 52.5

Stimulantien 56.3 45.2

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Arbeitslosenquoten (%) im ambulanten und stationären Bereich der Suchthilfe nach Arbeitslosengeld I und IIalle Suchtdiagnosen zusammengefasstDeutsche Suchthilfestatistik 2008

Bereich ALG I ALG II ALG I + II

ambulante Einrichtungen N=567 5.9 36.9 42.8

stationäre Einrichtungen N=130 10.5 38.8 49.3

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Mit dem Anstieg der Arbeitslosenquote hat die Effektivität der Suchthilfe/Suchtbehandlung nicht Schritt halten können

Gilt für beide Hauptzielbereiche:

• Risiko mindern im Substanzgebrauch bis hin zur Überwindung der Suchtproblematik i.S. von dauerhafter Abstinenz

• Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben von der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit bis hin zur Integration in erwerbstätige Beschäftigung

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4. Befund

In Relation zur Erwerbstätigkeit reduziert die Arbeitslosigkeit deutlich die Chancen, Suchtprobleme wieder zu überwinden

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Nachgewiesen bei

• Tabakabhängigen (Falba et al. 2005)

• Opiatabhängigen (Brewer, Catalano et al. 1998)

• Alkoholabhängigen (Henkel et al. 2004, 2005)

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Alkoholabhängige: Rückfallquoten (%) der Arbeitslosen (N=181) und Erwerbstätigen (N=314) 6 Monate nach stationärer SuchtrehabilitationHenkel et al. 2004

73

33

45

23

40

19

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Alkoholrückfällige davon wiederalkoholabhängig ICD-10

rückfällig im 1. Monat nachBehandlung

Arbeitslose Erwerbstätige

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5. Befund

Die Integration in erwerbstätige Beschäftigung möglichst noch während, zumindest aber unmittelbar nach Beendigung der Betreuung/Behandlung (Nahtlosigkeitsprinzip) ist ein starker rückfallprotektiver Faktor, gelingt aber nur in Ausnahmefällen

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Reintegrationsquote (%) der bei Aufnahme arbeitslosen Suchtkranken am Ende der Betreuung/Behandlung im ambulanten und stationären Bereich nach Geschlecht und Bezieher/inn/en von Arbeitslosengeld I und II Deutsche Suchthilfestatistik 2008

mittlere Betreuungsdauer ambulant rd. 8 Monatestationär rd. 3 Monate

Bereich Reintegrationsquote

Männer

Reintegrationsquote

Frauen

ALG I / ambulanter Bereich 15.6 15.9

ALG I / stationärer Bereich 6.2 2.1

ALG II / ambulanter Bereich 5.2 3.7

ALG II / stationärer Bereich 2.9 1.1

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Gründe

• Allgemein restriktive Arbeitsmarktlage

und

• häufig gravierende Arbeitsmarkthandicaps der suchtkranken Arbeitslosen, z.B. Alkoholabhängige

– Altersmittel 50 Jahre – 70% kein Hauptschulabschluss– 50% über 12 Monate arbeitslos, 30% über 2 Jahre– häufige, schwere und frühe Rückfälle der Arbeitslosen

und

• strukturelle/konzeptionelle Defizite in– den Einrichtungen der Suchthilfe/Suchtbehandlung und– den Institutionen der Arbeitsintegration nach SGB II und III:

Arbeitsagenturen, Jobcenter

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Was tun? Suchtkranke Arbeitslose benötigen eine zwischen den Institutionen der Suchthilfe und der Arbeitsintegration systematisch vernetzte Betreuung

Erstmals im SGB II (§16a) seit 1.1.2005 als Möglichkeit rechtlich verankert:

Liegt ein Suchtproblem als Vermittlungshemmnis vor, kann eine Suchtberatung als eine weitere soziale Leistung zur Eingliederung ins Erwerbsleben durchgeführt werden, um so das letztendliche Ziel des SGB II, die Integration in Existenz sichernde Arbeit, besser zu erreichen. Dabei sollen die SGB II-Stellen (ARGEn, Jobcenter…) mit der Suchthilfe kooperieren (§17 SGB II).

Wie gut ist der Stand der praktischen Umsetzung?

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Erhebung von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben - bundesweite Erhebung im Auftrag des Bundesministeriums für GesundheitHenke, Henkel, Nägele, Pagels, Wagner 2009, 2010

• Laufzeit November 2008 bis August 2009

1) Standardisierte online-Befragung aller SGB II-Stellen (GSS)

• Realisierte Stichprobe: 323 d.h. 74% aller 429 SGB II-Stellen

• 2) Standardisierte online-Befragung von Suchtberatungsstellen zur Akzeptanz und Bewertung der GSS-Praxis

• Nur SB-Stellen, die von den GSS als Kooperationspartner genannt wurden

• Rücklauf auswertbarer Fragebögen: 59% (N=80)

• 3) Expert/inn/en-Workshop (Grundsicherung, Suchthilfe, Arbeitsmarktpolitik) für Interpretation und Diskussion ausgewählter Ergebnisse

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Umsetzungsstand „guter Praxis“ in % der GSSSGB II-Sucht-Forschungsprojekt 2009

▪ Betreuungsrelation im Bereich Betreuung/Vermittlung

Zielrelation 1:75 für U25 erreicht

Zielrelation 1:150 für Ü25 erreicht

8

11

▪ Fachkonzept „SGB II-Sucht“ mit verbindlichen Vorgaben,

Qualitätsstandards usw.

▪ Personelle Zuständigkeit für SGB II-Sucht-Angelegenheiten

▪ Bedarfsschätzung an Suchtberatung nach §16a SGB II

durchgeführt

▪ Verfügbarkeit von Suchtberatungsangeboten vor Ort

ausreichend

nicht ausreichend

20

49

8

69

14

▪ Suchtspezifische Qualifizierung der Fachkräfte: noch gar

nicht bzw. noch nicht ausreichend geschult

▪ Supervision/kollegiale Beratung für Fachkräfte, die

Suchtkranke betreuen

84

47

▪ Geregelte Kooperationspraxis mit der Suchthilfe

▪ Einbeziehung der Suchthilfe bei der inhaltlichen Gestaltung

der Eingliederungsvereinbarung (§ 15 SGB II)

45

51

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Integration Suchtkranker in den 1. Arbeitsmarktgelingt so gut wie nicht Einschätzungen der SGB II-Stellen, %-ZustimmungenSGB II-Sucht-Forschungsprojekt/BMG 2009

Gelingt aufgrund der Suchterkrankung nur in Ausnahmefällen 86

Gelingt nicht weniger häufig als bei Kunden/innen ohne Suchterkrankung

3

Gelingt dann häufiger, wenn der (potenzielle) Arbeitgeber nichts von der Suchterkrankung weiß

15

Gelingt dann häufiger, wenn die SB-Stelle dem (potenziellen) Arbeitgeber gegenüber weitere Unterstützung des Klienten/der Klientin zusichert

17

Gelingt häufiger unter sonstigen Bedingungen 11

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Weitere Probleme (außer der Sucht), die die Erwerbsintegration Suchtkranker „oft“ erschweren aus Sicht der SGB II-FachkräfteSGB II-Sucht-Forschungsprojekt 2009

Problem % der SGB II-Stellen

Probleme im Bereich Bildung/Qualifikation/Brüche in Erwerbsbiographie

88.7

Ver-/Überschuldung 74.2

Unwirtschaftliches Verhalten 67.8

Probleme im Bereich sozialer Beziehungen 64.8

Nichtbeherrschen von Alltagsroutinen 63.9

Gesundheitliche Beeinträchtigungen 58.9

Psychische Belastungen (z.B. Angstzustände) 47.7

Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden 42.1

Wohnprobleme 35.4

Strafrechtliche Probleme (z.B. mit Bewährungsauflagen) 26,3

Häusliche Gewalt 10.0

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Beschäftigungs- / QualifizierungsmaßnahmenWie viele (%) der SGB II-Stellen bieten welche Maßnahmen?SGB II-Sucht-Forschungsprojekt 2009

1) Spezielle Maßnahmen für Suchtkranke u.a. für

Jugendliche unter 25 Jahren 30%

substituierte Drogenabhängige 21%

Frauen 6%

42

2) Nicht speziell nur für Suchtkranke, aber deren Bedürfnisse

berücksichtigend

53

Es werden weder 1) noch 2) angeboten 26

Problem: Insgesamt werden den Suchtkranken fast nur

Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („1-Euro- Jobs“)

nach § 16d SGB II angeboten

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Schnittstelle GSS / SuchtrehabilitationSGB II-Sucht-Forschungsprojekt 2009

Weitergabe von Informationen über arbeitsbezogene Maßnahmen (z.B. Profiling, Stand der Integrationsplanung)

→ 12% der GSS geben solche Infos an die Einrichtungen der Suchtrehabilitation

← 23% der GSS erhalten solche Infos von den Einrichtungen der Suchtrehabilitation

in der Regel

93% der GSS bewerten diese Informationen als hilfreich für die eigene (weitere) Planung arbeitsbezogener Maßnahmen

Nahtloser Anschluss der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen an die Suchtrehabilitation gelingt

37% der GSS meistens

41% manchmal

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Entwicklung 2005-2008Klienten/innen der ambulanten Suchthilfe, die nach § 16a SGB II in eine Suchtberatung vermittelt wurdenQuelle: Landesstellen für Suchtfragen 2009Sachsen: 2005: N=417; 2006: N=959; 2007: N=1449; 2008: N=1810

2,9

6,5

9,510,510,9

19,5

24,2

30,0

2005 2006 2007 2008

Sachsen % von allen Klienten/innen Baden-Württemberg % von allen Klienten/innen mit ALG II-Bezug

Page 36: 1 Arbeitslosigkeit und Sucht 5 zentrale Befunde der Forschung Prof. Dr. Dieter Henkel Institut für Suchtforschung (ISFF) der Fachhochschule Frankfurt am

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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Henkel, D, Zemlin, U (Hrsg.) Arbeitslosigkeit und Sucht. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Frankfurt a.M., 2008, 2. Aufl. 2009